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Leonie Fliess

Minervaim Reich der Götter

g

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie .

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernse-

hen, fotomechanische Wieder-gabe, Tonträger, elektronische

Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2010 novum publishing gmbh

ISBN 978-3-99003-145-2Lektorat: Sarah Schroepf

Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier.

www.novumpro.com

A U S T R I A · G E R M A N Y · S W I T Z E R L A N D · H U N G A R Y

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Die Rose der Vergangenheitg

Es war ein gewöhnlicher Tag in der Stadt der Mythen und Legenden, als er zum ersten Mal von ihr erfuhr.

Paolo Vianello war von Beruf Fremdenführer. Er zeigte den Touristen die Schätze Roms und erzählte all die Ge-schichten weiter, die er selbst einmal zu hören bekommen hatte.

Der Beruf machte ihm Spaß. Paolo erfreute sich immer wieder an den erstaunten Ausrufen der Deutschen, an den faszinierten Blicken der Australier und den klickenden Geräuschen der japanischen Photokameras.

Außerdem gab es immer wieder etwas Neues zu bestau-nen. Wie oft schon hatte er ein ihm vollkommen unbe-kanntes Detail eines Bildes gefunden oder einen Gang der Katakomben für sich entdeckt.

Paolo bewunderte die Stadt. Sie war schon so alt, von zahllosen Kriegen genarbt, und doch hatte sie noch eini-ge ihrer Geheimnisse für sich behalten. Rom schien vor Wundern nur so zu brodeln. Der Fremdenführer hatte schon einige Male seltsame Dinge bemerkt.

Wie sonst war es zu erklären, dass bei einem nächtlichen Spaziergang plötzlich eine Figur des berühmten Trevi-Brunnens fehlte? Paolo hätte sogar schwören können, eine schwimmende Gestalt darin zu sehen. Und woran lag es, dass sich das Kolosseum letztes Silvester zu drehen schien?

Paolo wusste es nicht. Er glaubte nicht an Einbildung, da diese nur mit Augen und Ohren möglich war. Er aller-dings hatte es zusätzlich noch gespürt. Dieses kaum wahr-nehmbare Prickeln in der Luft, das nur dann aufkam, wenn etwas Ungewöhnliches geschah.

Heute zeigte Paolo seinen wissensdurstigen Schütz-lingen wieder einmal die Vatikan-Museen und hatte als

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krönenden Abschluss eine Katakombenbesichtigung ge-plant. Dass die Touristen alle aus verschiedenen Nationen kamen, störte ihn nicht weiter. Wozu hatte er schließlich fünf Sprachen gelernt? Ihm gefiel es, gleichzeitig Führer und Dolmetscher zu sein.

Im Schlepptau hatte der Römer zwei Amerikaner, fünf Griechen und eine geraume Anzahl Asiaten, die bei jeder Eisdiele ihre Sofortbildkameras zückten.

Er war dabei, ihnen eine bekannte Skulptur eines troja-nischen Priesters zu zeigen. Die Gruppe schien eifrig zu-zuhören, nur einer nicht. Ein älterer Grieche mit grauem Haar und dichtem Vollbart stellte ein gelangweiltes Ge-sicht zur Schau und lehnte sich mit einem Gähnen gegen seinen Gehstock. Der Mann sah ohnehin reichlich seltsam aus. Er war von schmächtiger Statur und trug ein violettes Sweatshirt, das ihm bis zu den Knien reichte. Es schien das hässliche Unterteil, was aus einer Cordhose mit Blu-menmuster bestand, verbergen zu wollen. Seine Schuhe nahmen der komischen Kleiderwahl noch den letzten An-stand. Es waren rote Lackschuhe mit schwarzen Riemen.

Paolo musste bei diesem Anblick schmunzeln. Merk-würdig, dass noch keiner der Asiaten ein Photo gemacht hat, dachte er bei sich, wobei er das Erzählen vergaß und hastig noch den Titel des Kunstwerkes erwähnte.

Da schien es dem Griechen zu bunt zu werden. Mit em-pörtem Unterton, sagte er in einem exzellenten Englisch: „Bitte, Signor Vianello, höre bitte mit diesen anödenden Vorträgen auf. Ich kann nichts mehr über diese ganzen weißen Steinleute hören!“

Paolo räusperte sich, gedemütigt von dieser Respektlo-sigkeit, die sogar das förmliche Sie ausschloss, setzte sein grimmigstes Gesicht auf und erklärte: „Nun, wissen Sie, guter Mann, diese Tour heißt nun einmal ‚Skulpturen-rundgang‘. Was haben Sie denn gedacht?“

Der Grieche grinste spöttisch und strich sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn. „Na ja“, antwortete er, „ich habe erwartet, dass wir, wie in der Broschüre geschrieben,

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die Katakomben besichtigen!“ Sofort fing die restliche Truppe an, mit dem Kopf zu nicken.

Paolo sog tief Luft ein und lächelte eiskalt. „Habe ich behauptet, dass wir dies nicht mehr tun? Wohl eher nicht. Aber, wenn Sie so ungeduldig sind und unbedingt in dunklen Tunneln spazieren wollen, bitte sehr. Dann gehen wir jetzt eben.“ Wieder ein einstimmiges Nicken. Seiner disziplinierten Haltung zum Trotze, verdrehte der Fremdenführer die Augen und schüttelte genervt seine schwarzen Haare.

Kurze Zeit später befanden sich Paolos Touristen an einem Eingang der berüchtigten Katakomben. Hastig wur-den neue Batterien für die Photoapparate hervorgekramt.

„Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit! Bevor wir die Ka-takomben besichtigen, müssen Sie mir noch einmal zu-hören. Niemand, ich wiederhole niemand, entfernt sich von der Gruppe. Das könnte sonst schlimm enden! Die Katakomben sind riesig! Wenn Sie sich hier verirren, sind Sie so gut wie tot!“, wies Paolo die Gruppe, mit einem ver-nichtenden Blick in Richtung des Griechen, zurecht. Der lächelte Paolo nur unschuldig an und zupfte an seinem Sweatshirt.

„Also los“, brummte der Italiener und begann die stei-len Stufen hinabzusteigen.

Ein leicht modriger Geruch, der den Amerikanern einen angewiderten Gesichtsausdruck entlockte, stieg von unten herauf. Paolo war das gleichgültig. Selbst schuld! Dieser bescheuerte Grieche hatte ihm ohnehin den Tag verdorben. Sollten die doch alleine klarkommen! Mittler-weile stand er mit den Urlaubern am Anfang des Zentrums der Katakomben. Er verzichtete ausnahmsweise darauf, eine der Fackeln, die er immer bei sich trug, anzuzünden. Auch so fand er sich zurecht, und diese Kulturbanausen, ja, die sollten merken, was sie im Vatikan verpasst hatten.

Zielstrebig schritt der Fremdenführer durch den engen Gang, um möglichst schnell, an der nächsten Abzweigung,

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wieder ins Helle zu treten. Bald schon war es so weit. Er stand erneut im Sonnenlicht und musterte seine Gruppe eingehend.

„So, die Führung ist beendet. Noch irgendwelche Fra-gen?“ Paolos Augen wanderten über die Gesichter der Leu-te. Er suchte den spöttischen Blick des Griechen, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Wo war der denn? Panik machte sich in Paolo breit. Er war schuld, wenn etwas pas-sierte. Er konnte jetzt einfach gehen und sagen, er wisse nichts, doch das war eine absurde Idee. Sein schlechtes Gewissen würde ihn nicht mehr schlafen lassen.

Also wartete er, bis sich die Masse von Menschen, die in seiner Nähe stand, weiterbewegte und schlich klamm-heimlich die Treppen zu den endlosen Katakombengän-gen hinunter. Draußen dämmerte es schon, und in den kalten, feuchten Untergrundwegen war dem Fremdenfüh-rer etwas mulmig zumute. Er zündete eine Fackel an und sogleich flackerte ein gespenstisches Licht auf. Paolo ging nervös den Weg, den sie vorhin entlanggelaufen waren, zurück. Keine Spur vom Griechen. Der Römer entschloss sich, im Zentrum der Katakomben nach dem Vermissten zu suchen. Von der Mitte aus würde er Rufe wohl besser hören können.

Hoffentlich war dem Mann nichts passiert! So unsympa-thisch er auch war, so Leid würde es Paolo trotzdem tun, wenn ihm bei seiner Tour etwas geschehen wäre. Nicht auszudenken!

Paolo wurde immer hektischer. Fast hätte sich sei-ne Jeans an dem Fackelfeuer entzündet. Schließlich sog er tief Luft ein. Nur die Ruhe! Weit kann dieser Grieche nicht sein, dachte er, allerdings mit nicht gerade erfreu-lichen Gedanken im Hinterkopf.

Plötzlich bemerkte der Fremdenführer einen Licht-schein, ein paar Meter weiter, in einem ziemlich schmalen Gang, der zu früheren Zeiten wohl als beliebte Grabstätte gedient hatte. Allein bei dem Gedanken, in den Katakom-

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ben die letzte Ruhe zu finden, bekam Paolo eine Gänse-haut. Doch die Sitten waren heute anders. Wahrscheinlich würde er einen schönen Grabstein mit irgendeinem bib-lischen Spruch und einem Kreuz darauf bekommen. So weit war es zum Glück noch nicht!

Paolo bahnte sich einen Weg durch den niedrigen Gang. Der Lichtstrahl kam immer näher. Leise schlich sich der Italiener heran und hielt seine Fackel wie eine Keule.

Nach wenigen Schritten war er so nahe an der Licht-quelle, dass er geblendet wurde. Hastig kramte er seine Sonnenbrille aus dem riesigen, dunkelblauen Rucksack und setzte sie auf. Nun konnte er zumindest den Ursprung der grellen Helligkeit erkennen.

Es war eine bloße Kerze. Ihr Feuer war weiß. Einfach nur weiß. Es sah kalt aus. Eisig. Aber das war doch un-möglich!

Auf einmal entdeckte Paolo etwas Seltsames an der Kerze. Sie hatte ein Blumenmuster! Dasselbe, das die Hose des Griechen verunstaltet hatte.

Paolo wurde schwindelig. Was bedeutete das? Nur ein Zufall? Wer war der Grieche? Wo war er hin? Diese gan-zen unerklärlichen Fragen ließen seinen Kopf beinahe ex-plodieren. Ihm war schlecht, er wollte nach Hause und das Ganze vergessen. Doch er konnte nicht, denn er war neu-gierig. Schon von Natur aus hätte er immer, in jedem Fall, herausbekommen wollen, was es mit diesem seltsamen Geschehen auf sich hatte. Also trat Paolo näher heran, be-rührte die Kerze und erschrak. Sie fühlte sich wie Stoff an. Suchend tastete der Römer den leeren Raum zwischen der Kerze und der Gangwand ab, den er vor lauter Licht nicht erkennen konnte. Tatsächlich fingerte er ein Stück Perga-ment hervor. Es war furchtbar vergilbt und von einigen Spinnweben durchzogen. Zögernd faltete Paolo den Zettel auseinander. In einer altertümlichen Handschrift stand eine seltsame Botschaft geschrieben, die für den Fremden-führer partout keinen Sinn ergeben wollte.

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An das Keingesicht Paolo Vianello:

Von nun an widme dein Leben,und alles nach dem du magst streben,der Suche der Rose der Vergangenheit.Du hast nicht lange Zeit.Schaffst du sie nicht bald heran,fängst du nicht augenblicklich an,wirst du tot zugrunde gehen,und nutzlos um Gnade flehen.Diese Nachricht wurde gezeichnet von Luzifer,deinem Herrn und Meister.

Paolo las den Brief immer und immer wieder durch und steckte ihn in seine Hosentasche. Auch auf dem Nachhau-seweg konnte er den Blick nicht abwenden, doch verste-hen tat er nicht besonders viel. Er sollte eine sogenann-te Rose der Vergangenheit suchen, diese sollte er dann zu dem Platz in den Katakomben bringen, wo die Kerze stand, ansonsten würde er umgebracht. Das alles stammte von einem gewissen Luzifer, der wahrscheinlich der Grie-che war. Aber warum? Und wieso ausgerechnet er, Paolo?

In seiner kleinen Mietwohnung angelangt, machte der Fremdenführer sich erst einmal eine heiße Schokolade und las am Küchentisch abermals den Zettel. Danach zog er sich nachdenklich um.

Langsam zweifelte der Römer an der Glaubwürdigkeit des Erlebnisses. Wahrscheinlich war es ein Streich oder eine versteckte Kamera und morgen würde ganz Italien über ihn lachen. Seufzend bequemte er sich in sein Holz-bett und fing sofort an zu schlafen. Paolo hatte gar nicht bemerkt, wie müde er war.

Der Brief aber schwebte durch das Fenster in den Ster-nenhimmel. Dort fing er augenblicklich schneeweißes Feuer und zerfiel zu blutroter Asche.

Davon bekam Paolo allerdings nichts mit. Ruhig schlief er in seinem Bett und träumte von der Sixtinischen Kapelle.

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Die Kräuter der Atalanteg

Abwesend betrachtete Minerva die grauen Häuserwände, an denen die Straßenbahn Linie 7 vorbeifuhr.

Das Mädchen hatte hüftlange, hellbraune Haare und durchdringende Augen in einem warmen Blauton. Es war groß und schlank und sah recht hübsch aus, wenn auch etwas zu blass. Das weinrote Kleid und die papierweißen Ballerinas gehörten bestimmt nicht in den Katalog der neuen Herbstkollektion, doch die Farben waren gut ge-wählt und man sah, dass der Schneider sein Metier be-herrschte.

Die Kleidungsstücke waren allesamt vom Flohmarkt. Minervas beste Freundin, Johanna, war sehr begabt und hatte die günstig erworbenen Stücke neu aufgemacht.

Johanna Genius war ein kleines Mädchen mit einer dicken Professorenbrille. Zwar hatte sie immer dieselbe ordentliche Kleidung an und ihre schwarzen Haare wa-ren jeden Tag gleich frisiert, doch sie sah nicht schlecht aus. Trotz ihrer streberhaften Erscheinung, musste man sie einfach mögen.

Minerva wurde als seltsam, verschlossen und langwei-lig bezeichnet. Wer sie allerdings näher kannte, wusste, dass das gar nicht stimmte.

Nach außen hin gab sie sich schüchtern. Wenn sie aber Vertrauen zu jemandem gefasst hatte, war sie wie ausge-wechselt und half auch dabei, das größte Pferd zu stehlen.

Nun kannten aber nicht viele Menschen diese ande-re Seite. Tiere schon. Minerva half in einem Hunde- und Katzensalon in der Innenstadt aus. Im hinteren Teil des Geschäfts befand sich auch ein schlichtes Café, in dem sich die Herrchen und Frauchen die Wartezeit auf ihre Lieben verkürzen konnten.

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Minerva half immer dort aus, wo sie gebraucht wurde, obwohl sie lieber nur bei den Tieren gewesen wäre.

Die Inhaber des „Waunz“, Herr und Frau Habermann, waren füllige, gütige Menschen, die jede Hilfe, bezahlt oder nicht, zu schätzen wussten. Minerva gefiel es, dass sie mit ihren elf Jahren nicht nur belächelt wurde, son-dern als tatkräftige Unterstützung genau wie alle anderen anpacken musste.

Außer ihr arbeitete noch Luc im „Waunz“. Er war der Koch und Kellner des Cafés und machte die besten Cheeseburger der ganzen Stadt. Luc war schon neunzehn und studierte Biologie und irgendetwas, das mit Gastro-nomie zu tun hatte.

Diese Menschen waren von dem Gemüt, das Minerva bevorzugte und gehörten zu ihren engsten Freunden, trotz des Altersunterschiedes.

Drei Haltestellen weiter stieg das Mädchen an einem Spielplatz aus. Dann ging es geradeaus und stand endlich vor einem altrosa Plakat mit der Aufschrift:

„Waunz: Für Wau und Maunz das Beste.“Die Tür stand zum Lüften auf und so konnte Minerva

unbemerkt eintreten. Nach einer kurzen Begrüßung des saloneigenen Dackels Dexter, begab sie sich in den Win-tergarten, in dem das Café beherbergt war.

Minerva war pünktlich zur Mittagspause erschienen und so kam sie in den Genuss eines eigens von Luc her-gerichteten Essens zur Stärkung vor der Arbeit. Diese konnte sie auch gebrauchen, denn Minerva hatte zwar um fünf Uhr Schichtende, doch sie konnte sich einfach nicht von den Tieren trennen und blieb noch bis Ladenschluss. Schließlich war Freitag, Wochenende.

Spätabends fuhr das Mädchen mit dem Bus in ein klei-nes Viertel an der Stadtgrenze. Es ging zielstrebig auf ein großes Mehrfamilienhaus zu, bei dem schon der Putz ab-blätterte und schloss das rustikale Holzportal auf.

Im Treppenhaus blieb Minerva kurz stehen und schnup-perte. Es duftete nach Bratensoße und Salzkartoffeln. Sie

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folgte dem Geruch und stand schließlich vor einer olivgrü-nen Tür mit Spion.

Plötzlich flog die Tür auf und das Mädchen blick-te einer alten Frau ins Gesicht. Sie war etwas kleiner als Minerva und ziemlich kräftig. Aus ihrem dicken, grauen Dutt lösten sich ein paar Strähnen, während sie einen höl-zernen Kochlöffel bedrohlich hin und her schwenkte.

Minerva wohnte mit Rena zusammen seit sie denken konnte. Ihre Eltern kannte sie nicht und auch Rena schien nichts zu wissen. Ebenso war Minervas genaues Geburts-datum unklar. Der Arzt hatte zwar feststellen können, wie alt sie wahrscheinlich war, doch Genaueres ließ sich nicht ermitteln und so hatte man sich einfach auf den Jahres-wechsel als Geburtstag geeinigt.

„Ich dachte, du kommst gar nicht mehr!“, empörte sich Rena und pochte Minerva mit dem Kochlöffel leicht gegen die Stirn. Die setzte ein zerknirschtes Gesicht auf und senkte den Blick. Rena aber grinste schon wieder. „Jetzt guck nicht so komisch! Hast du wirklich geglaubt, dass ich böse bin?“, lachte sie. Bevor etwas erwidert wer-den konnte, fing sie wieder an zu reden. „Da hast du wohl falsch gedacht! Herein in die gute Stube!“, rief sie freudig und lotste das Mädchen mit einladender Geste hinein.

Der Wohnungsflur war winzig. Die geschmacklose, goldbraune Tapete ließ ihn noch kleiner erscheinen und die jeweils zwei Türen an den beiden längeren Seiten wa-ren aus Platzmangel zusammen in einen Rahmen gefasst. Die Haustür führte aus einer der schmaleren Flurwände und an der anderen hing eine Garderobe, an der man mit viel Mühe und Not vier Jacken, Schals und Mützen befes-tigen konnte. Dort hängte Minerva ihren sonnengelben Mantel und die königsblaue Kappe auf.

Danach öffnete sie die erste Tür der linken Seite, durch die auch Rena gerade gegangen war. Eine braun geflieste Küche, die gleichzeitig als Esszimmer diente, kam zum Vorschein. Hinter den anderen drei Türen verbargen sich Renas und Minervas Zimmer sowie das Bad. Ein Wohn-

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zimmer gab es nicht. Am Küchentisch wurden Brettspie-le gespielt, der einzige Fernseher stand bei Rena und das große Bücherregal sowie die karminrote Couch füllten Minervas Zimmer aus.

Die Elfjährige nahm am Küchentisch Platz und lud sich reichlich Essen auf den Teller. Die vergangenen Stunden stifteten zum Erzählen an und so wurden außer Kartoffeln auch Geschichten von rosa gefärbten Pudeln aufgetischt.

Irgendwann verabschiedete Minerva sich, um noch ein paar Zeilen zu lesen. „Kleinere Sagen der Griechen“ stand auf dem Buch, das auf ihrem Nachttisch lag. Gespannt schlug das Mädchen den dicken Band, der schon verlo-ckend raschelte, auf.

Die Hauptperson des ersten Kapitels war Atalante. Die Heldin war im Wald aufgewachsen und sowohl schneller als auch stärker als jeder andere. Die Geschichte handelte von einem Wettkampf, in dem es darum ging, sie zu be-siegen. Die Sage war zwar spannend, keine Frage, doch besonders interessant fand die Leserin Atalante selbst.

Sie war fast unbesiegbar, lebte mit wilden Tieren zu-sammen und kannte alle Arten von Pflanzen. Das muss-te doch toll sein! Minerva überlegte sich, dass die Blätter und Blüten vielleicht einen zauberhaften, magischen Duft hatten und so Atalante die Kraft zum Laufen und Jagen gaben. Besonders die Kräuter trieften vor Energie. Die hatten ja in jeder Geschichte eine heilende Wirkung. Was war, wenn es solche Kräuter wirklich gab und sie nur noch niemand entdeckt hatte? Warum eigentlich nicht?

Minerva schwor sich, am nächsten Tag einen Wald-spaziergang zu machen und nach diesen Wunderpflanzen Ausschau zu halten und schlief friedlich ein. Sie träumte von der sogenannten „Elster Lichtung“, auf der in ihren Gedanken rosarote Blumen, die alle Wünsche erfüllten, wuchsen. Außerdem gedieh dort noch ein tiefblaues Gras, welches unbeschreibliche Kräfte verlieh und jeden zu einem Helden machte.

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Minerva pflückte ein paar der wundersamen Pflanzen und bereitete aus ihnen Speisen zu, die wie ein ganzer, be-törender Blumengarten rochen. Um sie herum streunten riesengroße Wölfe und gefräßig aussehende, rotbraune Füchse. Sie wurden alle von Minerva gefüttert, gestrei-chelt und das Mädchen fühlte sich wie die Atalante aus der Sage.

Doch nach ein paar Sekunden verschwammen die schönen Bilder. Ab da verzog sich Minervas Miene zu einer furchtbaren Grimasse und sie wälzte sich unruhig hin und her. Sie hatte einen schlimmen Albtraum.

Als das Mädchen am nächsten Morgen aufwachte, konnte es sich an nichts mehr erinnern. Es musste ledig-lich an rote Hörner denken.

Seufzend schaute es auf die mit Katzenpfoten verzierte Uhr, die über seinem Bett hing. Es war erst Viertel vor sieben Uhr morgens! An einem Samstag!

Also legte Minerva sich erneut in ihr dunkles Bu-chenholzbett und schlug „Kleinere Sagen der Griechen“ auf. Sofort stach ihr wieder der Name Atalante ins Auge. Stimmte ja! Sie wollte nach den wundersamen Kräutern suchen.

Mittlerweile kam Minerva diese Idee zu kindisch vor. Dennoch! Wenn sie jetzt aufbrach, konnte sie bestimmt bis elf Uhr wegbleiben. Früher stand Rena ohnehin nicht auf.

Voller guter Hoffnungen verließ das Mädchen das Haus. Wie sich herausstellen sollte, das letzte Mal. Aber das konnte Minerva noch nicht wissen.

Draußen war es kalt und es regnete so heftig wie schon lange nicht mehr. Typisches Novemberwetter eben. Mi-nerva machte sich auf den Weg zum „Wilden Forst“. So wurde der Wald von den älteren Menschen wie Rena ge-nannt. Er lag ganz in der Nähe der Altbausiedlung und konnte durchaus als groß bezeichnet werden.

Aus irgendeinem Grund drängte Minerva ein Gefühl, sich zur Elster Lichtung aufzumachen. Die Elster Lich-

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tung war ein beliebter Treffpunkt von Minerva und Jo-hanna. Sie hatten sich dort ein Baumhaus, versteckt im Blätterdach, gebaut.

Minerva kämpfte sich durch die wild wachsenden Dor-nenbüsche und hohen Laubhügel, an riesigen Buchen, grünen Tannen und blätterlosen Ahornbäumen vorbei.

Schließlich erreichte das Mädchen sein Ziel. Es schau-te sich um. Irgendetwas war anders. Eine seltsame Stim-mung herrschte auf der Lichtung. Kein Blätterrascheln, kein Vogelgezwitscher, nicht einmal Käfer krabbelten über die verdorrten Äste. Es war zu ruhig!

Da geschah es. Auf einmal goss sich eine widerlich aus-sehende Flüssigkeit über Minerva. Ihre Konsistenz hatte Ähnlichkeit mit Honig oder Marmelade.

„Oh nein! Sorry, Mini! Komm hoch!“ Es war Johanna.Geschwind kletterte Minerva die wackelige Strickleiter

empor und begrüßte Johanna mit sauertöpfischer Miene.Das leicht modrige Holz im Baumhaus war krumm

und schief aneinandergenagelt, in der Mitte standen ein großer Umzugkarton, welcher als Tisch diente und zwei Obstkisten, die als Stühle benutzt wurden.

Es war warm im Baumhaus. Kurz vor Herbsteinbruch hatten die beiden Freundinnen noch mühsam Wände ge-baut und ihr gesamtes Taschengeld für batteriebetriebene Heizlampen ausgegeben, um auch in den kalten Monaten ein gemütliches Plätzchen zum Reden zu haben.

„Was ist das denn für ein Zeug und wieso gießt du mir das über den Kopf?“, fauchte Minerva und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel an der Wand. Ihr schönes Haar hing jetzt nur noch verfilzt herunter.

„Entschuldigung!“, murmelte Johanna und wurde kirschrot. „Das war mein neuestes ‚Gauner-Abschreck-Mittel‘ in der Spezialedition. Ich dachte nämlich, du seiest Max! Der war vorhin schon mal da und wollte die Strick-leiter mit so einer riesigen Baumschere durchschneiden!“

Minerva verzog angewidert das Gesicht. Max, ein Klas-senkamerad, war eine ausgesprochene Nervensäge und

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hatte anscheinend nichts Besseres zu tun, als frühmorgens herumzustreunen und Baumhäuser zu zerstören. Gegen ihn waren Johannas drei Brüder die reinsten Engel.

„Wie kannst du mich mit dem verwechseln? Der hat doch viel mehr Pickel als ich!“, frotzelte Minerva. „Aber ist dieses Gebräu überhaupt hautverträglich oder sehe ich morgen wirklich wie Max aus?“

Johanna hob einen Eimer auf und zeigte ihn Minerva. Er beinhaltete noch mindestens einen halben Liter der Mixtur.

„Keine Angst! Absolut harmlose Substanzen. Habe ich ja schließlich selbst gemacht!“, erklärte Johanna stolz.

„Na, da kann ich ja unbesorgt sein!“, spottete Minerva und ihre Stimme bebte. „Mensch Johanna! Meine Klei-dung ist hin! Das kriegt man doch nie heraus!“ Minerva schaute ihre Freundin vorwurfsvoll an, doch die blinzelte nur vergnügt und holte etwas aus ihrer Rocktasche, das wie ein Stift aussah. „Johanna, was hast du vor?“, quiekte Minerva entsetzt.

„Das ist der ‚Stop-und-Weg-Fleckenfilzer‘. Den habe ich auch erfunden!“, verkündete ihre Freundin stolz und rückte sich die Brille zurecht. Minerva verzog beunruhigt das Gesicht.

Doch der Fleckenstift wirkte wahre Wunder und Jo-hanna bewies einmal mehr, dass sie eine erstklassige Schü-lerin war. Minerva hatte in letzter Zeit keine besonders guten Noten und wurde mit jedem Tag schlechter. Nur in Geschichte und den Sprachen nicht. Es fiel ihr erstaun-lich leicht, sich Daten und Vokabeln zu merken.

„Verdammt! So etwas machst du nie wieder!“, stöhn-te Minerva erschöpft. Die letzten Minuten hatten ihr alle Kraft geraubt und die Kälte ließ sie frieren.

Nun fiel ihr ein, wieso sie eigentlich gekommen war. Wegen den Kräutern der Atalante! Aber das konnte sie jetzt nicht vor Johanna sagen. Es wäre einfach zu lächer-lich gewesen.

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Einen Moment lang schwiegen die Mädchen. Minerva dachte an die Wunderpflanzen und Johanna an ihre bei-den Erfindungen. Dann bückte Letztere sich und holte unter dem provisorischen Tisch Kekse, Geschirr und eine Vase mit seltsamen Blüten darin hervor.

„Bedien dich! Die Kekse sind von meiner Oma!“, er-klärte Johanna und schob sich gleich selbst einen in den Mund. Minerva nahm sich auch, konnte den Blick jedoch nicht von der himmelblauen Blume wenden. Sie war wirk-lich schön. Groß mit einem giftgrünen Stiel aus dem leicht hellere Blätter und rosa Dornen herausragten. Die Blüten waren herzförmig, die Struktur wie die einer Rose.

„Woher hast du die schöne Blume?“, wollte Minerva wissen und probierte möglichst unbeteiligt zu klingen.

Johanna schluckte noch ihren Keksrest hinunter und putzte sich den von Krümeln übersäten Mund ab. „Von unten, neben der alten Eiche. Keine Ahnung was das für eine Art ist. Hab ich noch nie gesehen.“

Minerva blieb fast das Herz stehen. Sofort tauchten in ihrem Kopf unzählige Fragen und Gedanken auf, die sie aber alle nicht beantworten konnte. Wie war es möglich, dass Johanna, das wandelende Lexikon, diese Blumen-sorte nicht identifizieren konnte? War das ein Wunder-gewächs? Woher kam es? Was hatte das zu bedeuten? Oder war es doch nur eine normale, zufällige Kreuzung?

Ehe Minerva sich versah, roch sie an der Blume. Erst dufteten die himmelblauen Blüten nach nichts, kurz da-rauf nach Gemüse und schließlich nach Freiheit. Dieser Geruch blieb. Aber wie konnte etwas nach Freiheit rie-chen? Es war ein leichter, kühler, süßer und frischer Duft, den Minerva noch nie wahrgenommen hatte.

Eine Wandlung vollzog sich in dem Mädchen. Von in-nen strömte eine Kraft durch seinen ganzen Körper und ließ es verblüfft nach Luft schnappen. Minerva merkte, wie ihre Glieder leichter wurden und sie vom Boden ab-hob. Sie flog. Sie flog tatsächlich über die Elster Lichtung, die Augen geschlossen, die Arme von sich gestreckt.

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Johanna blickte verdattert auf die Obstkiste, auf der ihre Freundin gerade noch gesessen hatte. Doch Minerva roch jetzt nicht mehr, sie fühlte Freiheit. Sie versank im-mer mehr in einer Art Traum und schwebte immer höher. Sie lächelte selig, ihre Haare veranstalteten ein Wettflie-gen mit ihrem Kleid und die ganze Welt erschien ihr wie ein Meer aus Wolken.

Was um es herum geschah, davon bekam das Mädchen nichts mehr mit. Es war viel zu beschäftigt mit sich, dem Fliegen und dem neuen Reich, in das es eingetaucht war.

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Verzweiflung aller Arteng

Paolo saß an einem Fenstertisch des Cafés „Da Antonio“ und schlürfte Capuccino. Neben ihm saßen seine beiden besten Freunde. Antonio, der Besitzer des Cafés, und Giu-lia, die an einer kleinen Cola nippte und gleichzeitig ihre hübsche Terrierdame Beatrice streichelte.

„Das ist wirklich unglaublich!“, meinte Giulia, nach-dem Paolo ihnen die Ereignisse des vorgestrigen Tages ge-schildert hatte. Ihre dunkelbraunen Augen zeigten wahre Begeisterung.

„Ja, echt! Aber das hört sich wie ein Abenteuerroman an!“, warf Antonio ein. „Lorenzo! Bring unserem armen Freund noch einen doppelten Espresso!“, rief er seinem Kellner zu, der ziemlich verzweifelt mit dem vollen Be-stellblock in der Hand wedelte und „Scusi! Uno momen-to!“ brüllte.

Giulia machte eine wegwerfende Handbewegung. „Antonio! Erst einmal solltest du Lorenzo nicht zu sehr überfordern und außerdem tust du gerade so, als ob Paolo verrückt wäre! Also ich glaube ihm jedes einzelne Wort“, erklärte sie und strich sich das blonde, schulterlange Haar aus dem Gesicht. Sie war mit ihren hellen Haaren eine ech-te Ausnahme in Italien und das, obwohl ihre Familie seit über fünf Generationen ausschließlich aus Rom stammte.

Antonio zog spöttisch die buschigen Augenbrauen hoch und fummelte an seinem Schnurrbart herum. „Man könnte meinen, dass ihr sechsjährige Schatzsucher seid und nicht Tourismusuntertanen Mitte zwanzig!“, brumm-te er und schnappte sich den Espresso von Lorenzo, der eigentlich für Paolo gedacht war.

Giulia setzte eine verächtliche Grimasse auf, holte ihre giftgrüne Jacke von der Garderobe und zog sie an. „So et-

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was muss ich mir nicht bieten lassen! Ich bin Hotelbesit-zern und keine Tourismusuntertanin. Komm Beatrice!“ Mit diesen Worten nahm sie den winselnden Hund und verließ das Café.

„Toni, jetzt hast du echt Mist gebaut“, sagte Paolo und machte sich ebenfalls schleunigst auf den Weg nach drau-ßen. Er holte Giulia noch knapp ein und sie liefen eine Weile schweigend nebeneinanderher. Sie kamen an Sou-venirläden, Restaurants und Hotels vorbei, doch welches Ziel Giulia ansteuerte, konnte Paolo nicht feststellen.

Beatrice bellte einige Male vorbeilaufende Hunde an. Sonst allerdings herrschte schreckliche, erdrückende Stil-le. Paolo bemerkte, dass Giulias Augen feucht waren und die rosigen Wangen verdächtig nass glänzten.

„Weinst du?“, wollte er besorgt wissen.„Ach, Unsinn!“, wehrte Giulia ab und wischte sich die

Tränen aus dem zarten Gesicht. Sie blieb stehen und blickte Paolo durch ihre dichten, schwarzen Wimpern an. „Stimmt es?“, fragte sie leise. Paolo nickte langsam. „Dann sollten wir schleunigst diese Rose suchen. Dieser Luzifer scheint ein Wahnsinniger zu sein“, beschloss sie und biss sich auf die Lippe. Paolo brachte ein kleines Lächeln zustande.

„Danke“, murmelte er. „Und Antonio, na, der wird sich schon wieder beruhigen.“

Auf dieses Thema war Giulia gar nicht gut zu sprechen und fuhr fort: „Du kannst nicht allein zu Hause bleiben. Du kommst zu mir ins Hotel und schläfst, wenn es dir nichts ausmacht, auf der Coach in meinem Zimmer.“ Paolo nahm die Einladung erleichtert an. Er war froh, eine so tolle, bes-te Freundin zu haben. Antonio war auch grandios, konn-te sich aber prima danebenbenehmen. Das hatte er heute wieder einmal bewiesen. Doch sein Fehlverhalten konnte man ihm meist verzeihen, da er den besten Espresso ganz Italiens machte. Na ja, zumindest ganz Roms.

Kurze Zeit später standen die beiden Freunde vor dem Hotel, das Giulia von ihren Eltern, nachdem diese in Ren-te gegangen waren, übernommen hatte.

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Das „Bella Roma“ war nicht gerade groß, dafür aber sehr gemütlich. Es war von außen und innen beigefarben gestrichen und hatte weiße Fenster. Alles war sehr schlicht und modern eingerichtet und in geschmackvollen Oran-ge- und Cremetönen gehalten.

Giulia begrüßte noch schnell den Portier, um dann mit Paolo die metallene Treppe hochzusteigen. Ihre Wohnung befand sich ganz oben, im dritten Stock, neben dem klei-nen Swimmingpool, den man auch mit einem überdimen-sionalen Planschbecken, das im Boden versunken war, verwechseln konnte.

Giulia drehte den Schlüssel um und als mit einem lau-ten Krachen die Tür aufflog, traten die Freunde mit Hün-din Beatrice ein. Die fing sofort an zu bellen, riss sich von der Leine los und stürmte auf ihr Körbchen zu.

Paolo sah sich in der Wohnung um. Es war lange her seit er das letzte Mal hier gewesen war. Normalerweise tra-fen sie sich bei Antonio oder im Kaminzimmer des Ho-tels. Doch heute war ein absoluter Ausnahmefall.

Giulia warf ihre Jacke auf das riesige Himmelbett und forderte Paolo auf, es ihr gleichzutun. Im Gegensatz zum übrigen Hotel war die Wohnung ziemlich unordentlich. Die violette Wand war übersät von eingerahmten Fotos, die mehr oder weniger schief hingen und das dunkelro-te Bettgestell passte überhaupt nicht zu der Froschkö-nig-Bettwäsche und dem nachtblauen Betthimmel. Die Couch, auf der Paolo übernachten sollte, hatte ein fürch-terliches Tulpenmuster und überall auf dem Boden lagen Kleidungsstücke aus dem grauen Schrank. Der schöne Lamynahtboden war zugepflastert mit Magazinen wie „Hotels und Motels“, „Club der Eigentümer“ oder „Ves-tiario Roma“.

„Also nach Hause gehst du nicht mehr! Zumindest vorerst!“, ordnete Giulia an. „Zahnbürste kriegst du vom Hotelkiosk, Klamotten werde ich dir von zu Hause holen und Essen bekommst du natürlich von Ginevra!“, erklärte Giulia, während sie die Nummer der Hotelküche wählte.

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Ginevra war die beleibte Chefköchin des Hotels. Das Essen, das sie zustande brachte, war immer ein Genuss und meistens sehr ungewöhnlich. Das letzte Mal hatte Paolo „Pasta in Spinatsoße auf gerösteten Rosenblättern“ gegessen. Es war vorzüglich gewesen. Besonders die Ro-senblätter.

Bei dem Wort Rosen verkrampfte Paolo sich schlag-artig. Die Rose der Vergangenheit musste gefunden wer-den und niemand wusste, was das für eine Blumenart war oder wo sie wuchs.

Er seufzte. Giulia sprach gerade mit Ginevra, die sich darüber aufregte, dass der Rosenkohl ausgegangen war. Schon wieder Rosen! Was war das mit den Rosen? Blu-menkohl schmeckte doch viel besser und Sonnenblumen waren schöner.

Giulia erklärte Ginevra, dass Paolo zu Besuch sei und deshalb mit Speisen versorgt werden müsse. Die Köchin beschwerte sich darüber, wie sie das alles schaffen solle, da der Hilfskoch schon wieder krank sei, und legte auf.

„Sehr nette Köchin, die du da hast“, meinte Paolo auf-munternd.

Giulia verzog verächtlich das Gesicht. „Eigentlich ist sie ja ganz freundlich, aber seit einer Woche stellt sie sich viel-leicht an! Und sie ist noch dicker geworden! Gestern ist sie fast in der Tür stecken geblieben!“ Paolo konnte ein Lachen nicht unterdrücken und steckte damit auch Giulia an.

Nachdem sie sich beruhigt hatten, richteten sie Paolos Schlafplatz ein und ließen sich gegen elf Uhr in die Kis-sen sinken.

Am nächsten Morgen wurde Paolo früh von Giulia ge-weckt, die schon fertig angezogen vorm Spiegel stand und ihre Lippen mit dunkelrosa Lippenstift nachzog.

So setzte sich auch Paolo im Bett auf und machte sich bereit. Da fiel ihm etwas ein. „Und was ist mit den Tou-ristenführungen? Ich kann die Touris doch nicht einfach sich selbst überlassen! Was wird mein Boss sagen?“, fragte er entgeistert.