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ALBERT BIESINGER Kinder brauchen mehr als alles Eine Elternschule Schwabenverlag

Leseprobe 'Kinder brauchen mehr als alles' · Sie werden sich Ihre eigenen Gedanken machen und dies hat in die-sem Fall einen tiefen Sinn: Sie schreiben als Eltern mit Ihrem Kind

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Page 1: Leseprobe 'Kinder brauchen mehr als alles' · Sie werden sich Ihre eigenen Gedanken machen und dies hat in die-sem Fall einen tiefen Sinn: Sie schreiben als Eltern mit Ihrem Kind

A L B E R T B I E S I N G E R

Kinder brauchen mehr als alles

Eine Elternschule

Schwabenverlag

Page 2: Leseprobe 'Kinder brauchen mehr als alles' · Sie werden sich Ihre eigenen Gedanken machen und dies hat in die-sem Fall einen tiefen Sinn: Sie schreiben als Eltern mit Ihrem Kind

Inhalt

9 Mehr als alles?Albert Biesinger

Du kommst in unser Leben

12 Du kommst in unser Leben – Schwangerschaft als EreignisChristiane Bundschuh-Schramm/Marlies Mittler-Holzem

17 »Du bist mein geliebtes Kind« – Geburt als LebenswendeKlaus Kiessling

26 Du gehst jetzt in den Kindergarten … wir begleiten dichBarbara Berger

32 Wir begleiten uns auf dem KommunionwegHerbert Bendel/Jörn Hauf

Herausfordernd und verletztlich – Pubertät

38 Wenn der Glaube in die Pubertät kommtAlbert Biesinger

44 Seid putzmunter: Wenn aus Kindern Jugendliche werdenUlrich Peters/Werner Tzscheetzsch

Diese Texte haben wir Ihnen als Leseprobe zur Verfügung gestellt.

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48 Pubertät: Wenn die Eltern schwierig werdenMichael Krämer

54 Jetzt wird sie eine junge DameHelga Kohler-Spiegel

59 Mädchen sind doof … Jungen reifen andersHelga Kohler-Spiegel

63 Mann werden, Frau werden – mehr als »Aufklärung«Werner Tzscheetzsch

67 Sexualität begleitet das LebenDietmar Mieth

71 Jugendliche in SeelenfinsternisKlaus Kiessling

76 Mit Jugendlichen Familienrituale lebenChristiane Bundschuh-Schramm

83 »David gegen Goliath, das find’ ich das Tollste«Klaus Kiessling

Füreinander Engel sein – Familie gestalten

90 Rituale vermitteln Sinn und geben dem Kind SicherheitAlbert Biesinger

93 Füreinander Engel sein – segnen Sie Ihr KindChristiane Bundschuh-Schramm

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101 Kommunikation mit dem Kind – Gefühle zulassen und zeigenAnna Jäger

108 Kinder brauchen Freiheit – Kinder brauchen GrenzenReinhold Boschki

113 Grenzen setzen – einfordern – flexibel bleibenUlrich Peters

117 »Wenn dein Sohn, wenn deine Tochter dich fragt …«

Erzählen und Feiern als Elemente einer religiösen ErziehungHelga Kohler-Spiegel

124 Gott haut nicht ab, wenn es dunkel wirdAlbert Biesinger

Mann sein – Frau sein – Eltern sein

130 Wenn Eltern sich gegenseitig begleitenSr. M. Birgit Reutemann/Paul Stollhof

134 Starke Eltern – schwache Eltern: Wer erzieht eigentlich wen?Marlies Mittler-Holzem

138 Vater sein – Leben zwischen Wunsch und WirklichkeitPeter Müller

144 Zwischen Glucke und Rabenmutter:

Mutterbilder und eigene Vorstellungen Marlies Mittler-Holzem

Diese Texte haben wir Ihnen als Leseprobe zur Verfügung gestellt.

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152 Kinder sind die Priester ihrer ElternChristiane Bundschuh-Schramm

156 Eltern brauchen Spiritualität – aber welche?Albert Biesinger

162 Ausblick: Eltern können noch viel mehrAlbert Biesinger

166 Textnachweis

167 Autorinnen und Autoren

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Mehr als alles?

»Wo war ich eigentlich, als ich noch nicht da war?« – So ein siebenjäh-riges Kind. »Papa, warum kommt man überhaupt auf die Welt, wennman doch wieder sterben muss?« – So ein dreizehnjähriger Junge.Ein Kind ins Leben zu rufen, heißt auch, es in den Sinn und in dieSinnlosigkeit dieser Welt zu rufen. Kinder sind uns für eine kurzeZeit anvertraut. Sie sind noch ganz nahe am Geheimnis ihres Ur-sprungs. Für uns Eltern ist es das Wunder unseres Lebens, wie aus Sa-menzelle und Eizelle – mit dem Auge kaum zu sehen – neues Lebenentsteht. Wir geben unserem Kind einen Namen. Es gehört zu uns. Die Gabe,die uns Gott in einem Kind anvertraut, ist so groß, dass wir unser Le-ben auf das Kind einstellen, es nähren, pflegen und begleiten. Dazugehört auch, Kindern die tiefer liegende Geborgenheit ihrer Her-kunft aus Gott spürbar zu machen. Ihre Fragen nach der Welt, nachGott, sind Fragestellungen, die uns Erwachsene ebenfalls betreffen.»Mehr als alles« … Das klingt nach Überforderung der Eltern. Wir El-tern bekommen schließlich auch nicht mehr als alles im Leben. Ist esnicht sogar gefährlich, Kindern zu viel zu geben und Ihnen damitgleichzeitig eine hohe Anspruchshaltung anzugewöhnen?»Mehr als alles« bezieht sich nicht auf materiellen Reichtum, erst garnicht auf die Strategie, mangelnde Zeit und Zuwendung durch umsomehr Geschenke und Taschengeld auszugleichen. »Mehr als alles« meint vielmehr, Kindern den Horizont der Welt undder Wirklichkeit auch mit dem »mehr« an Hintergründigkeit, an ge-heimnisvollen Zusammenhängen des Lebens zu erschließen. Sie reli-giös und ethisch nicht im Regen stehen zu lassen, ist die Aufgabe, dieaus dieser uns von Gott anvertrauten Gabe folgert.

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Die Ihnen vorliegende »Elternschule« spaltet bewusst Religiositätund Sinnorientierung nicht ab, sondern integriert sie in grundle-gende Beziehungsprozesse zwischen Eltern und Kindern. »Mehr als alles« – sich nicht auf die innerweltlichen Schubladen ein-grenzen lassen, über das Alltägliche hinaus fragen nach den Gold-stücken menschlicher Existenz. Dies macht unsere Familien reicherund gibt ihnen Kommunikationsdichte und große Visionen für ihrgemeinsames Leben. Unsere eigene Kompetenz als Eltern zu stärkenund uns selber im Dialog mit unseren Kindern und Jugendlichenweiterzuentwickeln, ist eine zentrale Chance unseres Lebens.Wir gehen nicht von »heilen Familien« aus. Alle sind wir auch mitFehlern und Schwächen behaftet, unser Leben ist noch nicht in ei-nem vollendeten Heil. Aber: In der Zusage Gottes für Ihr Kind undfür Sie sind wir bereits in der Umfassungserfahrung der hintergrün-digen Geborgenheit Gottes, der uns Herkunft und Zukunft ist. Viele Familien sind Chance und Schicksal für Kinder und Eltern zu-gleich. Für viele Kinder ist es in ihren Familien nicht auszuhalten –aber auch: Oft sind Eltern machtloser, als wir denken. Diesen Zustandkann man beklagen, aber dies wird nicht viel nützen. Als Eltern insich selbst die Kräfte abzurufen, die wir zur Verfügung haben, unsdurch Erfahrungen und Gedanken anderer Eltern anregen lassen, isteines der wichtigen Ziele dieses Buches.Zur Elternkompetenz gehört auch religiöse Kompetenz. Religiöse Er-ziehung ist einfacher, als viele denken. Man muss dafür nicht studierthaben … Von innen heraus eigene Gottesvorstellungen mit Kindernzu teilen, auch Zweifel zu teilen und mit Kindern den Gottesweg ge-meinsam gehen, ist nicht so schwierig, wie manche denken. EinWeltraumingenieur sagte mir nach einem Abendvortrag: »Wenn esso einfach ist, dann kann ich’s ja auch …«Diese Elternschule kann von Ihnen selbst weiter geschrieben werden.Sie werden sich Ihre eigenen Gedanken machen und dies hat in die-sem Fall einen tiefen Sinn: Sie schreiben als Eltern mit Ihrem KindIhre eigene Familiengeschichte.

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Seid putzmunter: Wenn aus Kindern Jugendliche werden

Seid putzmunter

Was ich aber euch sage,

das sage ich allen: Seid wachsam!

Passt auf, dass sie euch eure Träume nicht rauben.

Spitzt die Ohren und hört die falschen Töne in ihren Reden.

Seid aufmerksam und prüft,

ob sie ihre Versprechen auch halten.

Seid auf der Hut, dass die Pläne,

für welche sie euch gewinnen wollen,

auch eure eigenen Pläne sind.

Bemerkt, wo Unrecht geschieht,

und nehmt es nicht als unabänderlich hin.

Lasst euch euren Mut nicht nehmen

und behaltet einen klaren Blick.

Nehmt sie wahr, die kleinen und die großen Wunder, denn – es gibt sie!

Seid offen für die Menschen um euch herum,

lasst sie ausreden, bevor ihr ein Urteil fällt.

Seid wachsam auf die kleine Stimme in euch selbst

und schenkt euch Vertrauen.

Achtet auf die Wünsche der anderen,

aber auch auf die eigenen.

Seid putzmunter, hellwach, aufgeweckt.

Dann werdet ihr das kleine Kind finden,

dann werdet ihr ihn finden, an den wir glauben,

dann findet ihr euch selbst.

Katja

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»Seid putzmunter, hellwach, aufgeweckt. Passt auf, dass sie euch eureTräume nicht rauben« – was Katja schreibt, ist Leben pur. Jugendli-che proben den Aufstand für das Leben, ein selbstständiges und sinn-volles Dasein, wie sie es verstehen und zu verstehen suchen. Und wenn Jugendliche aufstehen für das Leben, wenn aus KindernLeute werden, wird es »munter«, buchstäblich putz-munter: Dannwird auch in den (scheinbar) entlegensten Ecken gefegt, dann wirdbeherzt auf den alten Putz geklopft und geschaut, was hinter altehr-würdigen Kirchenmauern und den religiösen Vorstellungen der El-tern steckt – leere Luftschlösser, Wolkenkuckucksheime oder wirk-lich stabile und einladende Lebensräume, die ihren Träumen voneinem voll gelungenen Leben entsprechen. Jugend – das ist fraglos die Zeit der Fragen. Religiosität und Selbst-findung gehen dabei Hand in Hand. Strukturen werden in Frage ge-stellt, aber eben auch spirituelles Lebenswissen gesucht – lebenswarmund konkret. Die Fragen der Jugendlichen sind nicht geringer als dieder kleinen Philosophen, im Gegenteil. Aber eines ist in der Jugendsicher anders als in der Kindheit: Jugendliche erfahren erstmals(schmerzhaft), dass eben nicht alle Rechnungen aufgehen, dass ichmir nicht auf alles im Leben einen Reim machen kann, dass Frageneben auch offen bleiben.

Bloß nicht verkrampft locker seinSchön und recht. Aber wie gehe ich als Mutter oder Vater mit meinerTochter oder meinem Sohn in dieser Zeit um? Auch diese Antwortsteckt in Katjas Appell: Seid aufmerksam. Vielleicht ist gerade in die-ser Zeit nichts wichtiger, als Sensibilität für die Jugendlichen zu ent-wickeln – nicht in Form von Kontrolle oder, schlimmer noch, ver-krampft lockerer Haltung oder reichlich verspäteten Anwandlungenjugendlichen Lebensgefühls. Bleiben Sie ein ernsthaftes und ernst zunehmendes Gegenüber. »Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fra-gen«, schreibt Khalil Gibran in seinem Buch »Der Prophet«. Um wieviel mehr gilt das für Jugendliche. Seien Sie gastfreundlich. NehmenSie sich Zeit für Ihre Kinder, viel Zeit. Schaffen Sie eine gesprächs-

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und fragefreudige Atmosphäre in der Familie – so eine Art Famili-encafé, auch wenn es nicht selten zum Familiennachtcafé werdendürfte. Spitzen Sie die Ohren im Alltag, hören Sie zu – vorbehaltlos. Entwi-ckeln Sie Sensoren für die Zwischentöne und die unausgesprochenenFragen, die sich eher in Handlungen äußern als in Worten. GrüneHaare sprechen auch eine deutliche Sprache. Schenken Sie Vertrauenund seien Sie Ihren Kindern ein beständiges Angebot zum Gesprächund mehr noch: zur Auseinandersetzung. Aber Achtung. SolcheGespräche scheitern nicht selten daran, dass Antworten auf Fragengegeben werden, die nicht gestellt wurden. Andere daran, dass manverzweifelt bemüht ist, Konflikte zu vermeiden, statt sie fair auszu-tragen. Es ist glaubwürdiger und schafft ungleich mehr Beziehung,gemeinsam den Weg zu suchen, als das Ziel schon zu kennen, bevorman noch losgelaufen ist. Es ist weit authentischer, miteinander zuringen und zu streiten, als um des lieben (Familien-)Friedens willeneine harmonische Fassade zu erhalten, hinter der es vernehmlich gärt.Gerade in der religiösen Erziehung ist der offene, ehrliche und unge-schminkte Umgang mit der eigenen Geschichte von ausschlaggeben-der Bedeutung.

Habe Geduld gegen alles Ungelöste in deinem Herzen und versuche,

die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie

Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.

Forsche jetzt nicht nach Antworten, die dir nicht gegeben werden kön-

nen, weil du sie nicht leben kannst, und es handelt sich darum, alles zu

leben. Lebe jetzt die Fragen – vielleicht lebst du dann allmählich ohne

es zu merken eines fernen Tages in die Antwort hinein.

(Rainer Maria Rilke)

Erzählen Sie von sich. So einfach, so schwer. Berichten Sie von IhrenErfahrungen, Hoffnungen, Wünschen, Träumen und Zweifeln,ohne sich gemein zu machen. Bleiben Sie sich und Ihrer Rolle treu.

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So sagt es Katja: Behaltet einen klaren Blick. Zu diesem klaren Blickgehört auch und gerade in religiösen Dingen, die Erfahrung zu tei-len, dass nicht jede Frage eine Antwort findet. Ganz im Sinne von Rai-ner Maria Rilke: Lebe jetzt die Fragen – vielleicht lebst du dann … indie Antwort hinein.Menschen, die aufstehen, suchen Halt. Es ist eines, ihnen Halt zu bie-ten. Festhalten darf man sie nicht. Pubertät – so heißt es – ist, wenndie Eltern schwierig werden. Diese Zeit ist für die Jugendlichen unddie Eltern eine große Herausforderung. Es ist eine schwierige Ba-lance, den Kindern ein ernst zu nehmender Partner zu sein und siegleichzeitig wirklich aufstehen und gehen zu lassen in ihr eigenesLeben – ihnen die Freiheit zu geben, sich selbst und ihren eigenenWeg zu finden und ihnen dabei auch zu gestatten, eigene Fehler zumachen. So hoch der Anspruch auch ist, den Sie an sich selbst und die(religiöse) Erziehung Ihrer Kinder stellen, bleiben Sie offen für das,was Ihre jugendlichen Kinder selbst mitbringen. Noch einmal mitKatja gesprochen: Seien Sie auf der Hut, dass die Pläne, für die SieIhre Kinder gewinnen wollen, auch wirklich deren Pläne sind undnicht verspätete Versuche, eigene unerfüllte Träume vom Leben zuverwirklichen.Wenn Kinder Jugendliche werden, geht es in der Erziehung buch-stäblich um Gott und die Welt. Es geht um die gemeinsame Erfah-rung, dass es in diesem Leben mehr als alles gibt. Freuen Sie sich da-bei an der Lebendigkeit Ihrer jugendlichen Kinder – auch wenn siemitunter überraschende, verstörende und unerwartete Formen an-nimmt. Lassen Sie sich von Ihren Kindern anstecken, auch vermeint-liche Sicherheiten noch einmal in Frage zu stellen. Fragen Sie mit Ih-ren Kindern nach Gott und der Welt – putzmunter, aufgeweckt undhellwach. Soviel ist sicher: Es wird ein gemeinsames Erlebnis, und amEnde weiß man gar nicht mehr so genau, wer eigentlich von wem et-was gelernt hat.

U L R I C H P E T E R S / W E R N E R T Z S C H E E T Z S C H

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Starke Eltern – schwache Eltern: Wer erzieht eigentlich wen?

Im Zusammenleben von Eltern und Kindern verändern sich dieBedeutungen von stark und schwach mit dem Größerwerden derKinder.

✳ Übung zur Einstimmung

Teilen Sie ein leeres Blatt in zwei Spalten und schreiben

Sie über die eine »stark sein« und über die andere »schwach

sein«. Halten Sie dann schnell und spontan fest, was Ihnen zu

diesen Begriffen einfällt. Bewerten Sie Ihre Gedanken nicht.

Es kann auch interessant sein, wenn mehrere Familienmitglieder

gleichzeitig ihre Assoziationen getrennt zu Papier bringen. Ver-

gleichen Sie untereinander Ihre Ergebnisse.

Vielleicht haben Sie auch Lust in den nächsten Tagen die Zeitung

daraufhin durchzuschauen, was in unserer Gesellschaft als

»stark« und als »schwach« gilt.

Kleine Kinder sind zutiefst verunsichert, wenn sie ihre Elternschwach erleben: Sei es, dass heute andere Regeln gelten als gestern;sei es, dass die Eltern weinen müssen; sei es, dass Eltern nicht auf dieBedürfnisse ihrer Kinder eingehen können. Kleine Kinder begreifensehr genau den Unterschied zwischen ihrem Kleinsein und demGroßsein der Erwachsenen, und sie erkennen die Großen als die Star-ken an. Mit der Unbedingtheit, mit der die Kinder auf ihre Eltern an-gewiesen sind, zeigen sie denen auch ihre Zuwendung: Eltern sinddas Ein und Alles ihrer kleinen Kinder.

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Stark ist, an die Stelle von Macht, Vertrauen und Zutrauen zu setzenAufgabe der Eltern ist es von Anfang an, dieses eindeutige Verhältnisvon stark und schwach zu verändern: Sie ermuntern ihre Kleinkin-der, die Welt zu entdecken, Neues zu lernen und Stärken zu entwi-ckeln. Dies gelingt umso besser, je mehr die Eltern Vertrauen setzenkönnen in die Fähigkeiten ihrer Kinder. Es ist ein ständiger Balance-Akt, die eigene Stärke zurückzunehmen zugunsten der sich entwi-ckelnden Stärke eines Kindes: Wie intensiv ist meine Hilfestellungam Klettergerüst, wie lange halte ich die Hand unter den Po, wannstehe ich nur noch daneben, wann kann ich auf der Bank sitzen blei-ben, und wann kann mein Kind allein auf den Spielplatz gehen?Stark ist nun nicht mehr, alles für das Kind zu tun, sondern die Fä-higkeiten des Kindes richtig einzuschätzen, dem Kind etwas zuzu-trauen und sich selbst zurückzunehmen. Souveränität könnte dasneue Wort für Stärke sein.Dabei geht es zunehmend nicht nur um ein Erproben und Weiter-entwickeln körperlicher Fähigkeiten. Es geht auch darum, einen ei-genen Willen und eigene Vorstellungen zu entwickeln und durchzu-setzen. Und als stark werden Eltern erlebt, die ihre Vorstellungen aufdas Nötigste zurücknehmen können, die zuhören können und ge-sprächs- und verhandlungsbereit sind, die – wenn nötig – Fehler ein-gestehen. Dazu ist es notwendig, die Stärken, Fähigkeiten, Eigen-schaften der eigenen Kinder zu kennen, denn es geht ja nicht um»blindes« Vertrauen im Sinne von Überforderung oder Desinteresse.Es sind aber nicht nur die Stärken der Kinder oder Jugendlichen, de-nen es zu vertrauen gilt. Genauso wichtig ist das Vertrauen der Elternin sich selbst: Vertrauen in die Qualität der eigenen Erziehung undVertrauen in das eigene Vorbild.

Stark ist, unbequem zu sein Damit sich unsere Kinder orientieren können, brauchen sie Weg-marken: Werte und Einstellungen, die uns wirklich wichtig sind. Anihnen werden sie sich reiben, um zu eigenen Orientierungen, zu ei-

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genen Werten zu gelangen. Glaubwürdig können Eltern nur bleiben,wenn sie für dieses (Wenige), was ihnen wirklich wichtig ist, eintre-ten und auch mal eine Auseinandersetzung riskieren. Nicht sofortnachgeben, für Wichtiges auch eine Auseinandersetzung riskieren.

Stark ist es auch, Schwächen zu habenNur wenn unsere Kinder und Heranwachsenden an uns Schwächenfeststellen dürfen, können sie den Mut entwickeln, zu ihren eigenenSchwächen zu stehen. Eltern, die sich nicht in Frage stellen lassen, de-ren Entscheidungen unfehlbar sind, riskieren zudem den Verlust dereigenen Glaubwürdigkeit bei ihren Kindern. Fehler zugeben kön-nen, sich entschuldigen, um Verzeihung bitten: was im ersten Mo-ment als Zeichen von Schwäche ausgelegt werden könnte, zeigtgroße Souveränität im Umgang mit sich selbst.

Gott hat eine Schwäche für Schwache Dies alles wäre – mal wieder – eine heillose Überforderung für El-tern, wenn sie auf sich allein gestellt wären. Die Bibel hat noch einenpointierteren Blick auf Starke und Schwache. Viele Geschichten er-zählen davon, dass die Starken eher gefährdet sind, gottlos zu leben;sie wissen um ihre Stärke und brauchen nichts und niemanden. Die-jenigen, die sich Schwachheit oder Ohnmacht eingestehen können,scheinen eher offen zu sein für die Erfahrung von Gottes Gegenwart.Als die Jünger Jesu sich streiten, wer unter ihnen der Größte ist, stelltJesus ein kleines Kind zwischen sie und sagt: »Wer unter euch allender Kleinste ist, der ist groß.«Auch am Leben Jesu selbst entzündet sich die Diskussion, was starkund was schwach ist. Als die Jünger nach dem Tod Jesu nach Emmausunterwegs sind, erzählen sie dem Fremden, der mit ihnen geht: »Un-sere Hohepriester und Führer haben ihn (Jesus) zum Tod verurteilenlassen und ans Kreuz schlagen lassen. Wir aber hatten gehofft, dass erder sei, der Israel erlösen werde.« Und diese Erlösung wurde in Jün-gerkreisen unterschiedlich militant vorgestellt. In Jesus verdichtetsich die Kernbotschaft der gesamten Bibel: Das vermeintlich Schwa-

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che, der Durchgang durch Ohnmacht und Leid ist letztlich stark. Inder Schwäche ist Gott selbst erfahrbar, wenn er z. B. dem verzweifel-ten Elija am Horeb als sanftes Säuseln entgegenkommt (1 Kön 19).Wir sind sehr darauf getrimmt, auf die Schwächen derer zu schauen,die uns umgeben. Vor allem die Schwächen unserer Kinder beäugenwir sorgfältig und fragen uns ständig, ob es trotzdem die Schuleschafft, einen anständigen Beruf lernen kann und gut leben kann ineiner Gesellschaft, die uns selbst häufig als rau und hart erscheint.

✳ Nehmen Sie sich eine Stunde Zeit und schreiben Sie die

Stärken Ihrer Familienmitglieder auf: Fähigkeiten, Eigen-

schaften aus allen Lebensbereichen. Interessant ist es, wenn

beide Eltern dies getrennt tun und die Ergebnisse vergleichen.

Im Anschluss daran könnte die Frage stehen: Was können wir als

Eltern, wir als Familie tun oder bereitstellen, damit diese Stärken

bei uns zum Zuge kommen und weiter ausgeprägt werden können.

Eine weitere Idee: Formulieren Sie diese erkannten Stärken – bei

passender Gelegenheit. »Ich finde es beeindruckend, wie viele

Freunde du hast und wie gut du mit ihnen auskommst.«

✳ Nehmen Sie sich allein oder als Ehepaar einen Abend Zeit

und überlegen und besprechen Sie:

Welche Werte und Überzeugungen sind mir wirklich wichtig?

Wie kann ich diese Werte und ihre Wichtigkeit vermitteln?

Wo transportiere ich Werte der Umwelt, die mir nicht wirklich

wichtig sind? (es ist wichtig, reich zu sein; Arbeit geht vor …).

Welche meiner lieb gewonnenen Vorstellungen sind auf den zwei-

ten Blick auch verzichtbar oder wenigstens verhandelbar? (Klei-

dung, Hobbies, politische Ansichten).

Setzen Sie (gemeinsam) Prioritäten, um nur dort in die Ausei-

nandersetzung einzusteigen, wo es Ihnen wichtig ist.

M A R L I E S M I T T L E R - H O L Z E M

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