Upload
dinhkhuong
View
213
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall 266 Seiten, Gebunden ISBN: 978-3-406-58243-1
Unverkäufliche Leseprobe
© Verlag C.H.Beck oHG, München
Pawel Huelle Das letzte Abendmahl Roman
9
Kapitel I
Seltsame Konsequenzen eines seltsamen Erwachens
Die Neuigkeiten, die Jussuf von der anderen Seite des Flus-
ses brachte, waren beunruhigend. Die Regierungstruppen
durchkämmten die Unterstadt, und kein Winkel war vor
ihnen sicher. Die glänzenden schwarzen Motorräder, die
viel zu schwer zu sein schienen, als daß sie das schmale
Rinnsal im Tal hätten überspringen oder einem Rebellen
durch eine Gasse über eine Treppe hinterherjagen können,
waren in Wirklichkeit wendig wie Libellen. Der Unglückli-
che, der sich auf die Schwerfälligkeit der Maschinen verließ
und seinen Beinen nachgab oder in Atemnot geriet, bezahl-
te mit dem Leben. Das Töten sah nicht aus wie eine Exeku-
tion. Wenn der Aufständische sich in Reichweite einer Feu-
erwaffe befand, streckte ihn ein Schuß nieder, der wie ein
trockenes Klatschen klang. Bisweilen, wenn ein Fahrer –
von der Eintönigkeit seines Dienstes gelangweilt – be-
schloß, sich zu amüsieren, bekamen die Passanten ganz
umsonst ein Spektakel zu sehen wie von einem Straßen-
theater. Die Motorradfahrer bedienten sich dabei meist eines
dünnen Stahldrahtes ohne Umhüllung. Dieser erdrosselte
das Opfer schneller als eine spanische Garrotte. Als neben
dem Brunnen der Freiheit einer der Fahrer einem Fliehen-
den zuerst die Schlinge um den Hals warf und dann die
Leiche rund um den Platz schleifte, standen die Besucher
10
des Cafés «El Raschid» von ihren Plätzen auf, um dieses
Schauspiel mit Beifall zu belohnen.
«Es stimmt» – Jussuf pulte wie üblich mit einem Zahn-
stocher im Mund herum –, «alle hassen sie. Ich auch.
Hunde, denen nie irgend jemand irgend etwas beigebracht
hat. Aber warum muß man das am hellichten Tag machen?
Vor den Augen der Journalisten? Und der Bevölkerung?
Man hätte sie doch nachts schnappen können, wenn die
Stadt schläft, sie zum Hafen bringen, auf einen der Pana-
madampfer verfrachten, die am Kai schon Jahre vor sich
hinrosten, und fünf Meilen vom Ufer einfach ertränken. So
wie Mao Tse-tung die Huren in China. Oder nicht?»
Jussuf sprach solche Fragen gern an. Daraus ging immer-
hin hervor, daß er dies und jenes las oder zumindest von
einem seiner Lehrer etwas wußte.
«Soweit ich mich an den Film erinnere», sagte ich und
winkte den Kellner herbei, «hat man diese fünf- oder zehn-
tausend Prostituierten im Fluß ertränkt. Verstehst du, Jus-
suf? Im Fluß, nicht im Meer.»
Er nahm einen Kaffee und ein Glas kaltes Wasser.
«Das eine ist Scheiße, und das andere ist Scheiße», sagte
er langsam, wobei er jedes Wort betonte. «Und außerdem
unglaubwürdig», fügte er hinzu, damit es keinen Zweifel
gab, was er von der ganzen Sache hielt. «Was macht das für
einen Unterschied?»
«Den, daß die Leichen der Frauen noch Hunderte von
Meilen von der Strömung getragen wurden. Und im
Meer?»
«Haie», kicherte er, «jede Menge Haie. Aber die Aufstän-
dischen, die sind Aas. Die stinken, wenn sie noch leben.
Mir tut es um keinen von denen leid. Verstehst du? Um kei-
nen. Wenn ich sauer geworden bin, dann deshalb» – er
11
zeigte auf den Sonnenball –, «weil sie mitten am Tag bei
dieser Gelegenheit immer auch ein paar ganz normale
Leute umlegen. Und die Journalisten sind nicht viel besser.
Die sind wie die Regierungstreuen.» Er gab mir einen Brief
von Ariston und fragte: «Du hast etwas von einem Film ge-
sagt, erinnerst du dich an den Titel?»
Ich erinnerte mich nicht. Ariston, der nie Telefon, Fax
oder Computer benutzte, teilte mir mit, daß unser Unter-
richt weder heute noch in den nächsten Tagen stattfi nden
werde. Nicht nur wegen der aktuellen Situation. «Ich fahre
ins Dorf Oasin, in einer Angelegenheit, die keinen Auf-
schub duldet.» Das war die ganze Erklärung, danach folg-
ten ein paar neue Sätze zum Übersetzen. «Bleib lieber mit
dem Wörterbuch zu Hause und misch dich in nichts ein,
ich melde mich, wenn ich wieder da bin», schrieb er zum
Schluß wieder auf englisch.
Jussuf, der keine Antwort auf die Frage nach dem Film
erhalten hatte, zeigte auf die altertümliche Schrift; der Ab-
satz in Aristons zierlicher Schönschrift hatte in der Tat et-
was sehr Würdevolles.
«Bist du zum Lernen hierhergekommen? Und was weiß
dieser Alte? Mich interessiert das ja nicht. Ich bin nur der
Bote. Aber weißt du, was man sich erzählt? Daß er gar nicht
Ariston heißt. Und kein Grieche ist. Ihr Europäer laßt euch
immer reinlegen.»
Ich bezahlte die Sendung und sagte, eine Antwort hätte
ich nicht. Er stieg auf den Motorroller und erwiderte: «Ich
fahre sowieso nicht runter, bin doch nicht bescheuert!»
Ich erinnere mich: In meiner Wohnung direkt über dem
Café war die Klimaanlage kaputt. Ich legte die Hausaufga-
be für Ariston beiseite und ging mit dem Fotoapparat wie-
der hinaus. Die Busverbindung auf die andere Seite des
12
Flusses zum Gebäude der alten Admiralität war außer Be-
trieb. Die Haltestelle, an der ein paar Tage zuvor ein Bus
voller Passagiere in die Luft gefl ogen war, war immer noch
ein einziges riesiges Loch, der Form halber von einem Po-
lizeiband eingesäumt. Über die fast leere, vor Hitze glü-
hende Straße gelangte ich zum Berg der Propheten. Oben,
bei den großen Fernrohren, wo sich sonst immer Touristen
tummelten, war kein Mensch. Aber – o Wunder – die Zahn-
radbahn, die in der Zeit der Engländer gebaut worden
war, fuhr wie immer. Das bemerkte ich sofort, ich sah, wie
zwei der kleinen blauen Waggons sich auf halber Strecke
trafen – genau an der Stelle, wo inmitten eines Oliven-
hains, umgeben von der Palisade der Zypressen, das kop-
tische Kloster stand. Unten, hinter dem ausgetrockneten
Bett des Flüßchens, erstreckte sich die von Mauern ein-
gefaßte Altstadt mit ihren Minaretten und christlichen
Türmen.
Der Waggon aus der Zeit Königin Victorias kletterte lang-
sam nach oben, und ich dachte an Ariston, der sich mit je-
dem seiner Schüler getrennt verabredete, in verschiedenen
Stadtteilen, ganz so, als erforderte das Lernen des Griechi-
schen Konspiration. Für diese Absonderlichkeit gab es ver-
schiedene Erklärungen, aber jetzt, während ich auf den
blauen Bahnwaggon wartete, der schon das koptische Klo-
ster passiert hatte und sich an der Mauer des jüdischen
Friedhofs entlang mühsam nach oben schraubte, erfuhr ich
eine kleine Erleuchtung: Ariston war immer bemüht, daß
der von ihm vorbereitete Text mehr oder weniger direkt mit
dem Ort zu tun hatte, an dem er die Stunde abhielt. Warum
aber hatte er mich eines Tages mit auf diesen Hügel genom-
men, der anscheinend in keiner Weise mit der Apologie des
Aristides verbunden war? Und wie war das damals?
13
Damals wandte sich Aristides von Athen mit folgenden Worten
an Kaiser Hadrian: Sie behaupten, daß Dionysos ein Gott sei,
der nächtliche Feste feiere, die Trunkenheit lehre und fremde
Weiber raube. Zuletzt, heißt es, sei er rasend geworden und
schließlich von den Titanen ermordet worden. Konnte also Dio-
nysos, da er ermordet wurde, sich selbst nicht helfen und war
außerdem ein Rasender und Trunkenbold, wie könnte er ein
Gott sein? Wie soll derjenige anderen helfen, der sich selbst
nicht helfen konnte? Ganz anders Jesus, o Kaiser …
«Wie immer das klingen mag», sagte ich damals, nachdem
ich mit Mühe vor allem den letzten Satz übersetzt hatte,
«wie immer das klingen mag, das Argument des Aristides
ist dumm. Wie kann man auf diese Weise das Christentum
verteidigen? Schließlich haben die Gegner von Jesus fast
genau die gleichen Argumente benutzt. Er war für sie nichts
anderes als ein Vagabund, ein Verrückter, Säufer und Hu-
renbock. Und er half sich nicht selbst, wie hätte er daher
anderen helfen sollen? Was Aristides über Dionysos sagt,
sagen die Gegner von Jesus über diesen. Sind das einfach
symmetrische Argumente?»
Ariston antwortete damals nicht auf meine Fragen. Als
sich der Waggon voller Touristen in Bewegung setzte, erhob
er sich von der Bank, auf der wir schon eine gute Stunde
verbracht hatten, und zeigte auf das koptische Kloster.
«Weißt du, daß das die älteste Kirche in dieser Stadt ist?
Und vielleicht die älteste erhaltene Kirche der Christen in
der ganzen Welt?»
Als ich jetzt in dem völlig leeren Waggon hinunterfuhr,
dachte ich, auch diese Ortswahl sei kein Zufall gewesen.
Der Text, mit dem er mich damals quälte – genauer gesagt,
das schwierigste Fragment daraus –, stammte aus der er-
14
sten Apologie in der Geschichte des Christentums. Ob Her-
mias, ob Theophilos von Antiochia, Claudius Apollinaris,
Miltiades, Tatian der Syrer, ob Justin der Märtyrer, oder
auch der Namensvetter meines Lehrers, Ariston von Pella,
sie alle schrieben ihre Verteidigungen der Christen n a c h
der berühmten, herausragenden Rede des Aristides von
Athen. Vielleicht sollte also die älteste Apologie an dem Ort
gelesen werden, von dem aus man einen Blick auf die älte-
ste Kirche hatte? Im übrigen, was wußte ich schon über die
Kopten? Ich hatte nur einmal, als Tourist in der Grabeskir-
che, ihren Gesang gehört. Er war mächtig, archaisch und so
schön, wie ich es selbst in russischen orthodoxen Kirchen
noch nie gehört hatte.
Von der unteren Station der Bahn ging ich zu Fuß in die
Altstadt. In den engen Gassen tat sich scheinbar nichts.
Doch die heruntergelassenen Jalousien der Läden, die lee-
ren Terrassen der Cafés und die wenigen Touristen, die ver-
stohlen in ihre Hotels huschten, all das machte einen recht
düsteren Eindruck. Nur am Rande des armenischen Viertels
sah ich ein paar Jungen auf der Straße Fußball spielen. Sie
waren glücklich, weil ihnen kein Auto in die Quere kam.
Das Taxi, das ich schließlich erwischte, fuhr langsam wie
zu einem Begräbnis. Auf der Brücke, bei dem Militär posten,
wollte man uns zurückschicken, aber der Journalistenaus-
weis, den ich in meiner Jackentasche fand – wenn auch un-
gültig und zerknittert –, machte uns den Weg frei.
«Die Amerikaner sind an allem schuld», sagte der Fah-
rer, während er mich aufmerksam im Spiegel beobachtete.
«Zuerst bezahlen sie die Rebellen, dann lassen sie sie um-
bringen und zum Schluß fi lmen sie alles. Amerika ist das
Böse schlechthin. Wenn Amerika nicht wäre, wäre dieses
Land glücklich. Wie der Libanon früher.»
15
Ich nickte, vor dem Gebäude der Admiralität bezahlte
ich ihn. Auf dem riesigen Platz mit dem Brunnen der Frei-
heit in der Mitte, wo zwei diskret getarnte gepanzerte Au-
tos lauerten, pulsierte das Leben wie immer. Nur das Auge
eines geübten Beobachters registrierte, daß es etwas weni-
ger Rikschas und Taxis als sonst waren, die um das große
Rondell kreisten und sich jeden Moment von ihm lösen
konnten wie vereinzelte Insekten, um an einer der zwei
Haltestellen zu landen: beim Hotel Continental, wo die
gestreiften Markisen des Cafés «El Raschid» an die Zeit
von Prinz Albert erinnerten, oder beim Gebäude der Ad-
miralität, wo ich gerade ausgestiegen war. Die die Aus-
weise von Passanten kontrollierenden Polizisten, die ich
aus den Augenwinkeln sah, während ich langsam auf die
Terrasse des Cafés zuging, gehörten hier zum alltäglichen
Stadtbild, was mich in meiner Entscheidung, in Zukunft
auf Jussufs Dienste zu verzichten, nur bestätigte. Kurier-
dienste, die man telefonisch bestellen konnte, gab es in
der Stadt einige, warum sollte ich mir also diesen unge-
reimten Blödsinn anhören? Sicher hatte der Junge am Tag
zuvor eine der zwielichtigen Vorortspelunken besucht,
wo man unter den Plakaten der Freiheitsbewegung und
begleitet von den rhyth mischen Klängen einer äußerst
schrillen Variante des lokalen Techno aus Afghanistan im-
portiertes Gras kiffte.
‹Das muß ordentlicher Stoff gewesen sein›, dachte ich,
als ich die Terrasse des «El Raschid» erreichte, wenn er noch
heute, als er zu mir in die Oberstadt fuhr, solche Visionen
hatte. Trotzdem fragte ich das am Nebentisch sitzende Paar,
das ich als russische Touristen erkannte, in ihrer Sprache:
«Haben Sie Motorräder gesehen?»
«Die Harleys», die junge Frau wandte sich an den Mann,
16
«hatten ein internationales Treffen in Rijeka. Dort waren
wir letztes Jahr», sagte sie lächelnd zu mir. «Aber hier?»
«Hier ist nichts», sagte ihr Begleiter. «Die Unruhen dau-
ern schon seit dem Morgen, aber nur im Hafen. Das Militär
hat die Viertel dort so dicht abgesperrt, daß keine Maus
durchschlüpfen kann. Da, seht mal!»
Während er das sagte, schaute er wie alle anderen zum
Himmel. Über dem Platz, irgendwo zwischen dem Mina-
rett der Imam-Ali-Moschee und den Türmen der Seligen
Jungfrau Maria, waren drei Militärhubschrauber zu sehen.
Da sie sehr tief fl ogen, machten sie einen fürchterlichen
Lärm. Auf der Höhe der Admiralität änderten sie plötzlich
den Kurs und fl ogen direkt auf das Hafenviertel zu. Kurz
darauf hörte man vom Meer her das dumpfe Geräusch ei-
niger Explosionen.
«Heute abend», sagte der Russe, «wird alles vorbei sein.»
«Bist du aus dem Baltikum?» fragte mich die Frau. «Du
hast so einen harten Akzent.»
Ich nickte und beugte mich über die Eis- und Dessertkar-
te des Cafés «El Raschid», die ich kannte. Meine russischen
Nachbarn waren mit sich selbst beschäftigt. Sie waren jung
und sympathisch und sahen aus wie ein Paar auf Hochzeits-
reise.
Ariston wohnte im Hafen. Ich war nur einmal bei ihm
gewesen, mit einem Empfehlungsschreiben von Professor
Hannover. Er hatte mich in der schmalen, langen Diele emp-
fangen, den Brief gelesen und dann fast fl üsternd gesagt:
«Kommen Sie nie mehr hierher, bitte merken Sie sich
das.» – Und nach kurzer Pause fügte er lauter hinzu: «Wenn
Sie ein Quartier gefunden haben, schicken Sie mir bitte die
Adresse. Ich lasse von mir hören, wenn es an der Zeit ist.
Glauben Sie bitte nicht, daß Sie der einzige Schüler sind.»
17
Später, als wir uns immer wieder in verschiedenen Teilen
der Stadt trafen, störte seine Sprödigkeit mich überhaupt
nicht mehr. Er kannte alle alten Sprachen, allein diese Tat-
sache weckte meinen tiefsten Respekt. Ich wagte nie zu
fragen, warum er sich kein einziges Mal nach meiner Dis-
sertation erkundigte, und ich versuchte auch nicht den
Grund für sein eigenartiges System herauszufi nden: Über
die bevorstehenden Treffen informierte er mich immer
durch einen Brief, den ein Bote überbrachte. Hatte er kein
Vertrauen in die Post? Geradezu eine Beleidigung war der
Verdacht, er könne an den Kurierdiensten der Stadt betei-
ligt sein. Wollte er vielleicht seine Schüler isolieren, damit
sie nichts voneinander erfuhren?
Die Hitze wurde, anstatt nachzulassen, am Nachmittag
noch größer. Im Schatten der Palmen, die rund um die Ar-
kaden der Admiralität standen, saß ein beinloser Bettler.
Sicher hatte man ihn heute nur der Unruhen wegen nicht
entfernt: Polizei, Militär und Stadtwache hatten anderes zu
tun. Ich warf ihm eine Silbermünze in die Schüssel. Der
Blick seiner durch den Grauen Star getrübten Augen war
entsetzlich, eigentlich war es kein Blick, sondern die An-
kündigung der Leere. Mich schauderte, als wäre das eine
speziell an mich gerichtete Warnung: Geh nicht weiter.
Aber ich folgte weiter, im Grunde planlos, einem Weg in
den botanischen Garten. Der Garten erstreckte sich über
einige Hektar hinter dem Admiralitätsgebäude bis hin zur
Diokletian-Allee, von der er durch eine Mauer getrennt
war, in der es keinen Durchgang zur anderen Seite der
Stadt, das heißt zum Hafen, gab. Ich konnte nicht umhin, in
diesem Moment an Madame Sorge zu denken. Sie war die
einzige unter den Schülern meines Lehrers, die ich kennen-
gelernt hatte, wenn auch zufällig. Ariston hatte ein Treffen
18
in diesem Garten anberaumt, in dem Teil, wo Pistazien und
Maulbeerfeigen einen Kreis bildeten. In der Mitte stand
eine mit einem Löwenrachen verzierte Steinbank. Da sah
ich die beiden in ein Buch vertieft. Sie las langsam einen
Text vor, er hörte zu, korrigierte hin und wieder ein Wort
oder gab auf französisch einen Kommentar ab. Als er mich
bemerkte, konnte ich nicht mehr zurück, also sah ich auf
die Uhr, um zu unterstreichen, daß ich zur verabredeten
Zeit gekommen war. Ariston winkte mich mit einer Hand-
bewegung her, worauf er uns einander vorstellte – trocken
und sachlich. Bevor wir uns zu unserem Unterricht setzten,
schaute ich dem weißen Fleck des Hutes von Madame Sor-
ge nach, die im Schatten der Pistazien verschwand, und
fragte, in welcher Sprache das Buch geschrieben sei, mit
dem sie gearbeitet hatten.
«Ein Poem von Ferdusi», erwiderte er, «haben Sie davon
gehört?»
Da ich nicht davon gehört hatte, fügte er hinzu: «Das ist
Altpersisch.» Und gleich darauf stellte er mir, wie es seine
Art war, eine Frage: «Sehen Sie den Weg, auf dem Madame
Sorge geht? Er ist steinig, nicht wahr, also sagen Sie mir
bitte, was ‹steinig› heißt. Wie haben Sie gesagt? Trachys?
Gut, nur der Akzent war falsch, Griechisch ist kein Franzö-
sisch …»
Das war der einzige Scherz, den ich von Ariston je gehört
hatte. Wir kamen übrigens gleich darauf auf den Eigenna-
men der Landschaft Trachonitis zu sprechen, die der Evan-
gelist Lukas als Land der Heiden erwähnt.
Jetzt war die Bank unter den Pistazien leer, und die vage
Erinnerung an Madame Sorge löste sich in der glühenden
Luft des Nachmittags auf. In der Ferne, hinter der steiner-
nen Mauer, die aus Resten der Diokletian-Thermen gebaut
19
war, hörte man kurze Salven von Maschinengewehren, Si-
renen von Krankenwagen und Kanonaden schwerer Ge-
schütze. Der im vorigen Jahrhundert von dem Philanthro-
pen Hersz angelegte Garten nahm diese Geräusche ruhig
auf, als gehörten die hier wachsenden Pfl anzen zu einer
Ordnung, in der Politik und Krieg nichts zu sagen haben.
Doch das war eine Täuschung. Als ich auf der chinesischen
Brücke über den runden Teich ging und die Riesenschild-
kröten zwischen den Blättern der Seerosen betrachtete, er-
schütterte ganz in der Nähe eine von einem gellenden Pfei-
fen angekündigte Detonation die Erde, den Holzsteg, die
Luft und die Pfl anzen.
Erst nach einigen Sekunden, als die letzten Reste von
Steinen, Holz, Stahl, Erde und Blättern in den Teich gefal-
len waren und ich aus dem Wasser stieg, begriff ich, was
geschehen war: Eine Granate hatte die Mauer des Gartens
getroffen. Steinsplitter oder die Wucht der Detonation
selbst – wahrscheinlich sowohl das eine wie das andere –
hatten den Steg weggerissen. Von der Konstruktion in chi-
nesischem Stil war nicht viel übrig. Mein Fotoapparat lag
irgendwo auf dem Grund des Teichs. Neben mir trieben
zwei tote Schildkröten. Nicht ohne Anstrengung kroch ich
aus dem Schlamm. Die verdreckten Sandalen waren so
schwer, als würde jede von ihnen mehr als ein Kilo wiegen.
Auch meine Uhr war weg, das Band mußte im Wasser ge-
rissen sein. Ich wollte mir eine Zigarette anstecken, aber in
der Seitentasche meiner Jacke war nur ein Brei aus Tabak.
Der Kopf tat mir weh. Ich legte mich auf den Rasen, auf den
Rücken, und schaute in den reinen, hellen Himmel, an dem
nicht die kleinste Wolke stand. Es war mir völlig egal, ob
mich hier jemand von der Wache, ein Polizist, ein Soldat
oder ein Rebell fi nden würde; jetzt, in der Dämmerung, in