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LPM –Veranstaltung am 21.09.2009 „Der G-Kurs Geschichte und das neue Geschichtsabitur“ THEMA: GESCHICHTE GOS 1. HALBJAHR DER HAUPTPHASE (G-KURS JG. 11) PRÄGENDE ENTWICKLUNGEN EUROPAS IN DER FRÜHEN NEUZEIT Materialien ausgewählt von Torsten Mergen Peter-Wust-Gymnasium Merzig

LPM –Veranstaltung am 21.09.2009 „Der G-Kurs … · 2 Unterrichtseinheit I: „Renaissance und Humanismus – Wandel des Menschen- und Weltbildes“ Zeit des Aufbruchs und der

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LPM –Veranstaltung am 21.09.2009

„Der G-Kurs Geschichte und das neue Geschichtsabitur“

THEMA:

GESCHICHTE GOS 1. HALBJAHR DER HAUPTPHASE (G-KURS JG. 11)

PRÄGENDE ENTWICKLUNGEN EUROPAS IN DER FRÜHEN NEUZEIT

Materialien ausgewählt von

Torsten Mergen

Peter-Wust-Gymnasium Merzig

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Unterrichtseinheit I: „Renaissance und Humanismus –

Wandel des Menschen- und Weltbildes“

Zeit des Aufbruchs und der Widersprüche (3 Stunden)

• Orientierung am Vorbild der römisch-griechischen Antike

• humanistisches Menschenbild und Bildungsideale

• neue Betrachtungsweisen und Gestaltungsformen in Kunst und Architektur

• wissenschaftliche und technische Entdeckungen und Erfindungen

• neue politische Theorien

• andererseits: Lebensangst und Aberglaube

Leitpunkte und Begriffe: Renaissance, Humanismus, „ad fontes“, Zentralperspektive,

heliozentrisches Weltbild, Buchdruck, Zensur, Machiavellismus, Hexenhammer

Daten: 1350 – 1550 Renaissance; 1452 – 1519 Leonardo da Vinci

Exkurs: Europäische Expansion (3 Stunden)

• Entdeckungsfahrten

• Eroberung und Vernichtung der amerikanischen Hochkulturen am Beispiel der Azteken

oder Inkas

• Auswirkungen des Kolonialismus

Leitpunkte und Begriffe: Azteken, Inkas, Kolonialreiche

Datum: 1492 „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus

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Material 1: Eine kurze wissenschaftliche Einführung

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Heinz Schilling: „Beginn der Neuzeit? - Schlüsselprozesse in Europa“

Die neue Zeit Europas, das haben die Forschungen zum späten Mittelalter und zum 16./17.

Jahrhundert in den letzten Jahrzehnten überzeugend herausgearbeitet, brach sich nicht erst

mit Kolumbus oder Luther Bahn. Vielmehr lassen sich viele der Veränderungen, die das

hervorbrachten, was wir traditionell die „europäische Neuzeit“ nennen, bereits seit dem

13. Jahrhundert ausmachen, zunächst allerdings erst in den fortgeschrittensten Regionen

des Kontinents, voran in Italien, aber auch in Flandern-Braband oder Burgund. (...) Will

man in der Zeitperspektive von etwa 1250 bis 1750 Dynamik und Entwicklungsrichtung

der europäischen Gesellschaften beziehungsweise des europäisch-lateinischen

Zivilisationstypus bestimmen, so lässt sich eine Hand voll Schlüsselprozesse benennen:

• Wirtschaftssystem

Erstens bildete sich ein nach rationalen Erfolgskriterien operierendes und auf

Veränderungen in den Rahmenbedingungen rasch und flexibel reagierendes

Wirtschaftssystem heraus. (...) Im Verlauf des 18. Jahrhunderts entwickelte das

frühkapitalistische Wirtschaftssystem dann aber eine so große Eigendynamik, dass es die

vormodernen Wachstumsfesseln sprengte. (...)

• Politische Ordnung

Zweitens bahnte sich eine politische Ordnung an, die einerseits bestimmt wurde durch die

im Zuge der frühmodernen Staatsbildung entstandenen Partikularstaaten1 mit

frühmoderner Administration, Souveränitätsanspruch und Identität auf nationaler,

territorialer oder dynastischer Grundlage. (...) Gleichzeitig mit dieser inneren Kon-

solidierung der Partikularstaaten und der transkontinentalen Sicherung ihres Zu-

sammenlebens setzte die frühneuzeitliche Ordnung Europas jene bis ins 19. und 20.

Jahrhundert wirksame Dynamik frei, die dazu führte, dass einzelne Staaten in

innereuropäischer Konkurrenz auf die anderen Kontinente ausgriffen und die

Beherrschung der Weltmeere anstrebten. (...)

• Konfessionalisierung

Drittens wandelte sich in enger Verzahnung mit der politischen Neuorganisation Europas,

speziell der frühmodernen Staatsbildung, die Gestalt des Christentums grundlegend. Der

1 Partikularstaaten - Kleinstaaten

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spätmittelalterliche Aufbruch in Spiritualität, Frömmigkeitsformen und

Sozialkonfigurationen2 der Christenheit verdichtete sich zur Reformation und zur

anschließenden Konfessionalisierung. (...) Durch die großen Reformen des Spät-

mittelalters und der Reformationszeit und vor allem durch die tief in das gesellschaftliche

und staatliche Geschehen hineinwirkende Konfessionalisierung der westlichen

Christenheit, wurden Tatsachen geschaffen die über Jahrhunderte bis in die Gegenwart

hinein einen grundlegenden Gegensatz in den gesellschaftlichen Entwicklungs-

möglichkeiten (...) Europas hervorbrachten. (...)

• Frühmoderne Säkularisation3

Viertens entstanden das frühneuzeitliche Wissen und die frühneuzeitliche Kunst, die sich

zwischen der neuen Autonomie des schöpferischen Individuums und der noch nicht

gesprengten Bindung an allgemein verpflichtende Normen bewegten. Kunst und

Wissenschaft, die eine bereits seit der italienischen Renaissance des 14. und 15.

Jahrhunderts, die andere beschleunigt seit dem 17. Jahrhundert, schlugen den Weg zu

eigenen, autonomen Systemen ein, die der Gesellschaft und dem Staat bei aller

Verflochtenheit und allen Konflikten und Reibungspunkten gegenüberstanden und als

deren Korrektiv gelten konnten. (...) Voraussetzung war der Prozess frühmoderner

Säkularisation, der die Welt für neue Interpretationen freigab, mochten diese auch noch

lange von den ehemals religiösen Impulsen mitgeprägt sein und von deren Dynamik

profitieren.

Der Aufstieg des frühmodernen Wissenschaftssystems ging einher mit der

Professionalisierung der Wissenschaftler, zuerst, und zwar bereits seit dem 13. Jahr-

hundert, der Juristen, dann der Theologen, der Humanisten und Geisteswissenschaftler,

schließlich auch der Naturwissenschaftler. In zeitlicher Verzögerung zu dieser

Professionalisierung erfolgte eine in Konkurrenz vollzogene Ablösung in der

Führungswissenschaft, die erklären wollte, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ –

von der bis ins 17. Jahrhundert führenden Theologie über die Jurisprudenz hin zu den

Naturwissenschaften. All dem entsprach im Bereich der Künste der Aufstieg der

neuzeitlichen Künstlerexistenz, die nicht mehr handwerklich gebunden war, sondern sich

als autonomes Originalgenie begriff und schließlich auch von der Gesellschaft als solches

gesehen wurde.

2 Sozialkonfigurationen – Gesellschaftsordnung bzw. -strukturen 3 Säkularisation – (hier) Entkirchlichung 4 transregionale – regionenüberschreitende 5 Dissenters – Mitglieder einer Religionsgemeinschaft, die sich von der Amtskirche getrennt haben 6 Reich – gemeint ist das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“

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• Mobilität der Gesellschaft

Fünftens entstand ein Typus von Gesellschaft, der einerseits Möglichkeiten der Offenheit

und Veränderung gewährte, andererseits aber im Zentrum von den Kräften des Beharrens

bestimmt blieb. (...) Geographisch mobil war vor allem die Spitze der Gesellschaft:

Könige und Fürsten zogen von Residenz zu Residenz oder gar von Land zu Land und Adel

oder Prälaten taten es ihnen gleich. In der Mittelschicht reisten die jüngeren Handwerker,

aber auch Studenten, Gelehrte und Künstler weit durch Europa. Vor allem aber waren

Unterschichten und Randgruppen unterwegs als Vaganten und fahrendes Volk. In den

neueren Jahrhunderten kamen dann große transregionale4, häufig sogar transkontinentale

Migrationswellen hinzu, ausgelöst von Wirtschafts- oder Versorgungskrisen, vor allem

aber von der Konfessionalisierung seit Mitte des 16. Jahrhunderts, die Zigtausende von

religiösen Dissenters5 aus ihrer Heimat vertrieb und in glaubensverwandten, teilweise

Tausende von Kilometern entfernt liegenden Ländern Exil suchen ließ. (...) Denn trotz des

Buchdruckes fanden bis ins 19. Jahrhundert hinein technische Neuerungen und andere

Erfindungen nahezu ausschließlich durch Migration Verbreitung. Auch die soziale

Mobilität war ein Strukturmerkmal der alteuropäischen Gesellschaft, so erstaunlich sich

das für eine Ständegesellschaft, in der Klerus, Adel und Bürgertum ihre feste Position

hatten und in der die unterständischen Schichten als nicht dazugehörig galten, auch

anhören mag. (...) Im europäischen Vergleich ist für den deutschen Weg in die Neuzeit vor

allem eines bezeichnend: das Schwergewicht des mittelalterlichen Erbes und die daraus

resultierende Langwierigkeit der Anpassung an die politischen, religiösen, sozialen und

selbst ökonomischen Rahmenbedingungen im frühneuzeitlichen Europa. (...) In der (...)

europäisch-komparatistischen Perspektive müssen somit alle Überlegungen zum

spezifischen Charakter und der Bedeutung der frühneuzeitlichen Geschichte Deutschlands

von drei Grundtatsachen ausgehen: Erstens, dass die Deutschen im Unterschied zu den

meisten ihrer Nachbarn bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht in einem Staat, sondern in

einem Reich6 lebten, und zwar in einem Reich, das in Konkurrenz zu einer Vielzahl von

frühmodernen Staaten in den Territorien stand, dass Deutschland somit zweitens politisch

multiterritorial organisiert war, und drittens, dass es multikonfessionell war, das heißt

nicht eine, sondern drei religiös-kulturelle Identitäten entwickelte.

(aus: Heinz Schilling: Den Wandel begreifen. Die frühe Neuzeit (1250-1750) in makrohistorischer Sicht. In: Praxis Geschichte 13 (2000), Heft 1, S. 8-14)

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Material 2: Die Aktualität der (Frühen) Neuzeit

51/2003 1/2003

25/2004 52/2005

Titelbildgalerie „Der Spiegel“. Online verfügbar unter http://service.spiegel.de, zuletzt geprüft am 05.10.2009.

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Material 3 : Die Epoche im Überblick

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Die Einteilung der Geschichte in scharf voneinander abgrenzbare und überschaubare

Epochen gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Geschichtswissenschaft. Wer sich auf

die Erforschung politischer Entwicklungen spezialisiert hat, wird sicherlich andere

Einschnitte (Herrscherwechsel, Kriege, Aufstände oder Revolutionen) betonen als der

Sozial- und Wirtschaftshistoriker (Hungerkatastrophen, konjunkturelle Einbrüche,

Entstehung neuer Klassen oder Schichten). Und doch ist die Gliederung der Geschichte

nicht nur eine künstliche, sondern eine notwendige Maßnahme zur Erkenntnis von

Vorgängen, Handlungen und Prozessen, die grundlegend neue Entwicklungen einleiteten.

Seit der Einteilung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit durch die

Humanisten im 15. Jahrhundert beschäftigen sich die Historiker mit der Frage, wann das

Mittelalter endete bzw. die Neuzeit begann. Unter den Forschern besteht mittlerweile breite

Übereinstimmung darin, dass die neuzeitliche Geschichte um 1500 einsetzte. Im

ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert zeichneten sich tatsächlich viele

Neuerungen ab, die das Leben der Menschen von Grund auf veränderten: Die Erfindung des

Buchdruckes mit beweglichen Lettern um 1450 bewirkte einen Schub der Verschriftlichung,

der nur vergleichbar ist mit der modernen Medienrevolution; die Zahl der Texte und darüber

hinaus das Wissen stiegen sprunghaft an.

Mit dem Durchbruch der Renaissance und des Humanismus im 15./16. Jahrhundert löste

sich allmählich das mittelalterliche Weltbild auf, das von Kirche und Glaube beherrscht

wurde. An ihre Stelle sollten nun Wissenschaft, Kunst und Literatur treten. Das Ideal war

der umfassend gebildete Mensch, der sein Leben selbstbewusst und vernünftig gestaltete.

Zur Erweiterung des geistigen Horizonts trug auch die Eroberung von Kolonialreichen

besonders seit dem 16. Jahrhundert bei. Die Europäer entdeckten neue Kontinente und

Kulturen und öffneten sich so fremden Welten.

Auf wirtschaftlichem Gebiet beschleunigte die Herausbildung frühkapitalistischer

Produktions- und Vertriebsformen, die zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert von einzelnen

Unternehmern, Unternehmerfamilien und Handelsgesellschaften vorangetrieben wurden, die

Auflösung der feudal-ständischen Gesellschaft und der Agrarwirtschaft.

Im Bereich von Kirche und Staat bedeutete die Reformation Martin Luthers zu Beginn des

16. Jahrhunderts einen tief greifenden Umbruch, weil mit ihr die kirchliche und religiöse

Einheit des Mittelalters zerbrach. Die konfessionelle Spaltung Europas seit der Reformation

führte zu erbitterten Glaubenskämpfen, die die Suche nach neuen friedlichen Formen des

Zusammenlebens förderte. Zahlreiche Gelehrte begründeten in ihren Staatstheorien die

Notwendigkeit eines starken und mit allen Herrschaftsrechten ausgestatteten Monarchen, der

das Land einen und damit retten könne.

In der Praxis setzten sich derartige absolutistische Staaten im 17. und 18. Jahrhundert durch.

Das bekannteste Beispiel dafür war die Regierung des Sonnenkönigs, Ludwig XIV. (1638-

1715), in Frankreich. Aber auch in den deutschen Ländern gab es absolutistische

Monarchen, die allerdings wie Friedrich II. von Preußen (1740-1786) Ideen der Aufklärung

übernahmen. Seine Herrschaft war insofern vom Denken der Aufklärung beeinflusst, als er

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sein Handeln nach Prinzipien der Vernunft gestalten wollte, die der rationalen Kritik

standhielten. In Europa beschritt allein England einen anderen Weg der politischen

Organisation: Hier konnte das Parlament seine politische Macht seit dem 17. Jahrhundert

ausbauen und die Herrschaftsgewalt des Monarchen begrenzen.

Die feudal-ständische Gesellschaftsordnung und der absolutistische Staat wurden endgültig

mit der Amerikanischen Revolution, die 1776 zur Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten

führte, und der Französischen Revolution von 1789 beseitigt. Die bürgerliche Gesellschaft

und der demokratische Staat traten seitdem ihren Siegeszug an. Weil diese Ereignisse eine

neue Epoche innerhalb der Neuzeit markieren, werden die Jahrhunderte vorher als „frühe

Neuzeit“ bezeichnet.

aus: Kursbuch Geschichte. Von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin: Cornelsen 2000, S. 73

Aufgaben:

1. Erstellen Sie nach der Lektüre von M 3 eine Definition des Begriffs „Epoche“.

2. Nennen und erläutern Sie wichtige Unterschiede zwischen Mittelalter und Neuzeit.

3. Die Neuzeit wird häufig noch weiter untergegliedert in die „Frühe Neuzeit“ und die

„Epoche des Bürgertums“ bzw. die „Moderne“. Überprüfen Sie, welche Gründe

dafür im Text genannt werden und nennen Sie weitere geschichtliche Ereignisse, die

für eine Unterteilung der Neuzeit sprechen.

Ergebnissicherung: Vom Mittelalter zur Neuzeit (um 1500)

Mittelalter Vergleichsaspekte Neuzeit

Manuell, z. B. handschriftliche Buchherstellung (v. a. in Klöstern)

Technik Mechanisch, z. B. Erfindung des Buchdrucks

mit beweglichen Lettern (Gutenberg, um 1450)

Orientierung an Kirche und Glauben

Ideal: Mensch als „viator

mundi“

Weltbild Orientierung an Wissenschaft, Kunst und

Literatur

Ideal: Mensch als „uomo universale“

Europa, Nordafrika, Teile

Asiens

Kenntnis der Welt Entdeckung und Eroberung neuer Kontinente (z. B.

Amerika, Asien, Australien) Feudalismus,

Agrarwirtschaft Wirtschaft Frühkapitalismus,

beginnende Güterwirtschaft (weitgehende) religiöse und

kirchliche Einheit des Christentums

Kirche/Religion Reformation/ Kirchenspaltung und Konfessionsbildung

Personenverbandsstaat Staat Anbahnung des Absolutismus

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Material 4: Der Fachterminus „Frühe Neuzeit“ – ein Definitionsversuch

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„Die ‚Frühe Neuzeit’ (engl. Early Modern History, franz. Histoire moderne, ital. Storia

moderna) ist die Epoche zwischen dem Ausgang des Mittelalters und der sog.

Sattelzeit um 1800, aus der die europäische Moderne, geprägt vor allem durch die

Industrialisierung, hervorgeht. (...) Unter dem Konfessionellen Zeitalter versteht man

neuerdings die Periode der europäischen Geschichte, in der es infolge der Reformation

zur Spaltung der katholischen Kirche und im Anschluss daran zur Ausbildung von

‚Landeskirchen’ verschiedener Konfessionen kam. Da der Gegensatz zwischen der

alten Kirche und den neuen Bekenntnissen der ‚Lutheraner’ und der ‚Calvinisten’ auch

politische Auswirkungen bis hin zu Konfessionskriegen hatte, endet dieser Abschnitt

mit dem Westfälischen Frieden von 1648 (bzw. dem Pyrenäenfrieden zwischen

Frankreich und Spanien 1659). Die folgende Epoche steht zunächst ganz im Bann der

französischen Hegemonialbestrebungen unter Ludwig XIV. Dessen

Herrschaftsorganisation im Innern (später als ‚Absolutismus’ bezeichnet) war Vorbild

für fast ganz Europa. Im 18. Jh. wandelt sich die Herrschaftsauffassung in ver-

schiedenen Staaten unter dem Einfluss der Ideen der ‚Aufklärung’ hin zum despotisme

éclairé, zum ‚aufgeklärten Absolutismus’. Diese Ideen, verbunden mit weiteren

Herausforderungen auf demographischem, gesellschaftlichem und wirtschaftlichem

Gebiet, führen schließlich zu den Veränderungen des späten 18. Jhs., unter denen die

durch die ‚Französische Revolution’ ab 1789 bewirkten Umbrüche besonders

hervorstechen.“

(Michael Erbe: Frühe Neuzeit. Grundkurs Geschichte. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2007, S. 11)

Aufgaben:

1. Erklären Sie die Begriffe „Konfessionelles Zeitalter“ und „aufgeklärter

Absolutismus“!

2. Recherchieren Sie mit der Hilfe Ihres Geschichtsbuches, welche Aspekte der

„Frühen Neuzeit“ in diesem Textauszug von Michael Erbe nicht angesprochen

werden.

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Material 5: Wissenschaftliche Neugierde und Entdeckungen

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Michael Erbe: Geistige Strömungen und Wissenschaften zwischen Humanismus und Aufklärung

Den Umbruch vom Mittelalter zur „Frühmoderne“ markiert vor allem die im frühen 14.

Jh. von Italien ausgehende Rezeption der klassischen Antike. Initiiert wird diese geistige

Bewegung durch den Florentiner Francesco Petrarca (* 1304, †1374), dem es noch um die

Wiederbelebung der klassischen römischen Literatur aus der späten Republik und der

augusteischen Zeit geht. Nach dem Fall von Konstantinopel kommt es, angeregt durch

nach Italien eingewanderte griechische Gelehrte, zur Rezeption der antiken griechischen

Literatur. (...) Das späte 15. Jh. ist die große Zeit der „Wiedergeburt“ („Renaissance“) der

griechisch-römischen Klassik in den Bildenden Künsten und der Literatur. Man erschließt

sich nach und nach die antike Philosophie (vor allem die Platons und seiner Nachfolger),

ferner die Jurisprudenz sowie die Medizin, die Naturwissenschaften und die Technik des

Altertums. Der „Humanismus“ (studia humanitatis) strahlt um 1500 von Italien nach

West-, Mittel- und Nordeuropa aus und bewirkt eine geistige Revolution. Er ergreift – u. a.

mit Erasmus von Rotterdam (* 1469, †1536) – die Theologie; bald wird die Bibel in der

griechischen Fassung (das Alte Testament später auch im hebräischen Urtext) studiert.

Luthers und Zwinglis „Schriftprinzip“ wären ohne diese Wende kaum denkbar.

Der Humanismus (...) führt zu neuen Überlegungen in den Naturwissenschaften, nicht

zuletzt in der Astronomie und der Physik, was am Ende zur Revision des bisher gültigen

Bildes vom Kosmos und seinem inneren Zusammenhang führt, angefangen von der These

eines heliozentrischen Systems bei Nikolaus Kopernikus (*1473, †1543) über die

Planetengesetze Johannes Keplers (* 1571, †1630), die Entdeckung der Jupitermonde

durch Galileo Galilei (*1562, †1642) und die Fixierung der Gravitationskonstante durch

Isaac Newton (*1643, †1723) bis zur Theorie über die Planetenentstehung von Immanuel

Kant (*1724, †1804) und Pierre Simon de Laplace (*1749, †1827).

(...) Die Revolution in den Naturwissenschaften ist ein besonderes Kennzeichen der

Frühen Neuzeit. Die im Wesentlichen seit etwa 1600 erzielten neuen Erkenntnisse ergeben

sich letztlich aus dem kritischen Überdenken des neu entdeckten antiken Wissens. Sie

beeinflussen aber auch die Weiterentwicklung der antiken Mathematik etwa durch Rene

Descartes (* 1595, †1650), Pierre de Fermat (*1601, †1665), Gottfried Wilhelm Leibniz

(*1646, †1716), Isaac Newton oder Leonhard Euler (* 1707, †1783). Die Trigonometrie

erlaubt die genaue Vermessung von Gebieten, die man kartographisch erfassen will. Sie

verbindet sich mit astronomischen Messmethoden, die erste Erkenntnisse über die

Entfernung von Fixsternen liefern. Zugleich beherrscht man ab dem 18. Jh. die

Vermessung von Längengraden: 1713 ergibt die Strecke zwischen Dünkirchen und

Perpignan die annähernde Größe des Erdumfangs, 1792-1799 die zwischen Dünkirchen

und Barcelona noch genauere Werte, so dass man als neues Längenmaß („Meter“ von

griech.: mitron = Maß) den zehnmillionsten Teil des „Erdquadranten“ festlegen kann.

Schwierigkeiten bereitet noch lange die exakte Längengradbestimmung, die für die

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Navigation auf See erforderlich ist. Sie ist nur mit genau gehenden Uhren möglich, wie sie

erst im späten 18. Jh. in England hergestellt werden können. Astronomische

Beobachtungen mit technisch verbesserten Fernrohren erlauben Ende des 17. Jhs. zum

ersten Mal auch die Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit. Die Natur des Lichts erklären

der Niederländer Christiaan Huyghens (* 1629, †1695) durch seine Wellen- sowie Newton

durch seine Korpuskulartheorie (Lichtverbreitung durch kleinste Teilchen). In der Medizin

sind die anatomischen Studien eines Andreas Vesalius (* 1515, †1564), die Entdeckung

des doppelten Blutkreislaufs durch Miguel Servet sowie nochmals durch William Harwey

(* 1578, †1658) von Bedeutung; sie beeinflussen auch Betrachtungen über einen

möglichen Kreislauf im Wirtschaftsleben, der 1758 in die „physiokratische“ Theorie

François Quesnays (* 1694, †1774), dem Leibarzt König Ludwigs XV., mündet. (...)

Teilweise parallel dazu gibt es grundlegende technische Neuerungen, angefangen vom

Buchdruck mit beweglichen Lettern seit Johannes Gutenberg (* um 1400, †1468), der –

vor allem nach der Einführung kleinerer Buchformate durch Aldo Manuzzio (* um 1450,

†1515) in Venedig – eine massenweise Verbreitung von Druckschriften ermöglicht, über

neue Entwicklungen in der Architektur (Kuppelbauten, Brückenbau, Festungsanlagen) wie

im Schiffbau bis zur Entwicklung der Dampfmaschine seit dem späten 17. Jh. Sie hilft

schließlich durch ihre Anwendung vor allem bei der Textilherstellung, zuerst in England,

die „Industrielle Revolution“ herbeizuführen. Im Zusammenhang damit ist die

Entwicklung der Stahlherstellung in Hochöfen durch den Einsatz von Koks von

Bedeutung. Das Jahr 1783 erlebt zudem mit der Erfindung des Warmluftballons den

Beginn der bemannten menschlichen Luftfahrt.

Mit allen diesen Veränderungen und Neuerungen stellt sich immer dringender die Frage

vom Wesen menschlicher Erkenntnis überhaupt. Von entscheidender Bedeutung ist nach

Descartes die Gewissheit, dass bei allem Zweifel an echter Erkenntnismöglichkeit kein

Weg an der Tatsache vorbeiführt, dass der Mensch „denkt“ (cogito, ergo sum). Darauf

aufbauend kann der Mensch davon ausgehen, dass alles durch Vernunft erklärbar ist. Die

Denkrichtung des „Rationalismus“ ist vor allem für die französische Geistesgeschichte

wichtig. Daneben stellt sich die von England ausgehende Richtung des „Empirismus“,

nach der jedwede Erkenntnis aus Erfahrungen bzw. Experimenten abgeleitet werden muss.

Kant zeigt später die Grenzen beider Richtungen auf, indem er darlegt, dass der

menschliche Verstand selbst bestimmten Grenzen unterworfen ist, z. B. die Dinge nur mit

den „Kategorien“ von Raum und Zeit erfassen kann.

(Michael Erbe: Frühe Neuzeit. Grundkurs Geschichte. Stuttgart: Kohlhammer 2007, S. 31-33)

Aufgaben:

1. Nennen und erläutern Sie wichtige wissenschaftliche Entdeckungen in der Neuzeit!

2. Welche Rolle hatte die Antike in diesem Zusammenhang?

3. Beschreiben Sie, welche gesellschaftlichen Veränderungsprozesse durch die

Wissenschaft ausgelöst wurden.

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Material 6: Die Ursachen der Hexenverfolgungen

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Material 7: Die Entdeckung der „Neuen Welt“

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Friedemann Berger: Den Osten im Westen suchen – die Europäer und die Neue Welt

Auch wenn die europäischen Eroberer, die mit ihrer modernen Waffentechnik, mit Hilfe

neuer Schiffstypen, die die Kommunikation und den Nachschub wesentlich

beschleunigten, und vor allem dank der in Amerika unbekannten Pferde den Eingeborenen

militärisch weit überlegen waren, vorerst nur im karibischen Raum dauerhafte

Kolonialisierungsbemühungen unternahmen, so waren dennoch die Eingriffe in die

indianische Lebensordnung, die selbst von flüchtiger Bekanntschaft mit abendländischem

Denken und abendländischer Kultur ausgelöst wurden, von nachhaltiger,

gesamtkontinentaler Wirkung. Das Bewusstsein, Glieder der alleinseligmachenden

christlichen Kirche zu sein, stattete die Europäer mit einem Überlegenheitsgefühl aus, das

sich besonders bei den spanischen Eroberern in seiner grausamsten Konsequenz zeigte.

Durch den jahrhundertelangen Kampf gegen den Islam im eigenen Land waren ihnen

religiöse Vorwände als Motivation des Tötens derart in Fleisch und Blut eingegangen,

dass Zwangsbekehrung und Massentaufen für die Indios zum einzigen Weg wurden, am

Leben und in ihren angestammten Gebieten zu bleiben. (...) Nicht wenige der ersten

Entdecker waren wie Columbus von einem unbändigen Glauben an eine religiöse Mission

ihrer Fahrten erfüllt. In seinem unerschütterlichen Vertrauen auf biblische Weissagung

war Columbus noch ganz ein Mensch des Mittelalters. Vor allem die Prophezeiungen im

60. Jesaja-Kapitel, die Zions künftige Herrlichkeit verkünden, bestärkten ihn in seiner

Theorie, nach Westindien zu gelangen. Es heißt da: ‚Die Inseln harren auf mich und die

Tarsisschiffe vor allem, dass sie deine Söhne von ferne herbringen samt ihrem Silber und

Gold.’ (Da Tartessos der Name einer uralten Handelsstadt in der Nähe von Cadiz war,

musste es sich bei Tarsisschiffen also um Schiffe von der Iberischen Halbinsel handeln.)

Und bei Jesaja 65,17 las er: ‚Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde

schaffen’, was er genauso als Bestätigung seiner Theorie empfand wie die Stelle im

apokryphen 4. Esra-Buch, wo es heißt, dass Gott während der Schöpfung den Wassern

befahl, sich im siebenten Teil der Erde zu sammeln, während er die anderen sechs Teile

trockenlegte, damit sie von den Menschen bewohnt und bebaut würden. Gerade auf die

biblische Aussage, dass die Erde nur zu einem Siebentel aus Wasser bestehe, gründete

Columbus seine Gewissheit, auf dem Weg von Spanien nach Ostasien nur ein kleines

Meer überwinden zu müssen.

(aus: Friedemann Berger (Hg.): Christoph Columbus. Dokumente seines Lebens und seiner Reisen. Erster Band 1451-1493. Leipzig: Sammlung Dieterich 1991, S. 16f.)

Aufgaben:

1. Welche Auswirkungen hatte das „Bewusstsein, Glieder der allein-seligmachenden

christlichen Kirche zu sein“ auf den Umgang der Europäer mit den Ureinwohner in

Amerika?

2. Beschreiben Sie die Motivation der Entdecker am Beispiel von Columbus!

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Material 8: Europäische Expansion

(entnommen aus: Materialheft für den katholischen Religionsunterricht, Gymnasiale Oberstufe Saar, Kurshalbjahr 12.1, Saarbrücken 2009, S. 14)

b) „Europa trifft Amerika“: Waren, Produkte und Krankheiten, die vor der Entdeckung

Amerikas im jeweiligen Kontinent unbekannt waren

Von Amerika

nach Europa Von Europa nach Amerika

Erdnüsse Honigbiene Apfel Brennnesseln Kartoffeln Hühner Orange Kletten Mais Katzen Pfirsich Löwenzahn Tabak Pferde Zitrone Wegerich Tomaten Rinder Metallkessel Schafe und Ziegen Schusswaffen Masern Syphilis Schweine Wein Pocken

(Zusammengestellt nach: Claudia Schnurmann: Europa trifft Amerika. Atlantische Wirtschaft in der frühen Neuzeit 1492-1783. Frankfurt a. M.: Fischer 1998, S. 119ff. und S. 187ff.)

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c) Andreas Venzke: Einige Anmerkungen zur Kolonisationsgeschichte Amerikas

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Im gesamten Raum der Karibik lebten vor der Ankunft der Europäer etwa 750.000

Menschen, wenigstens ein Drittel davon auf Hispaniola. Der größte Teil der

Bevölkerung zählte zu den Aruak, einem friedlichen Indianervolk, das heutzutage als

ausgerottet gilt. Einen geringen Teil machten die Kariben aus, die auf Grund ihrer

isolierten Siedlungsgebiete und ihrer Bereitschaft zum Widerstand der Vernichtung um

etliche Jahrzehnte entgingen. Der Kannibalismus, den sie praktizierten, lieferte jedoch

bald eine äußerst willkommene Rechtfertigung für das grausame Vorgehen gegen die

Indianer insgesamt. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts diente Hispaniola als

Ausgangspunkt der Kolonialisierung Amerikas; von hier brachen Männer wie Hernán

Cortés, Francisco Pizarro und Vasco Nunez de Balboa zu ihren Entdeckungsfahrten in

der Neuen Welt auf. Jedoch rückte die Insel schon vor der Mitte des 16. Jahrhunderts aus

dem Blickfeld der Kolonisatoren, die sich auf der Jagd nach Gold zuerst nach Kuba und

schließlich nach Mittelamerika wandten. Die Goldvorkommen auf der ausgepowerten

Insel waren bereits um das Jahr 1550 erschöpft; die weitere Zukunft Hispaniolas, wie

nahezu des gesamten karibischen Raums, stand im Zeichen des Zuckerrohrs, zu dessen

Anbau aber Tausende afrikanische Sklaven in die sich entvölkernden Gebiete

Westindiens verschleppt wurden.

Die Vernichtung der ursprünglichen Bevölkerung Hispaniolas drückt sich in

erschreckenden Zahlen aus: Nach einer Zählung im Jahr 1508 lebten auf Hispaniola nur

noch 60.000 Eingeborene; und wenn im Jahr 1548 Oviedo in seiner «Historia general de

las Indias» anführte, dass dort nicht einmal mehr 500 Indianer am Leben seien, dann

belegt diese Angabe, dass die Aruak auf Hispaniola bereits zu jener Zeit fast vollständig

ausgerottet waren. (...)

Von einer eigentlichen «Kolonisation» Amerikas konnte lange Zeit überhaupt nicht die

Rede sein, da die Spanier einzig und allein darauf bedacht waren, die neuentdeckte

Weltgegend auszubeuten. In den von Europa weit entfernten Gebieten brauchte man sich

keine Rücksichten aufzuerlegen, wenn es darum ging, innerhalb kurzer Zeit enormen

Reichtum zusammenzuraffen. Für die Ausrottung der Indianer war, abgesehen von deren

direkter physischer Vernichtung, vor allem das System der «encomienda»

verantwortlich, das symptomatisch für das menschenverachtende Ziel der

Kolonialherren stand, sich mit geringstem finanziellem Einsatz auf dem

schnellstmöglichen Weg zu bereichern: Danach wurden jedem Siedler für eine

bestimmte Zeit des Jahres eine Anzahl Indianer «anvertraut», der über diese seine

Schutzherrschaft ausüben durfte und ihnen christliche Fürsorge angedeihen lassen sollte.

Als Gegenleistung mussten sich die Indianer in den Frondienst des «encomendero»

begeben. (...) Bei der «encomienda» handelte es sich um ein kaschiertes, mörderisches

Zwangssystem, das es den Spaniern im Namen der christlichen Zivilisation erlaubte,

sich der Arbeitskraft der Eingeborenen nahezu kostenlos zu bedienen. Zu Tausenden

starben die Indianer in den Goldminen; sie verhungerten oder entzogen sich der

Zwangsarbeit, indem sie etwa mit Hilfe ihnen bekannter Pflanzengifte den Freitod

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wählten. (Zudem wurde die eingeborene Bevölkerung durch in Amerika unbekannte

Viruserkrankungen wie Grippe, Pocken oder Masern dahingerafft, die aus Europa

eingeschleppt wurden.) (...)

Auf dieser «Kolonisation» ruhte im übrigen von Beginn an der Segen einer christlichen

Kirche, die in Spanien im Verlauf des 15. Jahrhunde weit stärker als in jedem anderen

Teil Europas sittlich verfiel. Auch wenn die Völker, die missioniert werden sollten, in

die Sklaverei geführt wurden, so stand dies nicht im Gegensatz zum christlichen Ideal

der «Nächstenliebe». Denn die von der Kirche im gesamten Mittelalter gutgeheißene

Versklavung von Menschen war von Papst Nikolaus V. im Jahr 1454 in der Bulle

«Romanus Pontifex» sogar sanktioniert worden. Nach der geltenden Moraltheologie war

den «Heiden» ohnehin die ewige Verdammnis gewiss. Darüber hinaus war die auf

Missionierung bedachte christliche Kirche in entschiedener Weise an der Unterdrückung

der eingeborenen Bevölkerung beteiligt. Dabei konnte sich die Kolonisation auf die von

Papst Alexander Vl. im Jahr 1493 vollzogene Einteilung der Erde berufen, die in

rechtlicher Hinsicht eine Übereignung der betreffenden Weltgebiete bedeutete.

Die Methode der Missionierung wird durch die sogenannte

«Konquistadorenproklamation» («requerimiento» ) überaus deutlich, die den Indianern

als Legitimation für ihre Bekehrung und damit einhergehende Unterwerfung vorgetragen

wurde. (...) Den Indianern wurde nämlich im Jenseits ein Paradies versprochen, auf

Erden aber waren sie zu Demut und Gehorsam gegenüber ihren Herren verpflichtet.

(gekürzt aus: Andreas Venzke: Christoph Kolumbus. Mit Selbstzeugnissen und Dokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 32004, S. 101-109)

d) Statistik: Die Bevölkerungsentwicklung in Mittel- und Südamerika

Jahr Weiße Mischlinge* Indianer Afrikaner

1570 138.000 260.000* 9.827.000

1650 729.000 670.000 9.175.000 835.000

1825 4.349.000 6.252.000 8.211.000 4.188.000

*für 1570 inklusive Afrikaner

(zusammengestellt nach: Richard Konetzke: Süd- und Mittelamerika I = Fischer Weltgeschichte Bd. 22: Die Indianerkulturen Altamerikas und die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft, Frankfurt a. M. 182004, S. 102ff.) Arbeitsaufträge:

1. Analysieren und interpretieren Sie die Karte zu den Entdeckungsreisen.

2. Stellen Sie dar, welche Veränderungen die Entdeckungen sukzessive in der Kenntnis der

Europäer über Größe und Gestalt der Erde bewirkten.

3. Stellen Sie anhand der Materialien zusammen, welche Prozesse durch die Entdeckung

der sog. „Neuen Welt“ ausgelöst worden sind.

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4. Andreas Venzke fasst in seiner Biographie von Christoph Kolumbus die

Kolonisationsgeschichte (Süd-)Amerikas kritisch zusammen. Beschreiben Sie anhand des

Auszuges aus dieser Biographie Verlauf und Auswirkungen des Kolonialismus am

Beispiel des Karibik-Raumes (M 8c). Untersuchen Sie dabei auch die Rolle der

katholischen Kirche.

Ergebnissicherung

Der Teufelskreis des „Kolonialismus“

Rolle der Katholischen Kirche:

� Billigung der Versklavung

� von „Heiden“

� Missionierung Südamerikas

� Legitimierung der Kolonial-

reiche durch Verträge

(z. B. Tordesillas 1494)

Gewinnstreben

durch hemmungslose

Ausbeutung der

Rohstoffe

Entwicklung von Monokulturen

z. B. Zuckerrohranbau

Ausrottung der Ureinwohner

Einsatz von Sklaven aus Afrika

Entdeckung und Eroberung neuer

Gebiete

z. B. 1492 Hispaniola (Karibik)

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Unterrichtseinheit II: Die Aufklärung – „Ausgang des Menschen aus

seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“

Aufklärerisches Denken (3 Stunden)

• aufklärerisches Denken in Anthropologie, Wissenschaft, Religion, Politik und Gesellschaft

Leitpunkte und Begriffe: Vernunft, Rationalismus, Natur- und Menschenrechte, religiöse

Toleranz, Volkssouveränität, Verfassungsstaat, Gewaltenteilung, Gesellschaftsvertrag,

Lesegesellschaften, Salons

Datum: 17. / 18. Jahrhundert: Zeitalter der Aufklärung

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Material 9: Was ist Aufklärung?

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„Diese Frage beschäftigte die Aufklärer noch, als der Begriff längst zum Schlagwort

geworden war, vor dem sich alles, was die aufgeklärten Zeitkritiker zur Finsternis zählten,

zu rechtfertigen hatte. Den Anlass zu erneuter Beschäftigung mit diesem Problem lieferte

der Theologe Johann Friedrich Zöllner, als er 1783 in der Berlinischen Monatsschrift,

einem führenden Diskussionsforum der deutschen Aufklärung, schrieb. „Was ist

Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als was ist Wahrheit, sollte doch wohl

beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends

beantwortet gefunden!“ (...) Die beiden berühmtesten Antworten gaben im Jahre 1784 der

Königsberger Philosoph Immanuel Kant und der Berliner Kaufmann Moses Mendelssohn,

Protagonist der jüdischen Aufklärung. [...] Mendelssohn bemerkte:

„Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unsrer Sprache noch nette Ankömmlinge.

Sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe verstehet sie

kaum. Sollte dieses ein Beweis sein, dass auch die Sache bei uns noch neu ist? Ich glaube

nicht.“

Mendelssohn sah in den drei erwähnten Worten „Modifikationen des geselligen Lebens“.

Bildung zerfalle in Kultur und Aufklärung; während Kultur mehr auf das Praktische gehe,

scheine sich Aufklärung mehr auf das Theoretische zu beziehen. (...) Und an diesen schon

für sich genommen die Aufklärung charakterisierenden Satz schließt sich (...) der

Schlüsselsatz aller Aufklärung an: „Ich setze allezeit die Bestimmung des Menschen als

Maß und Ziel aller unserer Bestrebungen und Bemühungen.“ (...) Das Denken der

Aufklärung ging in der Tat vom Menschen aus, war anthropozentrisch (...). Die Diesseitig-

keit des Menschen wird gegen seine religiös verstandene Jenseitigkeit ausgespielt. Und

auch Kants Definition der Aufklärung von 1783 implizierte diesen Zusammenhang, wenn

er seine Reflexionen mit den berühmten Sätzen einleitete:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu

bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am

Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne

Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen

Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (...)

Sapere aude! Dieser Imperativ der Aufklärung gilt für alle Lebensbereiche, gilt für

Religion und Kirche, Staat und Gesellschaft, Philosophie und Wissenschaft, Geschichte

und Gegenwart. Selbstdenken, ein anderes Schlüsselwort der Aufklärung, zielte auf die

ebenso verstandene Mündigkeit des Menschen, und es war im Sinne dieses Grundsatzes

nur konsequent, dass für Kant Freiheit die Voraussetzung der Aufklärung bildete – die

Freiheit nämlich, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu

machen.“ (...) Freie und öffentliche Prüfung durch die selbstdenkende, nicht

außengeleitete oder fremdbestimmte menschliche Vernunft bildeten die Richtschnur, ih-

rem Richtspruch sollten sich weder Traditionen noch Institutionen noch Individuen

entziehen dürfen, Vernunft galt als letzte Instanz für alles Menschliche, ihr Mittel war die

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Kritik.

Wie Vernunft zählte Kritik zu den Schlüsselwörtern der Aufklärung. (...) Tatsächlich hatte

sich das Wort, das zunächst die Kunst sachgemäßen Urteils in Kunst und Wissenschaft

meinte (...), schnell verbreitet und bereits bei Goethe findet sich neben dem positiven

Gebrauch – nämlich durch Kritik das Wahre vom Falschen zu scheiden – der Hinweis auf

eine destruktive Form der Kritik. Aus Kritik wurde nur allzu leicht Krittelei (...)

Der kritische Grundzug blieb (...) über weite Strecken ein Charakteristikum der

Aufklärung, deren Verfechter oft mit einer Vehemenz kritisierten, als gelte es, das Falsche

überhaupt aus der Welt zu schaffen. Kritik allein mag für eine Methode stehen, für ein

Prinzip des Denkens, ist an sich aber formal, sagt über Inhalt nichts aus. Und auch das ist

kennzeichnend: Selten ließen die Aufklärer einen Inhalt unkritisiert stehen. Darin äußerte

sich ihr vorbehaltloser Wille zur Reflexion, zur Prüfung auch des scheinbar

Selbstverständlichen und Feststehenden. An dem heute modischen Begriff des

„Hinterfragens“ hätten sie ihre Freude gehabt. Aber eine solche Verselbstständigung der

Kritik birgt auch die Tendenz zur Auflösung des Inhalts in die Methode und zur

Überzeugung, der Weg sei allemal wichtiger als das Ziel. Daher verwundert es kaum,

wenn der den Höhepunkt deutscher Aufklärung verkörpernde Lessing 1778 zu dem

Schluss gelangte:

„Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeint, sondern

die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den

Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der

Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende

Vollkommenheit besteht."

(...) Die den Menschen erkennbare Wahrheit ist allemal relativ, niemals absolut – so

lautete die Botschaft der Ringparabel aus Lessings und der deutschen Aufklärung reifstem

Werk Nathan der Weise. Und nur konsequent war es, von dieser Position aus, dass die To-

leranz – und das bedeutete zunächst die Toleranz unter den verschiedenen Religionen, den

christlichen und außerchristlichen – zu einem Hauptziel der Aufklärung wurde. Die

Aufklärer begründeten die Forderung nach Toleranz aber keineswegs nur negativ mit der

Begrenztheit menschlichen Erkenntnisvermögens, sondern ebenso als positives menschen-

rechtliches Postulat: „Der wahre Grund der Toleranz ist: dass ein jeder Mensch ein

angeborenes Recht hat, in Glaubenssachen seiner Überzeugung zu folgen.“ (...)

Aufklärung bezeichnete also zunächst keine feststehenden Inhalte, sondern ein

prozessual verstandenes Denkprinzip. (...) Auf die Frage „Leben wir jetzt in einem

aufgeklärten Zeitalter?“ antwortete Kant denn auch folgerichtig: „Nein, aber wohl in

einem Zeitalter der Aufklärung.“ (...) Aufklärung ist nicht, sondern wird. Indem die

Aufklärer sowohl von der Bildungsfähigkeit des Menschen überzeugt waren als auch ihr

eigenes Zeitalter als aufgeklärter beurteilten denn die Zeit ihrer Väter und Vorväter,

gingen sie von der Möglichkeit des Fortschritts in der Geschichte aus. Bei nicht wenigen

verdichtete sich diese Prämisse zur Deutung der Geschichte als Fortschritt.

(aus: Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert.

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 11-16, gekürzt)

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Material 10: Mehr Licht – das Bildprogramm der Aufklärung

Aufgaben:

1. Horst Möller spricht in seiner Darstellung über die Aufklärung die zentrale Leitfrage an:

„Was ist Aufklärung?“. Stellen Sie zusammen, welche Grundsätze und Prinzipien die

Epoche der Aufklärung kennzeichnen!

2. Kommentieren Sie die häufig zitierte Behauptung von Möller, Aufklärung sei nicht,

sondern werde. Welche verschiedenen Deutungen lässt dieser Satz zu?

3. Beschreiben Sie die Radierungen von Daniel Chodowiecki und zeigen Sie, inwiefern in

ihnen Ziele und Ideen der Aufklärung dargestellt werden!

Daniel Chodowiecki: Aufklärung, 1791, Radierung, 5,5 x 9,8 cm, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

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Material 11: Aufklärungsphänomene

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Reinhart Koselleck: Über den Stellenwert der Aufklärung in der

deutschen Geschichte (2005)

»Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer« – Wenn Gott nicht existierte, müsste man ihn

erfinden. Dieser Satz von Voltaire wird gerne zitiert, um die Souveränität des Menschen

zu apostrophieren, die im 18. Jahrhundert freigesetzt worden sei, in dem sich der Mensch

von Religion und Metaphysik emanzipiert habe. Der Mensch verfüge auch über die

Position Gottes und könne sie, nach Bedarf, etwa aus Gründen sozialer Steuerung,

argumentativ besetzen. Der Glaube an Gott ist kein theologisch begründetes Vorgebot

mehr, er ist allenthalben nützlich (...) Wenn Gott nicht mehr Herr dieser Welt ist, der auf

unvorhersehbare Weise in den Alltag eingreift, sondern höchstens eine Denkfigur, dann

tritt der Mensch an seine Stelle. Er wird zum »Erdengott« und fähig, seine Geschichte ver-

nunftgemäß zu steuern. Wer sich früher auf Gott berief und dessen Vorsehung, der konnte

sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf die Geschichte berufen, auf die

Weltgeschichte der Menschen, die, vom Plan zur Wirklichkeit fortschreitend, zunehmend

ihre Freiheit realisieren. Und wer sich auf den Boden dieser geistesgeschichtlichen

Interpretation stellt, wird auch die Folgerung ziehen können, daß das 18. Jahrhundert so

etwas wie eine Epoche der Aufklärung gewesen sei. Eine Epoche, sei es im Sinne eines

Wendepunktes oder einer Schwelle oder sei es im Sinne einer abgeschlossenen Periode,

wonach die Moderne, unsere Geschichte begonnen habe, in der sich der Mensch ohne

Rekurs auf außer- oder übermenschliche Gewalten in dieser seiner Welt einzurichten habe.

(...)

Aufklärung meinte, einmal auf diesen Begriff gebracht, mehr als nur eine historische

Periode selbstbewusst auszuzeichnen. Aufklärung erhebt immer auch einen

systematischen, einen anthropologischen Daueranspruch, gar nicht überholt werden zu

dürfen, überholt werden zu können. Sie beansprucht ein elementares Innovationspotential

per se. Dazu einige sprachliche Hinweise.

Aufklärung war zunächst ein natürlicher Befund, dann eine Metapher, bevor sie zum

Begriff geronnen war. Alltagssprachlich bezog sie sich zunächst auf »Serenitas«, auf die

Heiterkeit jenes Wetterwechsels, der zur Aufklärung oder in die Strahlen der aufgehenden

Sonne hinführt, die Wolken oder die dunkle Nacht vertreibend. Das aktive Verb,

aufzuklären oder reflexiv sinnlich aufzuklären, war im 18. Jahrhundert lange gebräuchlich,

bevor es zum Kollektivsingular einer »Aufklärung überhaupt« verdichtet wurde (...).

Erst durch diesen Überschritt vom handlungsbestimmenden Verb zum Substantiv gewann

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auch »Aufklärung« einen theoriefähigen Status (...) Dieser Überschritt vollzog sich im

Deutschen (später als im Französischen »eclaircissement«) in den 80er Jahren und er

führte zu einer theoretisch neuen, innovativen Schubkraft, die anderen Begriffen nicht

eignete. Das Verstehen führte zum Verstand – einem Zustandsbegriff, das Vernehmen zur

Vernunft, einem Dauerbegriff, das Begreifen zum Begriff, einem festschreibenden,

festhaltenden Ausdruck, der das zu Begreifende eben auf den Begriff bringt. Anders die

»Aufklärung«. Aufklärung ist nicht nur ein neuer Begriff der 80er Jahre des 18.

Jahrhunderts – er ist auch ein innovativer Begriff, der einen Prozess, einen Vorgang

einleitet, der repetitiv auf Wandel, mehr noch auf Verbesserung zielt.

Kant hatte das 1784 exakt registriert, als er die Beobachtung, wir lebten in einem

aufgeklärten Zeitalter, revidierte: Nein wir leben in einem Zeitalter der Aufklärung. Nicht

das Ziel oder das Ergebnis wird damit indiziert – sondern der Weg und der Auftrag. (...)

Aufklärung – als moralisches Vorgebot, sich aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu

befreien – (was erst im 19. Jahrhundert als »Emanzipation« begriffen werden sollte) –

dieses Gebot ist dynamisch, bringt das verbal umschriebene »Aufklären« auf einen

dauernd wiederholbaren, auf einen reflexiven Handlungsbegriff. Der systematisch lesbare

Begriff einer Aufklärung, die keine Autoritäten gelten lässt als die rational und selbst

geleisteten Erkenntnisse, als die selbst kontrollierten Willensbildungen – dieser

anthropologisch begründete Begriff lässt sich nur einfordern und einlösen, wenn er sich

auf eine geschichtliche Veränderung einlässt, die durch eben diese Aufklärung

herbeigeführt werden soll. Aufklärung ist also ein systematischer Begriff, der ohne jenen

geschichtlichen Wandel gar nicht denkbar ist, der durch Aufklärung erst herbeigeführt

werden soll.“

(Reinhart Koselleck: Über den Stellenwert der Aufklärung in der deutschen Geschichte. In: Hans

Joas/Klaus Wiegandt (Hg.): Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 22005, S. 353-366; gekürzt)

Aufgaben:

1. Nennen und erläutern Sie wichtige (geistesgeschichtliche) Veränderungsprozesse

im Zeitalter der Aufklärung!

2. Diskutieren Sie, welche Unterschiede zwischen einer „Epoche der Aufklärung“

und einem „aufgeklärten Zeitalter“ bestehen.

3. Stellen Sie gegenüber, welche Bedeutungen der Begriff „Aufklärung“ nach den

Ausführungen von Reinhart Koselleck hat.

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Material 12: Die Ambivalenzen der „Aufklärungsepoche“

M 12a

Die Aufklärung hat die Neuzeit entscheidend gestaltet. Sie führte in der Staatslehre zur Idee vom

Staatsvertrag, zur Lehre von der Gewaltenteilung und vom Widerstandsrecht, in der Justiz zum

Naturrecht und zum Ende von Folter und Hexenverfolgungen, in der Pädagogik zu modernem

Schul- und Universitätsbetrieb. Der Einfluss der Religion auf Politik und Kultur wurde

zurückgedrängt, und es gibt eigentlich kein Gebiet, auf dem die Aufklärung nicht die Welt

verändert hätte. Der Wandel brachte aber nicht nur Gutes hervor. Der Glaube an die Allmacht

der Vernunft führte zur Selbstüberschätzung. Auch meinte mancher, vernünftig sei vor allem,

was ihm selber nützt. Wir fordern heute auch, dass der Mensch seine Vernunft gebrauchen soll

und kann, begreifen aber immer mehr, dass der rationalen Erkenntnisfähigkeit Grenzen gesetzt

sind, und dass auch andere Komponenten des Menschen zu ihrem Recht kommen müssen, wie

zum Beispiel das Gefühl oder die Lebensqualität, die sich nur schwer rational begründen oder

erklären lassen.

(aus: Heinrich Pleticha (Hg.) (21992): Geschichts-Lexikon. Kompaktwissen für Schüler und

junge Erwachsene. Frankfurt: Cornelsen a. M., S. 34f.)

M 12b

Die Aufklärung ist die Wiege der modernen wissenschaftlichen Weltsicht, sie popularisiert die

Idee einer rationalen Lebensführung und entwickelt die Grundlagen der Demokratie. Zugleich

wurzeln auch Theorie und Praxis des Sozialismus tief in der Aufklärung, wie der Slogan der

Arbeiterbildungsvereine »Wissen ist Macht«, wie die Vorstellung von der Aufklärung über die

eigene soziale Lage als notwendige Voraussetzung für politische Aktivierung, wie die

Verknüpfung der sozialen Emanzipation mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt

beweisen. Der aufklärerische Vernunftoptimismus ist durch zwei Weltkriege, durch Stalinismus

und Faschismus und durch die seit dem Abwurf der ersten Atombombe manifeste Möglichkeit

der Selbstvernichtung der Menschheit, aber auch durch die neuerdings verstärkt auftretenden so-

zialen und ökologischen Rückstoßeffekte des wissenschaftlich-technisch-ökonomischen

Fortschritts nachhaltig erschüttert worden. Von der Ambivalenz bzw. der »Dialektik der

Aufklärung« (T. W. Adorno, M. Horkheimer) oder von »Grenzen der Aufklärung« (P.

Sloterdijk) ist heute wieder häufiger die Rede. Den kritischen Einwänden gegen die Aufklärung

wird man aber durch eine Abkehr von ihrem Grundanliegen nicht gerecht. Es geht vielmehr um

die Wiedergewinnung eines umfassenden, nicht instrumentalistisch oder ökonomistisch

verengten Vernunftbegriffs, wie er der Aufklärung ursprünglich eigen war.

(aus: Johano Strasser (1986): Art. Aufklärung. In: Thomas Meyer/Heinz Timmermann u. a.

(Hg.): Lexikon des Sozialismus. Köln: Bund, S. 69)

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M 12c

Grundgedanke der Aufklärung ist die Autonomie des Menschen, d. h. seine Fähigkeit, sich selbst

Gesetze zu geben und seine eigene Lebenswelt nach den Grundsätzen eigener vernünftiger

Einsicht zu gestalten und zu ordnen. Damit geht die Aufklärung als modernes Denken über die

alteuropäisch-antike Tradition hinaus, in der die Selbsteinordnung des Menschen in die

überkommenen Zusammenhänge von Natur, Herkunft und Überlieferung als Voraussetzung

sinnvoller menschlicher Existenz galt. Im Extremfall konnte und kann das Denken der

Aufklärung in einen übersteigerten Utopismus münden, der im Namen der Zukunft die Ordnung

der Gegenwart radikal entwertet (...). Die damit einhergehende Aufwertung des Menschen findet

ihren Ausdruck im weltanschaulichen Anthropozentrismus und einem weit ausgreifenden

Individualismus.

Gegen diesen umfassenden Anspruch der Aufklärung hat das konservative Denken in allen sei-

nen Formen (wiewohl mit deutlichen Gradunterschieden) opponiert. (...) Gehlen7 konstatierte

nicht zufällig im Jahre 1969: „Die Aufklärung ist, kurz gesagt, die Emanzipation des Geistes von

den Institutionen. Sie löst die Treuepflicht zu außerrationalen Werten auf, hebt die Bindungen

durch Kritik ins Bewusstsein, wo sie zerarbeitet und verdampft werden, und stellt Formeln

bereit, die Angriffspotential, aber keine konstruktive Kraft haben, wie in der Rede vom neuen

Menschen oder von der Unmenschlichkeit der Herrschaft.“

(aus: Hans-Christof Kraus (1996): Art. Aufklärung. In: Caspar von Schrenck-Notzing (Hg.):

Lexikon des Konservatismus. Graz: Leopold Stocker, S. 41f.)

M 12d

Entspringend aus dem Gleichheitsdenken, hängen sie [die Aufklärungsideale] eng mit einem

doktrinär-konstruierenden Zug zusammen. Dieser ungehemmte Doktrinarismus8, Ergebnis einer

oft seichten Überschätzung der vordergründigen Vernunft, raubt der Aufklärung den Blick auf

die Offenbarung und auf das Abgründig-Böse und verleitet sie dazu, die Welt optimistisch und

untragisch zu sehen. In eben diesen Wesenseigenschaften liegen die Gefahren der Entgleisung

und Entartung, denen die Aufklärung großenteils nicht entgangen ist. Zweifellos sind die tiefe

Entsittlichung der Zeit, die Französische Revolution mit ihren weitreichenden Begleit- und

Folgeerscheinungen (Napoleon), der Liberalismus, Positivismus (A. Comte) und Pragmatismus

des 19. und 20. Jahrhundert mit auf ihr Konto zu buchen. Die Beförderung einer (...) Toleranz

und der schließlich erfolgreiche Kampf gegen Hexenwahn, Folter und staatliche Willkür sind

gleichwohl bedeutsame Ergebnisse ihres ehrlichen, freilich im Grunde nur auf verwässerte ältere

christliche Ideale bezogenen Strebens nach Humanität.

(aus: A. Schwarz: Art. Aufklärung. Geistesgeschichte. In: LThK2 (1957), Bd. 1, Sp. 1056-1058)

7 Gehlen, Arnold (1904-1976), deutscher Philosoph und Soziologe, gilt als Vordenker einer konservativen Gesellschaftsordnung und als Kritiker einer unreflektierten Moderne. 8 Doktrinarismus – starres Festhalten an bestimmten Meinungen und Theorien

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Aufgaben:

1. Vergleichen Sie die Lexika-Auszüge zum Begriff „Aufklärung“ und zeigen Sie, welche

Auswirkungen die „Aufklärung“ hatte.

2. Überprüfen Sie, welche Aspekte der Aufklärung der jeweilige Verfasser als positiv bzw.

als negativ herausstellt.

3. Beurteilen Sie, inwiefern der weltanschauliche Standpunkt der Autoren deren

Einschätzung der Aufklärung beeinflusst.

4. Häufig wird von der „Dialektik der Aufklärung“ gesprochen. Erläutern Sie, welche

Bedeutung diese Formel haben könnte.

5. Diskutieren Sie, worin die bleibenden Leistungen der Aufklärung für das 21. Jahrhundert

zu sehen sind.

Mögliche Ergebnissicherung:

Die Auswirkungen des „Projekts Aufklärung“

Perspektive Positive Auswirkungen Negative Auswirkungen Geschichts-wissenschaft

(Pleticha)

� Staatslehre (z. B. Gewaltenteilung, Widerstandsrecht)

� Justiz (z. B. Naturrechtslehre, Beendigung von Folter und Hexenverfolgung)

� Pädagogik (Schul- und Universitätsgründungen)

� Verhältnis Staat-Religion

� Selbstüberschätzung/Egoismus � Glaube an die Allmacht der

Vernunft � Überschätzung der rationalen

Erkenntnisfähigkeit � Vernachlässigung von Gefühl

und Lebensqualität

Sozialismus (Strasser)

� Wissenschaftliche Weltsicht � Rationale Lebensführung � Demokratische

Gesellschaftsordnung � Fortschrittsorientierung

� Verengter Vernunftbegriff � Gefahr der Selbstvernichtung

der Menschheit durch naiven technisch-wissenschaftlichen Optimismus

Konservatis-mus

(Kraus)

� Menschliche Autonomie � Gestaltung der eigenen

Lebenswelt

� Utopismus und Entwertung der Gegenwart

� Anthropozentrismus und Individualismus

Theologie (Schwarz)

� Gleichheitsdenken � Humanitätsstreben � Toleranz � Kampf gegen Hexenwahn,

Folter, Willkür

� Überschätzung der Vernunft � Naiver Optimismus � Entsittlichung der Gesellschaft � „Ersatzreligion“ Rationalismus

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M 13 Naturrecht und Aufklärung

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Zur Erklärung des Spannungsverhältnisses von Staat, Gesellschaft und Individuum

entwickelten Naturrechtslehrer zwei grundlegende Vertragstheorien: den Herrschafts- und

den Gesellschaftsvertrag.

Beide Theorien gehen von der Annahme aus, dass die Menschen im Urzustand

gleichermaßen frei waren, dann aber bei der Gründung eines Gemeinwesens ihre Rechte

ganz oder teilweise einem Herrscher oder der Gesellschaft übertrugen. Dabei lieferte

freilich das pessimistische Menschenbild des Engländers Thomas Hobbes in der Mitte des

17. Jahrhunderts eine klassische Rechtfertigung des Absolutismus. Hobbes verglich den

Menschen in seinem Naturzustand mit einem Wolf; die Anwendung seiner Freiheiten

müsse zwangsläufig zu einem „Krieg aller gegen alle“ führen. Daher sei die Übertragung

aller Rechte an einen Herrscher zum Schutz des Menschen lebensnotwendig, ihre

Rückgabe ausgeschlossen.

Den entscheidenden Schritt von der Naturrechts- zur Menschenrechtslehre vollzog erst die

Philosophie der Aufklärung, die den Menschen aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“

(Immanuel Kant) befreien wollte. Im festen Vertrauen auf die Kraft der menschlichen

Vernunft wollte die Aufklärung die Menschheit aus den Ketten religiöser und staatlicher

Bevormundung lösen. Deshalb setzten John Locke (Two Treatises of Government, 1690:

Zwei Abhandlungen über die Regierung) und Jean Jacques Rousseau (Du contrat social ou

principes du droit politique, 1762: Der gesellschaftliche Vertrag oder die Grundregeln des

allgemeinen Staatsrechts) – um nur zwei maßgebliche Philosophen zu nennen – vor den

Herrschaftsvertrag die freie Vereinbarung der Menschen zu einer Gemeinschaft: den

Gesellschaftsvertrag. Er sollte die fundamentalen Rechte der Menschheit auch dann

bewahren, wenn diese sich einer Herrschaft unterwarf. Mit ihren Gedanken verfochten

Locke und Rousseau die Lehre von der „Volkssouveränität“. Wenn die Staatsmacht

versuchen sollte, gewaltsam über Leben, Freiheit und Vermögen des Volkes zu verfügen,

besitze demnach das Volk das Recht, den Herrschaftsvertrag aufzukündigen.

Da von dieser Möglichkeit angesichts der historischen Realitäten nur im äußersten Notfall

Gebrauch gemacht werden konnte, kreisten die Gedanken von Charles de Montesquieu

hauptsächlich um die Frage, wie die Freiheit am besten zu sichern sei. Die Antwort,

niedergelegt in seinem Hauptwerk De l'esprit des lois (Vom Geist der Gesetze, 1748) fand

er im Prinzip der Gewaltenteilung. Exekutive, Legislative und Judikative sollten

voneinander unabhängigen Staatsorganen übertragen werden, die gegenseitig ein

Gleichgewicht behaupten müssten. Daraus entwickelte sich später das wichtigste

Instrument zur Sicherung bürgerlicher Grundfreiheiten.

Die historische Leistung der Aufklärung bei der Entwicklung der Menschenrechtsidee

lässt sich in fünf Punkte fassen:

• Die Aufklärung legte wesentliche Merkmale für eine Definition von

Menschenrechten fest: Sie sind unveräußerlich, nicht an bestimmte Räume und

Zeiten gebunden und damit auch älter als alle Staaten. Menschenrechte dürfen

nicht wie das positive Recht von einem Gesetzgeber abhängig und in ihrem

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Geltungsbereich eingeschränkt sein. Die mit seinem Wesen untrennbar

verbundenen Rechte können dem Menschen gar nicht abgesprochen werden, selbst

wenn der Einzelne freiwillig darauf verzichten würde.

• Erstmals in der Geistesgeschichte entschied sich die Aufklärung für die Vernunft

als ausschließliches Kriterium zur Bestimmung des Naturrechts. Sie wandte sich

damit gegen die Fremdbestimmung des Menschen durch religiöse und politische

Lehrsätze. Nicht der Wille des Einzelnen oder die „Vernunft“ einer kleinen Elite

sollten gelten, sondern der Wille der Allgemeinheit (gebildeter bzw.

bildungswilliger Bürger). Daher ermunterten Aufklärer immer wieder die

Menschheit, „sich ihres Verstandes zu bedienen“.

• Erstmals in der Geschichte des Abendlandes bejahte die Aufklärung nicht nur

Freiheit und Gleichheit aller Menschen als etwas Ursprüngliches, sondern forderte

Glück und Wohlfahrt als Lebensziel des Menschen auf Erden. Vertröstungen auf

ein besseres Leben nach dem Tode stellten die Aufklärer nicht mehr zufrieden.

• Mit der Dreiheit von Leben, Freiheit und Eigentum bestimmte die Aufklärung

einen Grundstock von fundamentalen Rechten, auf dem die Formulierung und

Differenzierung von Menschenrechten erfolgen konnte.

• Da der Gebrauch von Vernunft persönliche Freiheit, insbesondere

Meinungsfreiheit erfordert, weckte die Aufklärung das Misstrauen gegen jede

übermächtige Staatsgewalt. Mit den Lehren von der Volkssouveränität und der

Gewaltenteilung schuf die Aufklärung die tragenden Säulen zum Schutz

bürgerlicher Grundfreiheiten.

So hatte die Philosophie der Aufklärung den Boden für die ersten

Menschenrechtserklärungen vorbereitet.

Axel Herrmann (2007): Idee der Menschenrechte. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.):

Menschenrechte. Informationen zur politischen Bildung 297, Heft 4, S. 6-9, hier S. 8f.

Arbeitsaufträge:

1. Nennen und erläutern Sie wesentliche Merkmale der Konzeption des sog.

Herrschaftsvertrags, wie sie Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert entwickelt hat.

2. Beschreiben Sie, welchen Beitrag zur Weiterentwicklung der Naturrechtslehre die

Philosophen Locke, Rousseau und Montesquieu geleistet haben.

3. Bestimmen Sie, was man seit der Aufklärung unter dem Begriff „Menschenrechte“

versteht.

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Zusammenfassendes Tafelbild

Aufklärungsphilosophie und Menschenrechte

Theorie vom Herrschaftsvertrag

(z. B. Thomas Hobbes)

Elemente der Theorie: • Lehre vom Ur(Natur)zustand:

Menschen sind „frei“! • pessimistisches Menschenbild:

„Krieg aller gegen alle“! • Schutz der Menschen durch

Übertragung der individuellen (Freiheits-)Rechte an Herrscher

Konsequenz Legitimation des Absolutismus

Theorie vom Gesellschaftsvertrag

(z. B. Locke, Rousseau, Montesquieu)

Elemente der Theorie: • Lehre vom Ur(Natur)zustand:

Menschen sind „frei“! • optimistisches Menschenbild:

Glaube an die Vernunft • Volkssouveränität: freier

Zusammenschluss der Menschen zur Gemeinschaft

Konsequenz Demokratische Gesellschaftsordnung

Menschenrechtskonzeption der Aufklärung

• unveräußerliche, an Raum und Zeit ungebundene, uneingeschränkt gültige Rechte

• Leben, Freiheit, Eigentum sowie Glück und Wohlfahrt als wesentliche Rechte • Schutz der Menschenrechte durch Volkssouveränität und Gewaltenteilung

steht im Gegensatz zu ist die Grundlage von

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Literatur- und Materialhinweise ALT, Peter-André (1996): Aufklärung. Stuttgart: Metzler

BECK, Herbert/Peter C. BOL/Maraike BÜCKLING (Hg.): Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst

der Aufklärung. München: Klinkhardt & Biermann

DÜLMEN, Richard van (Hg.) (1998): Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder

1500-2000. Wien: Böhlau

DÜLMEN, Richard van (21999): Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Band 3: Religion, Magie,

Aufklärung. München: C. H. Beck

DUCHHARDT, Heinz (2003): Europa am Vorabend der Moderne 1650-1800. Stuttgart: Ulmer (Handbuch

der Geschichte Europas 6)

ERBE, Michael (2007): Die frühe Neuzeit. Grundkurs Geschichte. Stuttgart: Kohlhammer

HALE, John R. (1973): Fürsten, Künstler, Humanisten. Renaissance, Anbruch der Neuzeit. Reinbek bei

Hamburg: Rowohlt

KLUETING, Harm (2007): Das Konfessionelle Zeitalter. Europa zwischen Mittelalter und Moderne.

Darmstadt: Primus

MÖLLER, Horst (1986): Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt

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SCHNEIDERS, Werner (Hg.) (2001): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München: C. H.

Beck

STOLLBERG-RILINGER, Barbara (2000): Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart: Reclam

VOGLER, Günter (2003): Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500-1650. Handbuch der Geschichte

Europas, Bd. 5. Stuttgart: Eugen Ulmer

ZUFFI, Stefano (2008): Die Renaissance. Kunst, Architektur, Geschichte, Meisterwerke. Köln: DuMont

Unterrichtsmaterialien

BRÜCKMANN, Asmut (22004): Die europäische Expansion. Kolonialismus und Imperialismus 1492-1918.

Historisch-politische Weltkunde/Kursmaterialien Geschichte Sek. II. München: Klett

PLETICHA, Heinrich (Hg.) (21992): Geschichts-Lexikon. Kompaktwissen für Schüler und junge

Erwachsene. Frankfurt: Cornelsen a. M.

WUNDERER, Hartmann /ECKHARDT, Hans-Wilhelm (2004): Europa bricht auf – Kultur, Staat und

Wirtschaft in der Frühen Neuzeit. Thema Geschichte/Geschichtliche Reihe für die Sek. II. Braunschweig:

Schroedel

Hilfreiche Internetseiten zum Thema

• http://www.ethbib.ethz.ch/exhibit/galilei

• http://www.uni-muenster.de/FNZ-Online/