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Rosemarie Eichinger

Alles dreht sich

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Tief durchatmen

Wenn ich lüge, vermeide ich Augenkontakt, nestle anmeinem Shirt herum, im schlimmsten Fall grinse ichblöd. Jeder Idiot erkennt, wenn ich lüge. Ich bin erledigt.

Ich haste hin und her, nage an meinen Fingernägeln,bleibe stehen. Nein, keine Lösung. Weiter hin und her.

»Verdammt noch mal, Linda! Hock dich endlich hin!Dein dämliches Gerenne macht mich fertig.«

Der kann mich mal. Weiter hin und her.»Jetzt mach dir doch nicht in die Hosen. Niemand

kann uns was beweisen.« Max sitzt am Boden, Smart-phone vor der Nase.

»Halt die Klappe, Max! Wir sind hier nicht in irgend-einem dämlichen Krimi.« Damit kenne ich mich aus.Ich liebe Krimis, schaue bei jeder Gelegenheit. CSI,Law and Order, Fringe. Was auch immer. Ich bleib vorMax stehen, schau auf ihn hinunter, Arme in die Hüf-ten gestemmt. Ich kann auch cool sein. Ich fahre mitder Zunge über meine Lippen. Ein Stück Fingernagelklebt noch daran.

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»Feige Memme!« Max grinst.»Wenn ich jetzt mein Knie hochreiße, fehlen dir unter

Umständen ein paar Zähne.« Ich schau ihn an, eine Au-genbraue hochgezogen. Das hab ich mal in einem Filmgesehen. Sieht schön überheblich aus. Musste beinahezwei Monate üben, um das hinzukriegen, ohne dass diezweite Braue mitgeht.

Max lacht. »Alles klar. Jetzt entspann dich! Wirdschon gut gehen. Und wenn nicht …«, fügt er hinzu,verstummt und grinst wieder.

»Fragt sich bloß wie.«Nägel zum Abnagen sind mir ausgegangen, genauso

wie Erklärungen, Ausreden, Pläne und Hoffnung. Erhat Recht. Setzen! Beruhigen! Ich rutsche an der Mauernach unten. Es hilft nichts. Ich springe wieder auf,hetze weiter hin und her. Kicke Steinchen aus demWeg, eine verbeulte Dose, kaue an meiner Unterlippe.Bald wird die dünne Haut reißen.

Fragen explodieren in meinem Kopf. Wie? Warum?Wie? Warum? Keine Antwort darauf. Jeder Versuch, einezu finden, wäre zwecklos. Kein zerrüttetes Elternhaus alsEntschuldigung, keine Prügel, keine verdreckte Woh-nung im Sozialbau, keine mobbenden Mitschüler, keinwas auch immer. Mir fällt nichts mehr ein. In meinemKopf dreht sich alles. Ich bleibe stehen und schließe dieAugen. Tief durchatmen, Perspektive ändern.

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Perspektive ändern. Wie geht das noch mal? Ich erin-nere mich nur lückenhaft an den Yogakurs. Meine Mut-ter schleppt mich eines Tages hin. Ist schon ein paarMonate her.

»Du musst dich erden, Kind«, sagt sie. »Yoga ist da ge-nau das Richtige.«

Yoga ist nicht genau das Richtige. Zumindest nichtfür mich. Das stellt sich schon in der ersten Stunde he-raus. Ich kann Fitnessstudios nicht leiden. KollektivesSchwitzen ist nicht mein Ding. Meine Mutter ignoriertdas.

»Ich hab für einen Monat bezahlt. Du gehst für einenMonat hin! Das schuldest du mir.« Sie bleibt hart.

Da ich ihr ständig was schulde, fürs Kochen, Putzenoder Wäschewaschen, gehe ich hin. Zweimal die Woche,einen Monat lang. Verrenke mich auf meiner Matte,atme heftig wie eine Frau, die eben ein Kind raus-quetscht, und horche in mich hinein. Ich höre nichts,hyperventiliere und verliere das Bewusstsein. Die Yoga-tante findet das ganz toll, lobt meinen Enthusiasmus.Der Aufprall ist hart, mein Kopf tut weh. Womöglich hatmeine Mutter das mit »erden« gemeint.

»Linda? Träumst du?« Max schaut von seinem Smart-phone auf.

»Was?« Ich bin verwirrt. Wo war ich noch gleich?Die Perspektive. Steig auf einen Baum oder so. Dann

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schaut die Welt gleich anders aus. Ich würde ja lieberin ein Loch steigen, im Boden versinken, wie man soschön sagt. Ich muss lachen. Dann wär ich wohl imwahrsten Sinne des Wortes geerdet.

»Was glotzt du mich so an?«, will ich von Max wissen.Das irritiert mich. Ich muss mich jetzt konzentrieren.

»Was denkst du denn?«Frage und Gegenfrage. Ich hasse das. Die Antwort

scheint dabei keine große Rolle zu spielen. So wie jetzt.Ist wohl egal, was ich denke. Max ist schon wiederbei seinem Bildschirm. Das ist gut, so kann ich michwieder der Perspektive widmen. Ich schaue mich um.Kein Loch, in das ich kriechen könnte, aber ein Baum.Ein Kastanienbaum, riesig, knorrig, die Äste meilenweitentfernt. Da komm ich nicht hoch. Ich habe gelernt rea-listisch zu sein. Besonders sportlich bin ich nicht. Ichblicke hinauf. Mist! Dort oben lässt sich bestimmt groß-artig die Perspektive ändern, und falls das nicht gelingt,kann man immer noch springen.

Das sollte ich auf meine Liste schreiben: auf einenBaum klettern. Die Liste! Die Aufregung. Das Adrena-lin. Keine geraden, klaren oder sonst irgendwie sinnvol-len Gedanken in meinem Kopf. Die Liste ist natürlichdie ultimative Ausrede schlechthin. Ich hole sie ausmeiner Hosentasche. Sie ist ziemlich zerknüllt. Ich faltesie auseinander, streiche sie glatt.

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WAS ICH UNBEDINGT NOCH MACHEN WILL,

BEVOR ICH ABKRATZE

In Großbuchstaben steht es am Anfang der Seite. Ichatme tief durch, schüttle den Kopf. Damit hat der ganzeScheiß angefangen. Mit einer untröstlichen Onkologin,einer schluchzenden Mutter und dem Rest meinesLebens, der von geschätzten siebzig Jahren – ich binschließlich erst fünfzehn – auf ein paar lausige Monatezusammengeschrumpft ist. Wie bei einem Luftballon.Luft raus, rasend schnell herumgewirbelt, leere Hülle,das war’s.

Jetzt setze ich mich doch zu Max.

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An einem Montag im Mai

Ich werde bald sterben. Manchmal muss ich das lautaussprechen, um es zu glauben. Und selbst dann hört essich irgendwie unwirklich an.

Ich erfahre es an einem Montag im Mai. Es ist warm.Die Sonne scheint. Der Desinfektionsgeruch auf derStation ist übermächtig. Sonst könnte man vielleichtden Frühling riechen, die Blumen oder auch nur dieHundehaufen in den Stadtparks. Alles wäre besser alsdieser elende Krankenhausmief, das weiße Personal,die grünen Wände, die grauen Böden. Mir wird geradeeröffnet, dass mein Leben praktisch vorbei ist. Ich ver-stehe gar nichts. Ich muss hier raus, an die frische Luft.Ich stoße den Sessel beinahe um, so eilig habe ich es,wegzukommen. Eine flüchtige Entschuldigung und einpaar Augenblicke später sitze ich auf einer Bank drau-ßen im Park. Sie ist knallrot gestrichen und steht wieein Warnschild in der Wiese. Ich werde mich hier nichtfortbewegen, bis meine Mutter kommt. Meine Mutterist noch bei der Onkologin. Sie möchte verstehen.

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Ich höre den Bienen beim Summen zu, beobachtedie Libellen, die über den Teich tanzen, groß, blau undwunderschön, zähle die Seerosenblätter, fange immerwieder von vorne an, verliere den Faden. Plötzlich stehter vor mir, lässt sich neben mich auf die Bank fallen. Ichhabe ihn schon ein paarmal hier gesehen. Er sitzt meistirgendwo, wirkt reglos, beobachtet. Max nennen ihn dieSchwestern.

»Was ist los?«, fragt er.»Ich werde bald tot sein«, sage ich.»Scheiße!«Eine Zeit lang sitzen wir nur nebeneinander, schwei-

gen, Max pfeift irgendein blödes Lied. Es kommt mirbekannt vor, aus der Werbung oder so.

»Was ist es?«, will er schließlich wissen.»Gehirntumor.« Ich spreche das Wort noch etwas un-

beholfen aus, ganz so, als würde es nicht zu mir gehören.»Und du?« Nicht, dass ich in dem Moment etwas ande-res im Kopf hätte als mich selbst. Es erscheint mir ein-fach unhöflich, nicht zu fragen. Tante Fiona hat dochRecht. Gute Erziehung geht in Fleisch und Blut über.

»Leukämie«, antwortet er, die Augen fest auf denTeich gerichtet. Möglicherweise versucht er ja auch dieSeerosen zu zählen.

Ich bin erstaunt, wie leicht ihm das Wort von derZunge geht. Leukämie. Ich probiere es in meinen Ge-

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danken aus. Leukämie. Es hört sich klinisch an. EinGehirntumor klingt da schon irgendwie handfester.Sinnloses Gebrabbel im Hirn. Abschütteln, Gedankenordnen!

»Ich hab auch nicht mehr lang«, fügt er noch hinzu.»Scheiße!«, drücke ich meine Anteilnahme aus.Wir schweigen wieder, schauen den Enten zu. Köpf-

chen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh. Jetzt habich ein nerviges Kinderlied und einen Gehirntumor imKopf. Vielleicht sollte ich aufstehen und gehen, aber ichkann mich nicht bewegen.

»Also gut«, sagt Max irgendwann. »Wir sollten dasGanze systematisch angehen.« Er lehnt sich zurück,schlägt die dünnen Beine übereinander. Seine Jeansspannt über den knochigen Knien.

»Verstehe!«, behaupte ich.»Tatsächlich?«»Kein Wort«, gebe ich zu. Ich lasse ihn quatschen und

warte darauf aufzuwachen. Das kann ja nur ein böserTraum sein. Ich starre weiter auf den Ententeich.

Max schraubt seine Wasserflasche auf und gießt mirden Inhalt über den Kopf. Einfach so, ohne Vorwarnung.Ich springe so schnell auf, dass ich fast in den Teich stol-pere.

»Was …?« Mehr bringe ich nicht heraus. Ich stehevor ihm, keuche und triefe. Meine langen Haare kleben

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an meinen Wangen. »Du …« Wieder komme ich insStocken.

»So, jetzt bist du wach«, stellt Max fest. Mein Gekeu-che scheint ihn nicht zu kümmern. »Wir sollten eineListe anlegen«, schlägt er vor.

»Was …? Du …« Ich habe mich immer noch nicht ge-fasst. Leert mir der Idiot doch seine Wasserflasche überden Kopf!

»Das ist das Gute daran, wenn man bald draufgeht«,fährt Max unbeirrt fort und kramt in seinem Rucksack.»Man legt eine Liste an.«

Ich glotze ihn wohl ziemlich blöd an. Er deutet das alsInteresse und redet munter weiter.

»Leute, die nicht krank sind, legen keine Listen an.Sie denken, sie haben ewig Zeit. Und plötzlich, voneinem Moment auf den anderen, ist alles vorbei.«

Max sieht mich an. Er erwartet wohl so etwas wie Zu-stimmung. Ich glotze, keuche, triefe einfach weiter. Lis-ten sind mir doch so was von egal. »Scheiß, Mist, ver-dammter«, bring ich schließlich doch noch heraus. Ichbin nicht im Stande, dies alles in einen grammatikalischkorrekten Satz zu verpacken. Ich keuche weiter.

»Na bitte!«, ruft er und klopft mit dem Stift auf seinenBlock. »Das ist gleich Punkt eins auf der Liste.«

»Von welcher beschissenen Liste faselst du da?« Ichschreie so laut, dass die Enten erschrocken aufflattern.

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Die Seerosenblätter schwanken im Rhythmus der auf-gewühlten Wasseroberfläche.

»Was ich noch machen möchte, bevor ich abkratze«,sagt Max, während er den Satz auf den Block kritzelt.Dann grinst er mich an, stolz und zufrieden.

Er schreibt weiter. Ich muss mich leicht hinunterbeu-gen, um lesen zu können, was dort steht.

JEDEN TAG AUSGIEBIG FLUCHEN UND SCHIMPFEN

»Was soll das bedeuten?« Ich verstehe einfach nicht,was er von mir will.

»Das erleichtert ungemein, glaub mir«, behauptet er.»Versuch es!«

»Was soll ich versuchen?« Ich spreche langsam. Erscheint irgendwie nicht ganz bei Trost zu sein.

»Fluchen, schimpfen. Wonach immer dir der Sinnsteht.«

Ich stehe wie angewurzelt vor ihm, denke an TanteFiona und die gute Erziehung, an all die Worte, die mannicht sagen darf, ein Mädchen schon gar nicht.

»Leck mich am Arsch!« Ich zische oder flüstere. Aufjeden Fall bring ich den Mund kaum auf. Das ist selt-sam. Ist ja nicht so, als hätte ich noch nie ein Schimpf-wort ausgesprochen.

»Inhaltlich nicht schlecht«, kommentiert Max. »Nuran der Ausführung musst du noch feilen.«

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»Was?« Das Karussell in meinem Kopf dreht sich, dieEnten, die Libellen, die Gänseblümchen vor meinenSchuhen, die Bank, Max.

»Lauter! Mit mehr Gefühl!«, verlangt er.Er hat den richtigen Knopf gedrückt. Es macht Klick.

Ich kotze jeden Fluch aus, den ich in meinem Lebenje gehört habe, belege Max mit den widerlichsten Be-schimpfungen, schere mich einen Dreck um die Leute,die kopfschüttelnd vorbeigehen, und sinke am Ende er-schöpft neben Max auf die Bank.

»Und?« Er fixiert mich von der Seite, als wollte er mirein Loch in den Schädel brennen und die Antwort di-rekt aus meinem Hirn ziehen.

»Besser«, stelle ich fest. Ich bin überrascht, rücke aberein wenig von ihm weg. »Vielleicht ist diese Liste dochkeine schlechte Idee.«

Also schreiben wir Punkt für Punkt auf, was wir auf je-den Fall noch machen wollen. Eine Liste für uns beide.

Einiges muss gleich wieder gestrichen werden. Wirsind schließlich keine Millionäre. Ich werde mein Spar-buch plündern. Das versteht sich von selbst. Bis zumMond bringt uns das aber auch nicht.

Punkt für Punkt notieren wir. Zögerlich, ein wenighalbherzig. So beginnt es und deshalb sitze ich jetzt ne-ben Max an der Wand.

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Das Schlimmste, was ich je getan habe

Seit einer Woche habe ich blaue Haare. Seit einer Wo-che denke ich darüber nach. Das Schlimmste, was ich jegetan habe. Kein Zweifel. Ich habe bis jetzt noch nie et-was wirklich Schlimmes getan. Sogar meine Schwesternwürden dem zustimmen. Trotzdem. Selbst wenn ichschon früher etwas Schlimmes getan hätte, so wäre dasnicht halb so schlimm wie das, was ich jetzt tue. Und dieblauen Haare erinnern mich daran. An die Liste. An dieverdammte Liste. Die Liste, die todkranke Menschenanlegen. Krebsfuzzis, Rinderwahntypen oder Ebola-kerle. Das Schlimmste, was ich je getan habe.

Eigentlich ziemlich armselig. Fünfzehn Jahre, beinaheein Mann und noch nie gegen die Regeln verstoßen. Bisjetzt. Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig. Ich schämemich. Ich ärgere mich. Die Scham überwiegt eindeutig.

»Warum wirst du so rot im Gesicht?«, will Matilda wis-sen. Sie beobachtet mich, steht vor mir auf meinemBett, federt leicht auf und ab, bereit, jederzeit loszu-springen. Sie ist nicht gern in ihrem Zimmer. Dort ist es

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langweilig, langweilig, langweilig. Manchmal schläft siesogar bei mir, tritt mich die halbe Nacht und schnarcht.Jetzt ist sie da und will spielen, spielen, spielen.

Ich antworte nicht, schaue einfach zum Fenster hi-naus, zu den Tauben, den Wolken, was auch immer, nurweg. Matilda kann nerven. Sie rückt mir auf die Pelle.Ich bekomme kaum Luft.

Diese verdammte Liste! Eine gute Idee, denke ich,als mir meine Ärztin vorschlägt, eine Liste zu machen.Mir fällt aber einfach nichts ein. Bis Linda auftaucht.Sie sitzt auf der roten Bank, sieht aus wie jemand,der so eine Liste braucht. Der Rest ergibt sich einfachso. Praktisch ohne mein Zutun. Verdammt! So eineScheiße! Weitermachen. Beenden. Ja. Nein. Weiß nicht.Vielleicht. Wenn ich nicht aufpasse, platzt mir noch derSchädel. Ich sitze auf meinem Bett, trommle mit denFingern, nage an meinen Nägeln, trommle weiter. Ma-tilda springt mich an, kniet sich auf meine Hände undhält mich fest. Sie schaut mir tief in die Augen. Kurzblitzt es auf. Grell vor meinem inneren Auge. Ich werfesie vom Bett. Nur kurz. Ich beherrsche mich. Sie knietauf mir. Ich lächle.

Matilda ist gerade ein Jahr alt. Ich gebe ihr einen Re-genwurm zu essen. Sie schmatzt, verzieht das Gesicht,beginnt zu brüllen. Daran stirbt man nicht. Es ist alsonicht so schlimm.

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Meine Finger beginnen wieder zu trommeln. Matildaschaut mir weiter tief in die Augen. »Mit blauen Haarenhast du irgendwie eine andere Augenfarbe«, sagt sie. IhrAtem riecht nach Kirsche. Ihre Zunge ist rot. Sie liebtLollies.

Sie lacht. Zeigt mir ihre Zahnlücke, ihre erste. Ganzstolz ist sie darauf.

Sie möchte auch blaue Haare, blaue Haare, blaueHaare. Seit einer Woche singt sie das den ganzen Tag.Jetzt hat sie eine blaue Strähne, weil unsere Mutter vonihrem Gejammer Migräne bekommt.

Das Schlimmste, was ich je getan habe. Der Gedankeist in meinem Kopf. Leuchtet auf wie eine Lampe.Geht wieder aus. Und bleibt da.

Ich bin ungefähr acht. Ich stehle meiner Mutter einbisschen Geld, kaufe mir ein Eis. Himbeer-Zitrone.Meine Lieblingssorten. Daran stirbt man nicht. Es istalso nicht so schlimm.

Matilda hüpft um mein Streichholzschiff herum.»Wann zündest du es an?«, will sie wissen. »Ich will da-bei sein, dabei sein, dabei sein.« Sie hüpft, dreht sichund hüpft.

»Wenn ich fertig bin«, sage ich.Blöde Antwort, findet Matilda. Sie grinst trotzdem

und hüpft wieder auf meinem Bett herum. Ich wippeauf und ab.

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Ich werde schreiben, beschließe ich. Einen Brief, ver-schickt mit der Post, wie man das früher gemacht hat.Dann kann Linda entscheiden.

Mir fällt aber nichts ein. Nur das Schlimmste, was ichje getan habe. Den Gedanken abschütteln. Ich trommlemit den Fingern auf meinem Bett herum. Der Gedankehat sich festgesetzt wie ein Blutegel, saugt alle anderenGedanken auf, sitzt fett und prall in meinem Kopf. Erplatzt. Mein Hirn ersäuft in Blutegelmatsch, in Das-Schlimmste-was-ich-je-getan-hab-Matsch.

Ich bin auf Leons Geburtstagsparty. Wir sind beideneun. Er packt Optimus Prime von den Transformersaus. Ich bin neidisch. Den will ich unbedingt auchhaben. Ich spiele mit ihm, während Leon irgendetwasanderes macht. Ich baue die Figur zum Fahrzeug um.Etwas bricht ab. Ich schiebe alles unter den Tisch.Schweige, als Leon weint. Daran stirbt man nicht. Istalso nicht so schlimm.

Ich klopfe mit meinem Stift auf dem Block herum.Das Schlimmste, was ich je getan habe. Der Gedankeist gleißend hell in meinem Kopf, überstrahlt allesandere. Ein 500-Watt-Gedanke. Vielleicht sollte ich esLinda einfach sagen. Mitten ins Gesicht. Vorher mussich aber unbedingt noch aufräumen. Das letzte Mal istewig her. Danach gehe ich zu ihr oder versuche michnoch mal an dem Brief.

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Ordnung schaffen! Meiner Ärztin würde das gefallen.In meinem Zimmer. In meinem Leben. Einfach so.Kein Problem. Ein Durchbruch, würde sie sagen. Ichstehe da und lache. Matilda lacht mit, will wissen, was solustig ist.

Ich beginne mit der Wäsche, bewerfe sie damit. Ma-tilda kreischt. Das meiste Zeug liegt am Boden ver-streut. Die Geruchskontrolle entscheidet über Wäsche-korb oder Schrank. Unter der dritten Schicht findeich ein X-Box-Spiel, Halo 3. Das habe ich schon überallgesucht. Ein paar CDs tauchen auf, meine Geografie-mappe, das Klassenfoto vom letzten Jahr, ein paar Co-mics, eine Packung Chips, halb aufgegessen, die Restezäh und zermanscht, ein Teller samt Gabel, eine ausge-quetschte Tube Pickelcreme, eine zusammengerollteMatilda.

»Puhhh!«, ruft sie. Verstecken und erschrecken. Dasmacht sie für ihr Leben gern.

Ich schau mich um. Aller möglicher Krempel bedecktden Boden. Das kann dauern.

Matilda will mir helfen, helfen, helfen. Ich wehremich nicht, lass sie machen. Sie holt einen großenMüllsack. Ganz unten liegt schon ihr neues Kleid.Von Großmutter. Blau mit rosa Blumen. Matilda hasstKleider.

»Nicht verraten!«, flüstert sie.

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Ich stopfe alles in den schwarzen Sack, was nicht nochirgendwie brauchbar ist. Schnell und schmerzlos. ZehnMinuten später ist das meiste beseitigt. Ich bin keinsentimentaler Typ, hänge nicht besonders an altemZeug. Ich setze mich aufs Bett. Meine Finger beginnenwieder herumzutrommeln. Sauber sieht es immer nochnicht aus. Ich hole den Staubsauger. Meine Mutterschaut mich misstrauisch an, folgt mir, will wissen, wasich vorhabe.

Sie lässt ihren Blick durchs Zimmer gleiten. Das dau-ert, weil es jetzt so leer ist. Ob alles in Ordnung ist, willsie wissen. Sie sieht besorgt aus. Sie sieht immer be-schissen besorgt aus. Das nervt. Ich schließe die Tür vorihrer Nase. Der Staubsauger dröhnt. Nicht so laut wiedas Schlimmste, was ich je getan habe.

Fertig mit Aufräumen. Kein Aufschub mehr! Ich binein Mann! Tiefe Stimme, Schatten auf der Oberlippe,auf den Boden spucken, im Schritt kratzen. Greif mirBlock und Stift und beginne zu schreiben. Zerknülleden Zettel, rein in den geleerten Papierkorb. Dreimal,viermal. So wird das nichts.

Ich bin elf, spiele Fußball im Park mit ein paar Freun-den aus meiner neuen Schule. Es gibt Streit mit ande-ren Kindern. Blöder Türke! Geh nach Hause!, rufe icheinem zu. Das macht er auch. Sein Zuhause ist schließ-lich nur drei Straßen entfernt. Ich weiß das, weil ich mit

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ihm in der Grundschule war. Daran stirbt man nicht. Istalso nicht so schlimm.

Matilda holt ihre Filzstifte, zeichnet Blumen und Kat-zen und Grabsteine auf meinen Block. Ein Kind mitblauen Haaren auf einem Fahrrad und eine leuchtendgelbe Sonne mit langen Strahlen in die Ecke. Maxkrakelt sie darauf, überreicht mir das Kunstwerk undstrahlt.

Kein Brief. Ich werfe den Block in eine Ecke, drückean dem Stift herum. Mine rein, Mine raus. Ich binein Feigling, eine elende Memme. Vielleicht sollte ichden Computer hochfahren. Ein bisschen weite Weltschnuppern. Vielleicht steht dort ja, was ich tun soll.

Das Internet! Ich höre auf, den Stift zu malträtieren.Das Internet ist die Lösung. Ich richte eine Website einund schicke Linda dann den Link. Das lenkt ab, machtArbeit und vielleicht Eindruck, stimmt sie unter Um-ständen milde.

Ich werfe Matilda aus dem Zimmer. Sie mault. Ichschenke ihr einen Kaugummi, damit sie Ruhe gibt.

Ich fahre meinen Computer hoch und beginne mit derArbeit.

WWW.DASSCHLIMMSTEWASICHJEGETANHABE.COMAbendessen lasse ich ausfallen. Ich habe zu tun. Eine

Seite einrichten dauert. Meine Mutter klopft, stellteinen Teller mit einem gefüllten Wrap auf den Schreib-

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tisch, ein Glas Saft dazu. Jetzt geht das. Der Schreib-tisch ist frei. Sedimentschichten des letzten Schuljah-res zwischen Matildas Kleid und sonstigem Kram imschwarzen Müllsack. Meine Mutter möchte gerne wis-sen, was ich treibe, traut sich aber nicht zu fragen. Ichsollte mehr mit ihr reden.

»Drängen Sie ihn nicht«, rät ihr meine Ärztin.Meine Mutter hält sich daran, auch wenn es ihr schwer-

fällt. Meinem Vater fällt es nicht schwer. Er redetsowieso wenig, ist mit seiner Arbeit beschäftigt, auchwenn er zu Hause ist. Sein Smartphone läuft auf Hoch-touren. E-Mails beantworten, SMS an die Sekretärin,erreichbar sein rund um die Uhr, wichtig sein rund umdie Uhr.

Meine Mutter zögert, schaut mir kurz über die Schul-ter, gibt sich einen Ruck, streicht mir über das blaueHaar und geht wieder.

»Gefällt mir«, hat sie gesagt, als ich von der Friseuringekommen bin. »Jeder braucht ein bisschen Farbe.«

Ich arbeite bis spät in die Nacht, schlafe angezogen.Am darauffolgenden Tag bin ich noch immer mit derWebsite beschäftigt. Eigentlich will ich ihr nur sagen,was ich getan habe. Eines kommt zum anderen. GegenMittag bin ich endlich fertig. Ich überprüfe noch einmaldie Menüleiste der Startseite.

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Über michDas Schlimmste, was ich je getan habeDie Moral von der GeschichteFaQKommentarKontakt

Ich zögere nur kurz. Nichts wie raus damit. Ich schickeLinda den Link. Nun ist es an ihr.Ich gehe unter die Dusche, stopfe Essen in mich hinein,als hätte ich seit Tagen nichts mehr bekommen, setzemich wieder auf mein Bett und warte. Mein Handy liegtneben mir. Ich warte. Schon seit fünfzehn Jahren, kommtmir vor. Ich warte immer auf irgendetwas. Ich warte da-rauf, endlich alt genug für die Schule zu sein, bis neunUhr aufbleiben zu dürfen, ein guter Sportler zu werden,gut auszusehen, eine Freundin zu finden, Spaß am Le-ben zu haben. Ich warte. ›Dann‹ wird alles anders. Dannkommt aber nicht. Ich warte weiter.

Ich bin fünfzehn, sitze auf einer Bank im Kranken-hauspark, erzähle Linda, dass ich Krebs habe. Ich habeaber keinen Krebs. An dem, was ich habe, stirbt mannicht. Diesmal ist es schlimm.