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Luh Mann

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Foerster
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978-3-476-02368-1 Jahraus/Nassehi/Grizelj/Saake/Kirchmeier/Müller, Luhmann-Handbuch © 2012 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de)
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I. Zur Biographie

1. Niklas Luhmann:Der Werdegang

Niklas Luhmanns Abneigung gegen Biographien istbekannt. Dennoch gibt es mindestens drei Inter-views, in denen er sich zu biographischen Themenbefragen ließ (Luhmann 1987; 1997; 2004). Der Titelder folgenden kurzen Darstellung sowie einige Datenorientieren sich an dem Blatt »Angaben zum wissen-schaftlichen Werdegang«, das Luhmann in seinemBüro für Interessenten bereithielt. Persönliche Erin-nerungen an Luhmann finden sich in dem Band»Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?« Erinnerun-gen an Niklas Luhmann (Bardmann/Baecker 1999).

Niklas Luhmann wird am 8. Dezember 1927 inLüneburg geboren. Der Vater betreibt eine Brauereiund Mälzerei, die Mutter stammt aus einer Hoteliers-familie in Bern, der Großvater ist in Lüneburg Sena-tor. Luhmann hat zwei jüngere Brüder. Von 1937 bis1946 besucht er das Gymnasium Johanneum in Lü-neburg. Ab 1943 wird er als Luftwaffenhelfer ausge-bildet und Ende 1944 zum Kriegsdienst eingezogen.Mit dem Kriegsende gerät er in amerikanische Ge-fangenschaft (zu diesen frühen Jahren vgl. Nitsche2011).

Luhmann studiert von 1946 bis 1949 Rechtswis-senschaften in Freiburg im Breisgau. Nachdem sichsein Wunsch, bei der Lufthansa zu arbeiten, um dortSyndikus für Luftrecht und Völkerrecht zu werden,nicht erfüllt, arbeitet er zunächst als Referendar undAssistent des Präsidenten des Oberverwaltungsge-richts in Lüneburg, beauftragt mit dem Aufbau einerBibliothek nichtveröffentlichter Entscheidungen,und 1956 bis 1962 als Referent im NiedersächsischenKultusministerium. Dort ist er unter anderem fürFragen der Wiedergutmachung des nationalsozialis-tischen Unrechts zuständig, zuletzt als Oberregie-rungsrat.

Während seines Studiums lernt Luhmann Fried-rich Rudolf Hohl kennen, mit dem ihn bis zu dessenTod 1979 eine intensive Freundschaft verbindet.Hohl schreibt Gedichte, die durch Luhmanns Theo-rie angeregt sind (Hohl 2012).

Parallel zu seinem Referendariat arbeitet Luh-mann an einer Dissertation über Beratungsorgane,

an der er jedoch »das Interesse verliert« (Luhmann2004, 25), liest Hölderlin, Descartes, Malinowski,Radcliffe-Brown und Husserl und legt einen erstenZettelkasten an, der dem zweiten vorausgeht, mitdem er bis an sein Lebensende arbeitet.

1960 heiratet Luhmann Ursula von Walter. Mit ihrhat er drei Kinder, Jörg, Clemens und Veronika. 1977stirbt seine Frau. Luhmann zieht mit den Kindernnach Oerlinghausen, wo er bis zu seinem Tod lebt.

1960/61 geht Luhmann mit einem Stipendium deramerikanischen Regierung, das deutsche Verwal-tungsbeamte zur Weiterbildung in die VereinigtenStaaten einlädt, an die School of Government derHarvard University. Er sucht den Kontakt zu TalcottParsons und diskutiert mit ihm seinen Funktionsbe-griff.

Nach seiner Rückkehr arbeitet Luhmann von 1962bis 1965 als Referent am Forschungsinstitut derHochschule für Verwaltungswissenschaften in Spey-er. 1965 wird er von Helmut Schelsky zum Abtei-lungsleiter an der Sozialforschungsstelle der Univer-sität Münster mit Sitz in Dortmund ernannt und1966 wird er in einem annus mirabilis (zwei Qualifi-kationsarbeiten in einem Jahr) von der Rechts- undStaatswissenschaftlichen Fakultät der UniversitätMünster zum Doktor der Sozialwissenschaften pro-moviert und für das Fach Soziologie habilitiert.

1964 erscheint Luhmanns Buch Funktionen undFolgen formaler Organisation, 1968 Zweckbegriff undSystemrationalität: Über die Funktion von Zwecken insozialen Systemen. Beide Bücher tragen dazu bei, dassman ihn in der soziologischen Zunft primär als Ver-waltungs- und Organisationssoziologen rezipiert.

Seine Antrittsvorlesung an der Universität Müns-ter 1967 unter dem Titel »Soziologische Aufklärung«markiert den Anfang eines Forschungsprojekts, andem Luhmann bis zu seinem Tod festhält (SA1–6):die Gesellschaft mit Beobachtungsperspektiven zuversorgen, die inkongruent zu ihrer Selbstbeschrei-bung sind und ihr damit einen anderen Blick auf ihreKomplexität und auf deren Reduktionen ermöglicht.1968 wird er Professor für Soziologie an der neu ge-gründeten Universität Bielefeld, wo er bis zu seinerEmeritierung im Jahr 1993 lehrt und forscht. EtlicheInteressen anderer Universitäten, ihn zu berufen(unter anderem nach Edmonton, Kanada, und an

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das Europäische Hochschulinstitut in Florenz), lehnter bereits im Vorstadium mit dem Argument ab, erkönne es nicht riskieren, seinen Zettelkasten bei ei-nem Unfall mit dem Auto, Schiff, Zug oder Flugzeugzu verlieren.

Pläne, mit Jürgen Habermas um 1970 die Leitungdes Max-Planck-Instituts für die Erforschung der Le-bensbedingungen in der wissenschaftlich-techni-schen Welt in Starnberg zu übernehmen, zerschlagensich rasch wieder.

Im Wintersemester 1968/69 vertritt LuhmannTheodor W. Adornos Lehrstuhl an der Universität inFrankfurt am Main mit einem Seminar über System-theorie und die Soziologie der Liebe. Die Vertretungwar auf Vermittlung Ludwig von Friedeburgs zustan-degekommen. Einen Text, der als Seminarvorlagedient, Liebe: Eine Übung (Luhmann 2008), hat AndréKieserling aus dem Nachlass herausgegeben. Alexan-der Kluge hat die vermutlich persönlich nie stattge-fundene Begegnung Luhmanns mit Adorno indessen Todesjahr fiktional verarbeitet (Kluge 2009,481 ff.). Klaus Lichtblau hat herausgearbeitet, wieähnlich sich Luhmann und Adorno darin sind, aufdie Möglichkeit einer Arbeit am Begriff der Gesell-schaft zu vertrauen (Lichtblau 2012, 183 ff.).

Ein Satz aus einem Aufsatz von 1969 über »Kom-plexität und Demokratie« verhilft Luhmann zu einerBekanntheit über die Fachgrenzen hinaus: »Alleskönnte anders sein – und fast nichts kann ich än-dern.« Die erste Einführung in Luhmanns Denken,geschrieben von dem protestantischen Theologenund Gemeindepfarrer Frithard Scholz (1982),nimmt ihren Ausgangspunkt von diesem Satz.

1971 erscheint das Buch Theorie der Gesellschaftoder Sozialtechnologie: Was leistet die Systemfor-schung? mit Beiträgen von Jürgen Habermas und Ni-klas Luhmann im Suhrkamp Verlag. Die Rollenwaren eindeutig verteilt: »Theorie der Gesellschaft«war Habermas’ Part, »Sozialtechnologie« – wennauch gegen dessen eigene Intention (vgl. GG, 11) –Luhmanns Part. Die Kontroverse macht Luhmannschlagartig bekannt. Ein Interesse der Columbia Uni-versity Press, das Buch ins Englische zu übersetzen,wird von Habermas abschlägig beschieden.

1970 bis 1973 wird Luhmann unter anderem mitRenate Mayntz Mitglied einer Kommission für dieReform des Öffentlichen Dienstes.

Ab 1976 gibt Luhmann mit Jürgen Habermas,Dieter Henrich und Hans Blumenberg bei Suhrkampdie Reihe »Theorie« heraus.

Seit 1974 ist er Mitglied der Rheinisch-Westfäli-schen Akademie der Wissenschaften und 1975/76

übernimmt er die Theodor-Heuss-Professur an derNew School for Social Research in New York.

Ende der 1970er Jahre berät Luhmann die Christ-lich Demokratische Union in Fragen der Zukunft desWohlfahrtsstaats (Luhmann 1981). Als ihm die Auf-traggeber mitteilen, sie müssten den Wählern sagenkönnen, wer die Guten und wer die Bösen sind, ver-liert er das Interesse an weiterer Beratung. Im Augustund September 1980 ist er Gastprofessor am Depart-ment of Sociology der Universität Edmonton in Ka-nada.

1980 erscheint der erste von vier Bänden unterdem Titel Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studienzur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, mitdenen Luhmann seine jahrelange Arbeit unter ande-rem in der Bibliothèque Nationale in Paris (in denSemesterferien) an einer historischen Analyse derVerschiebungen der Semantik der Selbstbeschrei-bung der Gesellschaft im Übergang von der stratifi-zierten Adelsgesellschaft zur modernen Buchdruck-gesellschaft vorlegt (GS1–4 1980–1995).

1980 lernt Luhmann Raffaele De Giorgi kennen,mit dem er an der Universität von Lecce ein Centro diStudi sul Rischio gründet, das vor allem aus einemRaum mit Schreibmaschine in einem Olivenhain be-steht, in dem Luhmann eine Zwischenfassung seinerGesellschaftstheorie »für italienische Universitäts-zwecke« schreibt (Luhmann 1992).

In Wien trifft er 1983 auf Vermittlung von StefanTitscher mit systemischen Organisationsberaternverschiedener Beratungsgesellschaften zusammen.In den folgenden Jahren tauscht Luhmann mit denBeratern Theoriezumutungen und Fallerfahrungenaus.

1984 erhält Luhmann seinen ersten Ehrendoktor(Dr. iur. h.c.) an der Universität Gent, dem Ehren-promotionen an den Universitäten Macerata, Bolo-gna, Recife und Lecce folgen.

Im Wintersemester 1986/87 ist Humberto R. Ma-turana als Gastprofessor an der Universität Bielefeldund bietet zusammen mit Luhmann ein Seminar an.Maturana ist einer der Vordenker, an denen Luh-mann die eigene Theoriearbeit orientiert. Husserlspielt diese Rolle in den 1950er und Parsons in den1960er Jahren, Maturana mit Heinz von Foerster undGotthard Günther in den 1970er und 1980er Jahrenund schließlich George Spencer-Brown in den1990er Jahren (wenn eine so grobe Einteilung erlaubtist).

1984 erscheint der ursprünglich als Einleitungska-pitel in die Theorie der Gesellschaft geplante BandSoziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie,

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dem 1988, 1990 und 1995 einzelne Bände über dieFunktionssysteme folgen: Die Wirtschaft der Gesell-schaft, Die Wissenschaft der Gesellschaft und DieKunst der Gesellschaft. Gekrönt wird Luhmanns Ge-sellschaftstheorie schließlich 1997 in zwei Bändenvon dem Buch Die Gesellschaft der Gesellschaft, mitdem Projektvermerk im Vorwort: »Laufzeit: 30 Jahre;Kosten: keine« (GG, 11).

1986, im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe, er-scheint das Buch Ökologische Kommunikation: Kanndie moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefähr-dungen einstellen?, mit dem Luhmann im Rahmen ei-ner Kurzdarstellung seiner Theorie der Gesellschaftden Versuch macht, die Partei DIE GRÜNEN auf dieTendenz hinzuweisen, dass die moderne Gesellschaftmit sowohl zu viel als auch zu wenig Resonanz aufökologische Gefahren reagiert: Die Massenmedienund die Moral reagieren alarmistisch, die Funktions-systeme abwiegelnd. Das Buch Soziologie des Risikos(1991) ergänzt diese Darstellung durch eine Perspek-tive auf Organisationen, die in Wirtschaft, Politik,Erziehung, Wissenschaft, Recht und Religion mit ris-kanten Entscheidungen überlastet sind.

1988 erhält Luhmann den Hegel-Preis der StadtStuttgart.

Gastprofessuren nimmt Luhmann an der LawSchool der Northwestern University in Chicago(1989), als Jacob Burns Scholar an der CardozoSchool of Law der Yeshiva University in New York(1992), am Commonwealth Center der University ofVirginia (1993) und an weiteren Universitäten wahr.

Zum Gedenken an Husserls Vorlesungen aus demJahr 1935 hält Luhmann die Wiener Rathausvorle-sung 1995 und verknüpft sein frühes Interesse an derPhänomenologie mit seiner späteren Arbeit an einer»Theorie unzuverlässiger Systeme« (Luhmann1996).

Am 6. November 1998 stirbt Luhmann. Er wird inOerlinghausen begraben. Bis 2012 erscheinen zahl-reiche Publikationen aus dem Nachlass und immernoch sind viele Texte unpubliziert. Wichtige post-hume Veröffentlichungen sind beispielsweise Orga-nisation und Entscheidung (2000) sowie, herausgege-ben von André Kieserling, Die Politik der Gesellschaft(2000) und Die Religion der Gesellschaft (2000), undim Jahr 2002, herausgegeben von Dieter Lenzen, DasErziehungssystem der Gesellschaft.

Zum zehnten Jahr des Erscheinens von Die Gesell-schaft der Gesellschaft findet 2007 an der UniversitätLuzern in der Schweiz unter der Gastgeberschaft vonRudolf Stichweh eine internationale Tagung statt, die

sich mit den Nachwirkungen dieser Publikation be-schäftigt (Baecker u. a. 2007).

2005 richtet die Universität Bielefeld mit der Spar-kasse Bielefeld eine Niklas-Luhmann-Gastprofessurein, die bislang Harrison C. White, John W. Meyer,Nils Brunsson, Alois Hahn, Ulrich Oevermann undSaskia Sassen innehatten. 2012 ist die Professur va-kant.

Literatur

Baecker, Dirk: »Niklas Luhmann (1927–1998)«. In: http://projects.isss.org/Main/NiklasLuhmannByDirkBaecker(29.6.2012).

– u. a. (Hg.): Zehn Jahre danach: Niklas Luhmanns »DieGesellschaft der Gesellschaft«. Stuttgart 2007.

Bardmann, Theodor M./Baecker, Dirk (Hg.): »Gibt es ei-gentlich den Berliner Zoo noch?« Erinnerungen an Ni-klas Luhmann. Konstanz 1999.

Hohl, Friedrich Rudolf: Poesie als Passion: Gedichte ausLuhmanns Welt. Hg. von Clemens Luhmann. Paderborn2012.

Kluge, Alexander: Das Labyrinth der zärtlichen Kraft: 166Liebesgeschichten. Frankfurt a. M. 2009.

Lichtblau, Klaus: »Theodor W. Adornos ›Theorie der Ge-sellschaft‹: Ein uneingelöstes Versprechen der Frankfur-ter Schule der Soziologie«. In: Soziologie 41. Jg., 2 (2012),177–199.

Luhmann, Niklas: »Komplexität und Demokratie«. In: Po-litische Vierteljahresschrift 10. Jg. (1969), 314–325.

–: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. München 1981.–: »Biographie, Attitüden, Zettelkasten« [Interview von

Rainer Erd und Andrea Maihofer]. In: Ders.: Archimedesund wir. Hg. von Dirk Baecker/Georg Stanitzek. Berlin1987, 125–166.

–: Teoria della società. Mailand 1992.–: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomeno-

logie. Wien 1996.–: »Biographie im Interview« [Interview von Detlef Hors-

ter]. In: Detlef Horster: Niklas Luhmann. München1997, 25–47.

–: »Es gibt keine Biografie« [Interview von Wolfgang Ha-gen]. In: Wolfgang Hagen (Hg.): Warum haben Sie kei-nen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mitNiklas Luhmann. Berlin 2004, 13–47.

–: Liebe: Eine Übung. Hg. von André Kieserling. Frankfurta. M. 2008.

Nitsche, Lilli: Backsteingiebel und Systemtheorie: NiklasLuhmann – Wissenschaftler aus Lüneburg. Gifkendorf-Vastorf 2011.

Scholz, Frithard: Freiheit als Indifferenz: AlteuropäischeProbleme mit der Systemtheorie Luhmanns. Frankfurta. M. 1982.

Dirk Baecker

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2. Sphinx ohne Geheimnis –Zur Unkenntlichkeits-biographie Niklas Luhmanns

Seit Niklas Luhmanns Tod im Jahr 1998 ist eine Bio-graphie dieses Soziologen ein vielfach bekundetesBedürfnis. Die Frage ist immer: Was und wer stecktehinter seinem immensen Lebens- und Denkwerk?Luhmann hätte – fern von allen Pathosformeln – ge-antwortet: ›Nichts steckt dahinter!‹ und damit viel-leicht gemeint: nichts Nennenswertes, nichts, wo-durch mehr befriedigt werden könnte als ›humaninterest‹, nichts, was sein Werk erklären oder seinVerständnis gar bereichern würde. »[W]enn jemanddas braucht, um zu verstehen, was ich geschriebenhabe, dann habe ich schlecht geschrieben« (Luh-mann 1987, 19).

Das Interesse an dem, der als Autor gilt, konnte ersoziologisch nachvollziehen, kaum aber theoretischbilligen, denn dieses ›Wer?‹ signiert eine Ontologiedes ›Ich‹, des ›Selbst‹, eine Instanz innerer Über-schau, eine interne Supervision und Subjekthaftig-keit, eine Idee also, gegen die Luhmann sich inseinem Werk abweisend verhalten hat, oder besser:gegen die sich das Werk, das Luhmann zugeschriebenwird, idiosynkratisch verhält.

Biographien, auch Autobiographien sind allemal,wie das Wort sagt: Geschriebenheiten, mithin immerstrikt selektiv, für kommunikative Zwecke eingerich-tet, eingebettet in die semantischen und strukturel-len Bedingungen der Zeit, in der sie entstehen, hiereiner Zeit, in der Nachrichten über Individuelles im-mer auf Interesse stoßen, obschon oder gerade weilnichts so sehr fraglich geworden ist wie die Möglich-keit von Individualität unter dividualen Weltbeob-achtungsbedingungen.

Eine Biographie zu verfassen, das ist ersichtlich:eine mögliche unter anders möglichen Biographienzu schreiben. Das Genre des Biographischen ist ebendeshalb nicht selten schwach komplex unterwegs; esist eher legendär, eher anekdotisch, eher romanhaft.Wenn man sich wie Luhmann nicht auf dieses Genreeinlässt, muss man damit rechnen, dass das Anekdo-tische, das Sentenzenhafte, das Skurrile die Führungder dann doch applizierten biographischen Anstren-gungen übernimmt. Und tatsächlich sind zahlreicheAnekdoten über Luhmann im Umlauf.

Das ist aber nicht so ärgerlich wie die Übernahmetradierter Muster, die sich auf die Einschätzung vonMenschen beziehen, die unbeirrbar Plänen nachge-hen, die sozial nicht ohne Weiteres plausibel sind,

von Menschen, die ersichtlich maßlos viel an seltsa-men Dingen arbeiten, ohne dazu gezwungen zu sein.Ich meine jetzt die Tradition, in der von Käuzen, vonSonderlingen, von Besessenen die Rede ist.

Sie wird, wenn es um Luhmann geht, einerseits aufMephistophelisch-Luziferisches umgesetzt (wozuauch sein Name Anlass gegegeben hat, in dem lautSchwanitz die Lohe, das flammenhafte Licht im›Luh‹, spielt); andererseits wird die Sphinx heranzi-tiert: »Als ich aufblickte, sah ich Luhmann mir gegen-über sitzen. Er lächelte wie eine Sphinx, als ob erschon ewig dort gesessen hätte. Nach und nach wur-de auch den anderen Anwesenden bewußt, daß Luh-mann längst da war, obwohl offenbar niemand ihnhatte eintreten sehen« (Schwanitz 1999, 50).

In all diesen Fällen geht es um Mystifizierungen,die Luhmann vermutlich nicht geschätzt hätte. Icherinnere mich eines Gespräches mit ihm, in dem ersagte, dass die Attribution ›Sphinx‹ von ihm nur ineiner Wendung von Oscar Wilde akzeptiert werde:Die Frau sei eine Sphinx ohne Geheimnis. Wenn dasauch für ihn als Mann zutraf, lassen sich tatsächlichüber Luhmann nur Geschichten erzählen, aber keineklassische Biographie, die einen Zusammenhang vonLeben, Werk und Wirkung widerspiegeln könnte.Ihm selbst hätte wohl eine einfache Liste genügt, dieden Vorteil hat, auf Klischees verzichten zu können.

Der Biographieverzicht

Vielleicht sollte ich sagen, dass ich einige Jahre mitNiklas Luhmann zusammengearbeitet habe, zu-nächst als studentische Hilfskraft, dann als Ko-Autordes Buches Reden und Schreiben. Das heißt, wir hat-ten viele Gespräche, in denen das, was ich erwartethabe, nicht geschah: der Aufbau einer Nähe, die fürlängere Bekanntschaften typisch ist. Er erzähltenichts aus seinem Leben und verhinderte damit, dassich aus dem meinen hätte erzählen können. Er be-richtete von Tagungen, Diskussionen, Reisen, aberimmer in Hochkonzentration auf das, was dabei the-matisch verhandelt worden war und (nicht ohne iro-nische Einschläge) von dem, was dabei systematischausgeblendet wurde.

Jenes ›Aufleben‹, das sonst durch Nähe erzeugtwird, stieß ihm zu, wenn es um die Sache, also fastimmer: um Hochabstraktionen ging, die das, wasman bisher zu einem Problem dachte, in ein anderes,ein überraschendes Licht tauchten. Er konnte sich beisolchen Gelegenheiten, wenn ich das so sagen darf,›spitzbübisch‹ freuen. Wenn ich in sein Büro kam

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und mir der obligate Hagebuttentee kredenzt wurde,startete er schon während des Einschenkens mit un-serem jeweiligen Thema. Und: Er wirkte marode,wenn das Gespräch umsetzte auf das, was auch anAlltäglichem zu besprechen war.

Ich dachte damals oft an Robert Musils Mann ohneEigenschaften und erfuhr später zu meinem stillenVergnügen, dass dieser Roman auch zu seinen Lieb-lingslektüren gehörte. Wenn mich nicht alles täuscht,kommt in ihm sinngemäß der Satz vor, das Interessesei die stärkste Macht, durch die Menschen be-herrscht werden könnten. Offenbar fand das Biogra-phische im Blick auf ihn selbst nicht LuhmannsInteresse. Es wäre dagegen sofort angesprungen,wenn man etwa über die Form des Biographischengesprochen hätte, deren Erfolg mit der Umstellungder Gesellschaft von Stratifikation auf funktionaleDifferenzierung koinzidiert, kaum aber, wenn es umDetails seiner Biographie gegangen wäre, die in sei-ner Sprache nur ›kontingent‹, also weder notwendignoch unmöglich sein konnte: ein Arrangement ausden Selbst- und Fremdbeschreibungen, mit denenman im Laufe eines Lebens konfrontiert wird, ein Ar-rangement, das sich so einrichten lässt, dass es sozialAnklang findet.

Anders gesagt: Biographien wie Autobiographiensind rahmendatengestützte Interpretationen, inLuhmanns Diktion: ›Deuteleien‹, die das Bedürfnisnach ›Menschlichkeit‹ befriedigen. Für ihn, so stelleich es mir vor, waren sie Zeitverschwendungen,Nichtnützlichkeitsinformationen, mithin: Verzicht-barkeiten.

Die Pflege der Unkenntlichkeit

Für etliche Leute, die ich kenne und die häufigerenKontakt mit ihm hatten, trat wie für mich auch dieFrage auf, ob der Biographieverzicht dezidierter Ver-zicht war oder ein Beiläufigkeitsphänomen, das beiLuhmanns Arbeitsleistung nicht unter seiner Kon-trolle stand. Mein Eindruck war, dass er, um es para-dox zu formulieren, den Habitus der Unnahbarkeit,jene Unkenntlichkeit pflegte, die – vom Topos her ge-sehen – für Ironiker bezeichnend ist. Man könntevon einer perfekt zelebrierten Distanz sprechen, diedann als ›Vorführung‹ imponierte, wenn Luhmann –ganz selten – Distanzbrüche zuließ.

Das war etwa dann der Fall, wenn er krank warund lange über die Krankheit und ihre Bewandtnisseredete, wie es sonst nur Hypochonder tun. Auch überdie Zeit, als er Flakhelfer und später in Gefangen-

schaft war, hat er mitunter gesprochen. Er mussFurchtbares gesehen und erlebt haben, aber er gabdem, was er erzählte, eine lakonische Wendung: Erhabe bei diesen Ereignissen Kontingenz und sozialeUnordnung kennengelernt. Die Rede bezog sichnicht auf durchschlagende, existentielle Erfahrun-gen.

Seine Erzählungen über diese Zeit waren pathos-frei, die Stimme bebte nicht und: Diese Erzählungenschienen nicht wirklich privat zu sein, sondern warenlehrreich, Beispiele in Vorlesungen und Seminaren,wenn es um die Frage nach der Bedingung der Not-wendigkeit sozialer Ordnung ging. Sie blieben trotzoder gerade wegen ihrer Trockenheit nachdrücklichim Gedächtnis. ›Guter Geist ist trocken‹ – das wareine seiner ihn selbst beschreibenden Sentenzen, einSatz, der zu einem Meister der Lakonie passt wie sei-ne markant spartanische Lebensführung.

Ein Beispiel für diese Lakonie aus einem Brief anmich (16.10.89), in dem Luhmann anfragt, ob ich be-reit sei, am Buch über ›Weltkunst‹ mitzuarbeiten:»Gedacht ist an ein kleines Büchlein, an dem eventu-ell auch ein Künstler mitwirkt – aber wie, weiß ichnoch nicht. Ich hatte einmal kurzen Kontakt mit Fre-derick Bunsen, ganz dichte durch Mißverständnisseerleichterte Kommunikation und denke jetzt an dieseMöglichkeit.«

Denklineaturen

Luhmann verkörperte das Bild des hochkonzentrier-ten, distanzierten, unablässig denkenden Denkers,dem man sich annähern kann, wenn man zufälligeund prägende, lebensgeschichtlich induzierte Ein-flüsse imaginiert, durch die er Kontur und Wiederer-kennbarkeit gewonnen hat. Sieht man von seinerfrühen familiären Sozialisation ab, über die mankaum etwas weiß, wird man an seine Schulzeit auf ei-nem altsprachlichen Gymnasium erinnern müssen,also an den Kontakt mit einer Bildungswelt, in derenZentrum die Antike, der Humanismus standen, da-mit auch Sprachen wie Latein und Griechisch, dieBefasstheit mit Dichtung von Homer bis zu Goethe,mit der Philosophie, deren Leitgestalten Kant undHegel waren – eine Bildungswelt, die im Zusammen-bruch des ›Dritten Reiches‹ unglaubhaft wurde, beiLuhmann aber immer einen paramount seiner Arbeitdarstellte, in einer Melange von Ironie und Wehmutindiziert als die Welt Alteuropas, der er sich verbun-den fühlte, obwohl sich wenige Wissenschaftler soweit von ihr entfernt haben.

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Zu diesem Hintergrund passt, was man Luh-manns ›Sammelwut‹ nennen könnte. Schon 1951 be-gann er, an seinem berühmten ›Zettelkasten‹ zuarbeiten, der am Ende seines Lebens mit ca. 90.000Zetteln und einer die Verlinkungsmöglichkeiten desInternet präludierenden Verweis- und Kompilier-technik eine geradezu optisch monströse Form ange-nommen hatte, wovon man sich in Bielefeld leichtüberzeugen kann.

In ebendieser Zeit setzte er sich intensiv mit Ed-mund Husserl auseinander und gewann ihm ent-scheidende Denkfiguren ab: Sinn, Horizont, Selekti-on. Ein weiteres Schlüsselerlebnis war seine Begeg-nung mit Talcott Parsons an der Harvard Universityim Jahr 1960. Er sah sich mit einer soziologischenSystemtheorie konfrontiert, für die ein ›universalisti-scher‹ Geltungsgrad behauptet wurde. Der Ansatzwar analytisch und – theorieästhetisch gesehen – sehrschematisch. In Gegenbewegung dazu begann Luh-mann, das System als System/Umwelt-Differenz zubestimmen und in einer naturalen Epistemologie da-von auszugehen: Es gibt Systeme.

Das Denken jener Differenz verlangte dann mehrund mehr nach anderen logischen Bordmitteln, dieLuhmann in den 1980er Jahren in George Spencer-Browns Laws of Form fand. Von da an datiert eine ful-minante Um- und Weiterentwicklung der Theorie,bezeichnet durch Begriffe wie ›Referenz‹, ›Beobach-tungsebene erster Ordnung‹ und ›zweiter Ordnung‹.Zuvor adoptierte er von Humberto Maturana denAusdruck ›Autopoiesis‹ für Systeme, die sich selbstdurch sich selbst auf der Basis ihrer jeweils originä-ren, zeitflüchtigen Elemente reproduzieren, einTheoriestück, mit dem sich die Logik Spencer-Browns bruchlos verbinden ließ.

Ein anderes Thema wurde ihm lebensgeschicht-lich ›zugeflaggt‹ durch die Kontroverse mit JürgenHabermas, die 1968, im Jahr der Berufung Luh-manns nach Bielefeld, startete und seine spätereWahrnehmung durch die intellektuelle Öffentlich-keit massiv bestimmte. Die Debatte fand in den, wasGesellschaftskritik angeht, hochhysterisierten Acht-undsechzigern statt. Habermas optierte für Kritik,Luhmann weder gegen sie noch für sie. Er legte denAkzent beharrlich auf Theorie, Nüchternheit, auf diewissenschaftliche Analyse der Bedingung der Mög-lichkeit von Gesellschaft, unaufgeregt, glasklar. Seit-dem gilt er vielen als Konservativer, als Systembestä-tiger, als jemand, der für sich die richtige (rechte)Meinung vertritt: eben eine ›Orthodoxia‹ – ein son-derbares Urteil angesichts des unübersehbaren Um-standes, dass seine Theorie explosive Folgen zeitigte

im Blick auf das, was sich über die Moderne der Ge-sellschaft noch verantwortlich denken lässt.

Liebhabereien

Niklas Luhmann reiste viel in der Welt herum, einJetsetter par excellence. Wenn man ihn fragte, warumer sich das antue, pflegte er zu sagen, es gehe um Dif-ferenzerfahrung. Was dabei mitunter herauskam,waren Äußerungen wie die folgende, die sich in demBrief an mich vom 16. Oktober 1989 ebenfalls findet:»Chicago war in vielen Hinsichten lohnend, vor al-lem wegen einer guten Bibliothek im Bereich descommon law. Das hat den Anstoß gegeben für einweiteres Buch über ›Das Recht der Gesellschaft‹. Imübrigen bin ich immer wieder beeindruckt von derintellektuellen Isolierung Amerikas – mit wenigenAusnahmen wie Derrida, die dann überdurch-schnittliche Effekte erzeugen. Natürlich können dieAmerikaner nicht wissen, daß sie 1992, wie manhofft, Europa entdecken werden.«

Er liebte vor allem die Sonne, arbeitete gern aufder Terrasse und hielt sich regelmäßig in Italien auf,in einem Land, in dem die Rezeption seiner Theorieschon sehr früh beachtliche Ausmaße annahm. Einwichtiger Ort war Lecce in Calabrien, wohin er flüch-tete, als er nach seiner Emeritierung (absurde) Pro-bleme mit der Weiterarbeit seiner Lehrstuhlsekretä-rin bekam – zur Zeit, als er an der Gesellschaft derGesellschaft schrieb. Deswegen ist die Erstausgabedieses Buches italienisch.

Lecce, so hörte ich es von ihm, war vor allem nachder Installation eines ›Luhmann-Institutes‹ an derdortigen Universität der Ort, wo er gern seinen Le-bensabend verbracht hätte. Dazu ist es nicht mehrgekommen.

Literatur

Luhmann, Niklas: Archimedes und wir. Hg. von Dirk Bae-cker/Georg Stanitzek. Berlin 1987.

Schwanitz, Dietrich: »Niklas Luhmann. Artifex mundi«. In:Rudolf Stichweh (Hg.): Niklas Luhmann. Wirkungen ei-nes Theoretikers. Gedenkcolloquium der UniversitätBielefeld am 8. Dezember 1998. Bielefeld 1999, 49–59.

Peter Fuchs

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3. Luhmanns Zettelkastenund seine Publikationen

Geist im Kasten?

Niklas Luhmann war ein in vielerlei Hinsicht heraus-ragender Soziologe des 20. Jahrhunderts. Dies giltauch für seine Produktivität als wissenschaftlicherAutor: Seit Ende der 1960er Jahre erschienen jedesJahr mindestens eine Monographie und mehr alszehn Aufsätze, so dass seine Veröffentlichungslisteschon zu Lebzeiten ca. 500 Publikationen umfasste(vgl. Luhmann 1998). Posthum wurden mittlerweileeine ganze Reihe neuerer Monographien und Aufsät-ze publiziert, und im Nachlass befinden sich weitere,bislang unveröffentlichte Manuskripte insbesondereaus den 1960er und 1970er Jahren, so dass man voninsgesamt über 50 Monographien und 500 Aufsätzenausgehen muss, die in Luhmanns knapp vierzigjäh-riger Theoriewerkstatt entstanden sind. Auf die in ei-nem Interview geäußerte Frage, wie diese beispiello-se Publikationsleistung zu erklären sei, antworteteLuhmann mit dem für ihn charakteristischen Under-statement: »Ich denke ja nicht alles allein, sonderndas geschieht weitgehend im Zettelkasten. […] Mei-ne Produktivität ist im wesentlichen aus dem Zettel-kasten-System zu erklären« (Luhmann 1987, 142).

Auch aufgrund solcher Äußerungen wurde derZettelkasten zunehmend zu einem Mythos, obwohlLuhmann selbst kein Geheimnis um den Gegenstandmachte, sondern Interessierten und sogar den Mas-senmedien den Kasten durchaus vorführte. Zugleichstand er der Verklärung der Zettelsammlung aber inder für ihn typischen Ironie distanziert gegenüber. Sogibt es im Zettelkasten eine kleine Abteilung, in derLuhmann über den Zettelkasten selbst reflektiert;dort findet man unter der Überschrift »Geist im Kas-ten?« folgende Notiz: »Zuschauer kommen. Sie be-kommen alles zu sehen, und nichts als das – wie beimPornofilm. Und entsprechend ist die Enttäuschung«(Zettel 9/8,3).

Diese Enttäuschung resultierte wohl weniger ausdem unscheinbaren Äußeren der Zettelsammlung alsvielmehr aus der Tatsache, dass – trotz der von Luh-mann gerne gebrauchten Formulierung der sich na-hezu selbstschreibenden Texte – der Zettelkasten als»Zweitgedächtnis« (Luhmann 1981, 225) natürlichzwingend auf eine Kooperation (also: Differenz!)zum ›Erstgedächtnis‹ angewiesen war: Der Zettelkas-ten ist Partner in einem Kommunikationsprozess, indem sich die Teilnehmer wechselseitig nicht durch-

schauen (ebd., 222). Die Differenz von Aufzeich-nungssystem und Nutzer kann allerdings erst deshalbproduktiv werden, weil die interne Struktur der Zet-telsammlung ganz verschiedene Kombinationenmehrerer Zettel zu einzelnen Fragestellungen ermög-licht, so dass der Zettelkasten selbst zu einem inno-vationsgenerierenden Mechanismus wird, der zwarimmer der Anfrage durch den Nutzer bedarf, diesenaber selbst dann, wenn er auch der Ersteller der Zettelist, mit seinen Antworten überrascht: »Ohne die Zet-tel, also allein durch Nachdenken, würde ich auf sol-che Ideen nicht kommen. Natürlich ist mein Kopferforderlich, um die Einfälle zu notieren, aber erkann nicht allein dafür verantwortlich gemacht wer-den« (Luhmann 1987, 144).

Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden dieStruktur des Zettelkastens näher beleuchtet und da-mit die Grundlage des Verhältnisses von Zettelkastenund Luhmanns wissenschaftlicher Produktivitätskizziert werden. Dies geschieht auf der Basis einerersten Sichtung der 2011 von der Universität Biele-feld mit Unterstützung der Krupp-Stiftung sowie desStifterverbandes erworbenen Sammlung, die die ei-gentliche wissenschaftliche Erschließung vorbereitethat. Deren Ziel ist es, die Zettel digital zu archivierenund anschließend die Digitalisate in eine internetba-sierte Datenbank zu überführen, die die von Luh-mann angelegte Funktionalität des Zettelkastensreproduziert, um so eine allgemeine Zugänglichkeitdes Zettelkastens für die Forschung sicherzustellen.

Der Zettelkasten

Der Zettelkasten umfasst ca. 90.000 Zettel und be-steht aus zwei weitgehend autonomen Zettelsamm-lungen: (1) eine frühe Sammlung (ca. 1951–1962;sporadische Einträge noch bis ca. 1973), die primärauf verwaltungs- bzw. staatswissenschaftlicher, phi-losophischer, organisationstheoretischer und (weni-ger) soziologischer Lektüre Luhmanns aus der Zeitseiner Tätigkeit als Rechtsreferendar in Lüneburgbzw. Oberregierungsrat im Kultusministerium inNiedersachsen beruht. Die Sammlung besteht aus ca.24.000 Zetteln, einer Bibliographie mit ca. 1800 Ti-teln und einem Schlagwortverzeichnis mit ca. 1250Einträgen, wobei für jedes Schlagwort (nur) auf einbis drei Zettel verwiesen wird; (2) eine spätereSammlung (ca. 1963–1996), die im Zuge der auch in-stitutionellen Hinwendung Luhmanns zur Soziolo-gie entsteht, nun auch durch einen eindeutigsoziologischen Zugriff gekennzeichnet ist und den

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Großteil der luhmannschen Publikationsperiode ab-deckt. Diese Sammlung besteht aus ca. 66.000 Zettelnund enthält neben den Notizen auch einen umfang-reicheren, aber nicht vollständigen bibliographi-schen Apparat mit ca. 16.000 Einträgen, ein ca. 3200Einträge umfassendes Schlagwortverzeichnis sowieein Personenverzeichnis mit ca. 300 Namen. Luh-mann selbst gab keine Auskunft darüber, warum erAnfang der 1960er Jahre eine zweite Sammlung an-legte, die die erste zunächst offensichtlich weitge-hend ersetzen sollte, wie man aufgrund der Tatsache,dass die Nummerierung der Zettel wieder bei 1 be-ginnt, vermuten darf. Beide Sammlungen sind nurlose miteinander gekoppelt, d. h. es gibt – verglichenmit der internen Verweisungsdichte, die erstaunlichhoch ist (s. u.) – relativ wenige Verweise zwischen denbeiden Sammlungen, selbst dann, wenn sie dieselbenBegrifflichkeiten behandeln. (Eine Ausnahme stellendie Notizen zur Weltgesellschaft dar, bei denen esnicht nur systematische Querverweise gibt, sonderndie auch noch bis in die 1970er Jahre hinein in dieerste Sammlung integriert wurden.)

Auf den DIN-A-6-großen Notizzetteln notierteLuhmann primär Lektüreergebnisse, aber auch eige-ne Thesen oder noch zu klärende Fragen. Luhmannerstellte bei der Lektüre von Texten zwar (in der Regelsehr knappe) Exzerpte, die man z. T. auch auf denRückseiten der bibliographischen Angaben der zwei-ten Sammlung findet, nahm aber erst im Anschlussdaran in einem zweiten Arbeitsschritt eine Verzette-lung dieser Exzerpte vor, wobei er sich dann insbe-sondere an den bereits vorliegenden Einträgen indem Zettelkasten orientierte: Entscheidend war fürLuhmann, »was für welche bereits geschriebenenZettel wie auswertbar ist. Ich lese also immer mitBlick auf die Verzettelungsfähigkeit von Büchern«(Luhmann 1987, 150). Das Prinzip des Eintrags inden Zettelkasten selbst orientierte sich nicht an einerletzten Durchdachtheit eines Gedankens, sondern ander Annahme, dass über die Sinnhaftigkeit einer No-tiz erst später, nämlich durch die Relationierung mitanderen Notizen, entschieden werden kann (dieAnalogie zur luhmannschen Konzeption des Kom-munikationsbegriffs drängt sich hier unübersehbarauf). Luhmann bezeichnet in einer entsprechendenNotiz den Zettelkasten als »Klärgrube« (Zettel 9/8a2): »Alle arbiträren Einfälle, alle Zufälle der Lektü-ren können eingebracht werden. Es entscheidet danndie interne Anschlussfähigkeit« (Zettel 9/8i).

Die Struktur der Sammlung

In seinen Äußerungen über den Zettelkasten hatLuhmann (1981, 224 f.) immer wieder auf die beson-dere Struktur der Zettelsammlung abgestellt, die erstdie besondere Produktivität als ›Schreibmaschine‹erklären würde. Der Zettelkasten sei »ein kyberneti-sches System«, eine »Kombination von Unordnungund Ordnung, von Klumpenbildung und unvorher-sehbarer, im ad hoc Zugriff realisierter Kombinati-on« (Zettel 9/8).

Auch wenn Luhmann betont, dass die Zettel-sammlung keine systematische Gliederung und in-haltliche Ordnung aufweise, findet man (natürlich)keine chaotische Ansammlung von Notizen, sonderneine Aggregation einer Vielzahl von Zetteln zu be-stimmten Begriffen und Einzelthemen, die sich auchin der ersten (durch einen Schrägstrich bzw. einKomma von der eigentlichen Nummerierung des je-weiligen Zettels getrennten) Zahl des Notationssys-tems niederschlägt. So weist die zweite Zettelsamm-lung folgende Ordnungsstruktur auf: ›1 Organisati-onstheorie‹, ›2 Funktionalismus‹, ›3 Entscheidungs-theorie‹, ›4 Amt‹, ›5 Formale/informale Ordnung‹,›6 Souveränität/Staat‹, ›7 Einzelbegriffe/Einzelpro-bleme‹, ›8 Wirtschaft‹, ›9 Ad hoc Notizen‹, ›10 Ar-chaische Gesellschaften‹, ›11 Hochkulturen‹. In dengenannten Bereichen schließen sich an die themati-sche Erstentscheidung zunächst weitere thematischeBlöcke mit bis zu vierstelligen Eingangsnummern an,die mit den eingangs genannten Themen zumindestlose gekoppelt sind (z. B. im Bereich ›3 Entschei-dungstheorie‹: ›31 Handlungsbegriff‹, ›32 Entschei-dungsmodelle‹, ›33 Konstruktionstypen für Ent-scheidungsmodelle‹, ›331 Zweckmodelle‹, ›332 Opti-malmodelle‹, ›333 Brauchbarkeitsmodelle‹, ›34 Ent-scheidungsvereinfachung‹ usw.).

Wie die Auflistung der Grobstruktur aber auchschon deutlich macht, handelt es sich bei dieser Ord-nungsstruktur nicht um eine Systematik im strengenSinne (wie etwa bei einer Buchgliederung), die Plat-zierung thematischer Blöcke wie auch der Stellplatzeinzelner Zettel in der Sammlung sind vielmehr ei-nerseits das historische Produkt der Forschungs- undLektüreinteressen Luhmanns und andererseits eineFolge der Schwierigkeit, eine Fragestellung eindeutigeinem und nur einem (Ober-)Thema zuzuordnen.So findet man auf der einen Seite z. B. umfangreichewirtschaftsbezogene Notizen zu Geld und Eigentumnicht nur in der entsprechenden Abteilung zur Wirt-schaft, sondern auch in der Abteilung ›3 Entschei-dungstheorie‹ im Block ›352 Kommunikationstheo-

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rie‹ während auf der anderen Seite z. B. die zumFunktionssystem ›Wirtschaft‹ äquivalenten Notizenzu ›Recht‹ nicht auch in einer eigenen Oberabteilungstehen, sondern in der Abteilung ›3 Entscheidungs-theorie‹ im Block 34 zur Entscheidungsvereinfa-chung unter der Bezeichnung ›3414 Rechtsordnung‹.Im Unterschied dazu sind die Notizen zu ›Wissen-schaft‹ größtenteils im Block ›Wahrheit‹ abgelegtworden, der sich aber wiederum nicht im Ab-schnitt 352 zu den Kommunikationsmedien (für diees im Übrigen unter ›32 Entscheidungsmodelle‹noch eine zweite Systemstelle gibt) befindet, sondernin der Abteilung ›7 Einzelbegriffe/Einzelprobleme‹unter der Nummer 7/25 – zwischen ›7/24 Rausch‹und ›7/26 Energie‹.

Darüber hinaus führt innerhalb der genanntenGroßblöcke ein spezifisches Ordnungsprinzip dazu,dass die thematische Erstentscheidung Luhmannsnicht eine monothematische Reihung der dort zufindenden Zettel zur Folge hat. Vielmehr gibt es eineStrategie der Verzettelung, die diese ursprünglicheOrdnung aufbricht: Findet sich in einer Notiz ein in-teressanter Nebengedanke, so wird dieser (später)weiterverfolgt. Diese zusätzlichen Einträge werdenauf einen an dieser Stelle dann einzuschiebendenZettel notiert (es können auch mehrere Punkte aufeinem zunächst erstellten Zettel sein, die dann zumehreren eingeschobenen Zetteln führen), wie auchdieses Verfahren wiederum auf den eingeschobenenZettel selbst angewandt werden kann, so dass maneine Zettelreihung erhält, die von dem ursprüngli-chen Thema immer weiter wegführt (z. B. findet sichunter ›2 Funktionalismus‹ folgende Reihung: ›Funk-tionsbegriff‹ – ›Bezugseinheit der funktionalen Ana-lyse‹ – ›Begriff der Bestandsvoraussetzung‹ – ›Begriffdes funktionalen Problems‹ – ›Erwartungsbegriff‹ –›Soziale Identität‹ – ›Aufrichtigkeit‹ – ›Geheimnis‹),wodurch sich zwischen zwei ursprünglich einmal di-rekt hintereinanderstehenden, thematisch zusam-mengehörenden Zetteln schließlich mehrere hundertspäter eingeschobene Zettel befinden können.

Die skizzierte Ablagetechnik folgt also nicht pri-mär der Idee einer Sachordnung, sondern der einerfesten Stellordnung, die auch das besondere Notati-onssystem Luhmanns begründet: Jeder Zettel be-kommt eine Nummer (so dass er für Verweiseadressierbar wird) und damit einen festen Standort,der im weiteren Verlauf nicht mehr verändert wird:auf 1 (bzw. 1/1) folgt 2 (bzw. 1/2) usw.; später einge-schobene Zettel werden durch eine entsprechendeNummerierung gekennzeichnet: 1a – der dann zwi-schen den Zettel 1 und 2 eingestellt wird; daran kann

dann wiederum monothematisch 1b angeschlossenwerden oder aber auch eine weitere Verzettelung fol-gen, wobei dieser Zettel dann mit 1a1 bezeichnet undzwischen 1a und 1b eingeschoben wird. Im Extrem-fall erhält man dann Zettel mit bis zu dreizehn-stelligen Zahlen-/Buchstabenkombinationen, z. B.›21/3a1p 5c4fB1a Vertraulichkeit‹ im Rahmen des ur-sprünglichen Themas ›21 Funktionsbegriff‹. Durchdiese Ablagetechnik wird die zunächst vorhandeneOrdnung der Zettelsammlung innerhalb der thema-tischen Blöcke also weitestgehend aufgebrochen.

Die Zettelkastensammlung weist so eine ganz ei-gene Tiefenstruktur auf – Luhmann nennt das eine»innere Verzweigungsfähigkeit« (1981, 224) –, wobeidie Platzierung eines Themas innerhalb dieser Ord-nungsstruktur dann gerade nicht zwingend etwasüber die theoretische Prominenz des Begriffs aussagt,was man z. B. schon daran erkennt, dass die Notizenzum Autopoiesisbegriff unter der Nummer 21/3d26g1i ff. abgelegt sind. Entsprechend findet manumgekehrt Notizen zu einem Thema bzw. Begriff anmehreren Stellen in der Sammlung, z. B. in der zwei-ten Sammlung zu ›Reflexion‹ (in chronologischerReihenfolge) in einem Abschnitt zur funktionalenDifferenzierung, prominent in einem Block zumFunktionalismus, zur Kunst, zur Religion, zum Indi-vidualismus, zur Ideologie, zum Recht, zur Ethik, zuden Massenmedien, zur Evolutionstheorie, wieder-um prominent zur Wahrheit, zur Soziologie, zurÖkologie, zum Wohlfahrtsstaat, zur sozialen Gleich-heit, zur Wirtschaft und zu Reflexionstheorien. Luh-mann rekurrierte in diesem Zusammenhang auf dasPrinzip des »›Multiple Storage‹ als Notwendigkeitder Speicherung von komplexen (komplex auszu-wertenden) Informationen« (Zettel 9/8b2) und be-tonte in einem Interview: »In der Entscheidung, wasich an welcher Stelle in den Zettelkasten hineintue,kann […] viel Belieben herrschen, sofern ich nur dieanderen Möglichkeiten durch Verweisung verknüp-fe« (Luhmann 1987, 143).

Dem Verweisungssystem kommt deshalb eine ent-scheidende Bedeutung bei der Produktivität des Zet-telkastens zu. Insgesamt kann man von ca. 19.000Verweisen in der ersten und ca. 27.000 Verweisen inder zweiten Zettelsammlung ausgehen. Hierbei las-sen sich drei Fälle unterscheiden:

(1) Einzelverweise: Auf einem Zettel findet sich einVerweis auf einen anderen Zettel in der Sammlung,der für das behandelte Thema ebenfalls relevant ist.Neben der durch die oben skizzierte Stellordnung be-reits implizierten Verweisungsstruktur auf räumlichnahestehende Zettel findet man Einzelverweise auf

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andere Zettel, die für das auf dem Ausgangszettel be-handelte Thema bzw. den Begriff von Interesse sind,die sich aber an einer ganz anderen Stelle des Kastensund damit dann häufig auch in einem ganz anderenDiskussionskontext wiederfinden.

(2) Sammelverweise: Über solche Einzelverweisehinausgehend gibt es am Beginn eines thematischenBlocks häufiger einen Zettel, auf dem auf mehrereandere Zettel in der Sammlung verwiesen wird, die ineinem (unterschiedlichen) inhaltlichen Zusammen-hang mit dem in der Folge behandelten Thema bzw.Begriff stehen; auf einem solchen Zettel können biszu 25 Verweise aufgeführt werden. Die Verweise kön-nen sich auf thematisch und räumlich nahestehendeZettel beziehen, aber auch auf weit entfernte Bereicheder Sammlung.

(3) Verweise im Rahmen einer (systematischen)Gliederungsstruktur innerhalb eines Themenblocks:Hier notiert Luhmann am Beginn eines Gedanken-gangs auf einem Zettel mehrere zu behandelndeAspekte und markiert diese mit jeweils einem Groß-buchstaben, der auf eine entsprechend nummerierteZettelfolge verweist, die zumindest in relativer räum-licher Nähe zu dem Gliederungszettel steht. DieseStruktur kommt der einer konventionellen Buchglie-derung am nächsten.

Generell nimmt die skizzierte VerweisungsformLuhmanns die für das Zeitalter des Computers gän-gige Technik der Hyperlinks (des Hypertexts) vor-weg, wobei die analoge Form des Kastens dieseMöglichkeiten technisch allerdings nur ansatzweiseumsetzen konnte, da es statt eines einfachen Maus-klicks immer des weitaus aufwendigeren physischenNachschlagens und Herausnehmens des entspre-chenden Zettels bedurfte. Luhmann selbst nennt dieVerweisungsstruktur ein »spinnenförmiges System«(1987, 143). An diese Metapher anschließend liegt esnahe, die Zettelsammlung als ein ›aristokratischesNetzwerk‹ zu interpretieren, also als ein Netzwerk,dessen Knoten nicht alle eine ähnliche Zahl von Ver-bindungen zu anderen Knoten aufweisen (zu diesemNetzwerkmodell vgl. Watts 2004): Für die Produkti-vität des Zettelkastens ist im Fall von (1) und (2) ins-besondere die Möglichkeit eines short cut vonBedeutung, also die Tatsache, dass ein Verweis in eineganz andere, auf den ersten Blick weit entfernte Re-gion des Netzwerks (Zettelkastens) führt. Diesen, dieerste Ordnungsstruktur der Sammlung unterlaufen-den Sachverhalt hatte auch schon Luhmann notiert:»die Verweisungen dürfen nicht […] die Leitge-sichtspunkte aggregierende[n] Sammelbegriffe er-fassen, sondern müssen das unter ihnen gesammelte

Material selektiv wegziehen« (Zettel 9/8b1) und da-mit eine andere Lesart und Kontextierung der Noti-zen ermöglichen, als bei der Notierung und Einstel-lung in die Ordnungsstruktur selbst impliziert war.Der Verweisfall (2) und zum Teil auch (3) ist darüberhinaus von Interesse, weil es sich bei diesen Zettelnum sogenannte ›hubs‹ handelt, also Zettel, die über-durchschnittlich viele Verbindungen zu anderen Zet-teln aufweisen und deshalb von einem Punkt auseinen großen Bereich der Sammlung erschließen.Konstitutiv für die Sammlung sind also gerade nicht(nur) die ursprünglichen Lese- und Notizwege Luh-manns, sondern die einerseits durch die spezielle Ab-lagetechnik, andererseits durch die Verweistechnikhergestellten (selektiven) Relationen zwischen denNotizen, die im Rahmen einer späteren Abfragemehr auf einmal verfügbar machen, als bei der ur-sprünglichen Notation intendiert war, wie Luhmannauch selbst (1981, 227) notiert hat; insofern kannman der Sammlung aufgrund ihrer Verweisungs-struktur eine eigene ›Kreativität‹ unterstellen.

Das Verhältnis von Zettelkastenund Publikationen

Wie hat man sich nun vor diesem Hintergrund denZusammenhang von Zettelkasten und Publikationenzu denken? Luhmann selbst beschreibt die Entste-hung seiner Texte mittels des Rückgriffs auf den Zet-telkasten am Beispiel des Vortrags »Wie kann diemoderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefähr-dungen einstellen?« (1985) als eine Art Collagetech-nik, bei der er die für ein Thema relevantenThemenblöcke miteinander kombiniert (1987, 144).Zur Erstellung dieses Textes – so Luhmann – bedürfees (nur) der Kombination der Einträge zu den Begrif-fen ›funktionale Differenzierung‹, ›selbstreferentielleSysteme‹ und ›Binarität‹ (wobei die Frage unbeant-wortet bleibt, ob bereits diese Idee der Relationierungspezifischer Begriffe ein Produkt der Wechselwir-kung von Zettelkasten und Autor ist). Ein Vergleichder entsprechenden, teilweise recht umfangreichenTextblöcke des Zettelkastens mit dem fraglichen Auf-satz zeigt allerdings relativ schnell, dass sich die Kom-plexität, die der Zettelkasten zu den genanntenBegriffen aufbaut, in dem 14-seitigen Vortrag (logi-scherweise) nicht ansatzweise wiederfindet. Dieserbeschränkt sich fast ausschließlich auf eher kurze Be-merkungen zu funktionaler Differenzierung, wobeisich in der entsprechenden Abteilung selbst dannmehrere Zettel befinden, die ganz offensichtlich erst

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im Rahmen der Vortragsvorbereitung erstellt wor-den sind (und auch der o. g. Selbstreflexionsblocküber den Zettelkasten dürfte wohl im Zuge der Er-stellung des Aufsatzes über den Zettelkasten von1981 entstanden sein). Diese Wechselwirkung vonPublikationen und Zettelkasten legen den Schlussnahe, dass nicht der Zettelkasten allein schon das ky-bernetische System ist, sondern erst die Differenz vonZettelkasten und Publikationen, da der Zettelkastenzumindest seit Mitte der 1960er Jahre kein reines Ar-chiv ist, sondern zunehmend ein Arbeitsinstrument,das im Zuge von Publikationsvorhaben nicht nur be-fragt, sondern gleichzeitig auch (wieder) befülltwird. Dabei dokumentiert der Zettelkasten Gedan-ken- und Theorieentwicklungen, die im Zuge vonPublikationen entstehen – weshalb auch Zettel mitGedanken, die Luhmann später revidierte, von ihmnicht aus dem Kasten entfernt, sondern durch einenentsprechenden (korrigierenden) Zettel ergänztwurden.

So kann man für eine Vielzahl von Publikationenab Mitte der 1960er Jahre entsprechende Eintrags-blöcke im Zettelkasten identifizieren, die man deneinschlägigen Publikationen zuordnen kann, ohnedass die Veröffentlichungen dann einfache Kopiendieser Abteilungen sind, da die entsprechenden No-tizen nicht linear erstellt wurden sowie die Verwei-sungsstruktur die Anfrage immer über die jeweiligenAbschnitte hinausführt und die Zettel in einen vonihrer Erstellung differierenden Kontext platzieren:»Der Zettelkasten gibt aus gegebenen Anlässen kom-binatorische Möglichkeiten her, die so nie geplant,nie vorgedacht, nie konzipiert worden waren« (Luh-mann 1981, 226). Der Zettelkasten war also nicht nurein Überraschungen generierendes Ablagesystem,sondern auch ein Denkwerkzeug Luhmanns. Eineentsprechende Notiz findet man wiederum in derSelbstreflexion: »Ohne zu schreiben, kann man nichtdenken – jedenfalls nicht in anspruchsvollem selek-tivem Zugriff aufs Gedächtnis« (Zettel 9/8g). DieseDisziplinierung des Denkens durch Verschriftli-chung gilt bereits für die frühen Einträge aus den1960er Jahren, die aber noch deutlicher die Spureneiner Erarbeitung eines Sachstands und eine geringe-re Autonomie der Notizen vom Gelesenen aufweisenals die späteren Einträge, die eindeutiger problemori-entiert sind – und dabei auch deutlich stärker auf denZettelkasten und seine bereits vorliegenden Einträgehin orientiert, also anschlussbezogen sind.

Um auf das Beispiel der ›Ökologischen Kommu-

nikation‹ zurückzukommen: Eine Relationierungder genannten Themenbereiche (und weiterer wieetwa ›Resonanz‹, ›Beobachtung‹, ›Evolution‹) findetdann erst in der auf dem Vortrag aufbauenden Buch-publikation Ökologische Kommunikation. Kann diemoderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdun-gen einstellen? (1986) statt, die drei Monate nach demVortrag fertiggestellt wurde. Deutlich wird dabei,dass die Frage, welche Themenbereiche letztlich rela-tioniert werden, neben der Präferenz Luhmanns fürdas Inbeziehungsetzen von Heterogenem insbeson-dere auch Ausfluss der durch die Verweisungsstruk-tur generierten Binnenkomplexität des Zettelkastensist. Allerdings reduziert selbst das Buch die im Zet-telkasten zu den genannten Themen vorhandeneKomplexität wieder um ein Erhebliches, was u. a. ander Begrenztheit des Platzes und der notwendigen Li-nearität der Darstellung liegt. Positiv formuliert,könnte man auch sagen, dass erst die Publikations-form die im Zettelkasten vorhandene Komplexitätverfügbar macht, indem sie sie vermindert. Denn denvorhandenen Verweisungen kann letztlich wiederumnur selektiv nachgegangen werden, während der Zet-telkasten selbst dafür gerade keine Stoppregel liefert– ganz im Gegenteil: Folgt man im Detail der im Kas-ten angelegten Verweisungsstruktur, so eröffnen sichständig neue Themenpfade, über deren Nachverfol-gen bzw. Ignorieren letztlich nur eine konkrete Fra-gestellung und deren zeitlich befristete Beantwor-tung im Rahmen eines Publikationsprojekts zuentscheiden erlaubt, da man sich ansonsten in denTiefen der Zettelsammlung zu verlieren droht.

Literatur

Luhmann, Niklas: »Kommunikation mit Zettelkästen. EinErfahrungsbericht«. In: Horst Baier/Hans MatthiasKepplinger/Kurt Reumann (Hg.): Öffentliche Meinungund sozialer Wandel. Für Elisabeth Noelle-Neumann.Wiesbaden 1981, 222–228.

–: »Wie kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologischeGefährdungen einstellen?« Vorträge G 278 der Rhei-nisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Op-laden 1985.

–: Archimedes und wir. Interviews. Herausgegeben vonDirk Baecker und Georg Stanitzek. Berlin 1987.

–: »Schriftenverzeichnis«. In: Soziale Systeme 4. Jg. (1998),233–263.

Watts, Duncan: »The ›New‹ Science of Networks«. In: An-nual Review of Sociology 30. Jg. (2004), 243–270.

Johannes F. K. Schmidt

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II. Grundlagen

1. Luhmann und Husserl

Edmund Husserls (1859–1938) Programm Zu denSachen selbst bezeichnet den erkenntniskritischenVersuch, alles Seiende nach seiner ursprünglichenGegebenheitsweise hin zu befragen: als Phänomen.Dieser Ausgangspunkt gibt Husserls Verfahren sei-nen Namen. Die Phänomenologie hat davon auszu-gehen, dass die unterstellte wirkliche Welt »keinphänomenologisches Datum ist« (Husserl 1980,369), mithin also nur nach den Dingen in der subjek-tiven Erfahrung und ihren Möglichkeits- und Kon-stitutionsbedingungen zu fragen ist. »Was die Dingesind, […] sind sie als Dinge der Erfahrung«, wobeidie Dinghaftigkeit der Dinge, d. h. ihre Bewusstseins-transzendenz, nirgendwoher zu schöpfen sei, »es seidenn aus dem eigenen Wesensgehalte der Wahrneh-mung, bzw. der bestimmt gearteten Zusammenhän-ge, die wir ausweisende Erfahrung nennen« (Husserl1950, 111). Es geht Husserl also um die Selbstausle-gung des Ego als Subjekt jeder möglichen Erkenntnis.»Dieser Idealismus ist nicht ein Gebilde spielerischerArgumentationen, im dialektischen Streit mit ›Rea-lismen‹ als Siegespreis zu gewinnen. Es ist die an je-dem mir, dem Ego, je erdenklichen Typus vonSeiendem in wirklicher Arbeit durchgeführte Sinn-auslegung […]. Dasselbe aber sagt: systematischeEnthüllung der konstituierenden Intentionalitätselbst« (Husserl 1977, 88 f.).

Operativität

Entscheidend für die luhmannsche Systemtheorie ist,dass Husserl jene Intentionalität als ein operativesPhänomen beschreibt, mithin also gegenwartsba-siert. Ich möchte behaupten, dass diese operativeTheorieanlage Husserls für Luhmann stilbildend ge-wesen ist – womöglich stilbildender als der vielleichtungewöhnlichere und deshalb auffälligere Rekurs aufdie biologische Autopoiesistheorie. Die operativeTheorieanlage spielt für Luhmann v. a. im Hinblickauf die Temporalisierung seiner Systemtheorie nachder sog. ›autopoietischen Wende‹ eine Rolle. Aberbereits vorher hat Luhmann an das konstitutions-

theoretische Motiv der selbstreferentiellen Erzeu-gung von Sinn angeschlossen. In dem programmati-schen Aufsatz »Sinn als Grundbegriff der Soziologie«aus dem Debattenband mit Jürgen Habermasschreibt Luhmann: Am Rückgriff auf die Phänome-nologie, »die manchen eher eine Krankheit zu seinscheint als eine Methode«, befremde »just der ent-scheidende Punkt: die Unklarheit des Verhältnissesvon Sinn und System. Dieses Verhältnis bezeichnenwir als Konstitution […]. Gemeint ist der in näherenAnalysen aufzuhellende Befund: daß Sinn immer inabgrenzbaren Zusammenhängen auftritt und daß erzugleich über den Zusammenhang, dem er angehört,hinausverweist: andere Möglichkeiten vorstellbarmacht. Eine rein kontextuelle Sinntheorie wird die-sem Problem nicht gerecht, eher schon Husserls The-se von der bewußtseinsimmanenten Transzendenz«(TGS, 30).

Luhmann nimmt also hier die konstitutionstheo-retische Figur der Phänomenologie auf, um Sinn als»Ordnungsform menschlichen Erlebens« (TGS, 31),nicht als spezielle Seinsregion zu fassen, macht aberan anderer Stelle kritisch auf das bei Husserl unge-klärte Verhältnis von Weltbegriff und Horizontbe-griff aufmerksam (TGS, 301, Anm. 15). Er spieltdamit letztlich auf das gescheiterte Vorhaben vonHusserl an, Welt und Horizont in »monadologischerIntersubjektivität« (Husserl 1977, 91) zu versöhnen.Husserls halbherziger Versuch, das Intersubjektivi-tätsproblem phänomenologisch lösen zu wollen undam Ende doch nur so etwas wie Kopräsenz ausma-chen zu können (vgl. Nassehi 2008, 86 ff.), verweistauf das, was für Luhmann an Husserl zugleich attrak-tiv und nicht anschlussfähig war. Attraktiv für dieSystemtheorie ist der husserlsche Aufweis der Sinn-form als einer Verweisungsform, die in selbstreferen-tiellen, noetisch-intentionalen Akten systemrelativerfolgt und in ihrer geschlossenen OperationsweiseOffenheit ermöglicht.

Nicht anschlussfähig war für Luhmann dagegenHusserls Versuch, die operative Theorieanlage danndoch zugunsten traditioneller Lösungen des Welt-problems fahren zu lassen. Erst die Systemtheorieweiß mit Kopräsenz umzugehen – eben weil sie mitder konstituierenden Differenz von System und Um-welt auch den Weltbegriff systemrelativ ansetzen