2
NEUE ZÜRCHER ZEITUNG LITERATUR UND KUNST Sonntag, 22. Oktober 1961 Blatt 5 Sonntagausgabe Nr. 3923 (103) Picasso im e©*iveni »ohttigstem Geb»*tstag: 25. Oktober 1961 Von. Gotikard Jcdlicka Tffie war em Künstler zu seinen Lebzeiten von einem solchen Ruhm umgeben wie Picasso schon seit einem Viertel Jahrhundert: ein Rohm, der über fünf Kontinente verbreitet ist. Die jüngeren Künstlergenorationen in Nord- und Südamerika, die jüngeren Chinesen, Japaner, Inder, die geistige nnd künstlerische Elite der Entwicklungsländer in Afrika und anderswo sind mit seinem Werk auch aufgewachsen, wenn dieses ihnen nur in Repro- duktionen, farbig oder schwarzweiß, zugänglich war und ist. Seit bald einem halben Jahrhundert verfolgen die Künstler mit leidenschaftlicher Anteil- nahme oder mit bloßer Neugier, mit Zustimmung oder Abwehr, die wenigsten gleichgültig, was Picasso schafft: malt, zeichnet, modelliert, töpfert oder sonstwie unternimmt, und weil er ununter- brochen gestaltet und experimentiert, gingen und gehen unzählbare Anregungen von ihm aus, die von den verschiedensten künstlerischen Tempera- menten aller Rassen der Erde aufgenommen und abgewandelt werden. (Wenn die Könige bauen, haben die Kärrner zu tun.) Einige Jahre lang konnte man von einem Weltstil «Picasso» oder einer Weltmode «Picasso» reden, und wenn sich in dieser Beziehung in der letzten Zeit die Verhält- nisse gewandelt haben, weil spätere Generationen, über ihn hinaus, zu ihrem eigenen Ausdruck dräng- ten und ihn verwirklichten, so sind auch sie von ihm ausgegangen, verdanken sie die Befreiung und die Möglichkeit zur eigenen Form wesentlich ihm, ob sie es zugeben oder nicht. Er hat auf dem Ge- biete der Kunst nichts anderes zerstört, als was seit langem einzubrechen drohte. E s handelt sieh nicht darum, den Mann aus Anlaß seines achtzigsten Geburtstages unter die Sternbilder der Menschheit zu versetzen (die. Apologeten, die das unternehmen werden, sind kaum zu zählen und viele von ihnen sind ein- stige Gegner) : sondern nur um den Versuch, dem Phänomen Picasso von seiner Seite und von der Umwelt her gerecht zu werden: soweit es aus unserer zeitlichen Befangenheit heraus möglich ist. Spricht es denn nicht für ihn, daß ihn der Ruhm nicht verrückt gemacht hat? Daß er in aller List, mit allem Egoismus des Künstlers, der auch die vielfachen äußeren Belange nie außer acht läßt (sie sogar geschickter verwaltet als seine akkredi- tierten Betreuer), im wesentlichen unmittelbar und naiv geblieben ist. Wie sonderbar, daß auch noch heute ein großer Tei l der Oeffentlichkeit die Mei- nung hat, sie ununterbrochen ausspricht, Picasso sei an dem «Zerfall der Kunst» schuld, er sei Hochstapler, Blender und Bluffer auf dem Gebiete der Kunst. Aber er ist in einem unausdeutbaren Ausmaß nicht nur ein Schöpfer, sondern auch ein Geschöpf unserer Gegenwart, und sogar die Eiferer gegen ihn sind mehr an ihm schuld und mehr mit ihm verwandt, als ihnen je bewußt zu werden ver- mag. Picasso hat, auf dem Gebiete der Kunst, nicht eine lebendige Form zerschlagen, sondern nur eine solche, an die sich eine gleichgültige Mensch- heit gewöhnt hatte, und nur darum ist sie so sehr bereit, diesen «Trümmerhaufen von Formen» nicht nur zu akzeptieren, sondern sogar zu bewundern. Einige Daten. Pablo Picasso wurde am 25. Okto- ber 1881 in Malaga geboren. Als er zehn Jahre alt war, zog die Familie nach Corufia, vier Jahre später nach Barcelona. Im Alter von sechzehn Jahren war er Schüler der Academia de San Fer- nando in Madrid und ein Jahr später mit dem Bild «Aragonesische Sitten» preisgekrönt. Mit neunzehn Jahren fuhr er zum erstenmal nach Paris, im fol- genden Jahr wiede-Tim, weil Ambroise Vollard dreißig Bilder und Pastelle von ihm ausstellte, im Sommer 1902 ein drittes Mal; aber erst seine vierte Reise, im Jahre 1904, führte zu seiner dauernden Niederlassung. Die äußere, nur unge- fähre Gliederung seines Werks, auf die man sich mehr oder weniger geeinigt hat: Frühwerk in Bar- celona («Picasso ante de Picasso») ; «periode bleue» (1901 «periode rose» (1905 «periode negre» (1906) ; Periode des Uebergangs (1907) ; «les Demoiselles d'Avignon» (1907) ; analytischer Kubismus (1909) ; synthetischer Kubis- mus (1912) ; «Colleges» (1912) ; Russisches Ballett (1917) ; neuer Realismus (1915 ; Neoklassi- zismus (1920 Dynamismus der Epoche von Dinard (1925) ; Periode der Metamorphosen; Periode der Plastik, vor allem Draht- und Blech- plastik (1928 1931) ; Minotauromachie, Radierun- gen (1935) ; «Guernica» (1937) ; «Histoire Natu- relle» von Buffon, Aquatintablätter (1942) ; die Bilder des Grimaldi-Museums in Antibes (1946) ; Keramik in Vallauris (von 1947 an) ; «Krieg» und «Frieden» (1952) ; 14 Variationen nach Delacroix' «Femmes d' Alger» (1954) ; «Sturz des Ikarus» für das Haus der Unesco in Paris (1958) ; Variationen über die «Meninas» von Velazquez . . Und einige Daten, die auf die Fülle dieser Existenz und ihre Entwicklung aus den geistigen und künstlerischen Voraussetzungen der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts in Paris hinweisen: die fünf Jahre im Bateau-Lavoir an der Rue Ravignan auf Montmartre (1905 1909), welches Atelierhaus durch Picasso Weltruhm erlangt hat (Jahre, die den Grund zu allem legten, was sich in der Folge in ihm entfaltete) ; die Freundschaften mit Guillaume Apollinaire, Max Jacob und Andre1 Salmon (der in seinen «Souvenirs sans fin» diese Zeit eindringlich schildert) : Freundschaften, deren Bedeutung für Picasso nicht hoch genug ein- geschätzt werden kann; die Freundschaft mit Henri Matisse, die im Todesjahr von Cezanne (1906) begann und ohne heftigere Krisen bis zum Tode von Matisse bestehen blieb: weil die beiden menschlich und geistig gegensätzliche Tem- peramente waren; die frühen Begegnungen mit Kunsthändlern, die sich mit Ueberzeugung für ihn einsetzten: Berthe Weill, Ambroise Vollard und vor allem Daniel-Henri Kahnweiler (der sein erster eigentlicher Kunsthändler war und es, mit einer kurzen Unterbrechung, o ablieben ist, wovon das vor einigen Wochen erschienene autobiographische Buch «Entretiens» ausführlich berichtet) ; die Be- gegnungen und Freundschaften mit Braque, Derain, mit Wilhelm Uhde, Gertrude Stein, Jean Cocteau, Igor Strawinsky; das Erlebnis des «Russischen Balletts». Seine äußere Erscheinung ist so vielen Men- schen bekannt wie sonst nur die der Mächtigsten auf dem Gebiete der Politik. Seit Jahrzehnten ge- hört er zu den Stars des allgemeinen Ruhms wie Charlie Chaplin. Die Photographien, die ihn seit langem in den verschiedensten Situationen wieder- geben (und von denen ein Bruchteil in einer Aus- stellung der Buchhandlung «La Hüne» neben dem «Cafe aux deux Magots» in Paris mit einem großen Erfolg präsentiert wurde), zeigen einen Mann von einer seltenen physiognomischen Ein- dringlichkeit, mit einem quittenförmigen Kopf, einem seit einem Vierteljahrhundert kahlen Schädel, einem falten- und fältchenrelchen Gesicht, in dem seine komplexe seelisch-geistige, physische Konsti- tution in eine ständig bewegte physiognomische Schrift umgesetzt ist: mit schwarzen, leuchtenden Augen, in denen die ganze Kraft, die von diesem Menschen emaniert, wie sublimiert in Erscheinung tritt im übrigen, auf einen ersten Blick (aber nur auf einen ersten Blick) unscheinbar oder durchschnittlich ; mittelgroß, fast klein, was man nur erkennt, wenn man ihn neben andern Männern stehen sieht und seine Statur mit der ihrigen ver- gleicht; stämmig und so gegliedert, daß der Sieb- zigjährige mit nacktem Oberkörper und in sehr kurzen Shorts in einem Film vor der Oeffentlich- keit auftreten konnte, der zudem «Le Mystere Picasso» hieß: Picasso in einem Film über Picasso, an seiner Arbeit, beim Malen und Zeichnen, vom Regisseur Clouzot im Dialog demonstrativ geduzt, was der berühmte Greis sich vom begabten An- fänger selbstverständlich geschehen ließ (es han- delte sich in dieser Angelegenheit nicht um ihn, sondern um die Sache): in einem faszinierenden Vorgang der Bildwerdung und -entwerdung, mehr als eine halbe Stunde lang, mit Bewegungen, die bisweilen an die eines wilden Tieres im Ansprung erinnerten; ohne Anstoß zu erregen, ja mit einer sichtbaren Wirkung auf junge Mensehen: und im übrigen so, daß es dabei niemand einfiel, dem Manne, der sich in dieser Weise produzierte, Narzißmus vorzuwerfen; in einem Film, in dem er den Helden Picasso darzustellen hatte, der er selbst ist. Und warum war das möglich? Weil er auch dabei, in der gefährlichsten Rolle, die ihm zu- gedacht werden konnte, in sich selbst beruhte; in der Rolle eines Schauspielers seiner selbst (in seinen geheimsten Belangen, in seiner produktiven Arbeit), in der er sich in einer unheimlichen Weise verschleuderte und verwandelte. Picasso an der Arbeit? Er berichtete einem Freund, er habe ständig das Gefühl, unter einem höheren Befehl zu stehen. Irgend etwas, worüber er sich nicht Rechenschaft zu geben vermöge, zwinge ihn, seinen Geist von allem zu befreien, was er soeben mit dem Einsatz seiner ganzen Kraft erworben habe zwinge ihn dazu, bevor er auch nur die Möglichkeit habe, das Errungene, das sicht- bar vor ihm liege, auf seinen Wert zu überprüfen: um andern Forderungen, die er in jenem Moment noch nicht überblicke, freien Raum und damit die Möglichkeit ihrer produktiven Entfaltung zu schaffen. «Ich weiß nicht zum voraus, was ich auf die Leinwand legen werde, ebenso wenig, wie ich die Farben bestimmen kann, die ich benützen will. Während ich arbeite, bin ich nicht klar darüber, was ich auf die Leinwand male. Jedesmal, wenn ich ein Bild beginne, habe ich die Empfindung, in einen luftleeren Raum zu springen. Ich weiß nie, ob ich dabei auf meine Füße zurückfallen werde. Erst später beginne ich, die Wirkung meiner Arbeit genauer zu überblicken.» Im Augenblick, in dem er ein Bild, eine Bildidee, einen bildhaften Einfall niederschreibt, wird er bereits von einer andern Bildidee heimgesucht, die sich daraus herausgeschält hat. Sein Ehrgeiz ist, allen diesen Forderungen zu gehorchen. «Picasso ist immer sprunghaft», hat einmal einer der bedeutendsten französischen Maler zu mir gesagt: «Er rast von einem Motiv zum andern. Aber er baut nicht auf und verwirklicht nie!» Aber was alles hat er im Verlauf seines Lebens doch verwirklicht. Viele geistreiche Aussprüche, die man Picasso zuschreibt, sind wahrscheinlich erfunden. Die Aeußerungen, zu denen er steht, sind einfach und meist überzeugend. Er hat von jeher Scheu emp- funden, sich über seine Kunst auszusprechen. «Vor allem: schicken Sie mir keine Leute, die von mir endlose Diskussionen über Kunst verlangen. Ich verstehe überhaupt nichts davon, und dann gehen die Leute enttäuscht von mir weg», sagte er zu Wilhelm Uhde. Ein Sammler in Zürich, der ihn dabe i beobachtete, wie er von einem Professor der Mathematik über die Art des schöpferischen Vor- gangs ausgefragt wurde, erzählte mir, Picasso habe dabei wie ein Schüler im Examen ausgesehen. Er macht im allgemeinen schlagende Bemerkungen nur über seine augenblickliche Arbeit, aber im all- gemeinen zieht er es vor, bedeutsam zu schweigen. Albert Dreyfus besuchte ihn einmal in seiner Werkstatt. Picasso hatte die «Demoiselles d'Avi- gnon» vor ihm auf dem Boden auseinandergerollt, and der Besucher sagte:. «Daraus ist also der Pablo Picasso: Gnitare, Verre et Compotier, 1924. Knnsthaus Zürich. Kubismus geworden?» Worauf Picasso, statt eine Antwort zu geben, einen kleinen messingenen Krei- sel aus der Tasche zog, ihn zwischen Daumen und Zeigefinger in Bewegung setzte und dann auf dem Boden kreiseln ließ und dazu lächelte. In einem Aufsatz, der zum erstenmal in der Zeitschrift «Werk» veröffentlicht wurd e (Mai 1949), schreibt Hans Purrmann: «Unsere Zeit zeichnet sich dadurch aus, daß moderne Künstler im Gegensatz zu den alten Meistern für jedes ein- zelne Kunstwerk eine Form finden müssen und vielerlei Formen anwenden, was früher nie der Fall gewesen ist. Die alte n Meister bekundeten eine Vorliebe nur für solche Kunstwerke, die ihr System zeigten; ja sie übertrugen sie auf Schüler und Nachwelt, während wir selbst die gegensätz- lichsten Künste und Stilarten lieben und bewun- dern können. Man kann, um ein Beispiel anzu- führen, Bilder von Picasso nehmen, in denen er sich virtuos der Ausdrucksweise Ingres' bedient, und wir sehen ihn gleichzeitig in ihnen Cezanne weiterführen. Es gibt Bilder dieses Malers, die ohne Reflex aufgebaut sind, und solche, die nur niis Reflexen bestehen, solche, die nur in der Farbe ihre Konzeption haben, und solche, die in Ton- abstufungen modellieren. Immer ist er bewußt und vermischt nie, bleibt folgerichtig in seinen Mitteln und trübt ihre Wirkung nicht. Picassos oft recht heftige Aeußerungen sagen, zur Enttäuschung sei- ner geistig oft verstiegenen Bewunderer, nichts über das Gedankliche seiner Bilder aus. Was er sagt, betrifft immer nur die Form und Kunst- probleme seiner Arbeit. Sein Werk ist nach seinem eigenen Ausspruch mehr aus Interesse am Körper als an der Seele entstanden.» «Es gibt keine abstrakte Kunst», sagte er ein- mal zu Christian Zervos (1935). «Man muß immer mit etwas beginnen. Nachher kann man alle Spuren des Wirklichen entfernen. Dann besteht ohnehin keine Gefahr mehr, weil die Idee des Dinges in- zwischen ein unauslöschliches Zeichen hinterlassen hat. Es ist das, was den Künstler ursprünglich in Gang gebracht, seine Ideen angeregt, seine Gefühle in Schwung gebracht hatte. Ideen und Gefühle werden schließlich Gefangene innerhalb seines Bildes sein. Was auch mit ihnen geschehen mag, sie können dem Bild nicht mehr entschlüpfen. Sie bilden ein inniges Ganzes mit ihm, selbst wenn ihr Vorhandensein nicht länger unterscheidbar ist. Ob es dem Menschen paßt oder nicht, er ist das Werkzeug der Natur. Sie zwingt ihm ihren Charakter und ihre Erscheinungsform auf . . . Man kan n nicht gegen die Natur angehen. Sie ist stär- ker als der stärkste Mann. Es liegt nur in unserm eigenston Interesse, wenn wir uns gut mit ihr stellen ... Es gibt auch keine und Kunst. Alles erscheint uns in Gestalt einer Selbst in der Metaphysik werden Ideen mittels symbolischer aus- gedrückt .. . Eine Person, ein Gegenstand, ein Kreis das sind alles sie wirken alle mehr oder weniger intensiv auf uns ein. Manche sind unseren Empfindungen näher und rufen Ge- fühle hervor, die unser Gemütsleben ansprechen; andere wenden sich unmittelbar an den Verstand. Ihnen allen sollte ein Platz zugebilligt werden, da ich finde, mein Geist hat Anregung ebenso nötig wie meine Sinne.» Ein Buch von Wilhelm Uhde in französischer Sprache, das nur wenige Loser gefunden hat, trägt den Titel: «Picasso et la tradition francaise» und versucht, im Großen, den Nachweis zu erbringen, daß das Werk von Picasso in der Ueberlieferung der französischen Kunst stehe, diese aufnehme und organisch weiterführe. Picasso wäre ohne das Er- lebnis von Paris nie geworden, was er geworden ist. Ich sage: ohne das Erlebnis von Paris, womit ich meine: ohne das Erlebnis der französischen Kunst, vor allem seiner Gegenwart, ebenso sehr aber auch das Erlebnis der Dichtung und Litera- tur seiner Zeitgenossen, seiner Generationsgenossen, und unter diesen der Dichtung seiner nächsten Freunde Guillaume Apollinaire und Andre1' Salmon, die aus dem Osten gekommen sind, aus Polen und Rußland, von denen der . erstere die französische Sprache als eine Fremdsprache in seiner Jugend gelernt hat, was dazu beitrug, daß er sie auf eine so freie, so spielende und spielerische Weise zu verwenden wußte: wie übrigens auch Andre Sal- mon ( ?) : auf eine so freie und spielerische Weise wie Picasso die Mittel und Möglichkeiten der französischen Kunst. Die Stärke von Picasso: die des Künstlers ohne Ueberlieferung! Erst im Verlauf seines Lebens wurde sich Picasso bewußt, wie sehr er Spanier ist. Die Zer- störung von Guernioa löste in ihm eine solche Er- schütterung aus, daß er sie in einem Wandbild im Spanischen Pavillon der Weltausstellung 1937 in Paris darstellen mußte. In diesem sind die «De- sastres de la Guerre» von Goya in einer verwandel- ten Form aufgenommen und weitergeführt. Mit wenigen Figuren, die Menschen und Tiere und allegorische Gestalten mehr andeuten als darstellen, wird die Wirkung einer chaotischen Masse, eines schauerlichen Kampfes hervorgerufen und durch die Gliederung in eine höhere Ordnung umgewan- delt. Im Vordergrund links eine Figur, die mit aus- gebreiteten Armen am Boden liegt; im Vorder- grund rechts eine Figur, die verzweifelt von rechts nach links stürmt dahinter und darüber ein Pferd, das sich aufbäumt. Im Hintergrund links ein Stier, vor dem eine Frau mit einem Kind im Arm kniet; im Mittelgrund rechts eine Figur, die sich aus einem Fenster hinauslehnt und die Arme emporreckt. Eine Komposition von einer voll- kommenen geistigen und formalen Geschlossenheit, gleichsam abstrakter Expressionismus; die Wir- kung in einem gesteigert und geklärt, weil die Farbgebung fast monochrom ist: auf die drei Farben Schwarz, Weiß und Graublau beschränkt, die zeichnerisch so strukturiert sind, daß das Bild farblich viel reicher zu sein scheint. «Es gab nur eines», heißt es im Buch von J. P. Hodin über Munch, «was Munch seinen körperlichen Zustand vergessen ließ: die Kunst und ihre Probleme. Als das Gespräch auf die französische Wanderausstellung kam, die fast das ganze Petit-Palais der Pariser Weltausstellung 1937 nach Skandinavien brachte, Picasso, Braque, Matisse, Laurens, belebten sich von neuem seine Züge. «Guernica!» Er blieb stehen und sah mich erstaunt an ... «Dieses Bild ist gar nicht grausam wie hätte Goya so etwas gemacht , und es stellt doch Krieg dar. Es ist gut, daß man nioL* mehr allzu blutrünstige Bilder malt. Aber das Interessanteste dabei, daß es in Schwarz und Grau nnd Weiß gehalten ist. Eine vorzügliche Idee! Nach den vielen Farben, die wir in letzter Zeit gesehen haben.» Ich erwähnte, daß die ursprüng- lichen Kartons zu Guernica farbig waren. «Sehen Sie, jetzt werde ich Ihnen etwas zeigen. Und wenn es nicht schon sechs Jahre dort hangen würde, könnte man sagen, ich sei durch Picasso auf diese Idee gekommen.» ... Ich sah die große Komposi- tion, die mir der Künstler zeigen wollte. Sie war aufgebaut aus drei Hauptgruppen, die von ande- ren Bildern her bekannt sind, seinen «Arbeitern im Schnee», 1919, seinen «Erdarbeitern», 1920, und seinen «Schneesehauflern», 1910/11. Auch die Keramik von Picasso ist ein voll- gültiger Ausdruck seines Wesens und seiner Kunst. Vom Augenblick an, da er sich auf diesem Gebiet betätigt, beherrscht er es auch, als Schöpfer und als Erfinder. Ob 'er es anerkennt oder verneint: immer arbeitet er aus dem Material heraus, model- liert und malt er mit einer beglückenden und be- klemmenden Materialsinnlichkeit. Das Material inspiriert ihn, macht es ihm erst möglich, seine produktive Phantasie zu entfalten. Seine Dämonie tritt schon in der Art in Erscheinung, in der er in den noch weichen Stoff hineingreift, Masse heraus- klaubt, Masse hinzusetzt und in dieser «handgreif- lichen» Auseinandersetzung ununterbrochen zu neuen überraschenden Einfällen gelangt. Und anderseits: Keiner vor ihm hat in der Keramik so sehr gegen diese gearbeitet wie er: mit einem grotesken Verismus und Illusionismus. Das Spiegel- ei, das er auf einem solchen Teller wiedergibt ! Und nun stelle man sich vor, ein solches daraus zu essen. Picasso denkt nicht daran, daß es jemand einfallen könnte; er denkt vielmehr daran, eine solche Vorstellung ad absurdum zu führen; er stellt nicht Teller her, aus denen man essen kann, Neue Zürcher Zeitung vom 22.10.1961

LITERATUR UND KUNST - static.nzz.ch · Sternbilder der Menschheit zu versetzen (die. Apologeten, die das unternehmen werden, sind kaum zu zählen und viele vonihnen sind ein-stige

Embed Size (px)

Citation preview

NEUE ZÜRCHER ZEITUNG LITERATUR UND KUNST Sonntag, 22. Oktober 1961 Blatt 5Sonntagausgabe Nr. 3923 (103)

Picassoim e©*iveni »ohttigstem Geb»*tstag: 25. Oktober 1961

Von. Gotikard Jcdlicka

Tffie war em Künstler zu seinen Lebzeiten voneinem solchen Ruhm umgeben wie Picasso schonseit einem ViertelJahrhundert: ein Rohm, der überfünf Kontinente verbreitet ist. Die jüngerenKünstlergenorationen in Nord- und Südamerika,die jüngeren Chinesen, Japaner, Inder, die geistige

nnd künstlerische Elite der Entwicklungsländer inAfrika und anderswo sind mit seinem Werk auchaufgewachsen, wenn dieses ihnen nur in Repro-duktionen, farbig oder schwarzweiß, zugänglich

war und ist. Seit bald einem halben Jahrhundertverfolgen die Künstler mit leidenschaftlicher Anteil-nahme oder mit bloßer Neugier, mit Zustimmung

oder Abwehr, die wenigsten gleichgültig, wasPicasso schafft: malt, zeichnet, modelliert, töpfert

oder sonstwie unternimmt, und weil er ununter-brochen gestaltet und experimentiert, gingen undgehen unzählbare Anregungen von ihm aus, dievon den verschiedensten künstlerischen Tempera-

menten aller Rassen der Erde aufgenommen undabgewandelt werden. (Wenn die Könige bauen,haben die Kärrner zu tun.) Einige Jahre lang

konnte man von einem Weltstil «Picasso» odereiner Weltmode «Picasso» reden, und wenn sich indieser Beziehung in der letzten Zeit die Verhält-nisse gewandelt haben, weil spätere Generationen,über ihn hinaus, zu ihrem eigenen Ausdruck dräng-

ten und ihn verwirklichten, so sind auch sie vonihm ausgegangen, verdanken sie die Befreiung unddie Möglichkeit zur eigenen Form wesentlich ihm,ob sie es zugeben oder nicht. Er hat auf dem Ge-biete der Kunst nichts anderes zerstört, als wasseit langem einzubrechen drohte.

Es handelt sieh nicht darum, den Mann ausAnlaß seines achtzigsten Geburtstages unter dieSternbilder der Menschheit zu versetzen (die.Apologeten, die das unternehmen werden, sindkaum zu zählen und viele von ihnen sind ein-stige Gegner) : sondern nur um den Versuch, demPhänomen Picasso von seiner Seite und von derUmwelt her gerecht zu werden: soweit es ausunserer zeitlichen Befangenheit heraus möglich ist.Spricht es denn nicht für ihn, daß ihn der Ruhmnicht verrückt gemacht hat? Daß er in aller List,mit allem Egoismus des Künstlers, der auch dievielfachen äußeren Belange nie außer acht läßt(sie sogar geschickter verwaltet als seine akkredi-tierten Betreuer), im wesentlichen unmittelbar undnaiv geblieben ist. Wie sonderbar, daß auch nochheute ein großer Teil der Oeffentlichkeit die Mei-nung hat, sie ununterbrochen ausspricht, Picassosei an dem «Zerfall der Kunst» schuld, er seiHochstapler, Blender und Bluffer auf dem Gebieteder Kunst. Aber er ist in einem unausdeutbarenAusmaß nicht nur ein Schöpfer, sondern auch einGeschöpf unserer Gegenwart, und sogar die Eiferergegen ihn sind mehr an ihm schuld und mehr mitihm verwandt, als ihnen je bewußt zu werden ver-mag. Picasso hat, auf dem Gebiete der Kunst,nicht eine lebendige Form zerschlagen, sondern nureine solche, an die sich eine gleichgültige Mensch-heit gewöhnt hatte, und nur darum ist sie so sehrbereit, diesen «Trümmerhaufen von Formen» nichtnur zu akzeptieren, sondern sogar zu bewundern.

Einige Daten. Pablo Picasso wurde am 25. Okto-ber 1881 in Malaga geboren. Als er zehn Jahrealt war, zog die Familie nach Corufia, vier Jahrespäter nach Barcelona. Im Alter von sechzehnJahren war er Schüler der Academia de San Fer-nando in Madrid und ein Jahr später mit dem Bild«Aragonesische Sitten» preisgekrönt. Mit neunzehnJahren fuhr er zum erstenmal nach Paris, im fol-genden Jahr wiede-Tim, weil Ambroise Vollarddreißig Bilder und Pastelle von ihm ausstellte, imSommer 1902 ein drittes Mal; aber erst seinevierte Reise, im Jahre 1904, führte zu seinerdauernden Niederlassung. Die äußere, nur unge-

fähre Gliederung seines Werks, auf die man sichmehr oder weniger geeinigt hat: Frühwerk in Bar-celona («Picasso ante de Picasso») ; «periode bleue»(1901 «periode rose» (1905«periode negre» (1906) ; Periode des Uebergangs(1907) ; «les Demoiselles d'Avignon» (1907) ;analytischer Kubismus (1909) ; synthetischer Kubis-mus (1912) ; «Colleges» (1912) ; Russisches Ballett(1917) ; neuer Realismus (1915 ; Neoklassi-zismus (1920 Dynamismus der Epoche

von Dinard (1925) ; Periode der Metamorphosen;

Periode der Plastik, vor allem Draht- und Blech-plastik (1928 1931) ; Minotauromachie, Radierun-gen (1935) ; «Guernica» (1937) ; «Histoire Natu-relle» von Buffon, Aquatintablätter (1942) ; dieBilder des Grimaldi-Museums in Antibes (1946) ;

Keramik in Vallauris (von 1947 an) ; «Krieg» und«Frieden» (1952) ; 14 Variationen nach Delacroix'«Femmes d'Alger» (1954) ; «Sturz des Ikarus» fürdas Haus der Unesco in Paris (1958) ; Variationenüber die «Meninas» von Velazquez . .

Und einige Daten, die auf die Fülle dieserExistenz und ihre Entwicklung aus den geistigen

und künstlerischen Voraussetzungen der erstenJahrzehnte dieses Jahrhunderts in Paris hinweisen:die fünf Jahre im Bateau-Lavoir an der RueRavignan auf Montmartre (1905 1909), welchesAtelierhaus durch Picasso Weltruhm erlangt hat(Jahre, die den Grund zu allem legten, was sich inder Folge in ihm entfaltete) ; die Freundschaftenmit Guillaume Apollinaire, Max Jacob und Andre1Salmon (der in seinen «Souvenirs sans fin» dieseZeit eindringlich schildert) : Freundschaften, derenBedeutung für Picasso nicht hoch genug ein-geschätzt werden kann; die Freundschaft mitHenri Matisse, die im Todesjahr von Cezanne(1906) begann und ohne heftigere Krisenbis zum Tode von Matisse bestehen blieb: weil diebeiden menschlich und geistig gegensätzliche Tem-

peramente waren; die frühen Begegnungen mitKunsthändlern, die sich mit Ueberzeugung für ihneinsetzten: Berthe Weill, Ambroise Vollard undvor allem Daniel-Henri Kahnweiler (der sein erstereigentlicher Kunsthändler war und es, mit einerkurzen Unterbrechung, o ablieben ist, wovon dasvor einigen Wochen erschienene autobiographische

Buch «Entretiens» ausführlich berichtet) ; die Be-gegnungen und Freundschaften mit Braque, Derain,mit Wilhelm Uhde, Gertrude Stein, Jean Cocteau,Igor Strawinsky; das Erlebnis des «RussischenBalletts».

Seine äußere Erscheinung ist so vielen Men-schen bekannt wie sonst nur die der Mächtigstenauf dem Gebiete der Politik. Seit Jahrzehnten ge-

hört er zu den Stars des allgemeinen Ruhms wieCharlie Chaplin. Die Photographien, die ihn seitlangem in den verschiedensten Situationen wieder-geben (und von denen ein Bruchteil in einer Aus-stellung der Buchhandlung «La Hüne» neben dem«Cafe aux deux Magots» in Paris mit einemgroßen Erfolg präsentiert wurde), zeigen einenMann von einer seltenen physiognomischen Ein-dringlichkeit, mit einem quittenförmigen Kopf,einem seit einem Vierteljahrhundert kahlen Schädel,einem falten- und fältchenrelchen Gesicht, in demseine komplexe seelisch-geistige, physische Konsti-tution in eine ständig bewegte physiognomische

Schrift umgesetzt ist: mit schwarzen, leuchtendenAugen, in denen die ganze Kraft, die von diesemMenschen emaniert, wie sublimiert in Erscheinung

tritt im übrigen, auf einen ersten Blick (aber

nur auf einen ersten Blick) unscheinbar oderdurchschnittlich ; mittelgroß, fast klein, was mannur erkennt, wenn man ihn neben andern Männernstehen sieht und seine Statur mit der ihrigen ver-gleicht; stämmig und so gegliedert, daß der Sieb-zigjährige mit nacktem Oberkörper und in sehrkurzen Shorts in einem Film vor der Oeffentlich-keit auftreten konnte, der zudem «Le Mystere

Picasso» hieß: Picasso in einem Film über Picasso,

an seiner Arbeit, beim Malen und Zeichnen, vomRegisseur Clouzot im Dialog demonstrativ geduzt,

was der berühmte Greis sich vom begabten An-fänger selbstverständlich geschehen ließ (es han-delte sich in dieser Angelegenheit nicht um ihn,sondern um die Sache): in einem faszinierendenVorgang der Bildwerdung und -entwerdung, mehrals eine halbe Stunde lang, mit Bewegungen, diebisweilen an die eines wilden Tieres im Ansprungerinnerten; ohne Anstoß zu erregen, ja mit einersichtbaren Wirkung auf junge Mensehen: und imübrigen so, daß es dabei niemand einfiel, demManne, der sich in dieser Weise produzierte,

Narzißmus vorzuwerfen; in einem Film, in dem erden Helden Picasso darzustellen hatte, der er selbstist. Und warum war das möglich? Weil er auchdabei, in der gefährlichsten Rolle, die ihm zu-gedacht werden konnte, in sich selbst beruhte; inder Rolle eines Schauspielers seiner selbst (inseinen geheimsten Belangen, in seiner produktivenArbeit), in der er sich in einer unheimlichen Weiseverschleuderte und verwandelte.

Picasso an der Arbeit? Er berichtete einemFreund, er habe ständig das Gefühl, unter einemhöheren Befehl zu stehen. Irgend etwas, worüberer sich nicht Rechenschaft zu geben vermöge,zwinge ihn, seinen Geist von allem zu befreien, waser soeben mit dem Einsatz seiner ganzen Krafterworben habe zwinge ihn dazu, bevor er auchnur die Möglichkeit habe, das Errungene, das sicht-bar vor ihm liege, auf seinen Wert zu überprüfen:

um andern Forderungen, die er in jenem Momentnoch nicht überblicke, freien Raum und damit dieMöglichkeit ihrer produktiven Entfaltung zuschaffen. «Ich weiß nicht zum voraus, was ich aufdie Leinwand legen werde, ebenso wenig, wie ichdie Farben bestimmen kann, die ich benützen will.Während ich arbeite, bin ich nicht klar darüber,was ich auf die Leinwand male. Jedesmal, wennich ein Bild beginne, habe ich die Empfindung, ineinen luftleeren Raum zu springen. Ich weiß nie,

ob ich dabei auf meine Füße zurückfallen werde.Erst später beginne ich, die Wirkung meinerArbeit genauer zu überblicken.» Im Augenblick, indem er ein Bild, eine Bildidee, einen bildhaftenEinfall niederschreibt, wird er bereits von einerandern Bildidee heimgesucht, die sich darausherausgeschält hat. Sein Ehrgeiz ist, allen diesenForderungen zu gehorchen. «Picasso ist immersprunghaft», hat einmal einer der bedeutendstenfranzösischen Maler zu mir gesagt: «Er rast voneinem Motiv zum andern. Aber er baut nicht aufund verwirklicht nie!» Aber was alles hat er imVerlauf seines Lebens doch verwirklicht.

Viele geistreiche Aussprüche, die man Picassozuschreibt, sind wahrscheinlich erfunden. DieAeußerungen, zu denen er steht, sind einfach undmeist überzeugend. Er hat von jeher Scheu emp-funden, sich über seine Kunst auszusprechen. «Vorallem: schicken Sie mir keine Leute, die von mirendlose Diskussionen über Kunst verlangen. Ichverstehe überhaupt nichts davon, und dann gehen

die Leute enttäuscht von mir weg», sagte er zuWilhelm Uhde. Ein Sammler in Zürich, der ihndabei beobachtete, wie er von einem Professor derMathematik über die Art des schöpferischen Vor-gangs ausgefragt wurde, erzählte mir, Picasso habedabei wie ein Schüler im Examen ausgesehen. Ermacht im allgemeinen schlagende Bemerkungen

nur über seine augenblickliche Arbeit, aber im all-gemeinen zieht er es vor, bedeutsam zu schweigen.

Albert Dreyfus besuchte ihn einmal in seinerWerkstatt. Picasso hatte die «Demoiselles d'Avi-gnon» vor ihm auf dem Boden auseinandergerollt,

and der Besucher sagte:. «Daraus ist also der

Pablo Picasso: Gnitare, Verre et Compotier, 1924. Knnsthaus Zürich.

Kubismus geworden?» Worauf Picasso, statt eineAntwort zu geben, einen kleinen messingenen Krei-sel aus der Tasche zog, ihn zwischen Daumen undZeigefinger in Bewegung setzte und dann auf demBoden kreiseln ließ und dazu lächelte.

In einem Aufsatz, der zum erstenmal in derZeitschrift «Werk» veröffentlicht w u r de (Mai1949), schreibt Hans Purrmann: «Unsere Zeitzeichnet sich dadurch aus, daß moderne Künstlerim Gegensatz zu den alten Meistern für jedes ein-zelne Kunstwerk eine Form finden müssen undvielerlei Formen anwenden, was früher nie derFall gewesen ist. Die a l t en Meister bekundeteneine Vorliebe nur für solche Kunstwerke, die ihrSystem zeigten; ja sie übertrugen sie auf Schülerund Nachwelt, während wir selbst die gegensätz-

lichsten Künste und Stilarten lieben und bewun-dern können. Man kann, um ein Beispiel anzu-führen, Bilder von Picasso nehmen, in denen ersich virtuos der Ausdrucksweise Ingres' bedient,und wir sehen ihn gleichzeitig in ihnen Cezanneweiterführen. Es gibt Bilder dieses Malers, dieohne Reflex aufgebaut sind, und solche, die nurniis Reflexen bestehen, solche, die nur in der Farbeihre Konzeption haben, und solche, die in Ton-abstufungen modellieren. Immer ist er bewußt undvermischt nie, bleibt folgerichtig in seinen Mittelnund trübt ihre Wirkung nicht. Picassos oft rechtheftige Aeußerungen sagen, zur Enttäuschung sei-ner geistig oft verstiegenen Bewunderer, nichtsüber das Gedankliche seiner Bilder aus. Was ersagt, betrifft immer nur die Form und Kunst-probleme seiner Arbeit. Sein Werk ist nach seinemeigenen Ausspruch mehr aus Interesse am Körperals an der Seele entstanden.»

«Es gibt keine abstrakte Kunst», sagte er ein-mal zu Christian Zervos (1935). «Man muß immermit etwas beginnen. Nachher kann man alle Spuren

des Wirklichen entfernen. Dann besteht ohnehinkeine Gefahr mehr, weil die Idee des Dinges in-zwischen ein unauslöschliches Zeichen hinterlassenhat. Es ist das, was den Künstler ursprünglich inGang gebracht, seine Ideen angeregt, seineGefühle in Schwung gebracht hatte. Ideen undGefühle werden schließlich Gefangene innerhalbseines Bildes sein. Was auch mit ihnen geschehen

mag, sie können dem Bild nicht mehr entschlüpfen.

Sie bilden ein inniges Ganzes mit ihm, selbst wennihr Vorhandensein nicht länger unterscheidbar ist.Ob es dem Menschen paßt oder nicht, er ist dasWerkzeug der Natur. Sie zwingt ihm ihrenCharakter und ihre Erscheinungsform auf . . . Mank a nn nicht gegen die Natur angehen. Sie ist stär-ker als der stärkste Mann. Es liegt nur in unsermeigenston Interesse, wenn wir uns gut mit ihrstellen ... Es gibt auch keine und

Kunst. Alles erscheint uns inGestalt einer Selbst in der Metaphysik

werden Ideen mittels symbolischer aus-gedrückt . . . Eine Person, ein Gegenstand, einKreis das sind alles sie wirken allemehr oder weniger intensiv auf uns ein. Manchesind unseren Empfindungen näher und rufen Ge-fühle hervor, die unser Gemütsleben ansprechen;

andere wenden sich unmittelbar an den Verstand.Ihnen allen sollte ein Platz zugebilligt werden, daich finde, mein Geist hat Anregung ebenso nötig wiemeine Sinne.»

Ein Buch von Wilhelm Uhde in französischerSprache, das nur wenige Loser gefunden hat, trägtden Titel: «Picasso et la tradition francaise» undversucht, im Großen, den Nachweis zu erbringen,

daß das Werk von Picasso in der Ueberlieferung

der französischen Kunst stehe, diese aufnehme undorganisch weiterführe. Picasso wäre ohne das Er-lebnis von Paris nie geworden, was er geworden

ist. Ich sage: ohne das Erlebnis von Paris, womitich meine: ohne das Erlebnis der französischenKunst, vor allem seiner Gegenwart, ebenso sehraber auch das Erlebnis der Dichtung und Litera-tur seiner Zeitgenossen, seiner Generationsgenossen,

und unter diesen der Dichtung seiner nächstenFreunde Guillaume Apollinaire und Andre1' Salmon,

die aus dem Osten gekommen sind, aus Polen undRußland, von denen der . erstere die französischeSprache als eine Fremdsprache in seiner Jugendgelernt hat, was dazu beitrug, daß er sie auf eine

so freie, so spielende und spielerische Weise zuverwenden wußte: wie übrigens auch Andre Sal-mon ( ?) : auf eine so freie und spielerische Weisewie Picasso die Mittel und Möglichkeiten derfranzösischen Kunst. Die Stärke von Picasso: diedes Künstlers ohne Ueberlieferung!

Erst im Verlauf seines Lebens wurde sichPicasso bewußt, wie sehr er Spanier ist. Die Zer-störung von Guernioa löste in ihm eine solche Er-schütterung aus, daß er sie in einem Wandbild imSpanischen Pavillon der Weltausstellung 1937 inParis darstellen mußte. In diesem sind die «De-sastres de la Guerre» von Goya in einer verwandel-ten Form aufgenommen und weitergeführt. Mitwenigen Figuren, die Menschen und Tiere undallegorische Gestalten mehr andeuten als darstellen,wird die Wirkung einer chaotischen Masse, einesschauerlichen Kampfes hervorgerufen und durchdie Gliederung in eine höhere Ordnung umgewan-

delt. Im Vordergrund links eine Figur, die mit aus-gebreiteten Armen am Boden liegt; im Vorder-grund rechts eine Figur, die verzweifelt von rechtsnach links stürmt dahinter und darüber einPferd, das sich aufbäumt. Im Hintergrund linksein Stier, vor dem eine Frau mit einem Kind imArm kniet; im Mittelgrund rechts eine Figur, diesich aus einem Fenster hinauslehnt und die Armeemporreckt. Eine Komposition von einer voll-kommenen geistigen und formalen Geschlossenheit,gleichsam abstrakter Expressionismus; die Wir-kung in einem gesteigert und geklärt, weil dieFarbgebung fast monochrom ist: auf die dreiFarben Schwarz, Weiß und Graublau beschränkt,die zeichnerisch so strukturiert sind, daß das Bildfarblich viel reicher zu sein scheint.

«Es gab nur eines», heißt es im Buch vonJ. P. Hodin über Munch, «was Munch seinenkörperlichen Zustand vergessen ließ: die Kunstund ihre Probleme. Als das Gespräch auf diefranzösische Wanderausstellung kam, die fast dasganze Petit-Palais der Pariser Weltausstellung 1937nach Skandinavien brachte, Picasso, Braque,Matisse, Laurens, belebten sich von neuem seineZüge. «Guernica!» Er blieb stehen und sah micherstaunt an ... «Dieses Bild ist gar nicht grausam

wie hätte Goya so etwas gemacht , und esstellt doch Krieg dar. Es ist gut, daß man nioL*mehr allzu blutrünstige Bilder malt. Aber dasInteressanteste dabei, daß es in Schwarz und Graunnd Weiß gehalten ist. Eine vorzügliche Idee!Nach den vielen Farben, die wir in letzter Zeitgesehen haben.» Ich erwähnte, daß die ursprüng-lichen Kartons zu Guernica farbig waren. «SehenSie, jetzt werde ich Ihnen etwas zeigen. Und wennes nicht schon sechs Jahre dort hangen würde,könnte man sagen, ich sei durch Picasso auf dieseIdee gekommen.» . . . Ich sah die große Komposi-tion, die mir der Künstler zeigen wollte. Sie waraufgebaut aus drei Hauptgruppen, die von ande-ren Bildern her bekannt sind, seinen «Arbeiternim Schnee», 1919, seinen «Erdarbeitern», 1920, undseinen «Schneesehauflern», 1910/11.

Auch die Keramik von Picasso ist ein voll-gültiger Ausdruck seines Wesens und seiner Kunst.Vom Augenblick an, da er sich auf diesem Gebietbetätigt, beherrscht er es auch, als Schöpfer undals Erfinder. Ob 'er es anerkennt oder verneint:immer arbeitet er aus dem Material heraus, model-liert und malt er mit einer beglückenden und be-klemmenden Materialsinnlichkeit. Das Materialinspiriert ihn, macht es ihm erst möglich, seineproduktive Phantasie zu entfalten. Seine Dämonietritt schon in der Art in Erscheinung, in der er inden noch weichen Stoff hineingreift, Masse heraus-klaubt, Masse hinzusetzt und in dieser «handgreif-lichen» Auseinandersetzung ununterbrochen zuneuen überraschenden Einfällen gelangt. Undanderseits: Keiner vor ihm hat in der Keramikso sehr gegen diese gearbeitet wie er: mit einemgrotesken Verismus und Illusionismus. Das Spiegel-ei, das er auf einem solchen Teller wiedergibt ! Undnun stelle man sich vor, ein solches daraus zuessen. Picasso denkt nicht daran, daß es jemand

einfallen könnte; er denkt vielmehr daran, einesolche Vorstellung ad absurdum zu führen; erstellt nicht Teller her, aus denen man essen kann,

Neue Zürcher Zeitung vom 22.10.1961

sondern solche, deren Anblick das Auge satt macht.Die 149 Keramiken, die Ende 1948 in der «Maisonde la Pcnsde Frangaise» in Paris ausgestellt waren(und von denen sogleich eine mächtige Wirkungauf das ganze Gebiet ausging), bilden einen Zehn-tel dessen, was er auf diesem Gebiet bis zu diesemZeitpunkt geschaffen hatte.

Wir wollen bei diesem Anlaß doch auf etwashinweisen, das meist ganz oder fast ganz außeracht gelassen wird: auf die bewußte, eindeutigeAuseinandersetzung Picassos mit bestimmtenMeisterwerken vorerst der französischen Malereides siebzehnten und neunzehnten und hierauf derspanischen Malerei des siebzehnten Jahrhunderts.Picasso hat von Jugend an kopiert, bewußt undunbewußt, aber der als Greis noch so junge Malerbegibt sich noch einmal bei seinen Kollegen in dieSchule. «Beweis dafür, daß er steril geworden ist»,höhnen die Gegner. «Beweis dafür, daß er un-befangen geblieben ist», sagen seine Freunde.Picasso hat das «Bacchanal» von Poussin, die«Femmes d'Alger» von Delacroix und die «Demoi-selles au bord de la Seine» von Courbet einige Malemehr interpretiert als kopiert und dann Bildnissevon Greco und die «Meninas» des Velazquez in einerFolge von Bildern abgewandelt. Hat je ein andererMaler auf der Höhe seines Ruhmes (und keinMalerruhm vor ihm als Ruhm zu Lebzeiten desKünstlers läßt sich mit dem seinigen vergleichen)

sich so ausschließlich und eindringlich (und sogeistvoll) mit den Werken seiner Vorgänger be-schäftigt? Ich weiß: jede dieser Kopien ist zuerstund zuletzt ein «Picasso», für die Bewertung derKunst der Vergangenheit in der Gegenwart, dergegenwärtigen Vergangenheit hat er damit mehrgetan, als je einer vor ihm getan hat und wahr-scheinlich je wieder ein Großer nach ihm tun wird.Er beweist damit auch, daß Kunst Natur ist unddaß die Gesetze, die in ihr Gestalt annehmen,ebenso unausschöpfbar sind wie die Gesetze, die inder Natur in Erscheinung treten.

Von seinem "Werk geht noch immer eine Faszi-nation aus, die mancher Schöpfung, die man alsbedeutend anspricht, versagt bleibt. Sie ist an gei-stigen und formalen Erkenntnissen und Möglich-

keiten unausschöpfbar reich. Viele Einfälle über-raschen den Betrachter, wie es sonst nur eine glän-

zende Erfindung tut. Aber mit einer Erfindungist für eine Schöpfung noch nichts getan. Picassohat aber nach allen Richtungen, die sich nur den-ken lassen, neue Wege angebrochen und ist sie oftselber gegangen. Die Anregungen, die er gegeben

hat und noch gibt, sind nicht mehr zu überblicken,aber auch die Verwirrungen nicht, die daraus ent-standen sind und entstehen, und Anregungen undVerwirrungen sind Tausenden von Künstlern zumSchicksal geworden. In diesem Sinne wirkt seineKunst auch in der Gegenwart wie ein einzigerSauerteig. D er Surrealismus, der auf ihn folgte,geht auf ihn zurück, ja das Wort «surrealisme» istvon Apollinaire für seine Kunst geprägt worden.Der französische Avantgardefilm, der eine Zeit-lang für Europa schulbildend war, ist von Picassoangeregt worden, vor allem Rone Clair hat sich anihm geschult und mit ihm alle, die von ihm lernten.«Der Traum des Dichters» von Jean Cocteau, dergeistreiche Versuch eines Außenseiters, scheinteine filmische Illustration zu Werken von Picassozu sein . .

Die Grenze des Schöpfertums .von Picasso liegt

in seiner Farbe. Wenn es durchaus möglich ist, inihm einen genialen Zeichner zu sehen, einen genia-

len Erzähler und Formerfinder, so ist es unmög-lich, ihn als einen genialen Maler zu bezeichnen.Er ist der genialste Künstler der Gegenwart, aberer ist nicht auch ihr größter Maler. Ein großer

Maler ist nur, wer eine eigene farbige Materieschafft, eine Farbsubstanz, die nicht weiter redu-ziert zu werden vermag: Aequivalent der Lebens-substanz. Eine solche unverwechselbare Farb-substanz siebt man vor sich, wenn man an dieMalerei von Delacroix, Courbet, Manet, van Gogh,Gauguin, wenn man an die von Renoir und Ce-zanne denkt, an die von Bonnard, sogar an die vonMatisse (obwohl sie in seiner Malerei auch gefähr-

det ist). Die Malerei von Picasso ist unbenennbarreich an Farben, aber sie enthält nicht die ge-ringste originale Farbsubstanz. Er ist kein Farb-schöpfer, auch nicht in Bildern, in denen er farbigreicher als jeder andere wirkt, sondern ein Formen-erfinder. So reich seine Farbe auch sein mag: nieist sie aus der Seele geboren, immer aus demGehirn, virtuose farbige Montage, dem Geist ent-sprungen, mit einem oft stupenden Geschmack ver-wendet.

«Ich bin kein Pessimist», sagte Picasso voreinem Vicrteljahrhundert zu Christian Zervos, «ichverabscheue die Kunst nicht, denn ich könnte nichtleben, ohne ihr nicht all meine Zeit zu widmen.Ich liebe sie als meinen einzigen Lebenszweck. Alles,was ich im Zusammenhang mit der Kunst tue, be-reitet mir die größte Freude. Doch deshalb sehe

ich noch lange nicht ein, weshalb alle Welt sichdie Kunst vornimmt, ihr die Beglaubigungsschrei-

ben abverlangt und ihrer eigenen Dummheit inbezug auf dies Thema freien Lauf läßt. Museensind nichts weiter als ein Haufen Lügen, und dieLeute, die aus der Kunst ein Geschäft machen,

sind meistens Betrüger. Ich sehe nicht ein, wiesorevolutionäre Staaten der Kunst mehr Abbruchtun können als die konservativen Länder. Wirhaben die Bilder in den Museen mit all unsernDummheiten, all unsern Fehlern, all unsrer Geistes-armut verpestet. Wir haben sie erniedrigt und zuunbedeutenden, albernen Dingen gemacht. Wirhaben uns an eine Fiktion gebunden, anstatt uns/,u bemühen, hcrauszuspüren, was für ein inneresLeben in den Männern lebendig war, die sie gemalt

haben. Es müßte eine absolute Diktatur geben . . .

eine Diktatur von Malern... eine Diktatur eineseinzigen Malers . . . damit er alle ausrottet, die unsverraten haben, die Schwindler ausrottet, dieTricks ausrottet, alle Manieriertheiten ausrottet,allen falschen Zauber ausrottet, alles Historischeund einen Berg anderen Zeugs. Aber derterne Menschenverstand" behält ja doch immerwieder die Oberhand. ALso müssen wir vor allemgegen den eine Revolution machen! Der echte

Diktator wird immer besiegt von der Diktatur des

Menschenverstandes" . . . oder viel-leicht auch nicht!» Ich stehe zu diesen Aoußerungen

bis zum Beginn des Satzes:. «Es müßte eine ab-

solute Diktatur geben . :

Picasso hat die überlieferte Welt der sicht-baren Erscheinung eingerissen, er hat mit ihrenFormen gespielt und spielt noch immer mit ihnen.In seiner Kunst sind schöpferischer Trieb undkünstlerische Form nicht mehr eindeutig aneinan-der gebunden. Durch seine Malerei, durch seineganze künstlerische Aeußcrung auf allen Gebietender Gestaltung ist alles fraglich, frag-würdig ge-

worden. Seine Schöpfungen, die in ihrer Verschie-denartigkeit kaum mehr zu überblicken sind, um-spannen zwei Pole, zwischen denen eine neue WeltPlatz zu haben scheint. In ihrer Gesamtheit bildensie ein einziges Tagebuch von Verwirklichungen undVersuchen, diese neue Welt zu schaffen, und dioeinzelnen Bilder, die verschiedenen Werke müßtennicht nur nach Jahren und Tagen, sondern sogar

nach Stunden datiert sein. Auch Picasso ist nmein Wort von Cezanne über seine eigene Malereizu variieren der Primitive seiner eigenen Kunst ;

aber zugleich nuch ihr geistreichster Epigone. Inseiner Gesamtheit ist sein Werk eine einzige groß-artige Aeußerung eines vitalen Elans, mit demsich ein fanatischer Spicltrieb verbunden hat. SeineGestaltung ist in einer Art hemmungslos, wie man"sie in der Geschichte der Kunst nie vor ihm erlebthat: eine Orgie des schöpferischen Prinzips. AlleMächte des Lebens, auch die des Chaos, nehmenin ihr, zum Teil gespenstig bunt übcrkleidet, Ge-stalt an; sie ist dort beheimatet, wo die ungeglie-

derte Welt in die gegliederte übergeht, wo sich dasChaos- in den Kosmos, der Kosmos wieder in dasChaos zurückvcrwandclt.

Bemerkungen zur Kunst Mantegnas

Von Eduard Hüttinger

Zweiundzwanzig Jahre nach dem Tode Mantc- ]

gnas, 1528, erschien in Venedig der «Libro delCortigiano», geschrieben vom Grafen BaldassareCastiglione, die literarische Kodifizierung desklassischen Menschenbildes der italienischen Hoch-renaissance. Im ersten Hauptkapital des Buchessteht der folgende Satz: «Eccovi ehe nella pitturasono eccellentissimi Leonardo Vincio, il Mantegna,Raffaello, Michelangelo, Giorgio da Castclfranco.»Castiglione nennt also dio vier Begründer der«manicra moderna», der klassischen Kunst,Leonardo, Raffael, Michelangelo, Giorgione mirTizian fehlt in einem Atem mit Mantegna:

er allein unter allen Künstlern des Quattrocentowird für würdig erachtet, in der erlauchten Gesell-schaft jener Großmeister zu figurieren.

Entspricht Castigliones Bewertung einer histo-rischen Realität? In der Tat treten in MantegnasSchöpfungen eine Reihe von Problemen auf, dienicht nur für die italienische, sondern für diegesamteuropäische Kunst bis zum großen Stil-bruch um 1800 maßgeblich und entscheidend ge-

worden sind. Kein anderer Quattrocentist hat eineso nachhaltige Wirkung ausgelöst wie Mantegna;

nördlich der Alpen findet er sogleich ein starkesEcho, einmal bei Pacher und in der von ihm ab-hängigen alpenländischen Kunst, sodann beiDürer, der nach Kupferstichen Mantegnas zeich-nete. Ihm als einzigem von den altern italienischenMeistern bringt Goethe in Padua ein reges Inter-esse entgegen («Was in diesen Bildern für einescharfe, sichere Gegenwart dasteht!»); er setztihn in Vergleich zu Tizian, ein Bezug, der später

von der Kunstwissenschaft als stichhaltig aner-kannt worden ist, und noch 1823 beschäftigt ersich eingehend mit Mantegnas «TriumphzugCäsars». Im 20. Jahrhundert schließlich ist Theo-dor Hetzer der Meinung, die Nordländer empfän-

den Mantegnag Italienertum nicht als etwas Frem-des, sondern als eine Welt, in der es ihnen wohlund heimisch werde, dio mit der eigenen verknüpftsei und die doch soviel Freiheit, Glanz und Größe,dazu Schönheit und Natürlichkeit besitze, daß'öifdem eigenen, bedrückteren Wesen als ein Paradieserscheine. Aber auch in Hinsicht auf die ita-lienische Kunst des 36. Jahrhunderts geht vonMantegna anregende Kraft aus; als einziger

Künstler des 15. Jahrhunderts steht er in direkterVerbindung mit dem Barock.

Mantegnas historische Größe gründet in fol-gendem Sachverhalt: er ist der Mann, der, baldgefolgt von seinem Schwager Giovanni Bcllini, dasneue Ideengut der Renaissance, wie es zu Beginn

des Quattrocento durch Florentiner, zumal durchBrunelleschi und Masaccio, in kühnen Vorstößengeschaffen worden war, im oberitalienisch-vcnezia-nischen Bereich einbürgert. Mit andern Worten:es ist die neue Lehre von der Perspektive, vonder Darstellung des plastisch bewegten Körpersim diesseitigen Raumkontinuum, der sich dcTjunge Mantegna zugleich leidenschaftlich wie mitkritisch abwägender Intelligenz hingibt; das Er-lebnis der Perspektive durchpulst Mantegnas

Kunst als elementarer Zündstoff. Weit entferntdavon, bloß ein formales Instrumentarium zu sein,

bedeuten Perspektive und perspektivisches Seheneine das Verhältnis des Menschen zur Welt um-stürzende Revolution. Die Perspektive, indem siealles Seiende auf den Beschauer als den Urheberund Präger des Bildes bezieht, die Welt als «Willeund Vorstellung» des Menschen begreift, offen-bart sich als «symbolische Form», als zentralesErkenntnisproblem, und zwar schon im Urteil des

Quattrocento selber. Vasari erzählt, daß PaoloUccello, der von der Perspektive besessene floren-tinische Maler des primo Rinascimento, wenn seineFrau ihn mahnte, doch endlich schlafen zu gehen,unwillig abwehrte: «Oh, ehe dolee cosa e questaprospettiva !» Für Leonardo war die Perspektive

«Leitseil und Steuerruder der Malerei», und Gio-vanni Santi, der Vater Raffaela, verstand sie alsdie größte «invenzione del nostro seculo nuovo».Auch Mantegna zählt bereits für die kunst-theoreti9che Reflexion des 15. und 16. Jahrhun-derts unter die Bahnbrecher des neuen Welt-verhaltcns; bei Lomazzo, dem mailändischenKunsttheoretiker des Manierismus, heißt es: «IIMantegna e stato il primo e he in tal arte (derPerspektive) si abbi aperti gli occhi perche haeompreso ehe l'arte della pittura senza questa

6 iml la.:

Mantegna erhielt seine erste künstlerische Aus-bildung in der Werkstatt von Francesco Squar-

cione in Padua, der Stadt der Humanisten, dergelehrten Philologen, des Antikenstudiums. In-dessen, wichtiger wurde für ihn das Erlebnis derflorentinischen Kunst der Frührenaissance; derenmonumentale Form konnte er in Padua selber aufsich wirken lassen, wo als Sendboten aus derToskana Filippo Lippi, Uccello und Donatello zeit-weilig tätig gewesen waren und allem bisher inOberitalien Gewohnten gegenüber eine ganz neueVorstellung von dem, waa Kunst sei, aufrichteten.Davon vermittelt das, Hauptwerk der .

FrühzeitMantegnas, die im letzten Krieg zum größten Teilzerstörten Fresken der Eremitani-Kirche zu

Padua, einen überwältigenden Begriff. Was bisanliin in <;1ct oberitalicnischen Kunstlandschaft alsmaßgeblich dominiert hatte, die zauberhaft bunten,lyrisch zarten, paradiesischen Feerien des erzäh-lerisch breit ausspinnenden «Gotico internazio-nale» das alles ist plötzlich nicht mehr wahr.Statt dessen entwirft Mantegna in diesen Heili-gen- und Märtyrerszenen eine tektonisch wuchtige,

in jähen perspektivischen Raumerschließungenkonzipierte Bildwelt, wo den Figuren und Land-schaften die Härte von Stein und Metall eignet

und ein Geschlecht von Riesen und Heroen inunerschütterlichem Gleichmut lebt und stirbt.

Das Medium, in dem Mantegna diese Bild-welt versichtbart, ist eine pathetische, bewegte,gewaltigo Körperlichkeit. Ihr antwortet, alslogisches Korrelat, ein Raum, der nicht, wie oftbei den Florentinern, nur als Schauplatz derHandlung, als begrenzter Kastenraum in Erschei-nung tritt; vielmehr kommt ihm ein Selbstwertzu, was in Einklang steht mit einem säkularenoberitalienischen Raumgefühl; schon im Trecentomanifestierte es sich im Gegensatz Giotto - Alti-chiero. Von Anfang an bedient Mantegna sich derPerspektive, um in Eigendascin prangende Raum-bühnen zu entwerfen; nicht eine beruhigte, gleich-

sam homogene Raumtotalität resultiert; seitlicheUeberschneidnngen, Ausschnitte, Tiefcnziige, Kon-traste von Nähe und Ferne triumphieren einLieblingsmotiv Mantegnas ist die nah vor demBetrachter aufgerichtete, oftmals von einem ge-

malten Rahmen eingefaßte menschliche Figur vorder Weite der Landschaft, und gerade diesesMotiv wird eine bis zu Rubens führende Nach-folge finden.

Im Veroneser Hochaltar von S. Zeno, demWerk, das die Paduaner Zeit beendet, erreichtMantegnas Raumsinn eine gegenüber den Ere-mitani-Fresken beruhigtere, statische Ausformung.

Um so deutlicher aber bekunden sich die für ihntypischen Elemente der räumlichen Interpretation.l\Vie immer man die Anregungen von sciten desnicht mehr den ursprünglichen Zustand zeigenden

Santo-Altares Donatellos in Padua bewertet:Mantegna gelangt hier zu einer singulären undoriginalen Lösung, die über Giovanni Bellini biszu Dürers Aposteltafeln gewirkt hat. Zwar be-hält er das in Florenz bereits aufgeopferteAneonen-Triptychon bei es bildet- immer nochdas Muster; aber noch nie war es dergestalt ab-gewandelt worden, daß sich die greifbare, «reale»RahmenarchitektuT in der Bildarchitektur fort-setzt und in einen gemalten Prospekt übergeht.

Eine perspektivisch-illusionistisch konstruiertePfeilerhalle vereinigt links und rechts säulengleich

stehende Heilige mit der im Zentrum thronenden,

von Putten umspielten Madonna zur feierlichen,monumentalen Sacra Conversazione. Divrch dieIntervalle der Pfeiler glänzt die oberitalienischeEbene herein, und vorn am Architrav hängt eineschwere Fruchtgirlnnde. Das ist einer jener deko-rativen und zugleich naturhaften Effekte, wieMantegna sie über alles geliebt hat.

Angesichts des Altars von S. Zeno kann es

einen nicht wundernehmen, daß Mantegna fünf-zehn Jahre später, 1474, in der Camera degli sposi

des Kastells zu Mantua den Raumillusionismusin die Sphäre des monumentalen Freskos über-trägt. Die ikonographische Ableitung der Dar-stellungen bietet manches Rätsel; sicher scheintindes, d«ß dio erst im 17. Jahrhundert aufkom-mende Bezeichnung «Camera degli sposi» nicht dasWesentliche trifft. Die Szenen, besondere dasFamilienbild des Markgrafen Ludovico Gonzaga,repräsentieren, als vereinzeltes, auf einsamer Höheder Qualität stehendes Beispiel, eine einst verbrei-tete, einem «Staatsraum» oder Prunkgemach

Würde schenkende höfische Bildgattung, die denRuhm der Dynastie und der Hausmacht verherr-licht; vermutlich spielen Einflüsse aus Frankreichund Burgund mit, namentlich wenn man die Por-trätgruppe als geschichtliches Ereignisbild deutendarf. Wie immer es sich damit verhält inkünstlerisch-gestalterischem Belang handelt es sichum eine der für dio Zukunft folgenträchtigsten

Taten Mantegnas. Fingierte Wandpilaster, die sich

in der ebenfalls fingierten Gliederung der Deckefortsetzen, öffnen die Wand zu einer räumlichillusionistisch interpretierten Zone; dieser Schein-raum kommuniziert mit dem wirklichen Raum.Die Entwicklung hebt an, an deren Ende schließ-lich das barocke Gesamtkunstwerk steht. Voll-ends die Decke der Camera degli sposi weitet sich

in jener illusionistischen Durchbrechung, jenem

erstaunlichen Balustradenrund mit von oben herin das Gemach blickenden Putten, Hofdamen undPfauen, die zur Inkunabel aller barocken Decken-malerei geworden sind. Die Oeffnung gibt denBlick frei auf den gleichen blauen Himmel, dersich auch über der Begegnung des Markgrafen

mit seinem Sohn, dem Kardinal Federigo, im einenWandfresko wölbt. So erhält die ganze Anlage dieletzte sinnenfällige, optisch erscheinungshafte Ver-einheitlichung.

Ihrem Wesen nach beinhaltet die Perspektive

als künstlerisches Darstcllung&mittel eine eigen-

tümliche Ambivalenz; darauf hnt am nachdrück-lichsten Erwin Panofsky hingewiesen: «Die Per-spektive bringt die künstlerische Erscheinung auffeste, ja mathematisch-exakte Regeln, aber siemacht sie auf der andern Seite vom Menschen,ja vom Individuum abhängig, indem diese Regeln

auf die psychophysischen Bedingungen des Seh-eindrucks Bezug nehmen und indem die Art undWeise, in der sie sich auswirken, duTch die freiwählbare Lage eines subjektivenbestimmt wird.» Mantegna hat sich mit radikalerKonsequenz zur «gubjektivicrend»-illusionistischenAnwendung der Perspektive bekannt. Diese Ab-straktion des Schbildcs vom Seinsbestand mußtenun jedoch im Bereich Von Kunstwerken reli-giöser Thematik das überliefert Kulthafte vonGrund auf in Frage stellen. In extremster Formist das der Fall im «Cristo in scurto», der Be-weinung des toten Christus durch Maria undJohannes (Brera, Mailand). Weil Mantegna hierden toten Christus als fahlen Leichnam in jähertiefensenkrechter Verkürzung wiedergibt, so daßman ihm auf die Fußsohlen, unter das Kinn undin die Nasenlöcher sieht, spricht die kunsthisto-rische Literatur bis heute immer wieder von derEntwürdigung der Klage um den toten Heilandzum baren Perspektivenkunststück. Anderseits hatfreilich Jantzen schon vor dreißig Jahren derEinsicht Bahn gebrochen, es handle sich nichtum ein technisches, wohl aber um ein Ausdrucks-problem der Perspektive: die Entgöttlichung derHeilandsgestalt, die Vernichtung jeder repräsen-

tativen Haltung, somit des kultischen Wertes derDarstellung Momente, die hier das Christusbildder Renaissance den Punkt seiner weitesten Ent-fernung vom Mittelalter erreichen ließen führ-ten zu einer neuen, subjektivierten, den Sinnengreifbareren Auffassung des Erlöscrtodes. UeberJantzen hinausgehend, hat alsdann Schrade zuzeigen gesucht, daß der «Cristo in scurto» letztlichsogar von kultischen Begehungen her erklärt wer-den könne, wie er schon thematisch-ikonographisch

zu der Gattung der Epitaphioi gehöre. Dennoch:auch wenn das Werk im Kultischen wurzelt, zuralles bestimmenden Anschauung gebracht ist diejäh überkommende, hinwerfende, «verkürzende»Macht des Todes, die unerbittliche Verendlichung

der Erscheinung und insofern äußerste Entmytho-logisierung und Säkularisierung bedeutet. Dasmag die Ursache gewesen sein, daß das Bild beiMantegnas Tod sich noch immer in seinem Atelierbefand; es hat nie einem praktischen Kultzweckgedient.

Wie aber hat Mantegna das Dilemma über-wunden, einerseits perspektivisch, das heißt ver-endlichcnd, entrepräsentierend, das Kultische rela-tivierend zu gestalten und anderseits doch die vomkirchlich Religiösen her gestellten Ansprüche zuerfüllen? Ein Blick auf den Hochaltar von S. Zenoist imstande, die Frage zu beantworten. Die hierdiirch die Perspektive gewonnene «Natürlichkeit»des dreidimensionalen diesseitigen Raumes be-kommt durch die gemalte Architektur Würde undWeihe; die antikischen Bauformen fügen sich zuso etwas wie einem Triumphtor; der Renaissance-Architrav über der Szene gibt sich als Front einerim Bilde gemalten Tempelhalle zu erkennen. Zwarsind die Heiligen und Maria mit Nimben ver-sehen, aber ihre Kleinheit verhindert, daß sie ingewichtiger Weise als anschauliches Attribut vonHeiligkeit eine Rolle zu spielen vermöchtender Eindnick von Heiligkeit dieser Menschen be-

ruht auf der vom Diesseitigen her gesteigerten,bedeutungsvollen Mächtigkeit ihrer Erscheinung.

Jedoch im Falle der Madonna kommt noch einWeiteres hinzu: dio Thronlehne nämlich trägt alsSchmuckform ein reich durchbrochenes steinernesRad (es erinnert an die Rose der Fassade vonS. Zeno), das nun als ein aus der Sphäre derirdischen Wirklichkeit selber entlehnter, wenn-gleich ins Ideale geläuterter «natürlicher» Nimbusum das Haupt der Maria wirkt. Auch die«Madonna della Vittoria» (Louvre, Paris) zeigt

dasselbe Motiv des «natürlichen» Nimbus. NichtMantegna hat es erfunden; seit der Meister vonFlemalle anstelle eines kreisrunden flächigen Hei-ligenscheins einen geflochtenen Ofenschirm alsNimbus hinter die Madonna malte, um die Stim-mung eines profanen Innenraums konsequentdurchzuhalten, lassen sich im 15. Jahrhundert so-wohl nördlich wie südlich der Alpen ähnlichePhänomene fassen. Aber nirgends so sehr wie beiMantegna gewinnt der da sich bekundende Pro-blemkomplex derartige Bedeutimg: die antikischeArchitektur und der «natürliche» Nimbus desS. Zcno-Altares erfüllen letztlich mittelbar dieFunktion, die im mittelalterlichen Bild der Gold-grund als unmittelbares Symbol für die überRaum und Zeit entrückte Jenseitigkeit, als Ab-bild des Paradieses und des göttlichen Himmels-lichts, geleistet hat: sie sind die Garanten einerrelativen Snkralisierung der religiösen Bildwelt,wiewohl diese als solche in irdisch-diesseitiger,perspektivischer Sicht beschworen ist.

In andern Bildern überbindet Mantegna derEngelsglorie eine ähnliche, allerdings doppelwertig

schillernde Aufgabe. Mehrmals, zum Beispiel aufder «Madonna mit Kind» der Brera und der gro-

ßen späten Madonna Trivulzio des CastelloSforzesco, was Christus angeht auf den Auf-erstehungsdarstelhvngen der Uffizien und derPredella des S. Zeno-Altares (heute Museum vonTours), umgibt eine Gloriole oder Mandorla ausEngelsköpfen den Herrn und die Himmelskönigin.

Sie sind als ideale Zeichen gemeint, die dio durch-aus realistisch-körperlich erfaßten Figuren vonMaria und Christus verklären sollen. Aber dieErscheinungsbedingungen des Natürlichen, Licht-und Schattenspiel und plastische Körperlichkeiterstrecken sich selbst auf die pausbäckigen, inpraller Leiblichkeit schwellenden Puttenengel, mit-hin auf die Attribute, welche die Erhabenheitüber das Natürliche zu garantieren haben. Sozeigt sich auch jetzt wieder jene seltsame Ver-quickung einer Tendenz, die Säkularisierung be-deutet, mdt einer Tendenz, die Sakralisierung er-strebt, als Grundinrpuls von Mantegnas Schaffen.Allerdings kennt Mantegna, mindestens imMadonnenbild, auch Gestaltungen, die auf jedeäußere Sakralisierung verzichten.

(Schluß auf Blatt 7 dieser Ausgabe)

Neue Zürcher Zeitung vom 22.10.1961