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Neue Zeitschrift für Musik 3/2009 Leseprobe © Schott Music, Mainz 2009

Leseprobe Neue Zeitschrift für Musik 3/2009

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Leseprobe der Neuen Zeitschrift für Musik

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Page 1: Leseprobe Neue Zeitschrift für Musik 3/2009

Neue Zeitschrift für Musik 3/2009

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© Schott Music, Mainz 2009

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«… wie jede hoffnung … unter dem hauche des leise heranschleichenden elends welkt …» DIE KRISE ALS «SCHÖPFERISCHER SPRUNG» UND MUSIKALISCHES SUJET

VON STEFAN DREES

Wie dies tapfere Gemüth gekämpft hat gegenein für jeden Menschen entsetzliches, für denMusiker, den Ohrmenschen, unfaßbares Ge-

schick, wie bald da, bald dort ihm ärztliche Hülfe ge-boten wird, wie jede Hoffnung, eine nach der andern,unter dem Hauche des leise heranschleichenden Elendswelkt, wie er von der Hoffnung zu neuen, ihn beschä-menden Enthüllungen der Wahrheit von Ermannungzur Verzweiflung schwankt und dennoch, seinem Vor-satze treu, nur Schritt für Schritt weicht, nur das un-vermeidlich Verlorne oder Versagte aufgiebt: das mußJeden, der von den Prüfungen der Menschenkraft undvon dem gewöhnlichen Maaß dieser Kraft eine richtigeVorstellung hat, mit Bewunderung und Ehrfurcht er-füllen.»1

Diese Worte, mit denen Adolph Bernhard Marx dieUmstände von Ludwig van Beethovens Ertaubungschilderte, umschreiben den Verlust der Hörfähigkeitals Moment der Krise. Damit ist ein Topos benannt,der die Person Beethovens nach dessen Tod zum Para-digma für die künstlerische Krise überhaupt und derenÜberwindung durch die Kunst gemacht hat. Im Sinneder knappen, auf den griechischen Ursprung (krisis =Urteil, Entscheidung) zurückgehenden Begriffsbildung,die im Deutschen Wörterbuch von Jacob und WilhelmGrimm nachzulesen ist – nämlich die Auffassung vonKrise als Begriff «f.[ür] die entscheidung in einem zu-stande, in dem altes und neues, krankheit und gesund-heit u. ä. mit einander streiten»2 –, wird der krisenhafteVerlust des Gehörs zum Wendepunkt, der sich auf dieExistenzbedingungen auswirkt und im Schaffen Spureneines heroischen Kampfes mit dem Schicksal hinterlässt,dabei Rezeptionsmuster wie die emphatische Rede vonder fünften Sinfonie als einer «Schicksalstragödie fürWeltbühnen. Kampf. Sieg»3 erzeugend. Die Forcierungsolcher Vorstellungen hat im 19. Jahrhundert viel dazubeigetragen, Krisensituation und Qualität des Schaffensdergestalt aufeinander zu beziehen, dass der physischeund psychische Zustand als unabdingbare Vorausset-

zung für die Originalität künstlerischer Äußerungengelesen wurden.

KRISE UND «SCHÖPFERISCHER SPRUNG»Dieser eingeschränkten Sichtweise zum Trotz trans-portiert der Begriff «Krise» unterschiedliche Sachver-halte, die allerdings im öffentlichen Bewusstsein inihren Bedeutungen gegeneinander verschwimmen. Alsallgemeine, auch in Bezug auf Politik und Gesellschaftgebrauchte Bezeichnung für «eine gefährliche, schwie-rige Situation» wird er ebenso benutzt wie – im eigent-lich medizinischen Sinn – zur Akzentuierung eines«Wendepunkt[s] in einer Entwicklung» oder zur Cha-rakterisierung einer «Situation, welche eine Entschei-dung erfordert».4 In allen drei Fällen bezeichnet «Krise»jedoch «im Sinne eines potenziellen Wendepunkts» einenfolgenschweren Moment oder Zeitabschnitt «innerhalbeines auf ein Individuum, eine Gruppe, eine Institutionoder eine Wissenschaft bezogenen Handlungs- oderEr eignisablaufs» sowie auch «die individuellen oder so-zialen Bedingungen für das Zustandekommen und Be-stehen eines solchen Zeitabschnitts».5

Unabhängig von der späteren Mythenbildung ma-chen bereits Beethovens Briefe aus dem Jahr 1801 deut-lich, dass der Komponist seine Gehörserkrankung imSinne einer solchen kritischen Zuspitzung auffasste, alsderen Konsequenzen er eine grundlegende Gefährdungseiner Fähigkeiten zur künstlerischen und zwischen -menschlichen Kommunikation befürchtete.6 Damitwird die besagte biografische Situation als Momentsichtbar, in dem die Erreichung wichtiger Lebenszieleoder auch die Bewältigung des Alltags nicht mehr denüblichen Handlungsstrategien folgen kann. Konse-quenzen und Zusammenhänge solcher Entwicklungensind dann besonders interessant, wenn, wie seitherhäufig geschehen, Krisenhaftem kulturgeschichtlicheRelevanz zugesprochen wird, denn es zeigt, wie die mitbestimmten physischen und psychischen Situationenverbundenen Umbrüche im Sinne jenes «schöpferischenSprungs», den die Psychoanalytikerin Verena Kast alskreatives Potenzial von Krisenprozessen herausgear-beitet hat,7 als Anstoß zur Entwicklung neuer Aus-

■ THEMA

BENJAMIN SCHWEITZER: «INFORMATIONEN ÜBER BARTLEBY»,KURZOPER IN ELF STATIONEN, KOMISCHE OPER BERLIN 2006

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drucksformen gelesen wird. In geradezu idealtypischerWeise macht das einschlägige Beispiel György Kurtágsdeutlich, dass die Lösung des Konflikts bisweilen be-stimmter von außen gesteuerter Strategien der Pro-blemlösung bedarf.

Kurtágs psychische Situation war in der zweitenHälfte der 1950er Jahre von tiefer Unsicherheit undOrientierungslosigkeit bestimmt.8 Die Niederschla-gung des ungarischen Volksaufstands vom Oktober1956 bezeichnet einen politischen Wendepunkt, derdazu geführt hat, dass der Komponist gemeinsam mitGyörgy Ligeti die Flucht in den Westen plante. DassLigetis illegaler Übergang über die ungarisch-öster-reichische Grenze glückte, während Kurtág zunächstin Ungarn blieb, dürfte für die weitere Verschärfungebenso bedeutsam gewesen sein wie die an sich glück -liche Fügung, 1957 aufgrund eines Stipendiums zumin-dest vorübergehend nach Paris reisen zu können. DieZeit im Ausland wurde für Kurtág zur Phase derSelbstfindung: In der französischen Hauptstadt wurdeer in Kompositionskursen bei Olivier Messiaen undDarius Milhaud mit neuen musikalischen Erfahrungenkonfrontiert, die seine bisherigen Arbeiten als künstle-rische Sackgasse erscheinen ließen. Darüber hinaus er-langte aber vor allem die Begegnung mit der PsychologinMarianne Stein zentrale Bedeutung, deren auf Musiker,Schriftsteller und Künstler spezialisierte therapeutischeArbeit Kurtágs Komponieren in neue Bahnen lenkte.Unmittelbare Konsequenzen aus den damaligen Lern-prozessen zog der Komponist nach der Rückkehr inseinem Quartetto per archi op. 1 (1959), dessen Entste-hungsprozess sowohl das produktive Ergebnis derTherapiestunden als auch die Auseinandersetzung mitdem erweiterten musikalischen Horizont, allen voranmit der Musik Anton Weberns, belegt.9 Bewusst mitder Opuszahl 1 versehen, markiert es die demonstrativeSetzung eines Neuanfangs, der in Kurtágs Schaffen fürein neues Verhältnis zur eigenen Kunst und zur Kunst-produktion steht.10

Vergleichbares hat sich zwei Jahrzehnte später imSchaffen Luigi Nonos ereignet: Für die in mehrfacherHinsicht krisenhafte Situation, die Nono gegen Mitteder 1970er Jahre durchlebte, lässt sich ein ganzes Bün-del von Ursachen zusammentragen, in dem Stränge wiedie auf den Ansatz eines allzu polemischen politischenKomponierens zielende Selbstkritik Nonos, literari-sche Erfahrungen und persönliche Verluste des Kom-ponisten, aber auch die historische Situation der Kom-munistischen Partei Italiens stark miteinander verwo-ben sind.11 Die Diskussion um Nonos «Wende», diesich während der 1980er Jahre entsponnen hat und biszum heutigen Tag nachwirkt, verdeutlicht im Gegen-satz zum Beispiel Kurtágs allerdings weitaus stärker,wie die kompositorischen Auswirkungen der Krise insZentrum publizistischen Interesses gerückt, ästhetischbewertet und von den Kommentatoren stark polarisie-rend bewertet wurden. Dass Nono freilich nur zursubtileren und gedanklich vertieften Auseinanderset-zung mit den bereits vorher in seinem Schaffen präsen-

ten Themen und Arbeitsprozessen gefunden hat, ist da-bei leider häufig übersehen worden.

KRISE ALS MUSIKALISCHES SUJETKrisensituationen werden allerdings nicht nur schaf-fensintern ausgetragen, sondern finden auch als Sujet indie Kunstwerke selbst Eingang und können dann alsGegenstand musikalischer wie szenischer Auseinander-setzung fungieren. Während das Genre der sinfoni-schen Dichtung mit Werken wie Tod und Verklärungvon Richard Strauss die Krise zum illustrativ umschrie-benen Szenario der Musik macht, dort greifbar in derAnnäherung an den Zustand eines Todkranken, derdann im verklärenden Tod seine glückhaft gedeuteteErlösung erfährt, erlauben Künstlergestalten auf derBühne einen weitaus differenzierteren Zugang. So sinddenn – um hier drei bedeutende Beispiele aus der ers -ten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu nennen – der nachkünstlerischen Idealen strebende Komponist Fritz inFranz Schrekers Der ferne Klang (1903-10), der am Le-ben scheiternde Künstler in Arnold Schönbergs Dieglückliche Hand op. 18 (1910-13) und die Gestalt desMalers Matthias Grünewald in Paul Hindemiths Ma-this der Maler (1933-35) weit mehr als bloße Hand-lungsträger, da sie zugleich auch die Auseinanderset-zung mit der Anatomie künstlerisch-biografischer Kri-sen verkörpern. Als solche künden sie zwar durchausvon Veränderungen, machen diese aber eher im Büh-nengeschehen selbst, nicht aber innerhalb der kompo-sitorischen Substanz deutlich.

Demgegenüber erscheinen gerade die Möglichkei-ten des instrumentalen Theaters geeignet, um die Krisekompositorisch im gleichermaßen musikalischen wieszenischen Agieren des (oder der) Interpreten zu ver-ankern, sie als bedrohliche Situation zu zeigen und zu-gleich gar als schlimmstmöglichen Ausgang den Zu-sammenbruch oder Exitus des Subjekts vorzuführen.Solch drastischer und bisweilen auch ironisierenderZuspitzung wohnt ein quasi-aufklärerischer Zeigecha-rakter inne, der mehr oder weniger deutlich auf kon-krete gesellschaftliche Situationen und zeittypische Be-findlichkeiten gerichtet ist. So wird in Mauricio KagelsFinale mit Kammerensemble (1980/81) der Tod des Di-rigenten in Erfüllung seiner beruflichen Pflichten öf-fentlich inszeniert, denn er bricht kurz vor Schluss auf-grund eines Herzanfalls zusammen und bleibt bis zumEnde der Aufführung liegen. Dies geschieht jedochkeineswegs überraschend, vielmehr ist die Möglichkeiteiner Katastrophe musikalisch bereits vom ersten Taktan präsent, verdichtet sich in der Schlagwerk-Kadenzzu einer unheilvollen Ankündigung und wird dannüber eine Schicht von Anweisungen in die Partitur in-tegriert, die den szenischen Rahmen einer ad libitum-Aktion umschreiben …12

… mehr erfahren Sie in Heft 2009/0332