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Leseproben Jane Austen E-Book - Reclam Verlag · Leseproben Jane Austen Die Romane Aus dem Englischen übersetzt von Ursula und Christian Grawe Nachwort und Anmerkungen von Christian

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Leseproben Jane Austen Die Romane Aus dem Englischen übersetzt von Ursula und Christian Grawe Nachwort und Anmerkungen von Christian Grawe Alle Rechte vorbehalten © 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen Made in Germany 2012 RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart www.reclam.de

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Kapitel 1

Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Jung-geselle im Besitz eines schönen Vermögens nichts dringen-der braucht als eine Frau.

Zwar sind die Gefühle oder Ansichten eines solchenMannes bei seinem Zuzug in eine neue Gegend meist un-bekannt, aber diese Wahrheit sitzt in den Köpfen der an-sässigen Familien so fest, dass er gleich als das rechtmäßigeEigentum der einen oder anderen ihrer Töchter gilt.

»Mein lieber Mr. Bennet«,1 sagte seine Gemahlin einesTages zu ihm, »hast du schon gehört, dass Netherfield Parkendlich vermietet ist?«

Das habe er nicht, antwortete Mr. Bennet.»Doch, doch«, erwiderte sie, »Mrs. Long war nämlich

gerade hier und hat es mir lang und breit erzählt.«Mr. Bennet gab keine Antwort.»Willst du denn gar nicht wissen, an wen?«, rief seine

Frau ungeduldig.»Du willst es mir erzählen; ich habe nichts dagegen, es

mir anzuhören.«Das genügte ihr als Aufforderung.»Stell dir vor, mein Lieber, Mrs. Long sagt, dass ein

junger Mann aus dem Norden Englands mit großem Ver-mögen Netherfield gemietet hat; dass er am Montag in ei-nem Vierspänner heruntergekommen ist, um sich den Be-sitz anzusehen, und so entzückt war, dass er mit Mr. Morrissofort einig geworden ist; noch vor Oktober will er angeb-

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lich einziehen, und ein Teil seiner Dienerschaft soll schonEnde nächster Woche im Haus sein.«

»Wie heißt er denn?«»Bingley.«»Ist er verheiratet oder ledig?«»Na, ledig natürlich! Ein Junggeselle mit großem Ver-

mögen; vier- oder fünftausend pro Jahr. Ist das nicht schönfür unsere Mädchen!«

»Wieso? Was hat das mit ihnen zu tun?«»Mein lieber Mr. Bennet«, erwiderte seine Frau. »Wie

kannst du nur so schwerfällig sein! Du musst dir dochdenken können, dass er eine von ihnen heiraten soll.«

»Ist er deshalb hierhergezogen?«»Deshalb! Unsinn, wie kannst du nur so etwas sagen!

Aber es könnte doch gut sein, dass er sich in eine von ih-nen verliebt, und darum musst du ihm einen Antrittsbe-such machen, sobald er kommt.«

»Dazu sehe ich gar keine Veranlassung. Warum gehstdu nicht mit den Mädchen hin, oder besser noch, schick sieallein, sonst wirft Mr. Bingley noch ein Auge auf dich; sohübsch wie sie bist du allemal.«

»Du schmeichelst mir, mein Lieber. Meine Schönheit –das war einmal, aber jetzt halte ich mir darauf nicht mehrviel zugute. Wenn eine Frau fünf erwachsene Töchter hat,sollte sie nicht mehr von ihrer eigenen Schönheit reden.«

»In solchen Fällen ist ihre Schönheit oft auch nichtmehr der Rede wert.«

»Trotzdem, mein Lieber, du musst unbedingt Mr. Bing-ley besuchen, wenn er eingezogen ist.«

»Das ist mehr, als ich versprechen kann.«»Aber denk doch an deine Töchter. Was für eine Partie

wäre das für eine von ihnen. Sogar Sir William und LadyLucas wollen bei ihm vorsprechen, und zwar nur deshalb,

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denn im Allgemeinen machen sie neuen Nachbarn ja keineBesuche. Du musst einfach hingehen. Wie können wir ihndenn besuchen, wenn du nicht gehst.«

»Du hast zu viele Bedenken. Ich bin überzeugt, Mr. Bing-ley freut sich über euren Besuch. Ich gebe dir ein paarZeilen mit meiner herzlichen Zustimmung mit, diejenigemeiner Töchter zu heiraten, die ihm am besten gefällt. Al-lerdings muss ich ein gutes Wort für meine kleine Lizzyeinlegen.«

»Das wirst du nicht tun. Lizzy ist keinen Deut besserals die anderen; wenn du mich fragst, ist sie bei weitemnicht so hübsch wie Jane und bei weitem nicht so vergnügtwie Lydia. Aber immer ziehst du sie vor.«

»Keine von ihnen ist besonders empfehlenswert«, ant-wortete er; »sie sind alle genauso albern und dumm wieandere Mädchen. Nur begreift Lizzy etwas schneller alsihre Schwestern.«

»Mr. Bennet, wie kannst du nur über deine eigenen Kin-der so abfällig reden! Es macht dir Spaß, mich zu ärgern. Mitmeinen armen Nerven hast du wohl gar kein Mitleid.«

»Du missverstehst mich, meine Liebe. Ich habe großenRespekt vor deinen Nerven. Sie und ich sind alte Freunde.Seit mindestens zwanzig Jahren höre ich dich von ihnenmit großer Besorgnis sprechen.«

»Oh, du ahnst ja nicht, was ich durchmache!«»Ich hoffe, du wirst es überleben und noch viele junge

Männer mit viertausend pro Jahr hierherziehen sehen.«»Da du sie nicht besuchen willst, werden uns auch

zwanzig nicht retten.«»Sei überzeugt, meine Liebe, wenn zwanzig da sind, be-

suche ich sie einen nach dem anderen.«In Mr. Bennet vereinigten sich Schlagfertigkeit, sarkas-

tischer Humor, Gelassenheit und kauzige Einfälle zu einer

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so merkwürdigen Mischung, dass es seiner Frau auch indreiundzwanzig Ehejahren nicht gelungen war, ihn zu be-greifen. Ihr Gemüt war leichter zu durchschauen. Sie wareine Frau von geringer Einsicht, wenig Weltkenntnis undvielen Launen. Wenn sie unzufrieden war, glaubte sie, ner-vöse Zustände zu haben. Ihre Lebensbeschäftigung war dieVerheiratung ihrer Töchter, Besuche und Neuigkeiten wa-ren ihr Lebenstrost.

Kapitel 2

Mr. Bennet war einer der Ersten, die Mr. Bingley ihre Auf-wartung machten. Er hatte von Anfang an vorgehabt, ihnaufzusuchen, obwohl er seiner Frau bis zuletzt das Gegenteilversichert hatte; und bis zum Abend nach dem Besuch wuss-te sie auch nichts davon. Dann aber kam es folgendermaßenans Licht: Mr. Bennet sah seiner zweiten Tochter beim An-nähen eines Hutbandes zu und sagte plötzlich zu ihr:

»Hoffentlich gefällt der Hut Mr. Bingley, Lizzy.«»Wie sollen wir denn wissen, was Mr. Bingley gefällt«,

sagte ihre Mutter pikiert, »wenn wir ihn nicht besuchendürfen.«

»Aber vergiss nicht, Mama«, sagte Elizabeth, »dass wirihm in Gesellschaft begegnen werden und Mrs. Long ver-sprochen hat, ihn uns vorzustellen.«

»Mrs. Long wird nichts dergleichen tun. Sie hat selbstzwei Nichten und ist eine egoistische Heuchlerin. Ich haltegar nichts von ihr.«

»Ich auch nicht«, sagte Mr. Bennet, »und wie ich glück-licherweise sagen kann, werdet ihr auf die Gefälligkeitauch nicht angewiesen sein.«

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Mrs. Bennet ließ sich zu keiner Antwort herab, aber dasie sich nicht beherrschen konnte, fing sie an, eine ihrerTöchter auszuschimpfen.

»Hör auf zu husten, Kitty, um Himmels willen! Nimmein bisschen Rücksicht auf meine Nerven. Du trampelstauf ihnen herum.«

»Kittys Husten ist wirklich rücksichtslos«, sagte ihr Va-ter, »sie hustet zur falschen Zeit.«

»Ich huste ja schließlich nicht zum Vergnügen«, ant-wortete Kitty ärgerlich.

»Wann ist dein nächster Ball, Lizzy?«»Morgen in vierzehn Tagen.«»Ach, richtig«, rief ihre Mutter, »und Mrs. Long

kommt erst am Tag vorher zurück, und deshalb kann sieihn uns auch nicht vorstellen, denn sie kennt ihn selbstnoch nicht.«

»Dann, meine Liebe, wirst du deiner Freundin zuvor-kommen und das Vergnügen haben, Mr. Bingley ihr vor-zustellen.«

»Ausgeschlossen, Mr. Bennet, ausgeschlossen, wenn ichihn doch selbst nicht kenne. Du willst uns auf den Armnehmen.«

»Deine Umsicht ehrt dich. Eine vierzehntägige Be-kanntschaft ist natürlich nicht viel. Nach vierzehn Tagenkennt man einen Menschen ja kaum. Aber wenn wir esnicht wagen, wird es jemand anders tun; schließlich müs-sen auch Mrs. Long und ihre Nichten ihre Chance wahr-nehmen, und deshalb wäre sie dir für diesen Liebesdienstsicher dankbar. Wenn du es also ablehnst, werde ich es indie Hand nehmen.«

Die Mädchen starrten ihren Vater an. Mrs. Bennet sag-te nur: »Unsinn, Unsinn!«

»Darf ich auch den Sinn dieser so entschiedenen Ableh-

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nung erfahren?«, rief er. »Hältst du die gesellschaftlichenUmgangsformen für Unsinn? Legst du gar keinen Wertauf eine korrekte Vorstellung? Da kann ich dir nicht ganzzustimmen. Was meinst du, Mary? Du bist doch einegrundgescheite junge Dame, liest gewichtige Bücher undmachst dir Auszüge daraus.«

Mary hätte gerne etwas Tiefsinniges gesagt, aber es fielihr nichts ein.

»Wir wollen«, fuhr er fort, »während Mary ihre Ge-danken zurechtlegt, zu Mr. Bingley zurückkehren.«

»Ich habe genug von Mr. Bingley!«, rief seine Frau.»Das zu hören, bedaure ich. Aber warum hast du mir

das nicht vorher gesagt? Wenn ich das heute Morgen ge-wusst hätte, hätte ich ihm meine Aufwartung gar nichterst gemacht. Eine unglückliche Situation, aber da ich ihnnun schon einmal aufgesucht habe, lässt sich die Bekannt-schaft nicht mehr umgehen.«

Das Erstaunen der Damen war ganz nach seinemWunsch. Mrs. Bennets Überraschung war vielleicht amgrößten, aber als der erste Freudentaumel vorüber war, er-klärte sie, genau das habe sie die ganze Zeit erwartet.

»Wie nett von dir, mein lieber Mr. Bennet. Aber ichwusste, ich würde dich zu guter Letzt herumkriegen. Ichhabe mir gleich gedacht, dass du deine Töchter zu sehrliebst, um dir solche Bekanntschaft entgehen zu lassen.Nein, wie mich das freut! Und es ist ein köstlicher Witz,dass du heute Morgen hingegangen bist und uns bis ebennichts davon gesagt hast.«

»Jetzt kannst du so viel husten, wie du willst, Kitty«,sagte Mr. Bennet und, erschöpft von den Gefühlsausbrü-chen seiner Frau, verließ er mit diesen Worten das Zimmer.

»Was habt ihr doch für einen großartigen Vater, ihrMädchen!«, sagte sie, als die Tür wieder geschlossen war.

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»Ich weiß gar nicht, wie ihr ihm seine Fürsorge je vergel-ten wollt – von meiner ganz zu schweigen. In unseremAlter ist es weiß Gott kein Vergnügen, jeden Tag neueBekanntschaften zu machen; aber für euch tun wir ja alles.Lydia, mein Kind, du bist zwar die Jüngste, aber Mr. Bing-ley wird bestimmt auf dem nächsten Ball mit dir tanzen.«

»Na und!«, sagte Lydia beherzt, »davor habe ich garkeine Angst; ich bin zwar die Jüngste, aber auch die Größ-te.«

Den Rest des Abends verbrachten sie mit Überlegun-gen, wie bald er wohl Mr. Bennets Besuch erwidern würdeund wann sie ihn zum Essen einladen sollten.

Kapitel 3

Trotz aller Fragen, die Mrs. Bennet mit Unterstützung ih-rer fünf Töchter zu diesem Thema stellte, ließ sich ihrMann keine befriedigende Beschreibung von Mr. Bingleyentlocken. Dabei versuchten sie es mit allen Mitteln: Sieüberfielen ihn mit unverhohlenen Fragen, mit listigenUnterstellungen und mit weit hergeholten Vermutungen.Aber er ließ sich trotz all ihrer Geschicklichkeit nicht indie Falle locken, und so mussten sie zu guter Letzt dankbarfür die Informationen aus zweiter Hand sein, die ihnenihre Nachbarin, Lady Lucas, gab. Ihr Bericht fiel aus-gesprochen günstig aus. Sir William war entzückt von Mr.Bingley gewesen. Er war jung, sah hinreißend aus, war äu-ßerst umgänglich, und, um allem die Krone aufzusetzen,er hatte vor, zum nächsten Ball mit großer Gesellschaftzu kommen. Nichts hätte vielversprechender sein können.Gerne tanzen hieß schon halb verliebt sein; und so machte

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Nachwort

»Of all great writers she is the mostdifficult to catch in the act of greatness.«

Virginia Woolf über Jane Austen

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»Pride and Prejudice. Ein Roman. In drei Bänden. Von derAutorin von Sense and Sensibility« erschien anonym zumPreise von 18 Shilling und in 1500 Exemplaren Ende Janu-ar 1813 in London. Das Buch war innerhalb von sechs Mo-naten ausverkauft, so dass noch im selben Jahr eine zweiteAuflage herausgebracht werden konnte – bei Publikumund Kritik, soweit sie damals Romane zur Kenntnis nah-men, durchaus ein Erfolg für die Autorin. Aber wer warsie? Auch auf dem Titelblatt ihres ersten, zwei Jahre vor-her erschienenen Romans hatte es nur geheißen: »by alady«, von einer Dame. Und sie genoss ihre Anonymität.Es traf sich nämlich, dass bei der Ankunft ihrer Beleg-exemplare von Pride and Prejudice eine Nachbarin zu Be-such war, der die Autorin und ihre Mutter das Geheimnisnicht verrieten, aber aus dem brandneuen Roman vorlasen:»Sie fand es ganz witzig, die arme Seele. Das konnte siedenn doch nicht verhindern bei zwei Leuten, die sie so zumLachen anregten, aber Elizabeth gefällt ihr anscheinendwirklich gut. Ich muss selbst sagen, ich finde sie eine derhinreißendsten Gestalten, die je gedruckt erschienen sind,und ich habe keine Ahnung, wie ich mit denen gnädig seinsoll, die nicht wenigstens sie leiden mögen.«

Aber zu dieser Befürchtung war wenig Anlass. ElizabethBennet – so meint Jane Austens Biographin E. Jenkins –

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»hat vielleicht mehr Verehrer als jede andere Heldin in derenglischen Literatur«. R. L. Stevenson ging sogar so weitzu sagen, jedes Mal wenn Elizabeth Bennet den Mund auf-mache, würde er am liebsten vor ihr niederknien. Dabeiwar schon zur Zeit ihres Erscheinens die Konkurrenz groß:

Es wimmelte von Damen, die Romane schrieben, undvon Heldinnen mit den atemberaubendsten Schicksalenund so exotischen Namen wie Belinda, Evelina, Cecilia undEmmeline. Aber schon ein Teil der Zeitgenossen spürte,dass Elizabeth Bennets Geschichte nicht einer der gängigenFrauenromane der Zeit war, und kein Geringerer als WalterScott hat es 1816 als Erster ausgesprochen: »Statt der groß-artigen Szenen einer Phantasiewelt eine nicht übertriebeneund treffende Darstellung dessen, was Tag für Tag um [denLeser] vorgeht.« Das Sensationelle in Jane Austens Roma-nen war, dass darin nichts Sensationelles geschah. Schondie alltäglichen Namen ihrer Heldinnen sind Teil diesesProtests gegen die artifizielle Welt des Romans der Zeit. Erbrachte den Lesern oder eher Leserinnen das Gruseln beioder ließ sie sentimentale Frauenschicksale miterleben –oder beides zugleich.

Die ›Gothic Novel‹, der gotische Roman, war imSchwange. Grauenhaftes widerfuhr darin unschuldigenjungen Damen von grausamen Verwandten oder frustrier-ten Liebhabern in unheimlichen alten Schlössern, aufFriedhöfen oder in finsteren Wäldern. Anne Radcliffe wardie erfolgreiche Meisterin des Genres, und unsere Autorinhat sie in Northanger Abbey köstlich parodiert: Die arglosejunge Catherine Morland liest gerade Mysteries of Udol-pho (1794) der Anne Radcliffe und hofft, bei ihrem Besuchauf einem alten Herrensitz ebenso schreckliche Familienge-heimnisse zu entdecken wie in dem Buch – hat der Haus-herr seine Frau ermordet, oder hält er sie in einem dunklen

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Verlies gefangen? –, aber der zweite Sohn des Hauses heiltsie von ihrem Wahn, gotische Romane für Wirklichkeit zuhalten und – heiratet sie. Es ist die Autorin selbst, die mitder Heldin denkt: »So reizend all die Werke von Mrs. Rad-cliffe und so reizend sogar die Werke all ihrer Nachahmerwaren, nach der Wirklichkeitstreue der Charaktere (›hu-man nature‹) durfte man darin nicht fragen.«

Nicht minder beliebt war der sentimentale Frauenro-man in der Nachfolge der für uns heute so langatmigenBriefromane Samuel Richardsons. Ein armes Mädchen,wenn möglich Waise, wird darin meist in die große Welteingeführt und entpuppt sich gern als reiche Erbin. Die po-pulären Vertreterinnen dieses Genres waren die melodra-matische Elizabeth Inchbald, Fanny Burney, die von derAutorin von Pride and Prejudice geschätzt wurde, und Ma-ria Edgeworth, deren Anerkennung sie suchte und nichtfand und die das Verdienst hat, mit Castle Rackrent (1800)das irische Lokalkolorit – wie Scott das schottische – für dieLiteratur entdeckt zu haben, was etwa bei Charles MaturinsMelmouth the Wanderer (1820) und William ThackeraysBarry Lyndon (1844) weiterwirkt. Die Frivolität des städti-schen Lebens wird darin mit leichtem Schaudern ausge-malt, zarte Gefühle werden ausgiebig beschrieben, und Da-men brechen gern in Tränen aus oder fallen in Ohnmacht.Die sanfte und naive Heldin begegnet dem charmanten Bö-sewicht und der raffinierten Dame von Welt, ist aber kei-neswegs korrumpierbar und findet schließlich ihr Glück.Mrs. Burneys Evelina (1778) heißt schon im Untertitel»Geschichte einer jungen Dame beim Eintritt in die Gesell-schaft«, und auch M. Edgeworths Belinda (1801) wird imLaufe der Handlung »eine junge Dame, die gerade in dieGesellschaft eintritt« genannt. Die kühle Elizabeth Bennetist auch hier ein Gegentyp.

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Die drei erfolgreichen Schreiberinnen solcher Romanewaren in aller Munde, aber wer war die Verfasserin vonPride and Prejudice? Mr. Clarke, der Bibliothekar desPrinzregenten, wusste es durch ihren Bruder. Er war wiesein Herr ein Bewunderer ihrer Romane und schrieb ihr,nachdem er sie kurz vorher bei ihrem Besuch in Londonauf ausdrücklichen Wunsch Seiner Königlichen Hoheitdurch deren Bibliothek geführt hatte, im Herbst 1815, obsie nicht einen Roman »über die Lebensgewohnheiten, denCharakter und den beruflichen Enthusiasmus eines Geistli-chen« schreiben könne? Die englische Literatur habe esbisher versäumt, diesem Berufsstand den ihm gebühren-den Tribut zu zollen. – (Trotz Goldsmiths The Vicar ofWakefield, Mr. Clarke?) – Die Autorin antwortete ihm aufdiesen Brief, dem J. B. Priestley »wegen seines pompösenSchwachsinns« Unsterblichkeit gewünscht hat, dazu sei sienicht imstande: »Eine humanistische Bildung oder wenigs-tens eine ausgedehnte Kenntnis der älteren und neuerenenglischen Literatur erscheint mir unerlässlich für die Ro-mangestalt, die Ihrem Geistlichen gerecht würde […]. Ichaber kann mich in aller Eitelkeit rühmen, die ungebildetsteund unwissendste Frau zu sein, die sich je ans Roman-schreiben gewagt hat.«

Das war übertrieben; und Mr. Clarke hatte wohl das1814 erschienene Mansfield Park nicht sorgsam genug ge-lesen, denn darin ist in der Gestalt Edmund Bertrams dieWürdigung des Geistlichen schon enthalten. Oder forderteer, der selber Geistlicher war, Wiedergutmachung für diegroteske Figur des Mr. Collins? Jedenfalls gab er nicht auf.Unterdessen mit dem neuesten Roman der Autorin, Emma,vertraut, der Seiner Königlichen Hoheit auf deren eigenenWunsch gewidmet war, und seit kurzem Privatsekretär desPrinzen Leopold von Sachsen-Coburg, dessen Hochzeit mit

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der Tochter des Regenten bevorstand, wandte er sich nocheinmal an die Autorin und riet ihr zu einem historischenLiebesroman (›historic romance‹), der dem Hause CoburgEhre antue und diesmal dem Prinzen gewidmet sein dürfe.

Nun musste die zurückhaltende Schriftstellerin deutli-cher werden: »Ich glaube schon«, schrieb sie ihm im Früh-jahr 1816, »dass ein historischer Liebesroman über dasHaus Coburg profitabler und populärer wäre als die häusli-chen Szenen auf dem Lande, mit denen ich mich beschäf-tige. Aber ich könnte einen Liebesroman ebenso wenigschreiben wie ein Versepos […]. Nein, ich muss bei mei-nem Metier bleiben und meinen eigenen Weg gehen, auchwenn mir Erfolg dabei nie wieder zuteilwird; auf jede an-dere Weise würde ich meiner Meinung nach unweigerlichscheitern.«

Die häuslichen Szenen auf dem Lande – »Drei oder vierFamilien in einem Dorf auf dem Lande, das ist der idealeRomanstoff (›the very thing to work on‹)« –, die heute zuden Höhepunkten der englischen Prosaliteratur gehören,wurden in der Hand der Autorin zu sublimen Kunstwer-ken. Wie gut, dass sie auf Mr. Clarkes Vorschläge nicht ein-ging, dass sie ihren literarischen Weg unbeirrt verfolgte.

Aber wer war sie? Die Öffentlichkeit erfuhr es offiziellerst ein halbes Jahr nach ihrem Tode, als ihr Bruder ihrebeiden vollendeten nachgelassenen Romane publizierte undmit einer biographischen Notiz versah. Alle vier zu ihrenLebzeiten veröffentlichten Bücher erschienen anonym, ob-wohl ihr Name ein offenes Geheimnis zu werden begann,als Jane Austen 1817 im Alter von 42 Jahren starb.

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Kapitel 1

Sir Walter Elliot von Kellynch Hall in Somersetshire1 warein Mann, der außer dem Adelskalender nie ein Buch zumVergnügen in die Hand nahm; dabei aber fand er Beschäf-tigung in müßigen und Trost in trübsinnigen Stunden; da-bei erregte der Gedanke an den ausgesuchten Kreis dernoch überlebenden ältesten Adelsfamilien Bewunderungund Ehrfurcht in ihm; dabei verwandelten sich alle unan-genehmen Empfindungen, die wohl mit seinen häuslichenUmständen zusammenhingen, unweigerlich in Mitleid undVerachtung, wenn er die schier endlosen Adelsverleihun-gen des letzten Jahrhunderts durchblätterte; und dabei laser, wenn alle anderen Seiten des Buches ihre Wirkung ver-fehlten, mit nie versagendem Interesse seine eigene Ge-schichte. Dies war die Stelle, an der sich sein Lieblingsbuchunterdessen ganz von selbst aufschlug.

Elliot von Kellynch Hall»Walter Elliot, geb. 1. März 1760, verh. 15. Juli 1784mit Elizabeth, Tochter von James Stevenson, wohl-geb., von Southpark in der Grafschaft Gloucester.Seine Gemahlin (die 1800 starb) gebar ihm folgendeKinder: Elizabeth (1. Juni 1785), Anne (9. August1787), einen totgeborenen Sohn (5. November1789), Mary (20. November 1791).«

Genau so war der Absatz ursprünglich aus den Händendes Druckers gekommen, aber Sir Walter hatte ihn da-

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durch verbessert, dass er zu seiner eigenen Informationund zu der seiner Familie hinter Marys Geburtsdatum dieWorte »verh. 16. Dezember 1810 mit Charles, Sohn undErbe von Charles Musgrove, wohlgeb., von Uppercross inder Grafschaft Somerset« ergänzt und präzise Tag undMonat eingetragen hatte, an dem ihm seine Frau gestor-ben war.

Dann folgten in den üblichen Formulierungen Ge-schichte und Aufstieg der alten und angesehenen Familie:wie sie sich ursprünglich in Cheshire niedergelassen hat-ten, wie sie in Dugdale als höchste königliche Beamte derGrafschaft und als Abgeordnete in drei aufeinanderfolgen-den Parlamenten mit ihrem Eifer im Dienst der Krone undder Verleihung der Baronatswürde im ersten Jahr derHerrschaft Karls II. und all den Marys und Elizabeths, diesie geheiratet hatten, erwähnt wurden – was alles in allemzwei eindrucksvolle Duodezseiten füllte und nach demWappen und dem Wahlspruch abschloss mit: »Hauptsitz:Kellynch Hall in der Grafschaft Somerset«, und dem fol-genden Zusatz, wieder in Sir Walters eigener Handschrift:»Erbe: William Walter Elliot, hochwohlgeb., Urenkel deszweiten Sir Walter.«

Eitelkeit war das A und O von Sir Walters Charakter –persönliche und gesellschaftliche Eitelkeit. Er hatte in sei-ner Jugend bemerkenswert gut ausgesehen und war mitvierundfünfzig noch immer ein ausgesprochen ansehn-licher Mann. Nur wenige Frauen verschwendeten wohlmehr Gedanken an ihre äußere Erscheinung als er, undnicht einmal der Kammerdiener irgendeines gerade geadel-ten Lords hätte begeisterter über seine Stellung in der Ge-sellschaft sein können. Seiner Meinung nach wurde derSegen der Schönheit nur vom Segen eines Baronats über-troffen, und der Sir Walter, der diese Gaben in sich ver-

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einigte, war der ständige Gegenstand seiner tiefsten Ehr-furcht und Anbetung.

In einer Hinsicht war sein Stolz auf sein gutes Aussehenund seinen Rang berechtigt, denn nur ihnen verdankte erwohl eine Frau, die charakterlich allen Ansprüchen, die erdiesbezüglich stellen durfte, unendlich überlegen war. LadyElliot war eine großartige Frau gewesen, vernünftig und lie-benswert; und wenn man ihr die jugendliche Verblendungvergeben kann, durch die sie Lady Elliot wurde, so warenihr Urteil und ihre Haltung später auf Nachsicht keines-wegs angewiesen. Sie hatte die Schwächen ihres Manneshingenommen oder gemildert oder zugedeckt und siebzehnJahre lang zu seinem Ansehen beigetragen; und obwohl siein ihrem Leben nicht gerade glücklich gewesen war, hattenihre Pflichten, ihre Freunde und ihre Kinder ihr das Lebenlebenswert und keineswegs gleichgültig erscheinen lassen,als die Abschiedsstunde nahte. Drei Mädchen zu hinterlas-sen, die älteren sechzehn und vierzehn, war ein furchtbaresVermächtnis für eine Mutter, ja mehr, es war eine furchtba-re Belastung, sie der Autorität und dem Schutz eines eitlen,oberflächlichen Vaters anzuvertrauen. Sie hatte allerdingseine enge Freundin, eine vernünftige, verdienstvolle Frau,die sich aus Anhänglichkeit zu ihr ganz in ihrer Nähe, imDorf Kellynch, niedergelassen hatte und auf deren Ver-ständnis und Rat bei der Verwirklichung all der solidenGrundsätze und Anordnungen, auf die sie bei ihren Töch-tern solchen Wert gelegt hatte, sie sich vor allem verließ.

Diese Freundin und Sir Walter heirateten aber trotz al-lem, was ihre Bekannten in dieser Hinsicht vorausgesagthatten, nicht. Dreizehn Jahre waren seit Lady Elliots Todvergangen, und sie waren immer noch enge Nachbarn undgute Freunde, und der eine blieb Witwer und die andereWitwe.

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Dass Lady Russell bei ihrem gefestigten Alter und Cha-rakter und ihrer finanziellen Unabhängigkeit an eine zwei-te Ehe nicht dachte, bedarf keiner Entschuldigung in denAugen der Öffentlichkeit, die eher dazu neigt, unvernünf-tige Entrüstung zu zeigen, wenn eine Frau tatsächlich wie-der heiratet, als wenn sie es nicht tut; aber dass Sir Walterweiter allein blieb, verlangt eine Erklärung. Es sei deshalbangemerkt, dass Sir Walter (nachdem er bei sehr unver-nünftigen Heiratsanträgen ein oder zwei persönliche Ent-täuschungen erfahren hatte) wie jeder gute Vater stolz dar-auf war, um seiner lieben Töchter willen unverheiratet zubleiben. Für eine Tochter, für seine älteste, hätte er wirk-lich auf alles verzichtet – ein Gedanke, der ihm sonst garnicht nahelag. Elizabeth hatte mit sechzehn, soweit irgendmöglich, die Rechte und die gesellschaftliche Stellung ihrerMutter übernommen; und da sie sehr schön und ihm selbstsehr ähnlich war, war ihr Einfluss auf ihn immer groß ge-wesen, und sie hatten sich immer glänzend verstanden.Seine beiden anderen Kinder bedeuteten ihm sehr viel we-niger. Mary hatte sich auf Umwegen ein bisschen Bedeu-tung erworben, indem sie Mrs. Charles Musgrove gewor-den war, aber Anne mit ihrer geistigen Überlegenheit undihrem ausgeglichenen Charakter, die ihr die Achtung allerwirklich einsichtigen Menschen einbringen mussten, be-deutete weder ihrem Vater noch ihrer Schwester etwas; ihrWort zählte nicht, auf ihre Bequemlichkeit kam es nichtan; sie war nur Anne.

Aber sie war Lady Russells geliebte und hochgeschätztePatentochter, Favoritin und Freundin. Lady Russell liebtesie alle, aber nur in Anne sah sie das leibhaftige Ebenbildihrer Mutter.

Vor ein paar Jahren war Anne Elliot ein sehr hübschesMädchen gewesen, aber ihre Schönheit war früh vergan-

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gen; und da sie für ihren Vater auch in ihrer vollen Blütewenig Bewundernswertes gehabt hatte (so völlig verschie-den waren ihre feinen Züge und freundlichen dunklen Au-gen von seinen eigenen), besaß sie jetzt, wo sie verwelktund dünn war, nichts mehr, was seinen Beifall fand. Er hat-te sich nie großen Hoffnungen hingegeben und hegte jetztgar keine mehr, ihren Namen je auf einer weiteren Seiteseines Lieblingsbuches zu sehen. Eine ebenbürtige Heiratkam nur für Elizabeth in Frage, denn Mary hatte lediglichin eine alteingesessene Gutsbesitzerfamilie von Ansehenund großem Vermögen eingeheiratet und war deshalbdurch ihre Heirat nicht im Rang gestiegen, sondern gesun-ken. Elizabeth würde irgendwann einmal angemessen hei-raten.

Es kommt manchmal vor, dass eine Frau mit neunund-zwanzig hübscher ist als zehn Jahre zuvor; und wenn sienicht unter Krankheit oder Kummer gelitten hat, handeltes sich im Allgemeinen um einen Zeitpunkt im Leben, andem sie kaum an Charme eingebüßt hat. So war es mit Eli-zabeth – immer noch dieselbe schöne Miss Elliot, zu der sievor dreizehn Jahren herangewachsen war, und man konntees Sir Walter deshalb verzeihen, dass er ihr Alter vergaß,oder ihn jedenfalls nicht für ganz so naiv halten, wenn ersich und Elizabeth, während das gute Aussehen aller ande-ren dahin war, blühend fand wie eh und je, denn er konntedeutlich sehen, wie der Rest seiner Familie und seiner Be-kanntschaft alterte. Anne hager, Mary gewöhnlich, jedesGesicht in der Nachbarschaft heruntergekommen, und dierapide Vermehrung von Krähenfüßen in Lady RussellsAugenwinkeln beobachtete er seit langem mit Beklom-menheit.

Elizabeth besaß nicht ganz die Selbstgefälligkeit ihresVaters. Seit dreizehn Jahren war sie Herrin von Kellynch

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Hall und herrschte und lenkte mit einer Besonnenheit undEntschiedenheit, die niemals den Gedanken nahelegten, siesei jünger, als sie tatsächlich war. Dreizehn Jahre lang hattesie die Rolle der Gastgeberin gespielt und die häuslicheOrdnung bestimmt und war zur vierspännigen Kutschevorausgeschritten und hatte unmittelbar hinter Lady Rus-sell alle Wohnzimmer und Esszimmer in der Gegend ver-lassen. Dreizehnmal hatte der wiederkehrende Winterfrostsie jeden standesgemäßen Ball eröffnen sehen, den einedünngesäte Nachbarschaft zustande brachte; und dreizehn-mal hatte der Frühling seine Blüten gezeigt, wenn sie mitihrem Vater nach London reiste, um jährlich ein paar Wo-chen die große Welt zu genießen. Sie lebte in der Erinne-rung daran. Sie lebte in dem Bewusstsein, neunundzwan-zig zu sein; und beides verursachte ihr ein gewisses Be-dauern und eine gewisse Beklemmung. Sie war durchausüberzeugt, dass sie immer noch so schön war wie eh undje, aber sie spürte, dass sie sich den gefährlichen Jahren nä-herte; und die Gewissheit, dass jemand von Adel im Laufeder nächsten ein oder zwei Jahre förmlich um ihre Handanhalten würde, hätte sie unendlich erleichtert. Dannkönnte sie das Buch der Bücher wieder mit der gleichenFreude in die Hand nehmen wie in Kindertagen. Aber jetzthatte sie eine Abneigung dagegen. Immer mit dem eigenenGeburtsdatum konfrontiert zu werden und keine Heiratfolgen zu sehen als die ihrer jüngsten Schwester verleideteihr das Buch; und wenn ihr Vater es offen in ihrer Näheauf dem Tisch liegengelassen hatte, hatte sie es mehr alseinmal mit abgewandtem Blick zugeklappt und von sichgeschoben.

Sie hatte darüber hinaus eine Enttäuschung erlebt, de-ren Erinnerung das Buch und besonders die Geschichte ih-rer eigenen Familie immer wachhalten würden. Der Erbe,

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genau jener William Walter Elliot, hochwohlgeb., dessenAnsprüche so großzügig von ihrem Vater unterstützt wor-den waren, hatte sie enttäuscht.

Schon als sehr junges Mädchen, sobald sie wusste, dasser der zukünftige Baron sein würde, wenn sie keinen Bru-der haben sollte, hatte sie beschlossen, ihn zu heiraten; undihr Vater hatte sie in diesem Entschluss immer bestärkt.Sie hatten ihn als Jungen nicht gekannt, aber bald nachLady Elliots Tod hatte Sir Walter sich um die Bekannt-schaft seines Neffen bemüht; und obwohl seine Annähe-rungsversuche nicht auf Begeisterung gestoßen waren,hatte er seine Bemühungen fortgesetzt, wobei er ihm diebescheidene Zurückhaltung der Jugend zugutehielt; undbei einem ihrer Frühjahrsausflüge nach London, als Eliza-beth in ihrer ersten Blüte war, hatten sie Mr. Elliot ihreBekanntschaft aufgezwungen.

Er war zu der Zeit noch ein sehr junger Mann, der ge-rade sein Jurastudium absolvierte. Elizabeth fand ihn unge-wöhnlich anziehend, und sein persönlicher Eindruck bestä-tigte sie in ihren Absichten. Er wurde nach Kellynch Halleingeladen. Man sprach von ihm und erwartete ihn für denRest des Jahres, aber er kam nie. Im folgenden Frühjahrtraf man ihn wieder in London, fand ihn nicht minder an-ziehend, ermutigte ihn, lud ihn ein und erwartete ihn, undwieder kam er nicht; und als Nächstes kam die Nachricht,dass er verheiratet war. Statt sein Glück auf dem Wege zusuchen, der für den Erben des Hauses Elliot vorgezeichnetwar, hatte er sich seine Unabhängigkeit durch eine Verbin-dung mit einer reichen Frau von niederer Herkunft er-kauft.

Sir Walter hatte es ihm verübelt. Als Haupt der Familiefand er, man hätte seinen Rat einholen sollen, besondersnachdem er sich mit dem jungen Mann in aller Öffentlich-

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keit gezeigt hatte. Denn man müsse sie zusammen gesehengaben, bemerkte er, einmal bei Tattersall2 und zweimal inder Vorhalle des Unterhauses. Er gab seiner MissbilligungAusdruck, aber offenbar ohne jeden Erfolg. Mr. Elliot hattesich zu keiner Entschuldigung veranlasst gesehen und sichso wenig an weiteren Aufmerksamkeiten von Seiten derFamilie interessiert gezeigt, wie Sir Walter ihn für ihrerunwürdig hielt; jeder Verkehr zwischen ihnen wurde ein-gestellt.

Diese sehr peinliche Geschichte mit Mr. Elliot erfüllteElizabeth, die den jungen Mann um seiner selbst willenund mehr noch, weil er der Erbe ihres Vaters war, gemochthatte und deren ausgeprägter Familienstolz nur in ihmeine angemessene Partie für Sir Walters älteste Tochter se-hen konnte, noch nach Ablauf mehrerer Jahre mit Ärger.Es gab von A bis Z keinen Baron, den sie so bereitwillig alsgleichberechtigt empfunden hätte. Aber er hatte sich soschäbig benommen, dass sie sich trotz der Trauerbinde, diesie zum gegenwärtigen Zeitpunkt (im Sommer 1814) umseiner Frau willen trug, nicht gestatten konnte, ihn nocheinmal in Erwägung zu ziehen. Die Schande seiner erstenEhe hätte man, da kein Grund zu der Annahme bestand,dass sie durch Nachkommen fortgesetzt worden war, ver-schmerzt, wäre es nicht noch schlimmer gekommen. Aberer hatte, wie sie durch die übliche Einmischung wohlmei-nender Freunde erfahren hatten, sehr abfällig von ihnenallen, sehr beleidigend von dem Blut, zu dem er gehörte,und dem Titel gesprochen, der später auf ihn übergehenwürde. So etwas war unverzeihlich.

Das waren Elizabeths Gesinnungen und Gefühle. Daswaren die Sorgen und Aufregungen, die Eintönigkeit undVornehmheit, Luxus und Nichtigkeit ihres alltäglichen Le-bens erträglicher und abwechslungsreicher machen sollten.

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Das waren die Empfindungen, die einem langen, ereignis-losen Aufenthalt in dem immer gleichen ländlichen ZirkelInteresse geben, die Leere beseitigen sollten, wo nützlicheTätigkeiten außerhalb, Begabungen und Talente innerhalbdes Hauses fehlten, um sie zu füllen.

Aber jetzt begann eine neue Aufgabe und Sorge ihreGedanken zu beschäftigen. Ihr Vater geriet immer mehr infinanzielle Schwierigkeiten. Sie wusste, dass er den Adels-kalender nur noch in die Hand nahm, um die hohen Rech-nungen seiner Lieferanten und die unangenehmen Anspie-lungen von Mr. Shepherd, seinem Rechtsanwalt, darüberzu vergessen. Der Besitz von Kellynch war ertragreich,aber den Ansprüchen, die Sir Walter an den Lebensstil sei-nes Besitzers stellte, nicht gewachsen. Solange Lady Elliotlebte, hatten Überlegung, Bescheidenheit und Sparsamkeitgeherrscht, so dass er mit seinen Einkünften gerade aus-kam. Aber mit ihr war auch alle Rechtschaffenheit dahin-gegangen, und seit der Zeit hatte er ständig über seineVerhältnisse gelebt. Er hatte es nicht fertiggebracht, weni-ger auszugeben; er hatte nur getan, wozu Sir Walter Elliotunbedingt verpflichtet war. Aber schuldlos, wie er war, ge-riet er nicht nur immer tiefer in Schulden, sondern bekames auch so oft zu hören, dass es aussichtslos wurde, es auchnur teilweise länger vor seiner Tochter zu verheimlichen.Er hatte ihr gegenüber im letzten Frühjahr in London eini-ge Andeutungen gemacht. Er war sogar so weit gegangenzu fragen: »Können wir uns einschränken? Meinst du, dasswir uns irgendwo einschränken können?« – und Elizabeth,das muss man ihr lassen, hatte im ersten Eifer weiblicherPanik ernsthaft darüber nachgedacht, was zu tun sei, undschließlich die beiden folgenden Sparmaßnahmen vorge-schlagen: einige unnötige Wohltätigkeitsspenden zu strei-chen und von einer Neumöblierung des Wohnzimmers ab-

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zusehen, wozu ihr später noch der glückliche Einfall kam,Anne diesmal, wie es sonst ihr jährlicher Brauch gewesenwar, kein Geschenk mitzubringen. Aber diese Maßnah-men, so sinnvoll sie auch sein mochten, wurden dem tat-sächlichen Ausmaß des Übels, das in seiner ganzen Trag-weite ihr zu gestehen Sir Walter sich bald danach genötigtsah, bei weitem nicht gerecht. Elizabeth hatte keine tiefer-greifenden Hilfsmittel vorzuschlagen. Sie fühlte sich ge-nau wie ihr Vater missbraucht und unglücklich; und siewaren beide außerstande, Wege zu finden, ihre Ausgabeneinzuschränken, ohne auf unerträgliche Weise ihre Würdezu beeinträchtigen oder auf ihre Bequemlichkeit zu ver-zichten.

Es gab nur einen kleinen Teil seines Besitzes, den SirWalter veräußern konnte. Aber hätte er sich von jedemStückchen Erde trennen können, es hätte nichts genutzt.Er hatte sich, soweit es in seiner Macht stand, zu Hypothe-ken herabgelassen, aber er würde sich nie dazu herablassenzu verkaufen. Nein, so weit würde er den Familiennamennicht entehren. Der Besitz von Kellynch würde heil undganz, so wie er ihn übernommen hatte, weitergegebenwerden.

Ihre beiden engsten Freunde, Mr. Shepherd, der in dernächsten Kleinstadt wohnte, und Lady Russell, wurdenum ihren Rat gebeten, und sowohl Vater als auch Tochtererwarteten anscheinend, dass einer von beiden einen Ein-fall haben würde, wie man ihnen aus der Verlegenheit hel-fen und ihre Ausgaben verringern könne, ohne dass ihreAnsprüche an Geschmack oder Stolz Abbruch erleidenwürden.

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Nachwort

»Her circle may be restricted, but it is complete.Her world is a perfect orb, and vital.«

George H. Lewes (1817–1878) über Jane Austen

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Persuasion ist der letzte von Jane Austens sechs Romanen.Sie schrieb daran von Mitte 1815 bis Mitte 1816, glättetedann den Text, arbeitete den Schluss völlig um (s. Abschn. 4)und konnte im März 1817 einer ihrer Nichten berichten, siehabe etwas zur Veröffentlichung fertig, was in etwa einemJahr erscheinen solle. Aber als die Autorin diesen Briefschrieb, war sie schon unheilbar krank und hatte nur nochvier Monate zu leben. Das Erscheinen des Romans hat sienicht mehr erlebt. Sie starb am 27. Juli 1817 im Alter vonnur 42 Jahren. Persuasion wurde zusammen mit North-anger Abbey postum erst 1818 herausgegeben.

Die Heldin des Buches, Anne Elliot, hat in den letztenJahrzehnten in der englischen und amerikanischen Litera-turforschung unter anderem deshalb viel Aufmerksamkeitgefunden, weil sie so anders ist als die weiblichen Hauptge-stalten der fünf früheren Romane Jane Austens. WährendAnne und Elizabeth Bennet in Pride and Prejudice, Elinorund Marianne Dashwood in Sense and Sensibility, FannyPrice in Mansfield Park, Emma Woodhouse in Emma undCatherine Morland in Northanger Abbey um die zwanzig,zum Teil sogar erst siebzehn Jahre alt sind, geht Anne El-liot auf die Dreißig zu. Sie ist siebenundzwanzig Jahre alt,hat ihren jugendlichen Charme verloren und resigniert.Während in den anderen Romanen das Handlungszentrum

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die erste und einzige große Liebe der Heldin bildet, hatAnne diese schon lange hinter sich. Die vor acht Jahreneingegangene Verlobung hat sie nach wenigen Monatenaufgelöst, weil ihre adelsstolze Familie und ihre mütterli-che Freundin Lady Russell, die ebenfalls »Vorurteile inFragen des Standes« (Kap. 2) hat, den unvermögenden bür-gerlichen jungen Marineoffizier Wentworth für eine Toch-ter von Sir Walter Elliot aus altem englischen Adel nichtakzeptierten und mit ihrer »unbilligen Überredung« (imOriginal unübersetzbar over-persuasion), den geliebtenMann aufzugeben – worauf sich der Titel des Buches vorallem bezieht – Erfolg hatten. Anne hat sich ihrem Urteilgebeugt, aber die ihrer Überzeugung und ihrer Liebe wi-dersprechende Nachgiebigkeit bitter bereut. Sie hat einenihr zwei Jahre später von einem anderen Mann gemachtenHeiratsantrag abgelehnt, sich schweren Herzens mit ihremSchicksal abgefunden und geht nun einem trostlosen, ein-samen Alter entgegen.

Während also die anderen Heldinnen Jane Austens dasLeben vor sich haben, scheint es hinter Anne Elliot zu lie-gen. An einer Kleinigkeit wird dieser Unterschied besondersgreifbar. Die jungen Protagonistinnen der anderen fünf Ro-mane tanzen liebend gern, wobei eine ältere Dame die Mu-sik macht; ja, der Tanz hat für die Begegnung mit dem ge-liebten Mann in mehreren Werken eine besondere Bedeu-tung, so der Ball zu Ehren von Fanny Price in MansfieldPark (Kap. 28), Elizabeth Bennets ironisches Wortgeplänkelmit Darcy beim Tanz in Pride and Prejudice (Kap. 18) oderCatherine Morlands erster Tanz mit Henry Tilney, der siemit seiner gespielten Geckenhaftigkeit verwirrt, in North-anger Abbey (Kap. 3). In Persuasion aber ist es Anne Elliot,die am Klavier sitzt und spielt, während ihre Schwester undihre Schwägerinnen sich beim Tanzen amüsieren:

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»Der Abend endete mit Tanz. Als der Vorschlag ge-macht wurde, bot Anne wie üblich ihre Dienste an, undobwohl sich ihre Augen gelegentlich mit Tränen füll-ten, als sie am Instrument saß, war sie erleichtert, be-schäftigt zu sein, und wünschte sich zur Belohnungnichts, als unbeobachtet zu bleiben.« (Kap. 8)

Anne weint, weil der immer noch geliebte Kapitän Went-worth, von dem sie annehmen muss, dass sie seine Ach-tung verloren hat, mit unter den Tanzenden ist. Er fragtseine Partnerin, ob Anne denn nie tanze, und muss hören,dass sie es ganz aufgegeben habe – sie wird nicht mehr zurJugend gezählt und zählt sich selbst nicht mehr dazu.

Anders als die anderen Romane beginnt Persuasion alsodamit, dass die Heldin intensiv leidet. Sie ist um ihre Liebebetrogen, ihre Schönheit ist früh verblüht, und ihr Vaterund ihre ältere Schwester betrachten sie nur als unliebsa-mes Anhängsel, weil sie einem Schönheitskult huldigen undMenschen geringschätzen, deren Äußeres ihrem überkriti-schen Auge nicht standhält. Da die Elliot-Schwestern andersals Jane und Elizabeth Bennet in Pride and Prejudice undElinor und Marianne Dashwood in Sense and Sensibilitysich nicht gut verstehen, ist Anne zudem mit ihrem Kum-mer ganz allein. Ihre ältere Schwester ist kalt und hochmü-tig und ihre jüngere egoistisch und wehleidig. Die eine ziehteine recht ordinäre und durchtriebene geschiedene Frau ih-rer eigenen Schwester vor, und die andere benutzt sie nurals eine Art Haushaltshilfe und Kindermädchen. Anne hatallen Grund, ihre Schwägerinnen Henrietta und LouisaMusgrove um ihr ungetrübtes Einvernehmen zu beneiden.

A. W. Letz (s. Literaturhinweise: Southam) hat in derEinsamkeit Anne Elliots einen dem modernen Leser beson-ders zugänglichen Aspekt von Persuasion gesehen:

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»Man könnte aus Persuasion eine Liste von Begriffenzusammenstellen, die den Roman wie ein Lehrbuch dermodernen Soziologie klingen lassen: Sich Auseinander-leben, Gefangensein, Entfremdung, Entfernung.«

Der Ton dieses Romans ist daher insgesamt, bedingt durchdie melancholische Stimmung, die Anne Elliot umgibt, ge-dämpfter. Die Wehmut der unerfüllten Liebe liegt überdem größeren Teil des Buches, aber das bedeutet nicht,dass die Autorin darauf verzichtet, menschliche und gesell-schaftliche Schwächen mit gewohnt spitzer Feder dem Ge-lächter oder dem Schmunzeln des Lesers preiszugeben. Eswimmelt von grotesken Charakteren und Situationen.

Das schönste Beispiel für dieses Karikieren scheint mirdie Geschichte vom toten Sohn der Musgroves zu sein, derals Taugenichts, solange er lebte, ein Alptraum der Familiewar, aber nach seinem Tod von seiner korpulenten Mutterzu einem Helden verklärt wird. Vor allem die Szene, in dersich Mrs. Musgrove bei Williams früherem Kommandan-ten Wentworth ausweint, zeigt Jane Austen von ihrer bis-sigsten Seite, wobei sie aber zugleich Annes Unbehagenüber die Nähe des Kapitäns einfängt:

»Sie saßen tatsächlich beide auf demselben Sofa, dennMrs. Musgrove hatte bereitwillig Platz für ihn gemacht– sie waren nur durch Mrs. Musgrove getrennt. Es warallerdings keine unerhebliche Barriere. Mrs. Musgrovewar von gemütlichem, beträchtlichem Umfang, von derNatur viel eher dazu bestimmt, Heiterkeit und guteLaune auszustrahlen als Zärtlichkeit und Gefühl; undda man darauf vertrauen darf, dass die Erregung in An-nes schlanker Gestalt und nachdenklichem Gesicht da-durch vollständig abgeschirmt war, muss man Kapitän

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Wentworth etwas zugutehalten für die Selbstbeherr-schung, mit der er ihren herzzerreißenden, fetten Seuf-zern über das Schicksal eines Sohnes zuhörte, für densich zu seinen Lebzeiten niemand interessiert hatte.Körperlicher Umfang und seelischer Schmerz stehennatürlich nicht unbedingt in einem bestimmten Ver-hältnis zueinander. Eine umfangreiche, üppige Figurhat das gleiche Recht auf tiefen Seelenschmerz wie dasgraziöseste Ensemble von Gliedern. Aber, ob recht undbillig oder nicht, es gibt unvorteilhafte Kombinationen,für die sich der Verstand vergeblich einsetzt – die derGeschmack nicht dulden kann – die der Lächerlichkeitzum Opfer fallen.« (Kap. 8)

Dem melancholischen Seelenzustand Annes zu Anfang desBuches entsprechen die herbstliche Stimmung in der Na-tur, der »Anblick des letzten herbstlichen Lächelns, dasauf rostbraunen Blättern und verwelkten Hecken liegt«,und der traurige Abschied von Kellynch, dem stolzen altenFamiliensitz, der der Verschwendungssucht Sir Walterszum Opfer fällt. Anne selbst spricht »von der passen-den Analogie zwischen dem sich neigenden Jahr und demsich neigenden Glück«, als sie in Gedanken Herbstgedichterezitiert.

Der Umzug der Familie nach Bath, der Anne traurigstimmt und dem sie ohne jedes Gefühl der Erwartung, jamit Widerwillen entgegenblickt, auch wenn sie die finan-zielle Notwendigkeit dazu einsieht, spiegelt offenbar JaneAustens eigene Vorbehalte gegen die Übersiedlung ihrereigenen Familie in den modischen Kurort, wo die Autorinvon 1802 bis 1806 ungern lebte.

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Kapitel 1

Die Familie Dashwood war seit langem in Sussex ansässig.Ihr Besitz war ausgedehnt, und ihr Herrenhaus lag in Nor-land Park, im Zentrum ihrer Ländereien, wo sie viele Ge-nerationen lang auf so achtbare Weise gelebt hatten, dasssie bei den Bekannten in der Umgebung allgemein in ho-hem Ansehen standen. Der vorherige Eigentümer des Be-sitzes war ein Junggeselle, der ein sehr hohes Alter erreichtund in seiner Schwester viele Jahre lang eine ständigeGefährtin und Haushälterin gehabt hatte. Aber ihr Tod,der zehn Jahre vor seinem eigenen eintrat, brachte großeVeränderungen in seinem Haus mit sich, denn um ihrenVerlust zu ersetzen, lud er die Familie seines Neffen Mr.Henry Dashwood ein, des gesetzlichen Erben von Norland,dem er den Besitz ohnehin vermachen wollte, in seinemHaus zu leben. In der Gesellschaft seines Neffen und sei-ner Nichte und ihrer Kinder verbrachte der alte Herr seineTage in großer Behaglichkeit. Alle wuchsen sie ihm mehrund mehr ans Herz. Die ständige Sorge von Mr. und Mrs.Henry Dashwood um sein Wohlergehen, die nicht bloßemEigennutz, sondern echter Herzensgüte entsprang, ge-währte ihm all die Bequemlichkeit, die er in seinem Alterbrauchte, und die Ausgelassenheit der Kinder gab seinemLeben einen zusätzlichen Reiz.

Aus einer früheren Ehe hatte Mr. Henry Dashwood ei-nen Sohn, von seiner jetzigen Gemahlin drei Töchter. DerSohn, ein zuverlässiger, angesehener junger Mann, war

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durch das beträchtliche Vermögen seiner Mutter, das beiseiner Volljährigkeit zur Hälfte in seinen Besitz gekommenwar, großzügig versorgt. Durch seine eigene Heirat, diekurz darauf stattfand, vergrößerte er sein Vermögen nochweiter. Die Nachfolge auf Norland war also für ihn nicht sounbedingt wichtig wie für seine Schwestern, denn ihr Ver-mögen würde ohne das, was ihnen durch den Anspruch ih-res Vaters auf den Besitz zufallen würde, nur gering sein.Ihre Mutter hatte nichts, und ihr Vater nur siebentausendPfund zu seiner eigenen Verfügung, denn die restlicheHälfte des Vermögens seiner ersten Frau sollte ebenfalls anihren Sohn übergehen, und er verfügte darüber nur zu sei-nen Lebzeiten.

Der alte Herr starb, sein Testament wurde eröffnet undgab wie fast alle Testamente ebenso Anlass zu Enttäu-schung wie zu Freude. Er war weder so ungerecht noch soundankbar, seinem Neffen den Besitz vorzuenthalten, aberer vermachte ihn ihm unter Bedingungen, die das Erbe zurHälfte wieder entwerteten. Mr. Dashwood war daran mehrum seiner Frau und seiner Töchter willen als seinet- undseines Sohnes wegen gelegen gewesen, aber eben an diesenSohn und dessen Sohn, ein Kind von vier Jahren, ging derBesitz über, und zwar so, dass der Vater keine Möglichkeithatte, durch eine finanzielle Belastung des Grundbesitzesoder durch den Verkauf seines wertvollen Holzbestandesfür die zu sorgen, die ihm am nächsten standen und dieseine Fürsorge am dringlichsten brauchten. Alles sollte ei-nes Tages diesem Kind zugutekommen, das bei den gele-gentlichen Besuchen mit seinem Vater und seiner Mutterdurch Reize, die bei zwei- oder dreijährigen Kinderndurchaus nicht ungewöhnlich sind, wie eine kindliche Aus-sprache, den unbeirrbaren Wunsch, seinen Willen durch-zusetzen, viele ausgelassene Streiche und eine Menge

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Krach, die Zuneigung seines Großonkels so weit gewonnenhatte, dass all die Fürsorge, die dieser jahrelang von seinerNichte und ihren Töchtern empfangen hatte, sie nicht auf-wogen. Er hatte allerdings nicht die Absicht, lieblos zusein, und als Beweis seiner Zuneigung zu den drei Mäd-chen hinterließ er jeder eintausend Pfund.

Mr. Dashwoods Enttäuschung war zuerst empfindlich.Aber er war von Natur heiter und optimistisch und hatteallen Grund zu der Hoffnung, noch viele Jahre zu lebenund durch sparsames Wirtschaften eine erhebliche Summeaus dem Ertrag eines Besitzes beiseitezulegen, der ohnehinschon ergiebig war und fast von heute auf morgen nochertragreicher gemacht werden konnte. Aber der Reichtum,der so lange auf sich hatte warten lassen, sollte ihm nurein Jahr lang zugutekommen. Länger überlebte er seinenOnkel nicht, und zehntausend Pfund, einschließlich derSumme an die Mädchen, war alles, was für seine Witweund seine Töchter übrig blieb.

Sobald sein Gesundheitszustand erkannt war, wurdesein Sohn gerufen, und mit all der Überzeugungskraft undEindringlichkeit, die er bei seiner Krankheit aufbringenkonnte, legte ihm Mr. Dashwood die Sorge um seine Stief-mutter und seine Schwestern ans Herz.

Mr. John Dashwood ließ sich nicht so von Gefühlen lei-ten wie der Rest der Familie. Aber ein solcher Wunsch zueiner solchen Zeit verfehlte seine Wirkung auf ihn nicht,und er versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun,um ihnen das Leben zu erleichtern. Sein Vater fühlte sichdurch diese Versicherung von einer Last befreit, und Mr.John Dashwood hatte nun Muße, darüber nachzudenken,wie weit er bei aller Vorsicht in seiner Hilfsbereitschaft ge-hen konnte.

Er hatte keinen schlechten Charakter, es sei denn, man

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hielte eine gewisse Gefühlskälte und einen gewissen Egois-mus für einen Mangel an Charakter, aber er war im Allge-meinen recht angesehen, denn er ließ es bei der Erfüllungseiner alltäglichen Pflichten an Anstand nicht fehlen. Hätteer eine liebenswürdigere Frau geheiratet, hätte er sich viel-leicht zu einem noch angeseheneren, hätte er sich viel-leicht sogar zu einem liebenswürdigen Menschen entwi-ckelt, denn er war noch sehr jung, als er heiratete, undhing sehr an seiner Frau. Aber Mrs. John Dashwood wareine ausgesprochene Karikatur seiner selbst: nur noch eng-stirniger und egoistischer.

Als er seinem Vater sein Versprechen gab, dachte erdaran, das Vermögen seiner Schwestern durch ein Ge-schenk von je eintausend Pfund zu vergrößern. Er glaubtedamals selbst, es über sich bringen zu können. Die Aus-sicht auf viertausend Pfund pro Jahr zusätzlich zu seinemgegenwärtigen Einkommen, dazu die restliche Hälfte ausdem Vermögen seiner Mutter, erwärmte ihm das Herz undgab ihm das Gefühl, er könne sich Großzügigkeit leisten.Ja, er würde ihnen dreitausend Pfund geben, das wäre ge-nerös und nobel! Es wäre genug, um sie aller Sorgen zuentheben. Dreitausend Pfund! Er könnte eine so erheblicheSumme ohne große Einschränkungen entbehren. Er dachteden ganzen Tag und noch viele weitere Tage darüber nachund bereute nichts.

Kaum war das Begräbnis seines Vaters vorüber, als Mrs.John Dashwood, ohne ihre Schwiegermutter vorher vonihrer Absicht in Kenntnis zu setzen, mit ihrem Kind undihrem Personal eintraf. Niemand konnte ihr das Recht zukommen streitig machen; das Haus gehörte unmittelbarmit dem Tod seines Vaters ihrem Mann. Die Ungehörig-keit ihres Benehmens wurde außerordentlich stark emp-funden und wäre für jede Frau in Mrs. Dashwoods Lage,

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die auch nur ein Fünkchen Zartgefühl gehabt hätte, äu-ßerst unangenehm gewesen. Aber sie selbst besaß ein soausgeprägtes Ehrgefühl, eine so romantische Großzügig-keit, dass eine derartige Beleidigung, gleichgültig, wer sieverursachte oder wem sie zugefügt wurde, sie mit unüber-windlicher Abscheu erfüllte. Mrs. John Dashwood war beider Familie ihres Mannes nie sehr beliebt gewesen. Abersie hatte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Gelegen-heit gehabt, ihnen zu zeigen, mit wie wenig Rücksicht aufdas Wohlergehen anderer sie handeln konnte, wenn dieUmstände es erforderten.

So empfindlich traf Mrs. Dashwood dieses unfreundli-che Verhalten und so gründlich verachtete sie ihre Schwie-gertochter dafür, dass sie bei ihrer Ankunft auf der Stelleausgezogen wäre, wenn das Zureden ihrer ältesten Tochtersie nicht veranlasst hätte, erst noch einmal über die Rich-tigkeit ihrer Abreise nachzudenken, und wenn ihre eigenezärtliche Liebe für alle drei Kinder sie anschließend nichtbewogen hätte, zu bleiben und um ihretwillen den Bruchmit ihrem Stiefsohn zu vermeiden.

Elinor, die älteste Tochter, deren Rat befolgt wurde, be-saß einen so klaren Verstand und ein so nüchternes Ur-teilsvermögen, die sie trotz ihrer neunzehn Jahre zur Rat-geberin ihrer Mutter machten und es ihr häufig erlaubten,zum Vorteil aller, der Impulsivität von Mrs. Dashwoodentgegenzuwirken, die sonst zu vorschnellem Handeln ge-führt hätte. Sie war ein hochherziger Mensch, liebevollvon Natur, mit starken Empfindungen, aber sie wusste sichzu beherrschen – eine Kunst, die ihre Mutter noch lernenmusste und die eine ihrer Schwestern entschlossen war,sich niemals beibringen zu lassen.

Mariannes Fähigkeiten standen denen Elinors keines-wegs nach. Sie war gefühlvoll und gescheit, aber in allem

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überspannt. Ihr Schmerz und ihre Freude kannten keinMaß. Sie war großzügig, liebenswürdig, interessant, siewar alles – außer besonnen. Die Ähnlichkeit zwischen ihrund ihrer Mutter war auffallend groß.

Elinor betrachtete das Übermaß von Empfindsamkeitbei ihrer Schwester mit Sorge. Aber von Mrs. Dashwoodwurde es geschätzt und ermutigt. Die beiden bestärktensich nun gegenseitig in ihrem heftigen Schmerz. Der gren-zenlose Jammer, der sie zuerst überwältigt hatte, wurdeneu belebt, absichtlich erneuert, wurde immer wieder auf-gerührt. Sie gaben sich ihrem Kummer völlig hin, suchtenihr Elend durch jedes Thema zu steigern, das sich dazu an-bot, und waren entschlossen, auch in Zukunft für keinenTrost empfänglich zu sein. Auch Elinor litt sehr, aber siekonnte sich wehren, sie konnte sich überwinden. Sie konn-te Beratungen mit ihrem Bruder führen, ihre Schwägerinbei ihrer Ankunft empfangen und mit der nötigen Auf-merksamkeit behandeln, ihre Mutter zu ähnlicher Selbst-überwindung aufrütteln und zu ähnlicher Nachsicht er-muntern.

Margaret, die dritte Schwester, war ein gutmütiges,zugängliches Mädchen. Aber da bereits eine Menge vonMariannes Schwärmerei auf sie abgefärbt hatte, ohne dasssie deren Einsicht besaß, waren mit dreizehn ihre Aussich-ten, es später im Leben mit ihren Schwestern aufnehmenzu können, gering.

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Kapitel 2

Mrs. John Dashwood ließ sich nun als Hausherrin in Nor-land nieder, und ihre Schwiegermutter und Schwägerinnenwurden zu bloßen Besuchern herabgesetzt. Als solche wur-den sie von ihr allerdings mit reservierter Höflichkeit undvon ihrem Mann mit so viel Wohlwollen behandelt, wie erfür Menschen außer sich selbst, seiner Frau und seinemKind aufzubringen vermochte. Er drang sogar mit einergewissen Ehrlichkeit in sie, Norland als ihr Zuhause zu be-trachten, und da sich Mrs. Dashwood keine bessere Mög-lichkeit bot, als zu bleiben, bis sie ein Haus in der Nach-barschaft gefunden hatte, wurde seine Einladung ange-nommen.

Weiter an einem Ort zu leben, wo alles sie an früheresGlück erinnerte, war genau das, was sie in ihrer Gemütsver-fassung brauchte. An heiteren Tagen strahlte niemand soviel Heiterkeit aus wie sie oder war in solchem Maße von je-ner unerschütterlichen Glückserwartung erfüllt, die schondas Glück selbst bedeutet. Aber im Schmerz ließ sie sichebenso von ihrer Einbildungskraft hinreißen und war fürTrost so unzugänglich, wie sie im Glück unbeirrbar war.

Mrs. John Dashwood billigte ganz und gar nicht, wasihr Mann für seine Schwestern zu tun beabsichtigte. DasVermögen ihres lieben kleinen Jungen um dreitausendPfund zu schmälern, würde ihn auf den trostlosesten Gradvon Armut reduzieren! Sie drang in ihren Mann, sich dieSache noch einmal zu überlegen. Wie konnte er es vor sichselbst verantworten, sein Kind, und noch dazu sein einzi-ges Kind, einer solchen riesigen Summe zu berauben? Undwelchen Anspruch an seine Großzügigkeit auf eine so gro-ße Summe hatten denn die Miss Dashwood überhaupt, diedoch nur seine Stiefschwestern waren, was sie als Ver-

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wandtschaftsbeziehung gar nicht gelten ließ? Alle Weltwusste doch, dass von Anhänglichkeit zwischen den Kin-dern eines Mannes aus verschiedenen Ehen keine Redesein konnte, und warum wollte er sich und ihren armenkleinen Harry ruinieren und all sein Geld an seine Stief-schwestern verschenken?

»Es war meines Vaters letzter Wunsch an mich«, erwi-derte ihr Mann, »dass ich seiner Witwe und seinen Töch-tern beistehe.«

»Er wusste doch gar nicht, was er sagt. Zehn zu eins, erwar zu der Zeit gar nicht mehr zurechnungsfähig. Wäre erbei Sinnen gewesen, dann wäre er gar nicht darauf gekom-men, dir zuzumuten, das halbe Vermögen deines eigenenKindes zu verschenken.«

»Er hat auf keiner bestimmten Summe bestanden, mei-ne liebe Fanny, er hat mich nur ganz allgemein gebeten,ihnen beizustehen und ihnen das Leben angenehmer zumachen, als er es vermochte. Vielleicht hätte er die Ange-legenheit lieber ganz und gar mir überlassen sollen. Erkonnte sich ja denken, dass ich sie nicht zu kurz kommenlassen würde. Aber da er auf dem Versprechen bestand,konnte ich es ihm schlecht abschlagen – jedenfalls schienes mir damals so. Nun ist das Versprechen einmal gegebenund muss gehalten werden. Es muss etwas für sie getanwerden, wenn sie Norland einmal verlassen und sich in ei-nem neuen Haus einrichten sollten.«

»Also gut, dann soll eben etwas für sie getan werden,aber dieses Etwas braucht doch keine dreitausend Pfund zusein. Bedenke doch«, fügte sie hinzu, »wenn man sich ersteinmal von dem Geld getrennt hat, ist es ein für allemalverloren. Deine Schwestern werden heiraten, und dann bistdu es für immer los. Wenn man es allerdings unserem ar-men kleinen Jungen wieder zukommen lassen könnte …«

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»Allerdings«, sagte ihr Mann sehr nachdenklich, »dannsähe die Sache ganz anders aus. Vielleicht kommt einmalder Zeitpunkt, wo Harry es bedauert, dass wir uns von ei-ner so großen Summe getrennt haben. Sollte er zum Bei-spiel eine zahlreiche Familie haben, dann wäre dieses Geldeine sehr willkommene Ergänzung.«

»Allerdings.«»Vielleicht wäre es dann für alle Beteiligten besser,

wenn man die Summe um die Hälfte verringerte. Fünf-hundert Pfund wären ein beträchtlicher Zuwachs ihresVermögens.«

»Oh, über alle Maßen! Welcher Bruder würde auch nurhalb so viel für seine Schwestern tun, selbst wenn sie seinerichtigen Schwestern wären! Und wie die Dinge liegen –nur Stiefschwestern! Aber du bist von Natur so großzügig.«

»Ich möchte auf keinen Fall kleinlich sein«, entgegneteer. »Man tut bei solchen Gelegenheiten lieber zu viel alszu wenig. Wenigstens kann niemand behaupten, ich hättenicht genug für sie getan. Sogar sie selbst können kaummehr erwarten.«

»Was sie erwarten, das weiß man nie«, sagte die Ge-mahlin, »aber über ihre Erwartungen brauchen wir unsnicht den Kopf zu zerbrechen. Die Frage ist, was du erübri-gen kannst.«

»Natürlich, und ich glaube, ich kann fünfhundertPfund für jede erübrigen. Wie die Dinge liegen, wird jedeohne meine Unterstützung beim Tod ihrer Mutter mehrals dreitausend Pfund haben – ein sehr anständiges Vermö-gen für eine junge Frau.«

»Allerdings, und wenn ich es recht bedenke, dann findeich, dass sie deine Unterstützung gar nicht brauchen. Siebesitzen gemeinsam zehntausend Pfund. Wenn sie heira-ten, machen sie bestimmt eine gute Partie, und wenn nicht,

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dann können sie alle zusammen sehr anständig von denZinsen ihrer zehntausend Pfund leben.«

»Eigentlich hast du recht, und deshalb weiß ich nicht,ob es alles in allem nicht ratsamer wäre, etwas für dieMutter zu ihren Lebzeiten statt für die Mädchen zu tun –ich denke an so etwas wie eine Leibrente. Das käme mei-nen Schwestern genauso zugute wie ihr selbst. Mit ein-hundert Pfund pro Jahr hätten sie ein ausgesprochen an-ständiges Auskommen.«

Seine Frau zögerte jedoch ein wenig, diesem Plan ihreZustimmung zu geben.

»Allerdings«, sagte sie, »ist das besser, als sich auf ein-mal von fünfzehnhundert Pfund zu trennen. Aber was,wenn Mrs. Dashwood noch fünfzehn Jahre lebt, dann sindwir ganz und gar die Dummen.«

»Fünfzehn Jahre! Meine liebe Fanny, ihr Leben kanndoch höchstens halb so lange dauern.«

»Sicher, aber achte einmal darauf: Leute leben immerewig, wenn es darum geht, ihnen eine Leibrente zu zahlen.Und sie ist sehr robust und gesund und noch keine vierzig.Eine Leibrente ist eine ernste Angelegenheit, sie will Jahrfür Jahr gezahlt sein, und man wird sie nie wieder los. Duahnst ja nicht, worauf du dich da einlässt. Ich habe eineMenge Ärger mit Leibrenten erlebt, denn für meine Mut-ter war die im Testament meines Vaters festgelegte Zah-lung an drei alte, arbeitsunfähige Diener ein wahrer Klotzam Bein, und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie lästigihr das war. Zweimal im Jahr mussten die Leibrenten ge-zahlt werden, und dann wusste man nicht, wie man ihnendas Geld zukommen lassen sollte, und dann war angeblicheiner gestorben, und hinterher stellte sich heraus, dass esgar nicht stimmte. Meine Mutter war die Sache gründlichleid. Bei diesen ständigen Forderungen, sagte sie, war sie

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nicht Herr über ihr eigenes Geld. Und es war um so rück-sichtsloser von meinem Vater, als das Geld meiner Muttersonst ausschließlich zur Verfügung gestanden hätte, ohneirgendwelche Einschränkungen. Ich habe seitdem einensolchen Horror vor Leibrenten, dass ich mich um nichts inder Welt auf eine solche Zahlung festnageln lassen würde.«

»Es ist zweifellos eine unangenehme Sache«, erwiderteMr. Dashwood, »sein jährliches Einkommen auf diese Wei-se zu belasten. Wie deine Mutter ganz richtig sagt, ist mannicht Herr über sein eigenes Vermögen. Zur regelmäßigenZahlung einer solchen Summe verpflichtet zu sein, an je-dem Zahltag, ist nicht gerade wünschenswert. Es raubteinem die Unabhängigkeit.«

»Zweifellos, und man erntet noch nicht einmal Dankdafür. Sie haben ausgesorgt, du hast ja nur deine Pflichtgetan, und von Dankbarkeit kann keine Rede sein. Wennich du wäre, würde ich mir bei allem, was ich täte, völligeHandlungsfreiheit bewahren. Ich würde mich nicht darauffestlegen, ihnen jährlich etwas zukommen zu lassen. Esmögen Jahre kommen, wo uns die Ausgabe von hundert, jasogar fünfzig Pfund von unserem eigenen Geld sehr unge-legen kommt.«

»Ich glaube, du hast recht, mein Schatz. Es ist wohlbesser, wenn von einer Leibrente gar nicht die Rede ist.Wenn ich ihnen von Zeit zu Zeit etwas gebe, kommt ihnendas mehr zugute als eine jährliche Rente, denn ihr Lebens-stil würde nur aufwendiger werden, wenn sie sich auf eingrößeres Einkommen verlassen könnten, und am Ende desJahres wären sie keinen Pfennig reicher. Das ist auf jedenFall die beste Lösung. Hin und wieder ein Geschenk vonfünfzig Pfund wird sie, glaube ich, vor allen Geldsorgenbewahren und das Versprechen meinem Vater gegenübervoll und ganz erfüllen.«

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»Allerdings. Ja, um die Wahrheit zu gestehen, ich bininnerlich davon überzeugt, dass dein Vater gar nicht darangedacht hat, dass du ihnen überhaupt Geld gibst. Die Un-terstützung, die er im Sinn hatte, bezog sich bestimmt nurauf das, was im Rahmen des Vernünftigen von dir erwartetwerden kann. Zum Beispiel, sich nach einem kleinen Hausfür sie umzusehen, ihnen beim Umzug zu helfen und Fischund Wild und so weiter als Geschenk zu schicken, wannimmer sie verfügbar sind. Ich lege meine Hand dafür insFeuer, dass er weiter nichts im Sinn hatte, ja, es wäre sehrmerkwürdig und unvernünftig, wenn es anders wäre. Be-denke doch nur, mein lieber Mr. Dashwood, wie überausanständig deine Stiefmutter und ihre Töchter von den Zin-sen der siebentausend Pfund leben können, abgesehen vonden eintausend Pfund der einzelnen Mädchen, die ihnen jefünfzig Pfund pro Jahr einbringen und wovon sie ihrerMutter natürlich den Unterhalt bezahlen. Alles in allemhaben sie gemeinsam fünfhundert Pfund pro Jahr, undwozu um alles in der Welt brauchen vier Frauen mehr? Siehaben doch keine Ausgaben. Ihr Lebensunterhalt ist nichtder Rede wert. Sie haben keine Kutsche, keine Pferde undkaum Personal; sie haben keine gesellschaftlichen Ver-pflichtungen und können deshalb keinerlei Ausgaben ha-ben. Denk doch nur, wie anständig sie leben können! Fünf-hundert pro Jahr! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sieauch nur die Hälfte davon ausgeben wollen. Und was denZuschuss von dir angeht, so ist der Gedanke daran absurd.Viel eher könnten sie dir etwas abgeben.«

»Tatsächlich«, sagte Mr. Dashwood, »ich glaube, duhast völlig recht. Mein Vater hatte mit seinem Wunsch be-stimmt nichts anderes im Sinn, als du sagst. Mir ist es jetztvöllig klar, und ich werde meine Verpflichtungen Punktfür Punkt erfüllen, indem ich ihnen mit hilfreichen und

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freundlichen Gesten, wie du sie beschrieben hast, unter dieArme greife. Wenn meine Mutter umzieht, will ich ihr, so-weit ich kann, bereitwillig zur Seite stehen. Vielleicht istdann auch das eine oder andere Möbelstück als Geschenkangebracht.«

»Natürlich«, entgegnete Mrs. John Dashwood. »Aberwie auch immer, eins darf man nicht vergessen. Als deinVater und deine Mutter nach Norland zogen, wurden zwardie Möbel von Stanhill verkauft, aber das ganze Geschirr,Silber und die ganze Tisch- und Bettwäsche wurden be-halten, und nun hat sie deine Mutter geerbt. Ihr Hauswird deshalb fast vollständig eingerichtet sein, sobald sieeinzieht.«

»Das ist zweifellos ein wesentlicher Gesichtspunkt.Eine wahrhaft wertvolle Erbschaft! Und einiges von demSilber wäre eine sehr erfreuliche Ergänzung unserer eige-nen Sammlung hier gewesen.«

»Ja, und das Frühstücksgeschirr ist zweimal so hübschwie das, was in dieses Haus gehört. Meiner Meinung nachbei weitem zu hübsch für die Häuser, die sie sich je werdenleisten können. Aber wie auch immer, so ist es nun einmal.Dein Vater hat nur an sie gedacht. Und eins muss ich nochbetonen: Du brauchst ihm weder besonders dankbar zusein noch auf seine Wünsche Rücksicht zu nehmen, dennwir wissen genau, wenn er gekonnt hätte, hätte er fastalles, was er hatte, ihnen hinterlassen.«

Dieses Argument war unwiderlegbar. Es gab seinen Ab-sichten die Entschlossenheit, die ihnen bisher noch gefehlthatte, und er war schließlich überzeugt, dass es völlig un-nötig, wenn nicht höchst ungehörig war, der Witwe undden Kindern seines Vaters mehr zu helfen als durch solcheGesten nachbarlichen Wohlwollens, wie seine eigene Frausie angedeutet hatte.

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Nachwort

»She cannot be said to have created or invented;Jane Austen had an infinitely rarer gift – she saw.«

Julia Kavanagh (1824–1877) über Jane Austen

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Zusammen mit Pride and Prejudice und Northanger Ab-bey bildet Sense and Sensibility das Trio der frühen Roma-ne Jane Austens. Sie wurden alle zwischen 1795 und 1798von der gut Zwanzigjährigen geschrieben, aber vor ihrerVeröffentlichung etwa 15 bis 20 Jahre später umgearbeitet,Sense and Sensibility sogar zweimal. Wie bei allen Aus-ten-Romanen sind allerdings die früheren Fassungen auchhier verloren. Das Buch hieß ursprünglich Elinor and Ma-rianne und war ein Briefroman. Aus der Kenntnis der end-gültigen Fassung klingt das recht unwahrscheinlich, denndie beiden Schwestern, die doch den Hauptteil der Briefehätten schreiben müssen, weil nur sie ihre Empfindungenmitteilen können, sind dort niemals getrennt. Vermutlichschon 1797 wurde diese früheste Version in die jetzige Er-zählform umgegossen, die dann aber etwa 1809 bis 1810noch einmal revidiert wurde, bevor das Buch 1811 anonym– »by a lady« – und auf eigene Kosten der Autorin in Lon-don erschien. Als einziger Roman Jane Austens wurdeSense and Sensibility dann zu ihren Lebzeiten nach derErstausgabe noch einmal bearbeitet. 1813 kam nach derVeröffentlichung von Pride and Prejudice eine zweite Auf-lage heraus, die einige, wenn auch nicht tiefgreifende Än-derungen vornahm. Wie die meisten englischen Ausgaben– auch Chapmans autoritative – bietet die vorliegende

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Übersetzung, von geringfügigen Korrekturen abgesehen,den Text der zweiten Auflage, gewissermaßen der »Aus-gabe letzter Hand«.

Mit den beiden anderen frühen Romanen verbindetSense and Sensibility aber mehr als die äußere Entste-hungsgeschichte. Es ist wie Northanger Abbey aus der Pa-rodie einer zeitgenössischen Mode hervorgegangen, in die-sem Falle der Empfindsamkeit, einem in der Literatur undim Leben zur Schau getragenen Gefühlsüberschwang, derdas eigene Lieben und Leiden zum Mittelpunkt der Weltmacht. Der deutsche Leser braucht nur an Goethes Die Lei-den des jungen Werthers erinnert zu werden, wo das Themamit höchster geistiger Durchdringung behandelt wird.Während aber Northanger Abbey den Roman im Wesent-lichen um die parodistischen Elemente baut, vor allem umdie Mode des »Gotischen«, und den humoristischen Tonweitgehend wahrt, entwickelt Sense and Sensibility nicht sosehr die komödiantischen Züge, sondern erfasst in der anMarianne kritisierten Empfindsamkeit, die sie blind für al-les außer ihrer von Illusionen genährten Liebe macht, Hal-tungen und Einstellungen zum Leben und setzt die Heldin-nen einem intensiven Leiden aus, das sich in Mariannes Fallin einer beinahe tödlichen körperlichen Krankheit äußert.

Diese ernstere Entwicklung des Themas nun wiederverbindet diesen Roman mit Pride and Prejudice, mit demes schon den alliterierenden Titel gemeinsam hat, dessenBegriffe auf menschliche Verhaltensweisen und damit aufTugenden oder Verfehlungen der Romanfiguren hinwei-sen. Im Zentrum beider Romane steht im Gegensatz zuNorthanger Abbey auch ein Schwesternpaar, dessen Lie-beserwartung, -enttäuschung und -erfüllung die eigentli-che Handlung bildet. In Sense and Sensibility lässt sich dasschon aus dem Aufbau des Buches ablesen. Der Roman er-

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schien, wie das damals üblich war, in mehreren Bänden,und zwar in diesem Fall in drei, deren Kapitel einzeln ge-zählt wurden (Kap. 1–22 = 1. Band, Kap. 1–22; Kap. 23–37= 2. Band, Kap. 1–14; Kap. 38–51 = 3. Band, Kap. 1–14),und die oben angegebenen Stichwörter für die Entwicklungder Liebesgeschichte entsprechen den einzelnen Bänden:Im ersten Band lernen Elinor und Marianne ihre Verehrerkennen und erhoffen sich die Heirat. Um die Handlungs-spannung zu erhalten, erscheint dabei Willoughby erst, alsEdward vorübergehend von der Bildfläche verschwundenist, so dass die so gegensätzlichen Liebeserlebnisse derMädchen nacheinander berichtet werden. Als Willoughbydann abreist, taucht Edward wieder auf. Im zweiten Band,der vor allem in London spielt, verlieren beide Schwesternvorübergehend ihren Geliebten an andere Frauen und erle-ben ihre Krise. Im dritten Band gewinnt Elinor ihren Ed-ward wieder, und Marianne heiratet ausgerechnet Brandonstatt Willoughby – ein Zeichen, dass sie von ihren Ge-fühlsillusionen geheilt ist, denn wie er für sie, ist sie fürihn eine zweite Liebe, also etwas, was nach Mariannes ur-sprünglicher Einstellung gar nicht existieren kann. Sie ver-bindet sich nun mit dem Mann, von dem sie behauptet hat,er sei seines Alters wegen unfähig, tief zu empfinden, seiüberhaupt zu alt zum Heiraten, habe Rheumatismus undtrage Wollwesten – mit dem Mann also, der den Träumeneiner Siebzehnjährigen so ganz und gar nicht entspricht.

Während aber in Sense and Sensibility die beidenSchwestern die in den Titelbegriffen angesprochenen Ei-genschaften repräsentieren und sich damit beide gleichge-wichtig als Protagonistinnen gegenüberstehen, hat Prideand Prejudice trotz der zwei liebenden Schwestern nureine Heldin, Elizabeth Bennet, und die Titelbegriffe bezie-hen sich auf sie und die Spannungen mit ihrem Verehrer

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Darcy. Erst dieser zweite Roman entwickelt also die dannfür alle weiteren Romane von Jane Austen typische Er-zählperspektive, bei der der Leser die Welt durch die Au-gen und mit dem Herzen der Heldin erlebt und nur mit ihrempfindet. Wohl identifiziert sich die Autorin in Sense andSensibility deutlich mit Elinor und nicht mit Marianne, dieja von ihren Irrtümern geheilt werden muss, aber die Er-zählperspektive schwankt noch.

Man hat das als Mangel betrachtet, und überhaupt wirdvon der Literaturwissenschaft Sense and Sensibility öfterals das schwächste der Bücher Jane Austens angesehen:»Keiner würde dies als seinen Lieblingsroman von JaneAusten wählen, während jeder andere seine Fanatiker hat,die gerade ihn allen anderen vorziehen.« (F. Farren, 1917,in: B. C. Southam, vgl. Literaturhinweise, S. 444.) Zu die-sen künstlerischen Schwächen kann man etwa die gele-gentlich gouvernantenhaft moralisierende Art Elinors, diefunktionslose Blässe der jüngsten Dashwood-SchwesterMargaret oder den unerklärlichen Wandel zählen, denMrs. Jennings im Laufe des Buches durchmacht, die zuAnfang der Handlung eine unausstehlich penetranteKlatschbase ist, sich später aber als mutige, kritische undgütige ältere Dame entpuppt.

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Andererseits sollte man über den künstlerischen Mängelnaus heutiger sozialkritisch geschulter Sicht nicht überse-hen, dass Sense and Sensibility das mutigste und enthül-lendste Buch Jane Austens, ihre gnadenloseste Darstellungvon gewissen sozialen Sünden ist. In keinem ihrer anderenRomane wird menschliches Fehlverhalten mit so distan-

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Kapitel 1

Wer Catherine Morland als Kind gesehen hatte, wäre nieauf den Gedanken gekommen, dass sie zur Romanheldinbestimmt war. Ihre Lebensumstände, der Charakter ihresVaters und ihrer Mutter, ihre äußere Erscheinung und ihrNaturell – alles sprach gleichermaßen gegen sie. Ihr Vaterwar Pfarrer, dabei aber durchaus nicht zu kurz gekommenoder verarmt, sondern ein sehr angesehener Mann, obwohler Richard hieß1 – und eine Schönheit war er auch nie ge-wesen. Er besaß neben seinen beiden einträglichen Pfarr-stellen ein beträchtliches Vermögen und hatte ganz undgar nicht die Angewohnheit, seine Töchter hinter Schlossund Riegel zu sperren. Ihre Mutter war eine schlichte, le-benstüchtige Frau von gleichmäßiger Freundlichkeit und –man höre und staune – unverwüstlicher Konstitution. Siehatte schon drei Söhne, als Catherine zur Welt kam, undanstatt, wie man doch wohl erwarten durfte, bei ihrer Ge-burt zu sterben, lebte sie einfach weiter – lebte weiter undgebar sechs weitere Kinder, sah sie alle um sich herum auf-wachsen und erfreute sich dabei selbst auch noch besterGesundheit. Eine Familie mit zehn Kindern kann immerAnspruch auf das Wort »stattlich« erheben; dafür sorgtschließlich schon die Zahl der Köpfe und Arme und Beine,aber bei den Morlands gründete sich das Anrecht auf dieseAuszeichnung auf wenig anderes, denn sie waren im Gro-ßen und Ganzen recht bieder, und ausgesprochen biederwar viele Jahre lang auch Catherine. Sie war mager und

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ungelenk, hatte einen blassen, glanzlosen Teint, glattes,dunkles Haar und ausgeprägte Züge. Soweit ihre äußereErscheinung; ihre geistigen Gaben ließen die zukünftigeRomanheldin auch nicht gerade ahnen. Sie liebte alle Jun-genspiele und zog Cricket bei weitem nicht nur Puppen,sondern auch den Kindheitsvergnügen vor, mit denen sichRomanheldinnen im Allgemeinen die Zeit vertreiben, wieder Pflege einer kleinen Hausmaus, dem Füttern eines Ka-narienvogels oder dem Gießen eines Rosenstrauchs. Ohne-hin hatte sie mit Gärten nichts im Sinn, und wenn sieüberhaupt Blumen pflückte, dann hauptsächlich aus Scha-bernack – jedenfalls musste man das daraus schließen, dasssie immer gerade die aussuchte, die sie auf keinen Fall neh-men sollte. So stand es um ihre Neigungen; um ihre Talen-te war es nicht minder vielversprechend bestellt. Sie lernteoder verstand nie etwas, bevor man es ihr erklärte – undmanchmal nicht einmal dann, denn sie war oft unaufmerk-sam und gelegentlich sogar begriffsstutzig. Ihre Mutterbrauchte volle drei Monate dazu, ihr »Des Bettlers Bitte«beizubringen, und sogar dann konnte ihre nächstjüngereSchwester Sally es immer noch besser als sie. Aber nicht,dass Catherine durchweg begriffsstutzig war, keineswegs;sie lernte die Fabel vom »Hasen und seinen vielen Freun-den« im Handumdrehen.2 Ihre Mutter wollte, dass sie Kla-vierspielen lerne, und Catherine war Feuer und Flamme,denn es machte ihr großen Spaß, auf dem alten, unbenutztherumstehenden Spinett zu klimpern, und so fing sie mitacht Jahren an. Nach einem Jahr war’s mit der Lust vorbei,und Mrs. Morland, die nicht darauf bestand, dass ihreTöchter sich trotz mangelnder Begabung und mangelndemGeschmack Bildung aneigneten, erlaubte ihr, damit aufzu-hören. Der Tag, an dem ihr Klavierlehrer entlassen wurde,war einer der glücklichsten in Catherines Leben. Auch ihr

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Talent zum Zeichnen war nicht überragend, obwohl siesich damit alle Mühe gab und mehr oder minder gleichaussehende Häuser und Bäume, Hühner und Küken zeich-nete, wenn sie der Rückseite eines Briefes ihrer Mutterhabhaft werden oder irgendein anderes Stück Papier erwi-schen konnte. Schreiben und Rechnen lernte sie von ihremVater, Französisch von ihrer Mutter, aber in keinem warenihre Kenntnisse überwältigend, und sie schwänzte die Stun-den, wann immer sie konnte. Was für ein sonderbarer, un-ergründlicher Charakter! Denn trotz all dieser Anzeichenvon Verworfenheit im zarten Alter von zehn Jahren hattesie weder ein schlechtes Herz noch einen schlechten Cha-rakter, war selten bockig, fast nie unverträglich und trotzgelegentlicher tyrannischer Anfälle rührend zu den Klei-nen; obendrein war sie laut und wild, hasste Stubenarrestund Sauberkeit und liebte es über alle Maßen, den grünenAbhang hinter dem Haus hinunterzurollen.

So war Catherine Morland mit zehn. Mit fünfzehnwuchs sie sich zurecht; sie fing an, sich Locken zu drehenund für Bälle zu interessieren; ihr Teint wurde klarer; Fülleund Farbe machten ihre Züge weicher; ihre Augen wurdenlebhafter und ihre Figur betonter. Ihre Vorliebe fürSchmutz wich der Freude an Samt und Seide, und mit demVerstand kam auch die Sauberkeit. Mit Vergnügen hörtesie nun manchmal ihre Eltern sagen, wie sehr sie sich zuihrem Vorteil verändert habe. »Catherine wird ein richtiggutaussehendes Mädchen. Heute sieht sie beinahe hübschaus«, fing sie jetzt von Zeit zu Zeit auf, und solche Sätzewaren Musik in ihren Ohren. Beinahe hübsch zu sein, be-reitet einem Mädchen, das die ersten fünfzehn Jahre ihresLebens unscheinbar war, größeres Entzücken als jeman-dem, der schon in der Wiege als Schönheit galt.

Mrs. Morland war eine herzensgute Frau und hatte die

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besten Absichten mit ihren Kindern, aber sie war so völligmit ihrem Wochenbett und der Beschäftigung mit denKleinen ausgelastet, dass ihre älteren Töchter notgedrun-gen allein zurechtkommen mussten, und daher war esauch nicht verwunderlich, dass Catherine, die von Natur sogar nichts von einer Heldin hatte, im Alter von vierzehnJahren Cricket, Baseball, Reiten und Herumstromern denBüchern vorzog – oder wenigstens den Büchern, aus denenman etwas lernen konnte, denn vorausgesetzt, dass sich ih-nen keinerlei nützliches Wissen entnehmen ließ, vorausge-setzt, dass sie nichts Theoretisches, sondern nur Handlungenthielten, hatte sie gegen Bücher gar nichts einzuwenden.Aber zwischen fünfzehn und siebzehn bereitete sie sich aufihre Rolle als Romanheldin vor; sie las all die Werke, dieHeldinnen gelesen haben müssen, um sich die Zitate ein-prägen zu können, die in den Wechselfällen ihres ereignis-reichen Lebens so brauchbar und tröstlich sind.Von Pope lernte sie, die zu verurteilen, die

»Scherz treiben mit dem Schmerz der andern«;

von Gray, dass

»Manch Blume muss verblühn in EinsamkeitUnd ihren Duft im Wüstensand verströmen«;

von Thompson, dass

»Es ist ein köstliches Bemühen,Des Geistes jungen Trieb zu ziehen«;

und Shakespeare versorgte sie mit einem großen Vorrat anWissen, unter anderem, dass

»Dinge, leicht wie Luft,Sind für die Eifersucht Beweise, starkWie Bibelsprüche«;

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dass

»Der arme Käfer, den dein Fuß zertritt,Fühlt körperlich ein Leiden, ganz so groß,Als wenn ein Riese stirbt«;

und dass eine verliebte junge Frau immer aussieht

»Wie die Geduld auf einer GruftDem Grame lächelnd«.3

So weit hatte sie also zufriedenstellende Fortschritte ge-macht, und in manch anderer Hinsicht war sie auf dem bes-ten Wege, denn obwohl sie keine Sonette schreiben konnte,zwang sie sich dazu, welche zu lesen, und obwohl anschei-nend keine Aussicht für sie bestand, eine ganze Gesellschaftmit der Darbietung eines eigenen Préludes auf dem Klavierin Verzückung zu versetzen, konnte sie dem Spiel andererzuhören, ohne merklich zu ermüden. Nur mit dem Zei-chenstift wusste sie ganz und gar nicht umzugehen – siehatte zum Zeichnen einfach kein Talent; es langte nicht ein-mal dazu, das Profil ihres Verehrers so zu skizzieren, dassihre künstlerische Handschrift darin zu erkennen war. Hierblieb sie kläglich hinter der wahren Größe einer Romanhel-din zurück. Aber vorläufig ahnte sie nichts von ihrer Un-zulänglichkeit, denn sie hatte gar keinen Verehrer, densie hätte porträtieren können. Sie hatte das Alter von sieb-zehn erreicht, ohne einen einzigen liebenswürdigen jungenMann gesehen zu haben, der ihre Gefühle geweckt hätte,ohne eine einzige wahre Leidenschaft hervorgerufen zu ha-ben, ja, ohne mehr als höchst mäßige und flüchtige Bewun-derung erregt zu haben. Das war wirklich sonderbar! Abersonderbare Dinge hören auf, es zu sein, wenn man ihnenauf den Grund geht. Es gab keinen einzigen Lord in derNachbarschaft, ja, nicht einmal einen Baron. In ihrem ge-

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samten Bekanntenkreis hatte nicht eine einzige Familie ei-nen Jungen großzuziehen, den sie zufällig vor ihrer Tür ge-funden hatte – nicht einen einzigen jungen Mann, dessenHerkunft unbekannt war. Ihr Vater hatte kein Mündel undder reichste Mann der Gegend keine Kinder.

Aber wenn eine junge Dame dazu bestimmt ist, Ro-manheldin zu werden, können auch die widrigsten Um-stände in noch so vielen Familien der Umgebung sie nichtdavon abhalten. Etwas muss und wird geschehen, damit ihrder Held über den Weg läuft.

Mr. Allen, dem die Ländereien um Fullerton – das Dorfin Wiltshire, wo die Morlands wohnten – zum größerenTeil gehörten, wurde wegen seiner Gichtanfälle ein Auf-enthalt in Bath verschrieben, und seine Gattin, eine gut-mütige Dame, die an Miss Morland Gefallen fand und sichvermutlich darüber im Klaren war, dass eine junge DameAbenteuer anderswo suchen muss, wenn sie diese in ihremeigenen Dorf nicht findet, lud sie ein, sie zu begleiten. Mr.und Mrs. Morland war es eine große Ehre und Catherineeine große Freude.

Kapitel 2

Zu allem, was über Catherine Morlands äußere und innereGaben bereits gesagt worden ist, darf angesichts der bevor-stehenden Schwierigkeiten und Gefahren eines sechswö-chigen Aufenthalts in Bath zur genaueren Information desLesers, und da die folgenden Seiten sonst ihr Ziel verfehlenwürden, ein angemessenes Bild ihres Charakters zu geben,noch hinzugefügt werden, dass sie ein liebevolles Herz be-saß, ein heiteres, offenes Gemüt ohne alle Einbildung oder

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so auffällig wie möglich zu ändern) in diesem Alter als ihrenächstjüngere Schwester ihre enge Freundin und Vertrauteist. Wie eigenartig aber, dass sie weder darauf bestand, Cath-erine solle mit jeder Post schreiben, noch ihr das Verspre-chen abrang, ihr ein Bild der Persönlichkeit jedes neuenBekannten oder die Einzelheiten jeder interessanten Un-terhaltung, die sich in Bath ergeben mochte, mitzuteilen.Überhaupt wurde von Seiten der Morlands alles, was diesebedeutsame Reise anging, mit einem Grad von Mäßigungund Gefasstheit getan, die eher den alltäglichen Empfin-dungen alltäglicher Menschen entsprach als den hochge-spannten Erwartungen, den zärtlichen Gefühlen, die dieerste Trennung einer Romanheldin von ihrer Familie ei-gentlich auslösen sollte, und anstatt ihr bei seiner Bankunbeschränkte Verfügungsgewalt über sein Konto zu ge-ben oder gar eine Hundertpfundnote in die Hand zu drü-cken, überreichte der Vater ihr nur zehn Guineen und ver-sprach ihr mehr, wenn sie mehr brauchen sollte.

Unter diesen nicht gerade vielversprechenden Auspi-zien fand die Trennung statt, begann die Reise. Sie gingmit angemessener Ruhe und eintöniger Gefahrlosigkeitvonstatten. Kein Räuber, kein Unwetter suchte sie heim,und kein segensreicher Wagenbruch führte sie mit demHelden zusammen. Nichts Schrecklicheres passierte, alsdass Mrs. Allen fürchtete, ihre Pantoffeln in einem Gast-haus zurückgelassen zu haben, und auch diese Befürchtungerwies sich glücklicherweise als grundlos.

So kamen sie in Bath an; Catherine war voll gespannterErwartung, ihre Augen waren hier und dort und überall,als sie sich der gepflegten, eindrucksvollen Umgebung vonBath näherten und anschließend durch die Straßen fuhren,die sie zum Hotel führten. Sie war gekommen, um glück-lich zu sein, und fühlte sich schon jetzt glücklich.

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Bald waren sie in bequemen Räumlichkeiten in der Pul-teney Street4 untergebracht.

Es ist an dieser Stelle angebracht, eine ungefähre Be-schreibung von Mrs. Allen zu geben, damit der Leser beur-teilen kann, auf welche Weise ihre Handlungen später zurunglückseligen Wendung des Buches beitragen und inwie-fern sie voraussichtlich – sei es durch ihre Unklugheit, Ge-wöhnlichkeit oder Eifersucht, sei es, indem sie die Briefeder armen Catherine abfängt, ihren Charakter verdirbtoder sie aus dem Hause weist – für all das verzweiflungs-volle Elend, das im letzten Band5 auf den Leser zukommt,mitverantwortlich ist.

Mrs. Allen war eine der zahlreichen Frauen, in derenGesellschaft man nichts anderes empfindet als Erstaunendarüber, dass es auf dieser Welt sage und schreibe Männergibt, die genug Sympathie für sie aufbringen, sie zu heira-ten. Sie besaß weder Schönheit noch Geist, Bildung oderGeschmack. Damenhaftes Auftreten, eine gehörige Portionvon unaufdringlicher, passiver Gutmütigkeit und ein Hangzur Oberflächlichkeit waren alles, was sie dazu berechtigte,dass die Wahl eines so vernünftigen, intelligenten Manneswie Mr. Allen auf sie gefallen war. In einer Hinsicht aller-dings war sie vorzüglich geeignet, eine junge Dame in dieGesellschaft einzuführen, denn es machte ihr selbst eben-soviel Spaß, überall hinzugehen und alles anzusehen wieden jungen Damen selbst. Kleider waren ihre Leidenschaft;ihr ganzer harmloser Lebensinhalt bestand darin, sich her-auszuputzen, und das gesellschaftliche Debüt unserer Hel-din konnte erst stattfinden, als die beiden drei oder vierTage damit verbracht hatten, herauszufinden, was mandenn trug, und Catherines mütterliche Begleiterin sich einKleid nach der neuesten Mode zugelegt hatte. Catherinemachte ebenfalls einige Einkäufe, und als all dies erledigt

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war, nahte der bedeutende Abend, der sie in die OberenGesellschaftsräume6 führen sollte. Ihr Haar war vom ers-ten Friseur am Platze geschnitten und gelegt, ihre Toilettemit Sorgfalt arrangiert, und sowohl Mrs. Allen als auchihre Zofe erklärten, sie könne gar nicht besser aussehen.Bei solchem Zuspruch hoffte Catherine, vor den Augen derMenge bestehen zu können. Wenn sie Bewunderung er-regte, war es ihr sehr recht, aber sie suchte sie nicht undwar nicht darauf angewiesen.

Mrs. Allen brauchte so lange zum Anziehen, dass sieden Ballsaal erst sehr spät betraten. Die Saison war aufdem Höhepunkt, der Saal überfüllt, und die beiden Damendrängten sich hinein, so gut es ging. Was Mr. Allen betraf,so begab er sich direkt ins Kartenzimmer und überließ esihnen, allein an dem Gewimmel ihren Spaß zu haben.Mehr um die Sicherheit ihres neuen Kleides als umdas Wohlbefinden ihres Schützlings besorgt, bahnte sichMrs. Allen, so schnell es die nötige Vorsicht erlaubte, einenWeg durch die Traube von Männern an der Tür, aberCatherine hielt sich dicht an ihrer Seite und hakte sich sofest bei ihrer Freundin ein, dass auch die vereinte Anstren-gung einer wogenden Menge sie nicht auseinanderreißenkonnte. Zu ihrer größten Verblüffung musste sie jedochfeststellen, dass bei weiterem Vordringen in den Saal dasGedränge keineswegs abnahm; es schien eher schlimmerzu werden, je weiter sie vorankamen, während Catherinesich vorgestellt hatte, dass sie mühelos Platz finden undden Tänzen in aller Bequemlichkeit zusehen könnten, so-bald sie erst einmal die Tür hinter sich gelassen hätten.Aber das Gegenteil war der Fall, und obwohl sie dank un-ermüdlichem Eifer sogar das obere Ende des Saales erreich-ten, war ihre Lage unverändert. Von den Tänzern sahen sienichts als den herausragenden Kopfputz einiger Damen.

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Sie drangen trotzdem weiter vor; etwas Besseres stand inAussicht, und unter Aufbietung aller Energie und Findig-keit gelangten sie schließlich in den Gang hinter derhöchsten Bank. Hier war das Gedränge etwas wenigerdicht als unten, und deshalb hatte Miss Morland einenumfassenden Überblick über die Gesellschaft unter sichund die soeben überstandenen Gefahren in ihrer Mitte. Eswar ein großartiger Anblick, und zum erstenmal an diesemAbend hatte sie das Gefühl, auf einem Ball zu sein; sie hät-te für ihr Leben gern getanzt, aber sie kannte nicht eineneinzigen Menschen im ganzen Saal. Mrs. Allen tat alles,was sich in einem solchen Fall tun ließ, indem sie von Zeitzu Zeit ungerührt sagte: »Schade, dass Sie nicht tanzenkönnen, mein Kind! Schade, dass Sie keinen Partner ha-ben!« Eine Zeitlang fühlte ihre junge Freundin sich ihr zuDank verpflichtet für die guten Wünsche, aber sie wurdenso oft wiederholt und erwiesen sich als so völlig wirkungs-los, dass Catherine ihrer schließlich überdrüssig wurde undaufhörte, sich zu bedanken.

Allerdings durften sie ihren erhöhten Zufluchtsort, densie sich so mühsam erkämpft hatten, nicht lange genießen.Bald setzten sich alle zum Teebüfett in Bewegung, undauch sie mussten sich mit den anderen hinausdrängen.Catherine überkam allmählich ein Gefühl der Enttäu-schung; sie war es leid, ständig von Leuten herumgestoßenzu werden, deren Gesichtern sie im Großen und Ganzennicht das mindeste Interesse abgewinnen konnte und dieihr alle so gänzlich unbekannt waren, dass sie die lästigeGefangenschaft nicht einmal durch ein freundliches Wortmit einem ihrer Mitgefangenen lindern konnte; und als sieschließlich das Teezimmer erreichten, kam ihr der Um-stand, dass sie sich keiner Gruppe, keinem bekannten Ge-sicht anschließen konnten, dass keiner der Herren sich um

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sie kümmerte, noch peinlicher zum Bewusstsein. Mr. Allenwar nirgendwo zu sehen, und nachdem sie vergeblich nacheinem geeigneten Platz Ausschau gehalten hatten, blieb ih-nen nichts anderes übrig, als am Ende eines Tisches Platzzu nehmen, an dem bereits eine größere Gruppe saß undwo sie nichts verloren hatten und sich mit niemandem un-terhalten konnten als miteinander.

Mrs. Allen beglückwünschte sich, sobald sie saßen, ihrKleid vor Schaden bewahrt zu haben. »Wie schrecklich,wenn es zerrissen worden wäre«, sagte sie, »finden Sienicht? Es ist ein so empfindlicher Musselin. Was mich be-trifft, ich habe im ganzen Saal nichts gesehen, was mir sogut gefallen hat, das können Sie mir glauben.«

»Wie lästig«, flüsterte Catherine, »nicht einen einzigenBekannten hier zu haben.«

»Ja, mein Kind«, erwiderte Mrs. Allen, ohne sich son-derlich dafür zu interessieren, »das ist wirklich sehr lästig.«

»Was machen wir denn nun? Die Herrschaften an die-sem Tisch sehen auch aus, als ob sie sich fragten, was wirhier wollen. Wir drängen uns ihnen förmlich auf.«

»Ja, das stimmt. Es ist sehr unangenehm. Ich wünschte,wir hätten eine Menge Bekannte hier.«

»Ich wünschte, wir hätten überhaupt welche hier. Dannkönnten wir uns wenigstens jemandem anschließen.«

»Ganz richtig, mein Kind, und wenn wir Bekannte hät-ten, würden wir uns gleich zu ihnen setzen. Letztes Jahrwaren die Skinners hier. Schade, dass sie jetzt nicht hiersind.«

»Sollten wir nicht lieber aufbrechen? Für uns ist hiersowieso nicht gedeckt.«

»Tatsächlich, Sie haben ganz recht. Das ist ja unerhört!Aber ich finde, wir sollten lieber still sitzenbleiben, dennman wird in dem Gedränge so herumgestoßen. Wie sieht

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meine Frisur aus, mein Kind? Jemand hat mir einenSchubs gegeben und dabei ist sie, fürchte ich, ganz ver-rutscht.«

»Nein, gar nicht, sie sitzt sehr gut. Aber liebe Mrs. Al-len, sind Sie ganz sicher, dass Sie in dieser riesigen Men-schenmenge keine Menschenseele kennen? Sie müssendoch irgend jemanden kennen.«

»Beim besten Willen nicht, schade. Wirklich jammer-schade, dass ich nicht mehr Bekannte hier habe, sonst wür-de ich Ihnen einen Tanzpartner besorgen. Ich wäre so froh,wenn Sie tanzen könnten. Da geht eine merkwürdig ausse-hende Frau! Was für ein komisches Kleid sie anhat! Wiealtmodisch! Sehen Sie nur den Rücken!«

Nach einer Weile wurde ihnen von einem ihrer Nach-barn Tee angeboten; er wurde dankbar akzeptiert, und dar-aus entspann sich eine kurze Unterhaltung mit dem Herrn,und das war das einzige Mal während des ganzen Abends,dass irgendjemand mit ihnen sprach, bis Mr. Allen sie nachBeendigung des Tanzes entdeckte und sich zu ihnen gesellte.

»Nun, Miss Morland«, sagte er gleich zu ihr, »ich hoffe,Sie haben einen unterhaltsamen Abend verbracht.«

»Sehr unterhaltsam«, antwortete sie und versuchtevergeblich, ein herzhaftes Gähnen zu unterdrücken.

»Schade, dass sie nicht tanzen konnte«, sagte seineFrau, »schade, dass ich keinen Partner für sie hatte. Ichsagte schon zu Miss Morland, wie froh ich wäre, wenn dieSkinners diesen und nicht letzten Winter hiergewesen wä-ren, oder wenn die Parrys gekommen wären, wie sie ein-mal angedeutet haben, dann hätte sie mit George Parrytanzen können. Es tut mir so leid, dass sie keinen Partnerhatte.«

»Ein andermal haben Sie mehr Glück, hoffe ich«, warMr. Allens ganzer Trost.

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Als der Tanz zu Ende war, begann sich die Gesellschaftzu zerstreuen, was den Zurückbleibenden genügend Platzließ, um in einiger Bequemlichkeit umherzuwandern, undjetzt war der Augenblick gekommen, wo es sich für jedeRomanheldin gehört, die im Laufe des Abends noch keinehervorragende Rolle gespielt hat, bemerkt und bewundertzu werden. Alle fünf Minuten verringerte sich die Mengeund gab Catherine mehr Spielraum, ihren Charme zu ent-falten. Das Auge vieler junger Männer fiel nun auf sie, dievorher nicht in ihre Nähe gekommen waren. Nicht einerallerdings blieb, von sprachlosem Entzücken hingerissen,bei ihrem Anblick stehen, kein neugieriges, fragendes Flüs-tern machte die Runde im Saale, auch wurde sie kein einzi-ges Mal eine göttliche Schönheit genannt. Und doch sahCatherine sehr gut aus, und hätte die Gesellschaft sie dreiJahre früher gesehen, dann hätte man sie jetzt für unge-wöhnlich hübsch gehalten.

Sie wurde allerdings betrachtet, und zwar mit einigerBewunderung, denn wie sie selbst mit anhörte, erklärtenzwei Herren sie für ein hübsches Mädchen. Solche Worteverfehlten ihre Wirkung nicht; der Abend erschien ihr aufder Stelle erfreulicher als vorher, ihre anspruchslose Eitel-keit war befriedigt. Sie war den beiden jungen Männerndankbarer für dieses bescheidene Kompliment als einewahre Heldin für fünfzehn Sonette zur Feier ihrer Reizeund ging versöhnt mit aller Welt und vollkommen zufrie-den mit ihrem Anteil an allgemeiner Aufmerksamkeit zuihrer Sänfte.

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Nachwort

»That young lady had a talent for describingthe involvement and feelings and characters ofordinary life which is to me the most wunderfulI ever met with.«

Walter Scott über Jane Austen

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Northanger Abbey hat von allen Romanen Jane Austensdie ungewöhnlichste Textgeschichte. Das Buch wird zwi-schen 1797 und 1803 von der erst gut Zwanzigjährigen ge-schrieben, begonnen aber möglicherweise schon 1790 undheißt Susan. Dass der erste, in Bath spielende Teil die Spu-ren von Janes eigenem dortigen Leben zwischen 1801 und1806 trägt, wird in der genauen Schilderung der Örtlich-keiten deutlich. Wie alle frühen Manuskripte der Autorinerlebt es seine »Uraufführung« wohl im Familienkreis,dem Jane mit dem Vorlesen ihrer witzigen und parodisti-schen Geschichten viel Vergnügen bereitet. Über eine Mit-telsperson ihres Bruders Henry wird das Manuskript imFrühjahr 1803 an den Verleger Crosby für zehn Pfund zurunmittelbaren Veröffentlichung verkauft. Es muss ein stol-zer Augenblick für die junge Dame gewesen sein, der sichmit der Publikation dieses ersten Buches binnen Jahresfristeine literarische Karriere zu eröffnen scheint. Aber obwohlder Verleger das Autorenhonorar bezahlt hat, unternimmter weiter nichts; er kündigt den Band an, ohne ihn je er-scheinen zu lassen. Sechs Jahre später schreibt Jane Austenanonym an Crosby und erkundigt sich nach dem Manu-skript. Sie könne nur vermuten, dass es verlorengegangen

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sei, da es entgegen der Absprache nicht veröffentlicht wur-de, und sie erklärt sich bereit, ein zweites Exemplar zuübersenden, falls das sonst unerklärliche Nichterscheinendarauf zurückzuführen sei. Crosby antwortet mit dem An-gebot, ihr das Manuskript zum selben Preis wieder zuüberlassen. Eine Erklärung gibt er nicht, nur verbittet ersich die anderweitige Veröffentlichung, solange er recht-mäßig im Besitz des Manuskriptes sei. Erst 1816, als JaneAusten schon mehrere Romane publiziert hat und sich ihreAnonymität langsam zu lüften beginnt, macht sie von demAngebot des Rückkaufs Gebrauch. Dass die geachtete Au-torin von Sense and Sensibility, Pride and Prejudice,Mansfield Park und Emma die Verfasserin des Buches ist,das er so vernachlässigt hat, erfährt Crosby erst, als er dieRechte daran wieder abgetreten hat.

Jane Austen bearbeitet das unterdessen gut fünfzehnJahre alte Manuskript, legt es dann aber zunächst zuguns-ten ihres neuen Romans Persuasion vorläufig wieder zurSeite. Daher kommt es wieder nicht zur unmittelbaren Pu-blikation und diesmal mit tragischen Folgen: 1817 stirbtJane Austen im Alter von zweiundvierzig Jahren. Ihr Bru-der nimmt sich ihrer beiden noch unveröffentlichten Ro-mane an, und so erscheinen 1818 ihr frühes und ihr letztesWerk postum und mit einer biographischen Notiz, aus derdie Öffentlichkeit zum erstenmal erfährt, wer sich hinterden immer größere Aufmerksamkeit findenden Romanenverbirgt, die ohne Autorennamen, nur mit dem Hinweis»by a lady« erschienen sind. »Ihr der Nützlichkeit, Litera-tur und Religion gewidmetes Leben«, schreibt Henry Aus-ten, »war keineswegs ein ereignisreiches Leben.« WarumCrosby das Manuskript zurückgehalten hat, lässt sich nurvermuten. Fürchtete er einen finanziellen Misserfolg? Pass-te es nicht in sein Verlagsprogramm? War die »gothic no-

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vel«, der gotische Schauerroman der Zeit, ihm noch zu po-pulär, als dass er es riskieren wollte, mit einer offensichtli-chen Parodie dieses in den neunziger Jahren unglaublichbeliebten und erfolgreichen Romantyps ans Licht zu tre-ten? Jedenfalls raubte die verspätete Publikation dem Bucheinen Teil seiner unmittelbaren Aktualität, denn 1818 wardie große Zeit des gotischen Romans vorüber, obwohl gera-de in dieser Zeit noch zwei späte Meisterwerke der Gattungerschienen: Frankenstein or the Modern Prometheus (1818)von Mary Shelley (1797–1851) und Melmouth the Wande-rer (1820) von Charles Maturin (1780–1824). In diesen spä-teren Werken des Genres fällt auf, dass in ihrem Mittel-punkt nicht mehr das beschützenswerte junge Mädchensteht, sondern der »romantische« Held, von seinen Begier-den getrieben, dem Teufel verfallen oder dem Wissensdursthingegeben. Der gotische Roman ist noch heute weitge-hend tot, oder, anders gesagt: paradoxerweise lebt er heuteam intensivsten gerade in Jane Austens Parodie. HenryAusten hat recht gehabt, als er in seiner biographischenNotiz auch bemerkte: »Aber vielleicht leben ja die Werkeder Autorin ebensolange wie die, die mit mehr éclat überdie Welt hereingebrochen sind.«

Während Northanger Abbey durch die Verzögerungenunzeitgemäß spät erscheint, macht gerade diese Verspä-tung deutlich, dass Jane Austens literarische Produktionenger mit dem Beginn des realistischen englischen Romansim 19. Jahrhundert zusammengehört. Nicht der Schauer-roman erregt um 1820 die Gemüter; das Interesse hat sichanderen Romantypen zugewandt, in denen die genaue, de-taillierte und unsensationelle Beschreibung der tatsächlichgelebten und erlebten Wirklichkeit eine größere Rollespielt und für die der Name Walter Scott repräsentativ ist.In seinen Romanen verbindet sich die Vorliebe für die nun

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nicht mehr so phantastisch übersteigerte und entwirklichteHistorie mit dem Gefallen an der unverwechselbaren Ei-genart einzelner britischer Regionen: Waverley, die Dar-stellung des letzten Versuchs der Stuarts, in der Mitte des18. Jahrhunderts den englischen Thron von Schottland auszurückzuerobern, erscheint 1814 und Ivanhoe, die Ge-schichte des edlen Ritters zur Zeit von Richard Löwenherzund Robin Hood, 1819. Bei Scott oder in Susan Ferriers(1782–1854) Roman Marriage, der im selben Jahr wieNorthanger Abbey herauskommt und öfter mit Jane Aus-tens Büchern verglichen worden ist, gibt Schottland den li-terarischen Reiz her.

Fast programmatisch weist Jane Austen den Leser schonim zweiten Kapitel darauf hin, dass sie vorhat, seine aufsUnwahrscheinlich-Phantastische gerichteten Erwartungenzu enttäuschen, indem sie das Märchenhafte im Leben ei-ner Heldin ausmalt, aber dann als nicht wirklich entlarvt.In diesem Fall beschreibt sie Catherines Abschied, wie ernach den Romankonventionen der Zeit stattfinden müssteund wie er sich wirklich abgespielt hat, und dabei betont sieden eben skizzierten Gegensatz zwischen dem alten unddem neuen Typ von Roman: »Überhaupt wurde von Seitender Morlands alles, was diese bedeutsame Reise anging, miteinem Grad von Mäßigung und Gefasstheit getan, die eherden alltäglichen Empfindungen alltäglicher Menschen ent-sprach als den hochgespannten Erwartungen, den zärtli-chen Gefühlen, die die erste Trennung einer Romanheldinvon ihrer Familie eigentlich auslösen sollte […].«

Und so erscheint denn letztlich der Publikationsterminvon Jane Austens verspätetem Jugendwerk doch als rechtglücklich: Ihr Buch braucht den Abstand zum gotischenRoman, damit erkennbar wird, wie sie ihn im Bewusstseinneuerer Entwicklungen kritisiert, zu denen sie selbst beige-

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tragen hat. Aber außerdem erscheint es nun im selben Jahrwie die andere glänzende, wenn auch intellektuellere undmehr auf die Romantik zielende Parodie des gotischenRomans, Nightmare Abbey von William Love Peacock(1785– 1866), das mit der ironischen Beschreibung einesmittelalterlichen Familiensitzes beginnt, wie ihn CatherineMorland erst im zweiten Teil von Northanger Abbey zu se-hen bekommt: »Kloster Alptraum, ein ehrwürdiger Famili-ensitz im höchst malerischen Zustand von Halbverfallen-heit […].«

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Die für die Entwicklung der gotischen Mode im Englanddes 18. Jahrhunderts wichtigste Gestalt, die freilich auffrüheren Ansätzen aufbauen kann, ist Horace Walpole(1717–97), vierter Earl of Oxford und langjähriges Mit-glied des Parlaments. Er lässt sich in den sechziger Jahrensein Landhaus Strawberry Hill in gotischem Stil und mitunregelmäßigem Grundriss bauen und veröffentlicht 1764den ersten gotischen Roman: The Castle of Otranto. Auchin Deutschland beginnt ja etwa um diese Zeit die Mittel-alter-Begeisterung, für die Goethes Kult des StraßburgerMünsters und sein Götz von Berlichingen (1773) früheund bekannte Beispiele sind. Aber während sich inDeutschland diese gotischen Elemente erst in der Roman-tik wirklich durchsetzen und Teil einer Weltanschauungwerden, bestimmen sie in England schon in den letztendreißig Jahren des 18. Jahrhunderts die Mode. Man bautgotische Gebäude oder lässt sich seine Bibliothek mit goti-schen Ornamenten verzieren, zimmert gotisches Mobiliaroder malt gotische Bilder mit pittoresk verfallenen Burgen,schreibt Friedhofsdichtung oder gotische Romane, die in

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Kapitel 1

Schön, aufgeweckt und reich, bei einem sorgenfreien Zu-hause und einem glücklichen Naturell war Emma Wood-house offenbar mit einigen der erfreulichsten Vorzüge desDaseins gesegnet und hatte beinahe einundzwanzig Jahrefast ohne jeden Anlass zu Kummer und Verdruss auf die-ser Welt verbracht.

Sie war die jüngere von zwei Töchtern eines höchst zärt-lichen und nachsichtigen Vaters und durch die Heirat ihrerSchwester schon recht früh Herrin seines Hauses geworden.Ihre Mutter war schon zu lange tot, als dass sich für Emmamit der Erinnerung an sie mehr als unbestimmte Vorstel-lungen von Zärtlichkeit verbunden hätten, und ihren Platzhatte eine ausgezeichnete Erzieherin eingenommen, derenliebende Zuneigung der einer Mutter kaum nachstand.

Sechzehn Jahre hatte Miss Taylor in Mr. WoodhousesFamilie mehr als Freundin denn als Erzieherin verbrachtund zu beiden Töchtern, besonders aber zu Emma ein en-ges Verhältnis gehabt. Zwischen ihnen herrschte eher dieVertrautheit von Schwestern. Schon lange bevor Miss Tay-lor aufgehört hatte, ihr Amt als Erzieherin auszuüben, hat-te sie in ihrer Nachsicht Emma fast immer gewähren las-sen, und da auch der bloße Schatten von Autorität längstverschwunden war, lebten sie als unzertrennliche Freun-dinnen miteinander, wobei Emma tat, was sie wollte: Zwarschätzte sie Miss Taylors Urteil sehr, aber sie folgte imWesentlichen ihrem eigenen.

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Das eigentliche Problem bestand deshalb darin, dassEmma zu leicht ihren Willen bekam und dazu neigte, eherzu viel von sich zu halten. Hier lauerten Gefahren, die ih-rem ungetrübten Dasein drohten. Vorläufig allerdings warsie sich ihrer so wenig bewusst, dass sie sie durchaus nichtals Verhängnis empfand.

Und doch stand ihr Kummer bevor, gelinder Kummerallerdings und keineswegs in Gestalt von unliebsamerSelbsterkenntnis. Miss Taylor heiratete. Der Abschied vonMiss Taylor brachte Emma den ersten seelischen Schmerz.Am Hochzeitstag ihrer geliebten Freundin hing sie zumersten Mal längere Zeit trüben Gedanken nach. Die Feierwar vorüber, das Brautpaar fort, und ihr Vater und siemussten sich allein und ohne Aussicht auf Gesellschaft, dieihnen den langen Abend verkürzen half, zum Dinner1 nie-dersetzen. Ihr Vater legte sich wie üblich nach dem Essenhin, und ihr blieb nichts übrig, als dazusitzen und über ih-ren Verlust nachzudenken.

Ihrer Freundin versprach die Heirat alle Aussicht aufdauerhaftes Glück. Mr. Weston war ein Mann von vor-trefflichem Charakter, beträchtlichem Vermögen, passen-dem Alter und angenehmen Umgangsformen, und es lagein gewisser Trost darin, dass sie aus Freundschaft die Par-tie uneigennützig und großzügig immer selbst gewünschtund gefördert hatte; aber leicht fiel es ihr nicht. Tagtäglichund von morgens bis abends würde ihnen Miss Taylor feh-len. Sie rief sich ihre Herzlichkeit ins Gedächtnis zurück,die Herzlichkeit und Zuneigung von sechzehn Jahren: wiesie sie seit ihrem fünften Lebensjahr unterrichtet und mitihr gespielt hatte; wie sie alles getan hatte, um sie anzure-gen und zu unterhalten, wenn sie gesund war, und sie beiden verschiedenen Kinderkrankheiten gepflegt hatte. Siewar ihr zu großem Dank verpflichtet, aber das Beisammen-

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sein der letzten sieben Jahre, der Umgang auf gleichemFuß und das völlige gegenseitige Vertrauen, das sich einge-stellt hatte, als sie nach Isabellas Heirat noch mehr aufein-ander angewiesen waren, war ihr in der Erinnerung nochteurer und lieber. Sie war eine Freundin und Gefährtin ge-wesen, wie nur wenige sie besaßen, lebensklug, gebildet,unentbehrlich, gleichmäßig freundlich, mit allen Familien-angelegenheiten vertraut, an allen familiären Problemeninteressiert und besonders an ihr, an all ihren Vergnügun-gen und Plänen. Mit ihr konnte sie alles besprechen, wasihr in den Sinn kam, und Miss Taylor liebte sie zu sehr, alsdass sie an ihr jemals etwas auszusetzen gehabt hätte.

Wie sollte sie diese Umstellung nur ertragen? Esstimmte zwar, dass ihre Freundin nicht mehr als eine halbeMeile entfernt wohnte, aber Emma wusste nur zu gut,welcher Unterschied zwischen einer Mrs. Weston, nichtmehr als eine halbe Meile entfernt, und einer Miss Taylorim Haus bestehen würde, und bei all ihren natürlichen Ga-ben und häuslichen Möglichkeiten war sie nun in Gefahr,geistig zu verkümmern. Sie liebte ihren Vater herzlich,aber er war keine Gesellschaft für sie. Er war ihr im erns-ten und scherzhaften Gespräch nicht gewachsen.

Ihr unglückseliger Altersunterschied (und Mr. Wood-house hatte nicht gerade früh geheiratet) wurde noch we-sentlich durch seinen Gesundheitszustand und seine Ge-wohnheiten vergrößert, denn da er in seiner geistigen undkörperlichen Unbeweglichkeit sein Leben lang ein krän-kelnder Mann gewesen war, wirkte er älter, als er war; undwenn er auch wegen seiner Herzensgüte und seiner immergleichbleibenden Freundlichkeit überall sehr beliebt war,hatte er doch nie durch Talente geglänzt.

Obwohl Emmas Schwester nur sechzehn Meilen ent-fernt in London wohnte, also durch die Heirat nicht ei-

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gentlich von ihrer Familie getrennt war, war sie natürlichfür den täglichen Umgang zu weit weg, und man musste inHartfield viele lange Oktober- und Novemberabende über-stehen, bevor Isabella und ihr Mann mit ihren kleinenKindern zu Weihnachten zu Besuch kamen, um das Hausendlich wieder mit ihrer unterhaltsamen Gesellschaft zufüllen.

Highbury, das große und seiner Einwohnerzahl nachfast städtische Dorf, zu dem Hartfield trotz seines eigenenNamens und seines getrennten Grund und Bodens eigent-lich gehörte, konnte ihr keine ebenbürtige Gesellschaft bie-ten. Die Woodhouses waren dort die angesehenste Familie.Man sah allgemein zu ihnen auf. Sie hatten zwar viele Be-kannte, denn ihr Vater war zuvorkommend zu jedermann,aber es gab niemand unter ihnen, den sie anstelle von MissTaylor auch nur einen halben Tag akzeptiert hätte. Es warschon eine trostlose Umstellung, und Emma konnte dar-über nur seufzen und sich Unerfüllbares wünschen, bisihr Vater erwachte und sie wieder Heiterkeit ausstrahlenmusste, denn er brauchte Aufmunterung. Er war kein aus-geglichener Mensch, sondern neigte zu Depressionen; erhing an Menschen, an die er gewöhnt war, und ließ sie un-gern gehen, denn jeder Wechsel war ihm zuwider. Die Eheals Quelle der Veränderung war immer eine leidige Sache,und er hatte sich noch nicht einmal mit der Heirat seinereigenen Tochter abgefunden und sprach von ihr immer inmitleidigem Ton, obwohl es doch ganz und gar eine Liebes-heirat gewesen war, als er sich nun auch noch von MissTaylor trennen sollte. Da er auf seine leise Art zum Egois-mus neigte und sich nicht vorstellen konnte, dass andereMenschen nicht seiner Meinung waren, zweifelte er nichtdaran, dass Miss Taylor sich selbst und ihnen einenschlechten Dienst erwiesen hatte und viel glücklicher ge-

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wesen wäre, wenn sie den Rest ihres Lebens in Hartfieldverbracht hätte. Emma lächelte und plauderte, so heiter sienur konnte, damit er nicht auf solche trüben Gedankenverfiel, aber als der Tee serviert wurde, konnte er sich nichtenthalten zu wiederholen, was er schon bei Tisch gesagthatte:

»Arme Miss Taylor! Wenn sie nur wieder hier wäre. Esist ein wahrer Jammer, dass Mr. Weston ausgerechnet aufsie verfallen musste.«

»Ich kann dir nicht zustimmen, Papa, das weißt du ge-nau. Mr. Weston ist ein so umgänglicher, angenehmer undausgezeichneter Mann, dass er eine gute Frau von Herzenverdient, und du kannst doch nicht wollen, dass Miss Tay-lor ihr Leben bei uns verbringt und meine Launen übersich ergehen lässt, wenn sie ein eigenes Haus haben kann.«

»Ein eigenes Haus! Wo ist der Vorteil bei einem eige-nen Haus? Unseres ist dreimal so groß, und du hast dochgar keine Launen, mein Kind.«

»Und wie oft wir uns gegenseitig besuchen werden!Wir werden uns ständig sehen! Wir müssen den Anfangmachen, wir müssen ihnen möglichst bald einen Hoch-zeitsbesuch machen.«

»Mein Kind, wie soll ich denn zu ihnen hinkommen?Randalls ist doch viel zu weit. Wie soll ich denn zu Fuß zuihnen hinkommen?«

»Nein, Papa, wer denkt denn an zu Fuß gehen? Wirfahren natürlich mit der Kutsche.«

»Mit der Kutsche! Aber es ist James bestimmt nichtrecht, für einen so kurzen Weg die Pferde anzuspannen,und wo sollen die armen Pferde bleiben, während wir denBesuch machen?«

»In Mr. Westons Stall natürlich, Papa. Das haben wirdoch alles schon besprochen. Wir haben alles gestern

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Abend mit Mr. Weston verabredet. Und was James betrifft,so kannst du sicher sein, dass er immer gerne nach Randallsfährt, weil seine Tochter dort Dienstmädchen ist. Ich be-zweifle höchstens, dass er uns noch irgendwo anders hin-fahren will. Dafür hast du gesorgt, Papa. Du hast Hannahdie gute Stelle besorgt. Niemand hat an Hannah gedacht,bis du darauf gekommen bist. James ist dir so dankbar.«

»Ich bin froh, dass ich daran gedacht habe. Es ist einGlück, denn ich möchte auf keinen Fall, dass der armeJames denkt, wir übergehen ihn, und außerdem bin ichüberzeugt, dass sie ein sehr adrettes Hausmädchen ist. Sieist ein höfliches Kind und weiß sich nett auszudrücken. Ichhalte viel von ihr. Immer wenn ich sie sehe, knickst sie undfragt mich sehr adrett, wie es mir geht, und wenn sie zumHandarbeiten hier ist, dann fällt mir immer auf, dass sieden Türknopf richtig dreht und nicht mit der Tür knallt.Sie wird bestimmt ein ausgezeichnetes Stubenmädchen,und es ist eine Wohltat für die arme Miss Taylor, jeman-den um sich zu haben, den sie schon kennt. Immer wennJames seine Tochter besucht, hört Miss Taylor dann auchgleich von uns. Er kann ihr erzählen, wie es uns allengeht.«

Emma gab sich alle Mühe, das Gespräch in diesem er-freulicheren Fahrwasser zu halten, und hoffte, mit Hilfevon Backgammon ihren Vater einigermaßen durch denAbend zu schleusen, so dass sie nur mit ihrer eigenen Nie-dergeschlagenheit zu kämpfen hatte. Aber kaum war derSpieltisch aufgestellt, da trat ein Besucher ins Zimmer undmachte diese Mühe überflüssig.

Mr. Knightley, ein Mann von Charakter, etwa sieben-oder achtunddreißig Jahre alt, war nicht nur ein sehr alterund enger Freund der Familie, sondern ihr als älterer Bru-der von Isabellas Mann noch besonders verbunden. Er

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wohnte ungefähr eine Meile von Highbury entfernt undwar ein ständiger, immer willkommener Besucher – heutemehr denn je, da er gerade von ihren gemeinsamen Ver-wandten aus London zurückkam. Er war einige Tage fortgewesen und hatte, zu einem späten Dinner heimgekehrt,nun einen Spaziergang nach Hartfield gemacht, um zu be-richten, am Brunswick Square2 gehe es allen gut. Es warein glücklicher Umstand, und er hielt Mr. Woodhouse eineZeitlang bei guter Laune. Mr. Knightley wirkte anregend,was Emmas Vater immer guttat, und seine vielen Fragennach der »armen Isabella« und ihren Kindern wurden zuseiner vollen Zufriedenheit beantwortet. Als seine Neugiergestillt war, bemerkte Mr. Woodhouse dankbar: »Wie nettvon Ihnen, Mr. Knightley, noch zu dieser späten Stundeherüberzukommen. Es muss ein scheußlicher Gang gewe-sen sein.«

»Keineswegs, Sir3, es ist eine wunderschöne Mond-nacht und so milde, dass ich weiter von Ihrem großen Ka-minfeuer wegrücken muss.«

»Aber es muss doch nasskalt und schmutzig draußensein. Hoffentlich haben Sie sich keine Erkältung geholt.«

»Schmutzig, Sir! Sehen Sie meine Schuhe an. Nicht einSpritzer!«

»Nanu, das ist ja eigenartig, denn hier hat es richtig ge-gossen. Beim Frühstück hat es eine halbe Stunde langfurchtbar gegossen. Ich wollte sogar die Hochzeit verschie-ben lassen.«

»Apropos, ich habe Ihnen noch gar nicht zu dem freu-digen Ereignis gratuliert. Aber da ich ja weiß, wie Sie beidesich bei dem freudigen Ereignis fühlen, war es mir mit denGlückwünschen nicht eilig. Ich hoffe, es ist alles gut ver-laufen? Wie war Ihnen allen zumute? Wer hat am meistengeschluchzt?«

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»Ach, die arme Miss Taylor! Was für eine traurige Ge-schichte!«

»Die armen Woodhouses, wenn ich bitten darf, denn›die arme Miss Taylor‹ kann ich beim besten Willen nichtsagen. Ich schätze Emma und Sie sehr, aber wenn es umAbhängigkeit und Unabhängigkeit geht, kein Zweifel, mandient lieber einem Herrn als zweien.«

»Besonders, wenn einer von beiden ein so launisches,anspruchsvolles Geschöpf ist«, rief Emma halb im Scherz.»Das wollten Sie doch damit sagen, nicht wahr? Und Siehätten es auch gesagt, wenn mein Vater nicht hier wäre.«

»Ich glaube, er hat völlig recht, mein Kind«, sagteMr. Woodhouse mit einem Seufzer. »Ich fürchte, manch-mal bin ich wirklich launisch und anspruchsvoll.«

»Aber liebster Papa! Du glaubst doch nicht im Ernst,Mr. Knightley oder ich hätten dich gemeint. Was für einhaarsträubender Gedanke! Nein, nein, ich habe nur michgemeint. Mr. Knightley hat immer etwas an mir auszuset-zen, im Spaß natürlich, alles nur im Spaß. Wir sagen unsimmer offen die Meinung.«

Mr. Knightley war tatsächlich einer der wenigen Men-schen, die an Emma Woodhouse etwas auszusetzen hatten,und der einzige, der es ihr auch sagte; und wenn schonEmma selbst das nicht besonders schätzte, ihrem Vater ge-fiel es, wie sie wusste, so ganz und gar nicht, dass er aufkeinen Fall Verdacht schöpfen sollte, sie werde nicht vonjedermann für vollkommen gehalten.

»Emma weiß genau, dass ich ihr niemals schmeichle«,sagte Mr. Knightley, »aber ich hatte an niemanden im Be-sonderen gedacht. Miss Taylor war daran gewöhnt, zweiHerren zu dienen; jetzt hat sie nur noch einen. Dabei kannsie doch nur gewinnen.«

»Gut«, sagte Emma, geneigt, den Fall auf sich beruhen

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zu lassen. »Sie wollten von der Hochzeit hören, und ichberichte Ihnen gern davon, denn wir haben uns alle ganzreizend benommen. Alle waren pünktlich, zeigten sich vonihrer besten Seite, keine Tränen, kaum lange Gesichter.Nein, nein, wir wussten ja alle, dass wir auch nur eine hal-be Meile voneinander entfernt sein und uns natürlich täg-lich sehen würden.«

»Die liebe Emma, sie trägt alles so gefasst«, sagte ihrVater, »aber in Wirklichkeit, Mr. Knightley, geht ihr derVerlust Miss Taylors sehr nahe, und ich bin sicher, sie wirdihr viel mehr fehlen, als sie ahnt.«

Emma wandte sich, zwischen Lachen und Weinenschwankend, ab.

»Es ist ganz ausgeschlossen, dass eine solche FreundinEmma nicht fehlen sollte«, sagte Mr. Knightley. »Wenn wirdas annehmen müssten, Sir, würden wir sie weniger gern-haben. Aber sie weiß auch, wie vorteilhaft die Heirat fürMiss Taylor ist; sie weiß, wie erfreulich es für Miss Taylorsein muss, in ihrem Alter Herrin eines eigenen Zuhauseund unter so günstigen Bedingungen für ihr Leben versorgtzu sein, und daher muss ihre Freude ihren Schmerz über-wiegen. Alle wahren Freunde von Miss Taylor können nurfroh sein, dass sie sich so glücklich verheiratet hat.«

»Und einen Anlass zur Freude für mich haben Sie nochvergessen«, sagte Emma, »und zwar einen ganz besonde-ren: dass ich die Ehe zustande gebracht habe. Ich habe dieEhe nämlich vor vier Jahren zustande gebracht; und sie tat-sächlich stattfinden zu sehen und recht zu behalten, ob-wohl so viele Leute überzeugt waren, Mr. Weston werdenicht wieder heiraten, ist Entschädigung genug für mich.«

Mr. Knightley sah sie kopfschüttelnd an. Ihr Vater ant-wortete liebevoll: »Ach, mein Kind, wenn du nur nichtimmer Heiratspläne schmieden und Voraussagen machen

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würdest, denn alles, was du sagst, geht in Erfüllung. Lassbitte die Finger davon.«

»Für mich selbst will ich das gern versprechen, Papa,aber für andere Leute muss ich unbedingt weiter Heirats-pläne schmieden. Das ist das größte Vergnügen der Welt!Und dann noch nach diesem Erfolg! Alle waren überzeugt,Mr. Weston werde nicht wieder heiraten. Um Gottes wil-len, nein, Mr. Weston, der schon so lange Witwer war undanscheinend ohne Frau so vollkommen zufrieden, ständigmit seinen Geschäften in London befasst und immer gutgelaunt, Mr. Weston brauchte doch nicht einen einzigenAbend im Jahr alleine zu Hause zu verbringen, wenn ernicht wollte. O nein, Mr. Weston würde bestimmt nichtwieder heiraten. Einige Leute wollten sogar von einemVersprechen wissen, das er seiner Frau auf dem Totenbettgegeben, und andere davon, dass sein Sohn und dessenOnkel es ihm verboten hatten. Aller möglicher Unsinnwurde verkündet, aber ich hielt kein Wort davon für wahr.Seit dem Tag (vor ungefähr vier Jahren), als Miss Taylorund ich ihn auf der Broadway Lane trafen und er, weil eszu nieseln anfing, mit so viel Galanterie davonschoss undfür uns zwei Regenschirme von Bauer Mitchell lieh, war esfür mich beschlossene Sache. Von dem Augenblick an habeich die Ehe sorgfältig geplant, und jetzt, wo mein Werkvon solchem Erfolg gekrönt worden ist, lieber Papa, soll ichdas Heiratspläneschmieden aufgeben?«

»Ich verstehe nicht, was du mit ›Erfolg‹ meinst«, sagteMr. Knightley. »Erfolg setzt Bemühung voraus. Du hastdeine Zeit wahrlich sinnvoll und angemessen verbracht,wenn du dich die letzten vier Jahre bemüht hast, diese Ehezustande zu bringen. Eine würdige Beschäftigung für einejunge Dame! Aber wenn, was ich fast vermute, dein Hei-ratspläneschmieden, wie du es nennst, nur heißen soll,

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dass du sie geplant hast, indem du eines schönen Tages zudir gesagt hast: ›Ich glaube, Mr. Weston wäre eine gutePartie für Miss Taylor‹, und wenn du dir das lang genugeingeredet hast, warum sprichst du dann von Erfolg? Woist dein Verdienst? Worauf bist du stolz? Du hast richtiggeraten, das ist alles.«

»Und kennen Sie nicht das Vergnügen und den Tri-umph, richtig geraten zu haben? Dann tun Sie mir leid. Ichhatte Sie für klüger gehalten, denn verlassen Sie sich dar-auf, richtig zu raten ist niemals bloßes Glück. Eine gewisseBegabung gehört immer dazu, und was mein unglücklichesWort ›Erfolg‹ angeht, um das Sie sich zanken wollen, soglaube ich nicht, dass ich keinerlei Anspruch darauf habe.Sie haben zwei hübsche Standpunkte formuliert, aber ichfinde, es gibt noch einen dritten, eine Möglichkeit zwischenNichtstun und Allestun. Wenn ich Mr. Westons Besuchebei uns nicht ermutigt und hier und da ein bisschen nach-geholfen und allerlei Unebenheiten geglättet hätte, wäreaus allem vielleicht gar nichts geworden. Sie kennen jaHartfield gut genug, um zu wissen, was ich meine.«

»Ein aufrichtiger und offener Mann wie Mr. Westonund eine vernünftige und unaffektierte Frau wie Miss Tay-lor kann man getrost sich selbst überlassen. Wahrschein-lich hast du mit deinem Eingreifen eher dir selbst gescha-det als ihnen genützt.«

»Emma denkt nie an sich selbst, wenn sie anderen hel-fen kann«, mischte sich Mr. Woodhouse wieder ein, dernur die Hälfte verstand. »Aber, Kind, tu mir den Gefallen,schmiede keine Heiratspläne mehr. Ehen sind Unsinn. Esist traurig, wie sie die häusliche Gemütlichkeit zerstören.«

»Nur eine Ehe noch, Papa, nur Mr. Eltons. Der armeMr. Elton! Du magst ihn gern, Papa. Ich muss mich nacheiner Frau für ihn umsehen. In Highbury gibt es niemand,

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der ihn verdient. Er ist nun schon ein ganzes Jahr hier undhat sein Haus so gemütlich eingerichtet, dass es ein Jam-mer wäre, wenn er nicht bald heiratete. Und als er heutedie Hände des Brautpaars zusammentat, sah er aus, als lie-ße er sich diesen freundlichen Dienst auch nicht ungerngefallen.«

»Mr. Elton ist ein adretter junger Mann, ohne Frage,und ein ausgezeichneter junger Mann, und ich mag ihnwirklich gern. Aber wenn du ihm einen Gefallen tunwillst, mein Kind, lade ihn eines Tages zum Essen bei unsein. Das scheint mir sinnvoller. Mr. Knightley ist sicher sofreundlich, auch zu kommen.«

»Mit dem größten Vergnügen, Sir, jederzeit«, sagteMr. Knightley lachend, »und ich bin völlig Ihrer Meinung,dass es viel sinnvoller wäre. Lade ihn zum Essen ein,Emma, setz ihm einen schönen Braten vor, aber um eineFrau lass ihn sich selber kümmern. Verlass dich darauf, einMann von sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jah-ren kann für sich selber sorgen.«

Kapitel 2

Mr. Weston stammte aus einer angesehenen Familie inHighbury, die seit zwei oder drei Generationen immermehr zu Ansehen und Wohlstand gelangt war. Er hatteeine gute Erziehung erhalten, aber da er schon früh zu fi-nanzieller Unabhängigkeit gekommen war, hatte er sichfür die solide berufliche Laufbahn seiner Brüder nichtinteressiert und seinen lebendigen, aufgeschlossenen Geistund sein Bedürfnis nach Geselligkeit dadurch befriedigt,dass er Offizier geworden war.

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Nachwort

»The balance of her gifts was singularly perfect.«

Virginia Woolf über Jane Austen

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»Emma. Ein Roman. In drei Bänden. Von der Autorin von Prideand Prejudice etc. etc.« erschien – mit dem Druckdatum 1816 –im Dezember 1815 und bildet in jeder Hinsicht den Höhepunktvon Jane Austens (1775–1817) Karriere. Schon der Name desVerlegers deutet darauf hin, denn John Murray, der zusammenmit den Rechten an Emma auch die der Neuauflagen der schonerschienenen Werke der Schriftstellerin erwarb, war der berühm-teste Londoner Verleger seiner Zeit und betreute solche literari-schen Zelebritäten wie Lord Byron und Walter Scott. Wenn mansich erinnert, dass Jane Austen 1803 ihr erstes Romanmanu-skript, das spätere Northanger Abbey, für zehn Pfund an denVerleger Crosby verkaufte, ohne dass dieser es je veröffentlichte,und sie es 1816 zum selben Preis wieder zurückerwarb, dann wirdder literarische Aufstieg der Autorin deutlich, deren Bücher vonnun an bei Murray erschienen.

Emma verschaffte Jane Austen allerdings auch außerhalb derliterarischen Welt ein Ansehen, wie sie es vorher nicht gekannthatte: Der Prinzregent, der spätere König Georg IV., lud sie fürden 13. November 1815 zu einer Besichtigung der Bibliothek sei-ner Londoner Residenz Carlton House ein und ließ ihr durch sei-nen Bibliothekar ausrichten, dass ihm eine Widmung ihresnächsten Romans willkommen sein würde. So erschien Emmaeinen Monat später mit einer Widmung an den Regenten »vonseiner königlichen Hoheit pflichtbewusster und gehorsamer, un-tertäniger Dienerin«, und die Autorin ließ drei Tage vor dem ei-gentlichen Erscheinungstermin ein in rotes Leder gebundenesExemplar nach Carlton House schicken.

Aber sie erhielt nicht nur ein solches Zeichen königlicherHuld; auch die angesehenste Autorität des Landes im Hinblickauf den Roman richtete ihre Aufmerksamkeit wohlwollend aufsie. Im März 1816 erschien in der Quarterly Review, die aller-

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dings wiederum der Verleger Murray herausgab, ein anonymerArtikel von Walter Scott, der sich mit Emma beschäftigte und mitseinem Umfang von über zehn Seiten als Kritik eines einzelnenRomans ungewöhnlich lang war, denn dieser eher als minderwer-tig geltenden literarischen Gattung – Scott selbst hob durch seineWerke ihr Ansehen beträchtlich – wurden im Allgemeinen nurkurze, halbseitige Rezensionen zugebilligt. Der schottische Ro-mancier erkannte das im literarischen Kontext der Zeit Charakte-ristische und Neue an Jane Austens Romanen außerordentlichklar. Er schreibt:

»Jane Austens Werke gehören zu einem Typ von Roman, der beinaheerst in unserer eigenen Zeit entstanden ist und der die darin vorkom-menden Charaktere und Ereignisse in stärkerem Maße dem alltägli-chen Leben entnimmt, als die Regeln des Romans das bisher gestatte-ten. […] Wir machen der Autorin deshalb kein kleines Kompliment,wenn wir sagen: Indem sie sich eng an alltägliche Ereignisse und anCharaktere hält, die ein Durchschnittsleben führen [occupy the ordi-nary walks of life], hat sie Skizzen von solcher Lebendigkeit und Ori-ginalität geschaffen, dass wir auf den Reiz gar nicht angewiesen sind,den uns eine Erzählung voller außergewöhnlicher Ereignisse ver-schafft, indem sie uns die Begegnung mit Menschen vermittelt, dieuns an Geist, Gefühl und Lebensart weit überlegen sind. Diesen neu-en Typ vertritt sie nahezu allein. [Es folgt die Inhaltsangabe.] Das istdie einfache Handlung der Geschichte, die wir mit Vergnügen, wennnicht mit tieferer Anteilnahme durchlesen und die wir vielleicht lie-ber wieder in die Hand nehmen als eine der Erzählungen, wo wirbeim ersten Lesen durch starke Neugier aufgeregt und gefesselt wer-den. […] Die Weltkenntnis der Autorin und der bemerkenswerteTakt, mit dem sie die Charaktere darstellt, die der Leser nicht umhin-kann, wiederzuerkennen, erinnert uns an die malerischen Verdiensteder holländischen Schule. Die Schilderungen sind nicht vornehm undgewiss niemals grandios, aber sie sind vollkommen lebensgetreu undmit einer Genauigkeit gezeichnet, die den Leser entzückt.«

Das war zweifellos der Beginn des Ruhms, der großen öffentli-chen und literarischen Anerkennung, und keiner konnte ahnen,dass Emma Jane Austens letzter zu Lebzeiten erscheinender Ro-man bleiben, dass sie gut ein Jahr später sterben würde. Seltenhat der Tod ein Künstlerleben zu einem unglücklicheren Zeit-punkt beendet.

Die spätere Kritik hat Scotts Eindruck bestätigt, dass Emma

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eine der größten, wenn nicht die größte Leistung Jane Austens,ihre komplexeste Schöpfung ist: »Das Buch der Bücher […]Emma ist der Gipfel von Jane Austens Werk; die richtige Würdi-gung von Emma ist die entscheidende Prüfung für die Anerken-nung als Bürger in ihrem Königreich« (R. Farrer, 1917); »JaneAustens tiefsinnigste Komödie« (D. Cecil, 1935); »Emma bildetden Höhepunkt ihrer literarischen Leistungen. […] Hier ist ihrKönnen am größten, ihre Beherrschung der Materie am sichers-ten« (M. Shorer, 1959); »Gerade in Emma, wo die Chancen zumScheitern aus technischen Gründen besonders groß sind, habenwir es mit einem der unbezweifelbaren Meister der Erzählkunstzu tun« (W. Booth, 1961); »ihr vollkommenstes und repräsenta-tivstes Werk« (D. Lodge, 1968).

So wie Pride and Prejudice den Höhepunkt von Jane Austensfrüher literarischer Entwicklung darstellt, bildet Emma den Gip-fel ihrer reifen Zeit. Der nur dreijährige Abstand bei der Veröf-fentlichung beider Werke täuscht darüber hinweg, denn ihrerEntstehungszeit nach zerfallen die sechs vollendeten RomaneJane Austens in zwei Gruppen: Sense and Sensibility, Pride andPrejudice und Northanger Abbey sind eigentlich Jugendwerke.Auch wenn sie 15 bis 20 Jahre später und zum Teil erheblich um-gearbeitet erschienen, wurden sie doch in den neunziger Jahrendes 18. Jahrhunderts entworfen und zum Teil auch ausgeführt.Dann folgten Fragmente, die nie vollendet wurden (Lady Susan,The Watsons), und dann die drei späten Romane: Mansfield Park,im Wesentlichen 1813 geschrieben, erschien 1814; Emma, 1814geschaffen, kam 1815 heraus; und Persuasion (Entstehungszeit1815/16) wurde 1818, also nach dem Tod der Autorin publiziert.

2

Jane Austens früher Tod und das Erscheinen aller ihrer Romaneinnerhalb eines Zeitraums von nur sieben Jahren verführen dazu,die Unterschiede zwischen den früh konzipierten Werken undden späteren Romanen zu übersehen. Wenn man aber etwaEmma neben Pride and Prejudice hält, sind durchaus Entwicklun-gen zu erkennen. Eine recht oberflächliche besteht schon darin,dass sich die Einstellung der Autorin zu ihrer Heldin – im Zen-trum aller Romane Jane Austens steht eine Heldin, aus deren

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Kapitel 1

Vor ungefähr dreißig Jahren hatte Miss Maria Ward ausHuntingdon mit nur 7000 Pfund Vermögen das großeGlück, Sir Thomas Bertram von Mansfield Park in derGrafschaft Northampton zu erobern und dadurch mit allden Annehmlichkeiten und gesellschaftlichen Vorteilen ei-nes stattlichen Hauses und eines ansehnlichen Einkom-mens in den Rang einer Baronin aufzusteigen. Ganz Hun-tingdon wusste sich über diese großartige Partie nicht zulassen, und sogar ihr eigener Onkel, der Rechtsanwalt, gabzu, dass ihr mindestens 3000 Pfund fehlten, um solche An-sprüche stellen zu können. Sie hatte zwei Schwestern, de-nen diese Standeserhöhung nur zugutekommen konnte,und alle die Bekannten, die Miss Ward und Miss Francesfür mindestens so hübsch wie Miss Maria1 hielten, scheu-ten sich nicht, ihnen eine beinahe ebenso vorteilhafte Hei-rat vorauszusagen. Aber natürlich gibt es auf der Weltnicht so viele Männer mit ansehnlichem Vermögen, wie eshübsche Frauen gibt, die sie verdienen. Miss Ward sah sichdeshalb nach einem halben Dutzend Jahren genötigt, sichmit dem Pastor Mr. Norris zu verbinden, einem Freund ih-res Schwagers, fast ohne eigenes Vermögen, und MissFrances erging es noch schlechter. Ja, Miss Wards Verbin-dung erwies sich, als es soweit war, als durchaus nicht zuverachten, da Sir Thomas zum Glück imstande war, seinenFreund durch die Pfarre von Mansfield mit einem Einkom-men zu versorgen, und so begannen Mr. und Mrs. Norris

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den Werdegang ihres ehelichen Glücks mit kaum wenigerals 1000 Pfund im Jahr. Aber Miss Frances enttäuschtedurch ihre Heirat – wie man so schön sagt – die Erwartun-gen ihrer Familie, und sie tat das, indem sie einen Marine-leutnant ohne Erziehung, Vermögen oder Verbindungenwählte, ausgesprochen gründlich. Sie hätte kaum eine un-vorteilhaftere Wahl treffen können.

Sir Thomas hatte Beziehungen, die er ebenso aus Prin-zip wie aus Ehrgefühl, aus einem generellen Wunsch, dasRechte zu tun, und aus dem Bedürfnis, alle, die mit ihmverwandt waren, in angemessenen Positionen zu sehen,gerne zugunsten von Lady Bertrams Schwester hätte spie-len lassen, aber bei dem Beruf ihres Mannes war mit sei-nen Beziehungen nichts zu erreichen; und bevor er Zeithatte, sich andere Möglichkeiten der Unterstützung auszu-denken, hatte ein endgültiges Zerwürfnis zwischen denSchwestern stattgefunden. Es ergab sich ganz zwangsläufigaus dem Verhalten beider Parteien und war bei einer so un-klugen Heirat auch kaum anders zu erwarten. Um sich un-nötige Vorwürfe zu ersparen, erwähnte Mrs. Price in denBriefen an ihre Familie das Thema nie, bevor die Heirattatsächlich stattgefunden hatte. Lady Bertram, die eineFrau von ausgesprochen friedfertigem Naturell und bemer-kenswert ausgeglichenem Temperament war, hätte sich da-mit begnügt, ihre Schwester einfach aufzugeben und nichtweiter an die Sache zu denken; aber Mrs. Norris hatte vielUnternehmungsgeist, der ihr keine Ruhe ließ, bis sieFrances einen langen und empörten Brief geschrieben hat-te, um ihr die Torheit ihres Schrittes vor Augen zu führenund ihr alle seine möglichen üblen Folgen anzudrohen.Mrs. Price ihrerseits war gekränkt und empört; und ihreAntwort, die beide Schwestern mit Vorwürfen bedachteund so ausgesprochen abfällige Bemerkungen über Sir

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Thomas’ Ehrgefühl enthielt, dass Mrs. Norris sie auf kei-nen Fall für sich behalten konnte, machte allem Umgangzwischen ihnen auf Jahre hinaus ein Ende.

Sie wohnten so weit auseinander und bewegten sich inso verschiedenen Kreisen, dass während der folgenden elfJahre jede Möglichkeit, voneinander zu hören, beinaheausgeschlossen war oder es jedenfalls Sir Thomas als einWunder erscheinen ließ, dass Mrs. Norris überhaupt im-stande war, ihnen von Zeit zu Zeit mit empörter Stimmezu erzählen, dass Frances schon wieder ein Kind bekom-men habe. Nach Ablauf von elf Jahren allerdings konnteMrs. Price es sich nicht länger leisten, sich Stolz oder Ge-kränktheit hinzugeben oder auf eine Verbindung zu ver-zichten, von der sie womöglich Hilfe zu erwarten hatte.Eine große und immer noch wachsende Familie, ein Ehe-mann, untauglich zu aktivem Dienst, aber Gesellschaft undteurem Alkohol durchaus nicht abgeneigt, und ein zu ge-ringes Einkommen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen,ließen es ihr geraten erscheinen, die Freunde wiederzuge-winnen, die sie so unbekümmert geopfert hatte, und siewandte sich in einem Brief an Lady Bertram, aus dem soviel Zerknirschung und Verzweiflung sprach, ein solcherÜberfluss an Kindern und ein solcher Mangel an fast allemanderen, dass eine Versöhnung ihnen allen unerlässlich er-schien. Ihr neuntes Kindbett stand bevor, und als sie dar-über gejammert und sie um ihre Unterstützung bei der Er-ziehung des erwarteten Kindes gebeten hatte, ließ siedurchblicken, wie unentbehrlich sie ihr in Zukunft beimUnterhalt ihrer acht schon vorhandenen Kinder waren. IhrÄltester war ein Junge von zehn Jahren, ein vielverspre-chender, lebhafter Bursche, der unbedingt in die Welt hin-aus wollte – aber was konnte sie tun? Bestand die Mög-lichkeit, dass er sich Sir Thomas bei der Verwaltung seiner

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Besitzungen in der Karibik nützlich machen konnte? Erwäre sich für keine Arbeit zu schade? Oder was hielt SirThomas von Woolwich2? Oder wie fing man es an, einenJungen in den Orient zu schicken?

Der Brief verfehlte seine Wirkung nicht. Er stellte Frie-den und Einvernehmen wieder her. Sir Thomas sandte gut-gemeinte Ratschläge und Versicherungen, Lady Bertramschickte Geld und Babywäsche, und Mrs. Norris schrieb dieBriefe.

Darin bestand der unmittelbare Erfolg, und innerhalbeines Jahres ergab sich daraus ein noch wesentlicherer Vor-teil für Mrs. Price. Mrs. Norris bemerkte oft zu den ande-ren, dass ihr ihre arme Schwester und deren Familie nichtaus dem Kopf ging; soviel sie alle auch für sie getan hatten,sie wollte anscheinend noch mehr tun; und zu guter Letztkonnte sie nicht umhin, offen zuzugeben, dass es ihrWunsch war, die arme Mrs. Price von der Verantwortungund den Kosten für eins aus der großen Schar ihrer Kindergänzlich zu befreien. Wie nun, wenn sie gemeinsam dieSorge für die Erziehung ihrer ältesten Tochter übernäh-men, eines Mädchens von jetzt neun Jahren, einem Alteralso, in dem sie mehr Aufmerksamkeit erfordere, als ihreMutter ihr auch beim besten Willen geben könne? DieMühe und die Kosten für sie fielen im Verhältnis zu derdadurch bewirkten Wohltat gar nicht ins Gewicht. LadyBertram stimmte ihr auf der Stelle zu: »Ich finde, wir kön-nen nichts Besseres tun«, sagte sie. »Wir wollen das Kindholen lassen.«

Sir Thomas konnte seine Zustimmung nicht so spontanund ohne weiteres geben. Er widersprach und zögerte. Essei eine schwere Verantwortung; wenn man ein Mädchenaufziehe, müsse man auch später angemessen für sie sor-gen, sonst wäre es Grausamkeit und nicht Freundlichkeit,

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sie ihrer Familie wegzunehmen. Er denke an seine eigenenvier Kinder, an seine beiden Söhne, an verliebte Vetternusw. Aber kaum hatte er begonnen, seine Einwände imEinzelnen vorzutragen, da unterbrach ihn Mrs. Norris miteiner Antwort, die alle seine Argumente widerlegte – un-abhängig davon, ob er sie vorgetragen hatte oder nicht.

»Mein lieber Sir Thomas, ich verstehe Sie vollkommenund ehre die Großzügigkeit und das Zartgefühl ihrer Emp-findungen, die ja auch ganz Ihren sonstigen Einstellungenentsprechen, und ich stimme in der Hauptsache völlig mitIhnen überein, dass es nämlich angebracht ist, alles zu tun,was man kann, um für ein Kind zu sorgen, für das man aufdiese Weise die Verantwortung übernommen hat, und ichbin gewiss die Letzte, die bei solcher Gelegenheit nicht ihrScherflein beisteuern würde. Da ich selbst keine Kinderhabe, wem soll ich denn das Bisschen hinterlassen, das icheines Tages zu vererben habe, wenn nicht den Kindernmeiner Schwestern? Und Mr. Norris ist bestimmt zu groß-zügig … aber Sie wissen ja, ich bin eine Frau, die nichtgern große Worte und Bekenntnisse macht. Wir wollenuns nicht durch eine Kleinigkeit von einer guten Sache ab-schrecken lassen. Geben Sie einem Mädchen eine Erzie-hung und führen Sie sie richtig in die Gesellschaft ein, undich wette zehn zu eins, dass sie die besten Voraussetzungenhat, sich gut zu verheiraten, ohne irgendjemandem weitereAusgaben zu machen. Eine Nichte von uns, Sir Thomas,das darf ich wohl sagen, oder wenigstens von Ihnen, würdenicht ohne wesentliche Vorteile in unserer Gegend auf-wachsen … Ich behaupte ja nicht, dass sie so vollkommenwürde wie ihre Kusinen. Das will ich denn doch nicht be-haupten, aber sie würde unter so ungewöhnlich günstigenUmständen in das gesellschaftliche Leben unserer Nach-barschaft eingeführt, dass sie nach menschlichem Ermessen

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dadurch eine passende Verbindung finden müsste. Sie den-ken an Ihre Söhne … aber wissen Sie denn nicht, dass dasvon allen Möglichkeiten die unwahrscheinlichste ist – sowie sie aufwachsen würden, immer zusammen wie Ge-schwister? Es ist nahezu ausgeschlossen. So etwas habe ichnoch nie gehört. Ja, es ist die einzig sichere Methode, dieVerbindung zu verhindern. Angenommen, sie ist ein hüb-sches Mädchen, und Tom oder Edmund würden sie in sie-ben Jahren zum ersten Mal sehen, dann gäbe es bestimmtÄrger. Der bloße Gedanke, dass sie so weit entfernt vonuns allen arm und vernachlässigt aufwachsen musste, wür-de schon genügen, um einen der beiden lieben, zartfühlen-den Jungen für sie entflammen zu lassen. Aber sorgen Siedafür, dass sie mit ihnen gemeinsam aufwächst, und ange-nommen sogar, sie ist schön wie ein Engel, dann wird sieihnen niemals mehr sein als eine Schwester.«

»Es steckt viel Wahrheit in dem, was Sie sagen«, erwi-derte Sir Thomas, »und es liegt mir denkbar fern, gegen ei-nen Plan, der den Lebensumständen beider Parteien so ent-spräche, irgendwelche weit hergeholten Einwände zu erhe-ben. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass man sich nichtleichtfertig darauf einlassen sollte und wir, wenn Mrs. Pricees später nicht bereuen und wir uns vor uns selbst nichtschämen sollen, für das Kind sorgen oder uns für verpflich-tet halten müssen, für sie unter Umständen wie für einejunge Dame von Stand zu sorgen, wenn sich die Heirat, aufdie Sie so optimistisch vertrauen, nicht anbietet.«

»Ich verstehe Sie voll und ganz«, rief Mrs. Norris, »Siesind die Großzügigkeit und Güte selbst, und in diesemPunkt wird es zwischen uns bestimmt keine Meinungsver-schiedenheiten geben. Wenn ich denen, die ich liebe, etwasGutes tun kann, tue ich es von Herzen; das wissen Sie ja;und obwohl ich für dieses kleine Mädchen nie auch nur ei-

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nen Bruchteil dessen empfinden könnte, was ich an Zunei-gung für Ihre eigenen lieben Kinder aufbringe, oder sieebenso wie sie für mein eigen Fleisch und Blut haltenkönnte, würde ich es mir doch nie verzeihen, wenn ich im-stande wäre, sie zu vernachlässigen. Schließlich ist sie eineTochter meiner Schwester, und wie könnte ich es mit anse-hen, dass sie Mangel leidet, solange ich noch ein Stück Brotmit ihr teilen kann? Mein lieber Sir Thomas, bei all meinenFehlern habe ich doch ein empfindsames Herz; und armwie ich bin, würde ich mir lieber das Nötigste vom Mun-de absparen, als selbstsüchtig zu handeln. Wenn Sie alsonichts dagegen haben, schreibe ich gleich morgen an meinearme Schwester und mache ihr den Vorschlag, und sobalddie Angelegenheit geregelt ist, sorge ich dafür, dass dasKind nach Mansfield kommt; Sie brauchen sich damit keineMühe zu machen, und meine eigene Mühe fällt ja niemalsins Gewicht. Ich werde Nanny deswegen nach Londonschicken, und sie kann bei ihrem Vetter, dem Sattler, über-nachten, und das Kind soll beauftragt werden, sie dort zutreffen. Von Portsmouth nach London kann man es unterder Obhut irgendeiner verlässlichen Person, die zufälligauch dorthin fährt, ohne weiteres mit der Postkutsche schi-cken. Die eine oder andere achtbare Kaufmannsfrau fährtimmer nach London.«

Außer gegen den Überfall auf Nannys Vetter erhob SirThomas keine weiteren Einwände; und als man sich dem-entsprechend für einen respektableren, wenn auch wenigerpreisgünstigen Treffpunkt entschieden hatte, galt die Sacheals abgemacht, und man gab sich schon der Vorfreude übereinen so menschenfreundlichen Plan hin. Strenggenom-men hätten die Gefühle der Genugtuung nicht gleich ver-teilt sein dürfen, denn Sir Thomas war fest entschlossen,der eigentliche und ständige Wohltäter des erwählten Kin-

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des zu sein, und Mrs. Norris hatte nicht die geringste Ab-sicht, sich für seinen Unterhalt auch nur im mindesten inUnkosten zu stürzen. Solange es ans Planen, Mahnen undOrganisieren ging, war sie die Menschenfreundlichkeitselbst, und niemand wusste besser, wie man andere zu Frei-gebigkeit zwingen konnte; aber ihre Liebe zum Geld hieltihrer Liebe zum Kommandieren durchaus die Waage, undsie verstand es ganz genauso gut, ihr eigenes zu sparen, wiedas ihrer Freunde auszugeben. Da das Einkommen ihresMannes eigentlich ihren Erwartungen nicht entsprach, hat-te sie von Anfang an eine sehr strikte Sparsamkeit fürangebracht gehalten, und was als Vorsichtsmaßnahme be-gonnen hatte, entwickelte sich, obwohl die Kinder als Be-gründung der ständigen Sorge fehlten, bald zu einer liebenGewohnheit. Hätte sie eine Familie zu versorgen gehabt,hätte Mrs. Norris ihr Geld vielleicht nie gespart; da sieSorgen dieser Art aber nicht hatte, gab es nichts, was ihreSparsamkeit gebremst oder ihr die angenehme Aussichtgemindert hätte, ihr Einkommen, das sie ohnehin nie auf-brauchte, jedes Jahr weiter zu vergrößern. Mit dieser herz-erwärmenden Einstellung, die von keiner echten Zuneigungzu ihrer Schwester erschüttert wurde, konnte sie unmög-lich mehr für sich in Anspruch nehmen als das Verdienst,eine so kostspielige gute Tat geplant und arrangiert zu ha-ben, obwohl sie sich womöglich so wenig kannte, dass sienach dieser Unterhaltung in dem beglückenden Glaubennach Hause ins Pfarrhaus zurückging, die großzügigsteSchwester und Tante der Welt zu sein.

Als das Thema zum zweiten Mal erörtert wurde, drück-te sie ihre Ansichten deutlicher aus, und Sir Thomas hörtein Erwiderung auf Lady Bertrams ruhige Frage »Bei wemsoll das Kind zuerst bleiben, Schwester, bei euch oder beiuns?« mit einiger Überraschung, dass Mrs. Norris völlig

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außerstande sei, irgendwelche persönliche Verantwortungfür den Schützling zu übernehmen. Er hatte immer ange-nommen, sie würde als Familienmitglied, als erwünschteGefährtin einer Tante, die keine eigenen Kinder hatte, imPfarrhaus besonders willkommen sein – aber da hatte ersich gründlich getäuscht. Mrs. Norris bedauerte sagen zumüssen, es sei völlig ausgeschlossen, dass das kleine Mäd-chen, jedenfalls so wie die Dinge augenblicklich lägen, zuihnen komme. Der arme Mr. Norris und sein bedenklicherGesundheitszustand machten es ganz unmöglich; eherkönne er sich in die Luft erheben als Kinderlärm ertragen.Wenn er sich aber eines Tages von seiner Gicht erholt habe,lasse sich natürlich darüber reden. Dann werde sie sie gerneine Zeitlang übernehmen und die Mühe nicht scheuen;aber gerade jetzt, wo der arme Mr. Norris ihre ganze freieZeit beanspruche … die bloße Erwähnung von so etwaswürde für seine Nerven bestimmt zu viel sein.

»Dann kommt sie wohl besser zu uns«, sagte LadyBertram mit äußerster Gefasstheit. Sir Thomas fügte nacheiner kurzen Pause würdevoll hinzu: »Ja, in diesem Haussoll sie ihre Heimat finden. Wir werden uns bemühen, un-sere Pflicht ihr gegenüber zu erfüllen; und hier hat sie we-nigstens den Vorteil, gleichaltrige Gefährten und eine stän-dige Gouvernante zu haben.«

»Ganz recht«, rief Mrs. Norris, »beides sind entschei-dende Argumente, und für Miss Lee ist es doch schließlichganz gleich, ob sie drei Mädchen zu unterrichten hat odernur zwei – das spielt doch keine Rolle für sie. Ich wünschtenur, dass ich mich nützlicher machen könnte, aber ich tuewirklich alles, was in meiner Macht steht. Ich gehöre, weißGott, nicht zu denen, die irgendwelche Mühe scheuen, undNanny soll sie abholen, auch wenn ich eigentlich meine ein-zige Stütze im Haus drei Tage gar nicht entbehren kann. Ich

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nehme an, Schwester, du wirst das Kind in der kleinen wei-ßen Bodenkammer unterbringen, dicht bei den alten Kin-derzimmern. Das ist bei weitem der beste Platz für sie, sodicht bei Miss Lee und nicht weit von euren Töchtern undin der Nähe der Hausmädchen, die ihr ja beide beim Anzie-hen helfen und sich um ihre Kleidung kümmern können,denn ich nehme nicht an, du hältst es für angebracht, dassEllis sie ebenso wie eure Mädchen bedient. Ja, ich wüsstewirklich gar nicht, wo du sie sonst unterbringen könntest.«

Lady Bertram erhob keine Einwände.»Ich hoffe, sie erweist sich als gutmütig veranlagtes

Mädchen«, fuhr Mrs. Norris fort, »und weiß das unge-wöhnliche Glück zu schätzen, dass sie solche Freunde hat.«

»Sollte sie wirklich eine schlechte Veranlagung haben«,sagte Sir Thomas, »dann dürfen wir sie um unserer eige-nen Kinder willen nicht in der Familie behalten; aber esgibt keinen Grund, ein so großes Übel zu befürchten. Wirwerden sicher vieles an ihr ändern wollen und müssen aufhaarsträubende Unbedarftheit, recht einfältige Ansichtenund eine bestürzende Gewöhnlichkeit ihrer Umgangsfor-men gefasst sein; aber das sind keine unkorrigierbaren Feh-ler, und auch für ihre Gefährtinnen sind sie bestimmt keineGefahr. Wären meine Töchter jünger als sie, dann hätte ichihren Umgang mit einer solchen Hausgenossin als sehr be-denklich angesehen, aber wie die Dinge liegen, hoffe ich,gibt es von dem Umgang für sie nichts zu befürchten undfür das Kind alles zu hoffen.«

»Da bin ich völlig Ihrer Meinung«, rief Mrs. Norris,»und das habe ich meinem Mann heute Vormittag auch ge-sagt. ›Schon das bloße Zusammensein mit ihren Kusinen‹,hab’ ich gesagt, ›wird eine gute Schule für das Kind sein;wenn Miss Lee ihr nichts beibrächte, würde sie von ihnenlernen, gut und geschickt zu sein‹.«

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»Ich hoffe nur, dass sie meinen armen Mops nicht är-gert«, sagte Lady Bertram, »ich habe Julia gerade erst so-weit, dass sie ihn in Ruhe lässt.«

»Wir werden im Hinblick auf den angemessenen Stan-desunterschied, den man zwischen den Mädchen machenmuss, wenn sie zusammen aufwachsen, mit einigenSchwierigkeiten rechnen müssen, Mrs. Norris«, sagte SirThomas, »wie man bei meinen Töchtern das Bewusstsein,wer sie sind, erhalten kann, ohne dass sie deshalb zu ge-ring von ihrer Kusine denken, und wie man diese, ohne siezu sehr zu entmutigen, daran erinnert, dass sie keine MissBertram ist. Ich sähe es gern, wenn sie gute Freundinnenwürden, und möchte meinen Mädchen auf keinen Fall er-lauben, ihrer Verwandten gegenüber auch nur den ge-ringsten Hochmut zu zeigen; und doch können sie nichtebenbürtig sein. Ihr Rang, Vermögen, ihre Rechte und Er-wartungen werden immer verschieden sein. Es ist ein äu-ßerst heikler Punkt, und Sie müssen uns bei unseren Ver-suchen unterstützen, genau den richtigen Umgangston zufinden.«

Mrs. Norris war ihm gern zu Diensten, und obwohl sievöllig mit ihm einer Meinung war, dass es sich dabeium eine äußerst delikate Sache handle, bestärkte sie sei-ne Hoffnung, dass man es gemeinsam schon schaffenwerde.

Man kann sich leicht vorstellen, dass Mrs. Norris nichtvergeblich an ihre Schwester schrieb. Mrs. Price schieneher überrascht, dass man sich auf ein Mädchen geeinigthatte, wo sie doch so viele vielversprechende Jungen hatte,aber sie nahm das Angebot äußerst dankbar an, versicherteihnen, dass ihre Tochter ein sehr gutmütig veranlagtes,umgängliches Mädchen sei, und war überzeugt, dass siekeinen Anlass haben würden, sie zurückzuschicken. Sie

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beschrieb sie dann als ein bisschen empfindlich und zart,war aber zuversichtlich, dass ihr die Luftveränderung ent-schieden guttun würde. Die arme Frau! Sie dachte wahr-scheinlich, dass Luftveränderung vielen ihrer Kinder gut-tun würde.

Kapitel 2

Das kleine Mädchen überstand die Reise wohlbehalten undwurde in Northampton von Mrs. Norris abgeholt, die sichin dem Verdienst, sie als Erste willkommen zu heißen, undin der Würde sonnte, sie den anderen zuzuführen und ih-rer Güte zu empfehlen.

Fanny Price war zu dieser Zeit gerade zehn Jahre alt,und obwohl es auf den ersten Blick nichts an ihr gab, wasbesonders einnehmend war, so gab es andererseits dochauch nichts, was den Widerwillen ihrer Verwandten erreg-te. Sie war klein für ihr Alter, ohne leuchtenden Teint odersonst wie auffallende Schönheit, übermäßig ängstlich undschüchtern und darauf bedacht, sich jeder Aufmerksamkeitzu entziehen; und obwohl unbeholfen, hatte ihre Erschei-nung doch nichts Gewöhnliches; ihre Stimme war lieblich,und wenn sie sprach, war ihr Gesichtsausdruck hübsch. SirThomas und Lady Bertram empfingen sie sehr freundlich,und da Sir Thomas sah, wie sehr sie Ermutigung nötig hat-te, versuchte er ganz besonders entgegenkommend zu sein,aber dabei war ihm sein äußerst würdevolles Benehmen imWege, so dass Lady Bertram, ohne sich halb soviel Mühezu geben oder ein Wort zu sagen, wo er zehn sagte, nur mitHilfe eines gutmütigen Lächelns sofort die weniger furcht-erregende Gestalt von beiden wurde.

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Nachwort

»She has given us a multitude of characters, allin a certain sense, common place, all such as wemeet every day. Yet they are all as perfectlydiscriminated from each other as if they werethe most eccentric of human beings.«

Thomas Macauley (1800–59) über Jane Austen

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Mansfield Park ist der dritte der sechs Romane Jane Aus-tens (1775–1817), die von 1811 bis 1818, also innerhalbvon nur sieben Jahren in London erschienen und, abgese-hen von kurzen satirischen Jugenddichtungen und drei Ro-manfragmenten (Lady Susan, The Watsons, Sanditon), dasgesamte Œuvre dieser Schriftstellerin ausmachen. Seinemgeringen Umfang nach steht es in keinem Verhältnis zuseiner weltweiten Beliebtheit in der englischsprachigenWelt und zu der unendlich zahlreichen Sekundärliteratur,die darüber geschrieben wurde und wird. Jane Austen bil-det das Musterbeispiel eines Klassikertyps, wie er in derdeutschen Literatur allzu selten ist, ja, wie ihn eigentlichnur Theodor Fontane darstellt: Sie befriedigt zugleich daselementare Lesevergnügen eines riesigen Publikums unddie Forschungsbedürfnisse der Literaturwissenschaft. Dieeine Seite wird repräsentiert durch J. B. Priestleys Beurtei-lung, Jane Austen »hat wahrscheinlich mehr englischspra-chigen Menschen Entzücken bereitet als irgendeine andereFrau, die je gelebt hat«, die andere durch den Vergleich mitShakespeare, der öfter in den Studien über Jane Austen

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auftaucht – zum ersten Mal übrigens bei dem oben zitier-ten Thomas Macauley in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Innerhalb der sechs Romane stellen Mansfield Park undder darauf folgende, Emma (1815), insofern eine eigeneGruppe dar, als nur sie von der Autorin unmittelbar inDruck gegeben wurden, nachdem sie konzipiert und ge-schrieben waren. Die beiden früheren Werke (Sense andSensibility, 1811, und Pride and Prejudice, 1813) sind um-gearbeitete Jugendwerke, und die beiden folgenden (Persua-sion und Northanger Abbey, 1818, letzteres ebenfalls eineJugendarbeit) wurden nicht mehr von der Schriftstellerinselbst, die inzwischen gestorben war, sondern von ihremBruder herausgegeben. Mansfield Park und Emma bildendaher die eigentlichen Werke der Reifezeit Jane Austens,und vielleicht ist schon ihr größerer Umfang ein Zeichendafür, dass die etwa vierzigjährige Autorin sich bei ihnenganz auf der Höhe ihres literarischen Könnens fühlte.

Die erste Auflage von Mansfield Park, das 1814 ano-nym, aber mit dem Zusatz »von der Autorin von Senseand Sensibility und Pride and Prejudice« erschien, war, wieaus einem Brief Jane Austens an ihre Lieblingsnichte Fan-ny Knight – die sich später aristokratisch verheiratete undin viktorianischer Engstirnigkeit auf ihre früher so geliebteTante und deren Familie mit einer gewissen Geringschät-zung zurückblickte – hervorgeht, schon im November des-selben Jahres vergriffen. Jane Austen freute sich darüberunter anderem deshalb, weil sie bei einer Neuauflage wie-der Geld verdienen konnte. (»Ich bin schrecklich habgierigund möchte das meiste herausholen.«) Eine zweite Auflagewurde tatsächlich 1816 veranstaltet, und die Verfasserinnahm die Gelegenheit wahr, Druckfehler der ersten zu be-richtigen und geringfügige Änderungen am Text anzubrin-gen. (Die vorliegende Übersetzung folgt der Penguin-Aus-

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gabe von Tony Tanner, die mit ganz wenigen Ausnahmenden Text dieser zweiten Auflage wiedergibt, nimmt aller-dings eine Textkorrektur vor; vgl. Anm. 19.)

Alle Romane Jane Austens haben die vielfältigstenDeutungen erfahren, alle sind vielfach miteinander vergli-chen und gegeneinander abgewogen worden, alle habenihre leidenschaftlichen Anhänger und Kritiker, ja, für ge-wisse Experten und Leser ist die Welt geradezu in »Janites«und »Anti-Janites«, in Austen-Liebhaber und Austen-Geg-ner aufgeteilt. Mansfield Park hat dabei eher im Schattendes vorausgehenden und des nachfolgenden Werks gestan-den. Dafür ist zu einem guten Teil die unscheinbare HeldinFanny Price verantwortlich, die den Vergleich mit dergeistreichen Elizabeth Bennet aus Pride and Prejudice undder naiv-raffinierten Emma Woodhouse aus Emma nichtaushält und öfter als bigott, rechthaberisch oder gar dün-kelhaft empfunden worden ist. So bemerkte der amerikani-sche Literaturwissenschaftler Lionel Trilling 1954:

»Niemandem, glaube ich, ist es je gelungen, die Heldinvon Mansfield Park zu mögen.«

Und 1957 schrieb der englische Romancier KingsleyAmis unter dem provozierenden Titel »Was ist aus JaneAusten in Mansfield Park geworden?« eine Einleitung zudem Buch, in der er nach mancherlei Lob das seiner Mei-nung nach konventionelle und langweilige Heldenpaar mitdem Satz charakterisierte:

»Zu einer Abendeinladung an Mr. und Mrs. EdmundBertram würde man sich wohl nur schweren Herzens ent-schließen.«

Andererseits pries die englische Kritikerin Q. D. Leavisgerade Mansfield Park im selben Jahr mit folgenden Worten:

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»In Technik, Thema, Prosastil und in der behutsamenErforschung menschlicher Beziehungen deutet MansfieldPark auf George Eliot und Henry James voraus; MansfieldPark ist daher der erste moderne Roman Englands.« (Zuden drei Aufsätzen vgl. die Literaturhinweise: Southam.)

An Esprit, Präzision der Figurencharakterisierung, Le-bensechtheit der Situationen, Lebendigkeit des Dialogs undGeschick der Szenengestaltung steht Mansfield Park den an-deren Romanen sicher nicht nach. Mrs. Norris etwa gebührtein Ehrenplatz in Jane Austens Galerie der satirisch gezeich-neten komischen Charaktere. Ist aber das Heldenpaar FannyPrice und Edmund Bertram misslungen? Zu ihrem Ver-ständnis muss man sich die Thematik des Buches vergegen-wärtigen.

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Fanny ist nicht wie Elizabeth Bennet oder Emma Wood-house die Tochter eines angesehenen Gentlemans, sienimmt daher in der Gesellschaft auch nicht deren Rangein, kann nicht deren Anspruch auf Selbstsicherheit er-heben, sondern sie ist die im Haus ihres reichen Onkelsaufwachsende arme, abhängige Verwandte, wie sie bis ins20. Jahrhundert, bis sich die rechtliche und gesellschaft-liche Stellung der Frau so weit gebessert hatte, dass dieseunabhängig leben oder sich ihren Lebensunterhalt selbstverdienen konnte, eine vertraute Erscheinung in vielenFamilien war. Eine solche mittellose, aus Barmherzigkeitaufgenommene Nichte, deren Leben und Verhalten vielezeitgenössische Leser und Leserinnen Jane Austens auseigener Erfahrung bestens kannten, konnte keinerlei An-sprüche stellen und hatte sich immer bescheiden im Hin-tergrund zu halten. Wenn sie nicht schon von Natur