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Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall 266 Seiten, Gebunden ISBN: 978-3-406-58243-1 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Pawel Huelle Das letzte Abendmahl Roman

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Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall 266 Seiten, Gebunden ISBN: 978-3-406-58243-1

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Pawel Huelle Das letzte Abendmahl Roman

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Kapitel I

Seltsame Konsequenzen eines seltsamen Erwachens

Die Neuigkeiten, die Jussuf von der anderen Seite des Flus-

ses brachte, waren beunruhigend. Die Regierungstruppen

durchkämmten die Unterstadt, und kein Winkel war vor

ihnen sicher. Die glänzenden schwarzen Motorräder, die

viel zu schwer zu sein schienen, als daß sie das schmale

Rinnsal im Tal hätten überspringen oder einem Rebellen

durch eine Gasse über eine Treppe hinterherjagen können,

waren in Wirklichkeit wendig wie Libellen. Der Unglückli-

che, der sich auf die Schwerfälligkeit der Maschinen verließ

und seinen Beinen nachgab oder in Atemnot geriet, bezahl-

te mit dem Leben. Das Töten sah nicht aus wie eine Exeku-

tion. Wenn der Aufständische sich in Reichweite einer Feu-

erwaffe befand, streckte ihn ein Schuß nieder, der wie ein

trockenes Klatschen klang. Bisweilen, wenn ein Fahrer –

von der Eintönigkeit seines Dienstes gelangweilt – be-

schloß, sich zu amüsieren, bekamen die Passanten ganz

umsonst ein Spektakel zu sehen wie von einem Straßen-

theater. Die Motorradfahrer bedienten sich dabei meist eines

dünnen Stahldrahtes ohne Umhüllung. Dieser erdrosselte

das Opfer schneller als eine spanische Garrotte. Als neben

dem Brunnen der Freiheit einer der Fahrer einem Fliehen-

den zuerst die Schlinge um den Hals warf und dann die

Leiche rund um den Platz schleifte, standen die Besucher

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des Cafés «El Raschid» von ihren Plätzen auf, um dieses

Schauspiel mit Beifall zu belohnen.

«Es stimmt» – Jussuf pulte wie üblich mit einem Zahn-

stocher im Mund herum –, «alle hassen sie. Ich auch.

Hunde, denen nie irgend jemand irgend etwas beigebracht

hat. Aber warum muß man das am hellichten Tag machen?

Vor den Augen der Journalisten? Und der Bevölkerung?

Man hätte sie doch nachts schnappen können, wenn die

Stadt schläft, sie zum Hafen bringen, auf einen der Pana-

madampfer verfrachten, die am Kai schon Jahre vor sich

hinrosten, und fünf Meilen vom Ufer einfach ertränken. So

wie Mao Tse-tung die Huren in China. Oder nicht?»

Jussuf sprach solche Fragen gern an. Daraus ging immer-

hin hervor, daß er dies und jenes las oder zumindest von

einem seiner Lehrer etwas wußte.

«Soweit ich mich an den Film erinnere», sagte ich und

winkte den Kellner herbei, «hat man diese fünf- oder zehn-

tausend Prostituierten im Fluß ertränkt. Verstehst du, Jus-

suf? Im Fluß, nicht im Meer.»

Er nahm einen Kaffee und ein Glas kaltes Wasser.

«Das eine ist Scheiße, und das andere ist Scheiße», sagte

er langsam, wobei er jedes Wort betonte. «Und außerdem

unglaubwürdig», fügte er hinzu, damit es keinen Zweifel

gab, was er von der ganzen Sache hielt. «Was macht das für

einen Unterschied?»

«Den, daß die Leichen der Frauen noch Hunderte von

Meilen von der Strömung getragen wurden. Und im

Meer?»

«Haie», kicherte er, «jede Menge Haie. Aber die Aufstän-

dischen, die sind Aas. Die stinken, wenn sie noch leben.

Mir tut es um keinen von denen leid. Verstehst du? Um kei-

nen. Wenn ich sauer geworden bin, dann deshalb» – er

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zeigte auf den Sonnenball –, «weil sie mitten am Tag bei

dieser Gelegenheit immer auch ein paar ganz normale

Leute umlegen. Und die Journalisten sind nicht viel besser.

Die sind wie die Regierungstreuen.» Er gab mir einen Brief

von Ariston und fragte: «Du hast etwas von einem Film ge-

sagt, erinnerst du dich an den Titel?»

Ich erinnerte mich nicht. Ariston, der nie Telefon, Fax

oder Computer benutzte, teilte mir mit, daß unser Unter-

richt weder heute noch in den nächsten Tagen stattfi nden

werde. Nicht nur wegen der aktuellen Situation. «Ich fahre

ins Dorf Oasin, in einer Angelegenheit, die keinen Auf-

schub duldet.» Das war die ganze Erklärung, danach folg-

ten ein paar neue Sätze zum Übersetzen. «Bleib lieber mit

dem Wörterbuch zu Hause und misch dich in nichts ein,

ich melde mich, wenn ich wieder da bin», schrieb er zum

Schluß wieder auf englisch.

Jussuf, der keine Antwort auf die Frage nach dem Film

erhalten hatte, zeigte auf die altertümliche Schrift; der Ab-

satz in Aristons zierlicher Schönschrift hatte in der Tat et-

was sehr Würdevolles.

«Bist du zum Lernen hierhergekommen? Und was weiß

dieser Alte? Mich interessiert das ja nicht. Ich bin nur der

Bote. Aber weißt du, was man sich erzählt? Daß er gar nicht

Ariston heißt. Und kein Grieche ist. Ihr Europäer laßt euch

immer reinlegen.»

Ich bezahlte die Sendung und sagte, eine Antwort hätte

ich nicht. Er stieg auf den Motorroller und erwiderte: «Ich

fahre sowieso nicht runter, bin doch nicht bescheuert!»

Ich erinnere mich: In meiner Wohnung direkt über dem

Café war die Klimaanlage kaputt. Ich legte die Hausaufga-

be für Ariston beiseite und ging mit dem Fotoapparat wie-

der hinaus. Die Busverbindung auf die andere Seite des

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Flusses zum Gebäude der alten Admiralität war außer Be-

trieb. Die Haltestelle, an der ein paar Tage zuvor ein Bus

voller Passagiere in die Luft gefl ogen war, war immer noch

ein einziges riesiges Loch, der Form halber von einem Po-

lizeiband eingesäumt. Über die fast leere, vor Hitze glü-

hende Straße gelangte ich zum Berg der Propheten. Oben,

bei den großen Fernrohren, wo sich sonst immer Touristen

tummelten, war kein Mensch. Aber – o Wunder – die Zahn-

radbahn, die in der Zeit der Engländer gebaut worden

war, fuhr wie immer. Das bemerkte ich sofort, ich sah, wie

zwei der kleinen blauen Waggons sich auf halber Strecke

trafen – genau an der Stelle, wo inmitten eines Oliven-

hains, umgeben von der Palisade der Zypressen, das kop-

tische Kloster stand. Unten, hinter dem ausgetrockneten

Bett des Flüßchens, erstreckte sich die von Mauern ein-

gefaßte Altstadt mit ihren Minaretten und christlichen

Türmen.

Der Waggon aus der Zeit Königin Victorias kletterte lang-

sam nach oben, und ich dachte an Ariston, der sich mit je-

dem seiner Schüler getrennt verabredete, in verschiedenen

Stadtteilen, ganz so, als erforderte das Lernen des Griechi-

schen Konspiration. Für diese Absonderlichkeit gab es ver-

schiedene Erklärungen, aber jetzt, während ich auf den

blauen Bahnwaggon wartete, der schon das koptische Klo-

ster passiert hatte und sich an der Mauer des jüdischen

Friedhofs entlang mühsam nach oben schraubte, erfuhr ich

eine kleine Erleuchtung: Ariston war immer bemüht, daß

der von ihm vorbereitete Text mehr oder weniger direkt mit

dem Ort zu tun hatte, an dem er die Stunde abhielt. Warum

aber hatte er mich eines Tages mit auf diesen Hügel genom-

men, der anscheinend in keiner Weise mit der Apologie des

Aristides verbunden war? Und wie war das damals?

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Damals wandte sich Aristides von Athen mit folgenden Worten

an Kaiser Hadrian: Sie behaupten, daß Dionysos ein Gott sei,

der nächtliche Feste feiere, die Trunkenheit lehre und fremde

Weiber raube. Zuletzt, heißt es, sei er rasend geworden und

schließlich von den Titanen ermordet worden. Konnte also Dio-

nysos, da er ermordet wurde, sich selbst nicht helfen und war

außerdem ein Rasender und Trunkenbold, wie könnte er ein

Gott sein? Wie soll derjenige anderen helfen, der sich selbst

nicht helfen konnte? Ganz anders Jesus, o Kaiser …

«Wie immer das klingen mag», sagte ich damals, nachdem

ich mit Mühe vor allem den letzten Satz übersetzt hatte,

«wie immer das klingen mag, das Argument des Aristides

ist dumm. Wie kann man auf diese Weise das Christentum

verteidigen? Schließlich haben die Gegner von Jesus fast

genau die gleichen Argumente benutzt. Er war für sie nichts

anderes als ein Vagabund, ein Verrückter, Säufer und Hu-

renbock. Und er half sich nicht selbst, wie hätte er daher

anderen helfen sollen? Was Aristides über Dionysos sagt,

sagen die Gegner von Jesus über diesen. Sind das einfach

symmetrische Argumente?»

Ariston antwortete damals nicht auf meine Fragen. Als

sich der Waggon voller Touristen in Bewegung setzte, erhob

er sich von der Bank, auf der wir schon eine gute Stunde

verbracht hatten, und zeigte auf das koptische Kloster.

«Weißt du, daß das die älteste Kirche in dieser Stadt ist?

Und vielleicht die älteste erhaltene Kirche der Christen in

der ganzen Welt?»

Als ich jetzt in dem völlig leeren Waggon hinunterfuhr,

dachte ich, auch diese Ortswahl sei kein Zufall gewesen.

Der Text, mit dem er mich damals quälte – genauer gesagt,

das schwierigste Fragment daraus –, stammte aus der er-

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sten Apologie in der Geschichte des Christentums. Ob Her-

mias, ob Theophilos von Antiochia, Claudius Apollinaris,

Miltiades, Tatian der Syrer, ob Justin der Märtyrer, oder

auch der Namensvetter meines Lehrers, Ariston von Pella,

sie alle schrieben ihre Verteidigungen der Christen n a c h

der berühmten, herausragenden Rede des Aristides von

Athen. Vielleicht sollte also die älteste Apologie an dem Ort

gelesen werden, von dem aus man einen Blick auf die älte-

ste Kirche hatte? Im übrigen, was wußte ich schon über die

Kopten? Ich hatte nur einmal, als Tourist in der Grabeskir-

che, ihren Gesang gehört. Er war mächtig, archaisch und so

schön, wie ich es selbst in russischen orthodoxen Kirchen

noch nie gehört hatte.

Von der unteren Station der Bahn ging ich zu Fuß in die

Altstadt. In den engen Gassen tat sich scheinbar nichts.

Doch die heruntergelassenen Jalousien der Läden, die lee-

ren Terrassen der Cafés und die wenigen Touristen, die ver-

stohlen in ihre Hotels huschten, all das machte einen recht

düsteren Eindruck. Nur am Rande des armenischen Viertels

sah ich ein paar Jungen auf der Straße Fußball spielen. Sie

waren glücklich, weil ihnen kein Auto in die Quere kam.

Das Taxi, das ich schließlich erwischte, fuhr langsam wie

zu einem Begräbnis. Auf der Brücke, bei dem Militär posten,

wollte man uns zurückschicken, aber der Journalistenaus-

weis, den ich in meiner Jackentasche fand – wenn auch un-

gültig und zerknittert –, machte uns den Weg frei.

«Die Amerikaner sind an allem schuld», sagte der Fah-

rer, während er mich aufmerksam im Spiegel beobachtete.

«Zuerst bezahlen sie die Rebellen, dann lassen sie sie um-

bringen und zum Schluß fi lmen sie alles. Amerika ist das

Böse schlechthin. Wenn Amerika nicht wäre, wäre dieses

Land glücklich. Wie der Libanon früher.»

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Ich nickte, vor dem Gebäude der Admiralität bezahlte

ich ihn. Auf dem riesigen Platz mit dem Brunnen der Frei-

heit in der Mitte, wo zwei diskret getarnte gepanzerte Au-

tos lauerten, pulsierte das Leben wie immer. Nur das Auge

eines geübten Beobachters registrierte, daß es etwas weni-

ger Rikschas und Taxis als sonst waren, die um das große

Rondell kreisten und sich jeden Moment von ihm lösen

konnten wie vereinzelte Insekten, um an einer der zwei

Haltestellen zu landen: beim Hotel Continental, wo die

gestreiften Markisen des Cafés «El Raschid» an die Zeit

von Prinz Albert erinnerten, oder beim Gebäude der Ad-

miralität, wo ich gerade ausgestiegen war. Die die Aus-

weise von Passanten kontrollierenden Polizisten, die ich

aus den Augenwinkeln sah, während ich langsam auf die

Terrasse des Cafés zuging, gehörten hier zum alltäglichen

Stadtbild, was mich in meiner Entscheidung, in Zukunft

auf Jussufs Dienste zu verzichten, nur bestätigte. Kurier-

dienste, die man telefonisch bestellen konnte, gab es in

der Stadt einige, warum sollte ich mir also diesen unge-

reimten Blödsinn anhören? Sicher hatte der Junge am Tag

zuvor eine der zwielichtigen Vorortspelunken besucht,

wo man unter den Plakaten der Freiheitsbewegung und

begleitet von den rhyth mischen Klängen einer äußerst

schrillen Variante des lokalen Techno aus Afghanistan im-

portiertes Gras kiffte.

‹Das muß ordentlicher Stoff gewesen sein›, dachte ich,

als ich die Terrasse des «El Raschid» erreichte, wenn er noch

heute, als er zu mir in die Oberstadt fuhr, solche Visionen

hatte. Trotzdem fragte ich das am Nebentisch sitzende Paar,

das ich als russische Touristen erkannte, in ihrer Sprache:

«Haben Sie Motorräder gesehen?»

«Die Harleys», die junge Frau wandte sich an den Mann,

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«hatten ein internationales Treffen in Rijeka. Dort waren

wir letztes Jahr», sagte sie lächelnd zu mir. «Aber hier?»

«Hier ist nichts», sagte ihr Begleiter. «Die Unruhen dau-

ern schon seit dem Morgen, aber nur im Hafen. Das Militär

hat die Viertel dort so dicht abgesperrt, daß keine Maus

durchschlüpfen kann. Da, seht mal!»

Während er das sagte, schaute er wie alle anderen zum

Himmel. Über dem Platz, irgendwo zwischen dem Mina-

rett der Imam-Ali-Moschee und den Türmen der Seligen

Jungfrau Maria, waren drei Militärhubschrauber zu sehen.

Da sie sehr tief fl ogen, machten sie einen fürchterlichen

Lärm. Auf der Höhe der Admiralität änderten sie plötzlich

den Kurs und fl ogen direkt auf das Hafenviertel zu. Kurz

darauf hörte man vom Meer her das dumpfe Geräusch ei-

niger Explosionen.

«Heute abend», sagte der Russe, «wird alles vorbei sein.»

«Bist du aus dem Baltikum?» fragte mich die Frau. «Du

hast so einen harten Akzent.»

Ich nickte und beugte mich über die Eis- und Dessertkar-

te des Cafés «El Raschid», die ich kannte. Meine russischen

Nachbarn waren mit sich selbst beschäftigt. Sie waren jung

und sympathisch und sahen aus wie ein Paar auf Hochzeits-

reise.

Ariston wohnte im Hafen. Ich war nur einmal bei ihm

gewesen, mit einem Empfehlungsschreiben von Professor

Hannover. Er hatte mich in der schmalen, langen Diele emp-

fangen, den Brief gelesen und dann fast fl üsternd gesagt:

«Kommen Sie nie mehr hierher, bitte merken Sie sich

das.» – Und nach kurzer Pause fügte er lauter hinzu: «Wenn

Sie ein Quartier gefunden haben, schicken Sie mir bitte die

Adresse. Ich lasse von mir hören, wenn es an der Zeit ist.

Glauben Sie bitte nicht, daß Sie der einzige Schüler sind.»

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Später, als wir uns immer wieder in verschiedenen Teilen

der Stadt trafen, störte seine Sprödigkeit mich überhaupt

nicht mehr. Er kannte alle alten Sprachen, allein diese Tat-

sache weckte meinen tiefsten Respekt. Ich wagte nie zu

fragen, warum er sich kein einziges Mal nach meiner Dis-

sertation erkundigte, und ich versuchte auch nicht den

Grund für sein eigenartiges System herauszufi nden: Über

die bevorstehenden Treffen informierte er mich immer

durch einen Brief, den ein Bote überbrachte. Hatte er kein

Vertrauen in die Post? Geradezu eine Beleidigung war der

Verdacht, er könne an den Kurierdiensten der Stadt betei-

ligt sein. Wollte er vielleicht seine Schüler isolieren, damit

sie nichts voneinander erfuhren?

Die Hitze wurde, anstatt nachzulassen, am Nachmittag

noch größer. Im Schatten der Palmen, die rund um die Ar-

kaden der Admiralität standen, saß ein beinloser Bettler.

Sicher hatte man ihn heute nur der Unruhen wegen nicht

entfernt: Polizei, Militär und Stadtwache hatten anderes zu

tun. Ich warf ihm eine Silbermünze in die Schüssel. Der

Blick seiner durch den Grauen Star getrübten Augen war

entsetzlich, eigentlich war es kein Blick, sondern die An-

kündigung der Leere. Mich schauderte, als wäre das eine

speziell an mich gerichtete Warnung: Geh nicht weiter.

Aber ich folgte weiter, im Grunde planlos, einem Weg in

den botanischen Garten. Der Garten erstreckte sich über

einige Hektar hinter dem Admiralitätsgebäude bis hin zur

Diokletian-Allee, von der er durch eine Mauer getrennt

war, in der es keinen Durchgang zur anderen Seite der

Stadt, das heißt zum Hafen, gab. Ich konnte nicht umhin, in

diesem Moment an Madame Sorge zu denken. Sie war die

einzige unter den Schülern meines Lehrers, die ich kennen-

gelernt hatte, wenn auch zufällig. Ariston hatte ein Treffen

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in diesem Garten anberaumt, in dem Teil, wo Pistazien und

Maulbeerfeigen einen Kreis bildeten. In der Mitte stand

eine mit einem Löwenrachen verzierte Steinbank. Da sah

ich die beiden in ein Buch vertieft. Sie las langsam einen

Text vor, er hörte zu, korrigierte hin und wieder ein Wort

oder gab auf französisch einen Kommentar ab. Als er mich

bemerkte, konnte ich nicht mehr zurück, also sah ich auf

die Uhr, um zu unterstreichen, daß ich zur verabredeten

Zeit gekommen war. Ariston winkte mich mit einer Hand-

bewegung her, worauf er uns einander vorstellte – trocken

und sachlich. Bevor wir uns zu unserem Unterricht setzten,

schaute ich dem weißen Fleck des Hutes von Madame Sor-

ge nach, die im Schatten der Pistazien verschwand, und

fragte, in welcher Sprache das Buch geschrieben sei, mit

dem sie gearbeitet hatten.

«Ein Poem von Ferdusi», erwiderte er, «haben Sie davon

gehört?»

Da ich nicht davon gehört hatte, fügte er hinzu: «Das ist

Altpersisch.» Und gleich darauf stellte er mir, wie es seine

Art war, eine Frage: «Sehen Sie den Weg, auf dem Madame

Sorge geht? Er ist steinig, nicht wahr, also sagen Sie mir

bitte, was ‹steinig› heißt. Wie haben Sie gesagt? Trachys?

Gut, nur der Akzent war falsch, Griechisch ist kein Franzö-

sisch …»

Das war der einzige Scherz, den ich von Ariston je gehört

hatte. Wir kamen übrigens gleich darauf auf den Eigenna-

men der Landschaft Trachonitis zu sprechen, die der Evan-

gelist Lukas als Land der Heiden erwähnt.

Jetzt war die Bank unter den Pistazien leer, und die vage

Erinnerung an Madame Sorge löste sich in der glühenden

Luft des Nachmittags auf. In der Ferne, hinter der steiner-

nen Mauer, die aus Resten der Diokletian-Thermen gebaut

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war, hörte man kurze Salven von Maschinengewehren, Si-

renen von Krankenwagen und Kanonaden schwerer Ge-

schütze. Der im vorigen Jahrhundert von dem Philanthro-

pen Hersz angelegte Garten nahm diese Geräusche ruhig

auf, als gehörten die hier wachsenden Pfl anzen zu einer

Ordnung, in der Politik und Krieg nichts zu sagen haben.

Doch das war eine Täuschung. Als ich auf der chinesischen

Brücke über den runden Teich ging und die Riesenschild-

kröten zwischen den Blättern der Seerosen betrachtete, er-

schütterte ganz in der Nähe eine von einem gellenden Pfei-

fen angekündigte Detonation die Erde, den Holzsteg, die

Luft und die Pfl anzen.

Erst nach einigen Sekunden, als die letzten Reste von

Steinen, Holz, Stahl, Erde und Blättern in den Teich gefal-

len waren und ich aus dem Wasser stieg, begriff ich, was

geschehen war: Eine Granate hatte die Mauer des Gartens

getroffen. Steinsplitter oder die Wucht der Detonation

selbst – wahrscheinlich sowohl das eine wie das andere –

hatten den Steg weggerissen. Von der Konstruktion in chi-

nesischem Stil war nicht viel übrig. Mein Fotoapparat lag

irgendwo auf dem Grund des Teichs. Neben mir trieben

zwei tote Schildkröten. Nicht ohne Anstrengung kroch ich

aus dem Schlamm. Die verdreckten Sandalen waren so

schwer, als würde jede von ihnen mehr als ein Kilo wiegen.

Auch meine Uhr war weg, das Band mußte im Wasser ge-

rissen sein. Ich wollte mir eine Zigarette anstecken, aber in

der Seitentasche meiner Jacke war nur ein Brei aus Tabak.

Der Kopf tat mir weh. Ich legte mich auf den Rasen, auf den

Rücken, und schaute in den reinen, hellen Himmel, an dem

nicht die kleinste Wolke stand. Es war mir völlig egal, ob

mich hier jemand von der Wache, ein Polizist, ein Soldat

oder ein Rebell fi nden würde; jetzt, in der Dämmerung, in

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