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Luisa Banki Post-Katastrophische Poetik

Luisa Banki Post-Katastrophische Poetik - Wilhelm Fink Verlag · Zu W. G. Sebald und Walter Benjamin Wilhelm Fink ... der Melancholie gründet, die die Unmöglichkeit, das verlorene

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Luisa Banki

Post-Katastrophische Poetik

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Luisa Banki

Post-Katastrophische PoetikZu W. G. Sebald und Walter Benjamin

Wilhelm Fink

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaftund der Fonte-Stiftung.

Umschlagabbildung:The ‚pagodas‘ at Orford Ness in 2004. Photo by en:User:spliced (CC BY-SA 3.0).

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© 2016 Wilhelm Fink, Paderborn(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-6072-1

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E. Pollak, z’’l–

M. Banki in Gedenken und Liebe gewidmet

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Inhalt

EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Sebald und Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

I. LESBARKEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

I.1 Korpora der Lektüre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I.2 Melancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 I.3 Paranoia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

II. ERZäHLBARKEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

II.1 Post-Katastrophisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 II.2 Neues Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 II.3 Polybiografik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

III. SCHREIBBARKEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

III.1 Ikonotextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 III.2 Ur-Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 III.3 Restitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

SCHLUSS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

SIGLENVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

ABBILDUNGSVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

DANK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

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Einleitung

Thesen

„Die Idee der Katastrophe“, schreibt W. G. Sebald in einem Essay über Peter Weiss, „eröffnet freilich keine eschatologische Perspektive; sie ist vielmehr die Designation einer in den Zustand der Permanenz übergegangenen Zerstörung.“1 Die Katastro-phe, so lässt sich paraphrasieren, bezeichnet nicht etwa den kürzer oder länger an-dauernden Moment einer Unterbrechung der Normalität oder Stabilität, sondern die Unmöglichkeit jeglicher Rückkehr: Sie ist der Name für das Übergegangen-Sein der Zerstörung in die Definition der Dauer selbst. Katastrophe bezeichnet also so-wohl einen geschichtlichen als auch einen ontologischen Befund: Sie bezieht sich auf Weisen des Seins und darin notwendig auch auf Weisen des Geworden-Seins. Diese begriffliche Fassung der Katastrophe als einer geschichtlich bedingten ontologischen Zustandsbeschreibung schließt direkt an Walter Benjamins Bestimmung der Katast-rophe als Kontinuität an: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene.“2 Wenn Sebald diesen Gedanken Ben-jamins in seinen Essay aufnimmt, liegt darin mehr als eine intertextuelle Anspielung; vielmehr gründet in dieser Übernahme des Begriffs der Katastrophe als einer ontolo-gischen und geschichtlichen Bestimmung – einer Gegenwärtigkeit und einer Gege-benheit – die herausragende Stellung, die Benjamins Philosophie allgemeiner in Se-balds Denken und Schreiben einnimmt. Die Grundthese der folgenden Überlegungen lautet entsprechend, dass sich anhand einer Betrachtung der „Idee der Katastrophe“ in Benjamins und Sebalds Denken nicht nur deren Verhältnis genauer fassen und erklären, sondern anhand der Analyse und Interpretation ihrer literarischen Darstel-lung bei Sebald auch neues Licht auf dessen Schreiben werfen lässt.

Eine erste offensichtliche Schwierigkeit, die in der Formulierung dieser These be-gegnet, liegt darin, dass sich Sebalds Werke mitnichten auf die literarische Ausgestal-tung des Katastrophischen als eines ontologischen Theorems beschränken. Vielmehr sind sie der Darstellung fast zahlloser konkreter, empirischer, historisch datierbarer, man könnte sagen: ontischer Katastrophen gewidmet. Es begegnet also in der Be-trachtung der Katastrophe bei Sebald immer schon eine Doppelung, die den von

1 W. G. Sebald: „Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung und Grausamkeit im Werk von Peter Weiss“, CS, S. 128-148, hier S. 130 (veröffentlicht in Orbis litterarum 41:3 [1986], S. 265-278).

2 PW 592 (N 9 a, 1). Benjamin formuliert den gleichen Gedanken auch in „Zentralpark“, GS I.2, S. 655-690, hier S. 683.

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Benjamin übernommenen ontologischen Katastrophen-Begriff um den Bezug auf je singuläre, konkrete Katastrophen verdoppelt. Mit einer heuristischen Metapher ließe sich sagen: Der Idee der Katastrophe Benjamins werden hier gleichsam und in einer philosophisch vielleicht fragwürdigen, aber literarisch und poetologisch produktiven Weise unzählige Verwirklichungen der Katastrophe gegenübergestellt. Es ist diese Doppelung, der in der Analyse der sebaldschen Schriften Rechnung getragen werden muss und die zu fassen der hier vorgeschlagene Entwurf einer post-katastrophischen Poetik helfen soll.3 Post-katastrophisch ist diese Poetik, weil sie sowohl in einem Pa-radigma der Katastrophe – ihrer Kontinuität oder Permanenz – verortet ist als auch nach der (verschiedentlich datierbaren) Katastrophe, die die Wirksamkeit ebendieses Paradigmas offenbar und in seiner Gültigkeit für die Gegenwart erkennbar macht. Für Sebald ist diese Katastrophe der Zweite Weltkrieg und die Shoah;4 für Benjamin ist es der Erste Weltkrieg, mit dem „ein Vorgang offenkundig zu werden [begann], der seither nicht zum Stillstand gekommen ist.“5 Als Kind der Nachkriegszeit6 ist der sebaldsche Erzähler ein in Hinblick auf diese Katastrophe zu spät Gekommener, so wie er sich überhaupt in der Konfrontation mit Katastrophischem beständig wie ein „nachgeborene[r] Fremde[r]“ fühlt,7 der sich ihm allein anhand der Betrachtung sei-ner Spuren, der Gegenwärtigkeit des Vergangenen, annähern kann. Weil diese spu-renhafte Gegenwärtigkeit des Vergangenen aber keine gesicherte Bindung an die Vergangenheit ermöglicht, kann ihm auch keine Verortung in der Gegenwart gelin-gen. Dies ist die grundlegende Problematik, auf die seine Handlungen und Vorstel-lungen reagieren und die seinen Erzählungen unterliegt. In diesem Sinne bemerkt Eric Santner:

The first thing to note is that for writers who take the situation of postmemory seri-ously – and Sebald is in many ways exemplary here – being ‚in the midst‘ of history means, in a large measure, being in the midst of the labor of reconstructing history, a

3 Mit dem Vorhaben, eine Sebalds Schreiben unterliegende Poetik zu entwerfen, versuche ich auch, auf ein Desiderat der Sebald-Forschung zu antworten, das zuletzt von Lynn Wolff beschrieben wurde: „Despite the abundant secondary literature on Sebald, there are signficant gaps with re-gard to the specificity of his poetics.“ (Lynn L. Wolff: W. G. Sebald’s Hybrid Poetics. Literature as Historiography, Berlin: de Gruyter 2014, S. 28.)

4 Zur Shoah als paradigmatischer Katastrophe bei Sebald vgl. Bettina Mosbach: Figurationen der Katastrophe. Ästhetische Verfahren in W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn und Austerlitz, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 43 und passim.

5 Walter Benjamin: „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, GS II.2, S. 438-465, hier S. 439.

6 Für die Eckdaten der Biografie des Erzählers vgl. bspw. SG 202; DA 45, 60, 219; RS 223; A 37f. Ich werde im Folgenden den Erzähler der Prosawerke Sebalds als einen Erzähler lesen, da die Kon-struktion dieser Figur – wenngleich in jedem Werk andere Züge in den Vordergrund treten – konsistent bleibt. Wenn ich dabei entsprechend die Prosawerke gemeinsam in den Blick nehme, so geschieht dies weniger, um die These eines letztlichen „Großtexts“ zu verfolgen als vielmehr, um eine für alle Schriften Sebalds gültige und wirksame Struktur nachzuvollziehen, die ebendie seiner zu analysierenden Poetik ist. (Eine Kritik am Ansatz einer solchen „Sebald-Rundum-Deu-tung“ bietet Silke Horstkotte: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsli-teratur, Köln: Böhlau 2009, S. 47.)

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history that is in turn transmitted in fragmentary fashion […]. The narrator of Se-bald’s works is crucial for this reason: he is forever exposing himself to the fragments and traces of other lives – traces often available only in objects, in bits of ‚material culture‘ – and to the enigmatic address that issues from them.8

Meine Lesart des sebaldschen Erzählers baut ebenfalls auf der Beobachtung auf, dass er in seinen Bemühungen, gegenwärtig – also mitten in der Geschichte und dadurch gezwungenermaßen mitten in der Rekonstruktion von Geschichte – zu sein, sich inmitten von Resten wiederfindet, die einen rätselhaften Anspruch, eine Ansprache oder Anrufung, an ihn richten. Die Hinwendung zur Vergangenheit, die sich dem Wunsch nach Verortung in der aus ihr gewordenen Gegenwart ver-dankt, kann aber diesen Anspruch nicht befrieden, diese Anrufung nicht restlos beantworten und also das ‚Wie es eigentlich gewesen ist‘ der Vergangenheit nicht aus ihren Resten ersehen. Dieses Scheitern des Wunsches, die eigene Gegenwärtig-keit von einem Platz inmitten der Geschichte aus zu erfahren, eröffnet die Mög-lichkeit einer Identifizierung mit dem Verlust der Vergangenheit – eine Möglich-keit, in der die zumeist in den Vordergrund von Sebald-Lektüren gestellte Haltung der Melancholie gründet, die die Unmöglichkeit, das verlorene Objekt der Vergan-genheit aufzugeben, bezeichnet.9 Gleichzeitig liegt hierin aber auch bereits jene andere Haltung begründet, die im Folgenden der Melancholie zur Seite gestellt und für meine Lektüre der sebaldschen Prosawerke fruchtbar gemacht wird: Denn der rätselhafte Anspruch, der von den materiellen Spuren der Vergangenheit aus-geht, geht – dies ist die offensichtliche und oft übersehene Prämisse seiner Hand-lungen – den Erzähler an. Diese Gewissheit, dass die Reste der Vergangenheit ihn gegenwärtig angehen – er, wie Santner schreibt, ihrem Anspruch ausgesetzt ist –, steht am Grund nicht nur seines Bemühens der Recherche und (Re-)Konstruktion der Vergangenheit, sondern vor allem auch der dieses Bemühen symptomatisch begleitendenden „Geisteskonstruktionen“.10 Diese Geisteskonstruktionen, auf denen die Geschichtskonstruktionen wesentlich basieren, folgen einem Prinzip und System der Herstellung von Beziehungen zwischen Fragmenten der Vergan-

8 Eric L. Santner: On Creaturely Life. Rilke, Benjamin, Sebald, Chicago: Chicago University Press 2006, S. 164.

9 Lesarten der Werke Sebalds unter dem Gesichtspunkt der Melancholie sind inzwischen zahllos; neben den bereits und im weiteren Verlauf erwähnten sind insbesondere auch die folgenden Ar-beiten aufschlussreich: Mary Cosgrove: „Sebald for our Time: The Politics of Melancholy and the Critique of Capitalism in his Work“, in: W. G. Sebald and the Writing of History, hg. v. Anne Fuchs u. Jonthan J. Long, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 91-110; Anne Fuchs: „Die Schmerzensspuren der Geschichte“. Zur Poetik der Erinnerung in W. G. Sebalds Prosa, Köln: Böhlau 2005, bes. S. 165-205; Sigrid Löffler: „‚Melancholie ist eine Form des Widerstands‘. Über das Saturnische bei W. G. Sebald und seine Aufhebung in der Schrift“, in: Text + Kritik 158 (2003), S. 103-111; Claudia Öhlschläger: Beschädigtes Leben. Erzählte Risse. W. G. Sebalds poeti-sche Ordnung des Unglücks, Freiburg: Rombach 2006, bes. S. 157-174; Holger Steinmann: „Zitat-ruinen unterm Hundsstern. W. G. Sebalds Ansichten von der Nachtseite der Philologie“, in: W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, hg. v. Michel Niehaus u. Claudia Öhlschläger, Berlin: Erich Schmid 2006, S. 145-156.

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genheit, zwischen Vergangenheit und Gegenwart und zwischen Gegenwart und gegenwärtigem Betrachter. Sie verweisen, mit einem Wort, auf eine Struktur neben der Melancholie, nämlich auf einen paranoischen Beziehungswahn.

Beide soeben skizzierten Thesen – die Fundierung des sebaldschen Katastro-phen-Begriffs in Benjamins ontologischer Bestimmung sowie ihre Verdoppelung um den Bezug auf sozusagen ontische Katastrophen und die neben der Melancho-lie für den sebaldschen Erzähler entscheidende Geisteshaltung der Paranoia – grei-fen in der Analyse und Interpretation der Schriften Sebalds wesentlich ineinander. Die im Folgenden auszuarbeitende und zu plausibilisierende These ist, dass Sebalds Werke als Lösung eines gleichermaßen poetischen, poetologischen und nicht zu-letzt auch politischen Problems zu lesen sind, nämlich der Konfrontation mit der unabweisbaren Tatsache von historisch-konkreten Katastrophen wie dem Zweitem Weltkrieg und der Shoah und der gleichzeitigen Affirmation einer benjaminschen Geschichtsphilosophie, die auf einer ontologischen Bestimmung der Kontinuität der Katastrophe basiert. Der Widerspruch zwischen beiden ergibt sich aus der Möglichkeit einer Verführung durch das ontologische Denken, nämlich der Ge-fahr, aus der ontologischen Höhe heraus, die konkrete historische Katastrophe in ihrer unabweisbaren Singularität aus dem Blick zu verlieren. In seiner berühmten IX. These „Über den Begriff der Geschichte“ fasst Benjamin diese Dualität der Katastrophe in der Unterscheidung des Blicks der Menschen vom Blick des „Engels der Geschichte“: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe“.11 Sebalds Lösung dieses Widerspruchs ist eine Poetik der post-katastrophischen Literatur, die beide Ebenen in komplexer Weise miteinander verbindet. Das Mittel dieser Verbindung ist die Figur seines Erzählers, der nicht nur als Melancholiker gelesen werden darf, sondern in dessen beständigen Versu-chen, alles mit allem und vor allem mit sich selbst in Beziehung stehend zu sehen, eine Haltung der Paranoia erkannt werden kann.

Die narratologische Untersuchung, die sich an diese Einsicht anschließt, gliedert sich durch die Konstruktion dreier Begriffe, dreier -barkeiten, wie sich im Anschluss an Samuel Webers Benjamin-Lektüren pointieren lässt, die drei Möglichkeiten, Fä-higkeiten und auch Bedingungen des von ihnen modifizierten Verbs thematisie-ren.12 Lesbarkeit bezeichnet einen Modus der Wahrnehmung, den Benjamin als Lesen bezeichnet, was heißt, dass in ihm Wahrnehmung und Interpretation nicht getrennt sind. Lesbarkeit zeigt sich in dem Moment, in dem die an sich in der Wahrnehmung nicht getrennte Verbindung zu Gegenstand und Interpretation durch das Auftauchen des materiellen Soseins des Gegenstands in seiner bedeu-tungslosen Insistenz doch getrennt wird. Dadurch werden die Gegenstände im Akt der Wahrnehmung dann notwendig zur Ursache einer Interpretation. Damit ent-spricht Lesbarkeit, folgt man Benjamin, dem Erkenntnismodus der Melancholie. Allerdings müssen dabei das Zusammenkommen von Leser und zu Lesendem und das Verhältnis von Materialität und Interpretation des Gelesenen als zwei Konfigu-

11 Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, GS I.2, S. 691-704, hier S. 697. 12 Samuel Weber: Benjamin’s -abilities, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2008, S. 3-10.

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rationen der Lesbarkeit unterschieden werden. Insbesondere anhand des Status der Materialität der Lesbarkeiten lässt sich festmachen, warum der sebaldsche Erzähler nicht, oder zumindest nicht nur, als Melancholiker zu lesen ist: Denn während der melancholische Leseblick die materiellen Reste der Vergangenheit – mit Benjamin lässt sich zuspitzen: die Ruinen, die Runen sind13 – entziffert und (allegorisch) deu-tet, ist der Blick des Erzählers vielmehr auf die Zusammenhänge zwischen ihnen, sowie zwischen ihnen und ihm, gerichtet. So entstehen Bezüge zwischen Daten, Orten, Figuren, Bildern und Texten, die in komplexen Verschlingungen miteinan-der verbunden, aber immer um den Erzähler herum ausgerichtet, von ihm allein so wahrgenommen und tatsächlich: von ihm so weniger entdeckt als erfunden sind. Hieraus lässt sich ersehen, dass die ununterbrochene Bewegung des sebaldschen Erzählers, die ihn beständig Bezüge zwischen den unterschiedlichsten Gegebenhei-ten herstellen lässt, die Züge eines paranoischen Beziehungswahns trägt. Dies fasst der zweite Begriff, die Erzählbarkeit, genauer. Erzählbarkeit greift die gleichen Ob-jekte wie die Lesbarkeit auf, betrachtet sie aber im Gegensatz zu jener als immer schon bedeutend, um sie in ein narratives, vermeintlich in sich stimmiges Ganzes einzufügen. Erzählbarkeit, die Konstruktion von Erzählung, entspricht also dem paranoiden Beziehungswahn des Erzählers, da sie sich dadurch auszeichnet, dass alles mit allem verbunden sein muss. Der dritte Begriff, die Schreibbarkeit, bezeich-net eine neben Lesbarkeit und Erzählbarkeit dritte Position, die sich in der Diffe-renz dieser beiden zeigt. Schreibbarkeit fasst die Artikulation, die durch die Lesbar-keit ermöglicht wird, indem durch den Akt des Schreibens auf den konstruktiven oder erfindenden Aspekt der Erzählung hingewiesen wird. So löst die Schreibbar-keit die vermeintliche Bedeutungsdichte der Erzählbarkeit wieder auf und eröffnet den Blick auf ein anderes Erzählen. Gleich einem Vexierbild kippt dann das unmit-telbar Offensichtliche der Erzählungen des Erzählers an gewissen Punkten – die freilich in der Lektüre je singulär und verschieden sein können und müssen – um, und es zeigt sich die Möglichkeit anderer Möglichkeiten der Bedeutungsgebung.14 Damit ist allerdings ebenfalls bereits gesagt, dass die Metapher vom Kippbild streng genommen nicht ausreicht, um diesen Lektüremodus zu erfassen; eher ließe sich sagen, er ist eine Praxis: Lesen als (Fort-)Schreiben.15 Die Schreibbarkeit spaltet also

13 UdT 352. 14 Ganz ähnlich beschreibt Jan Ceuppens seinen interpretatorischen Einsatz: „Der Ausdruck ‚Ve-

xierbild‘ bietet sich an als eine vorläufige Charakterisierung für das, was ich hier aufspüren möch-te: Eine Lektüre, welche sich eine kohärente Diegesis zu konstruieren weiß, kann plötzlich, durch eine unbedeutend erscheinende Einzelheit, aussetzen und einer andere Platz machen, die viel-mehr den Hinweisen der Textoberfläche folgt.“ (Jan Ceuppens: „Realia. Konstellationen bei Ben-jamin, Barthes, Lacan – und Sebald“, in: W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, a.a.O., S. 241-258, hier S. 241.)

15 Auf ganz ähnliches heben die Herausgeberinnen des Katalogs zur Ausstellung des sebaldschen Nachlasses im Literaturmuseum der Moderne in Marbach ab: „Sebald zieht sich in sein Werk zu-rück, bringt sich zum Verschwinden, führt das Leben der Anderen, ist im besten Sinne ein Blü-tenleser. Die Realien des Vor- und Nachlebens seiner fiktiven Figuren werden über das Schreiben in das Buch hineinverwoben. Und sie führen ein Leben nach dem Buch: Die Leser schreiben daran weiter.“ (Heike Gfrereis u. Ellen Strittmatter: „Wandernde Schatten. W. G. Sebalds Unterwelt“,

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in gewisser Weise Lesbarkeit und Erzählbarkeit und die Identität von Text und Er-zählung bricht auf. Dies ist die Logik der post-katastrophischen Poetik, deren Ana-lyse und Darstellung das Ziel dieses Buches ist.

sebald und Benjamin

Die entscheidende Bedeutung, die Benjamins Philosophie für sein Denken und Schreiben zukommt, formuliert Sebald in einem späten Essay über Johann Peter Hebel, in dem er von der eng mit der politischen Geschichte Deutschlands verbun-denen Rezeption von dessen Werk ausgeht. Diese Rezeption sei nach der entste-hungsgeschichtlich zeitgenössischen Wertschätzung und einer weitgehenden Ver-gessenheit während des 19. Jahrhunderts zu Beginn des 20. als „ein Stück deutscher Geistesgeschichte“ lesbar, was Sebald verdeutlicht, indem er die relative Wirkungs-losigkeit einer positiven Aufnahme durch jüdische Autoren der wirkmächtig insze-nierten „Reklamation“ Hebels durch die Nationalsozialsten gegenüberstellt.16 Deren „falsche[r] neogermanische[r] Zungenschlag“ sei auch in der Nachkriegszeit weiter wirksam gewesen, sodass sich die Literaturkritik der 1950er Jahre und darü-ber hinaus „in ihrem ganzen Duktus in nichts von dem unterschied, was während der Faschistenherrschaft vorgebracht wurde“.17 Nachdem er sich bereits im Eröff-nungssatz seines Essays affirmativ auf Benjamin bezogen – und ihn damit als im Gegensatz zur chronologisch nachvollzogenen Rezeptionsgeschichte Hebels als gleichsam überzeitlich gültige Autorität eingesetzt – hat, führt Sebald ihn an dieser Stelle als Repräsentanten einer anderen Lektüre an:

Als ich 1963 in Freiburg mit dem Studium begann, war das alles noch kaum unter den Teppich gekehrt, und nicht selten habe ich mich seither gefragt, wie trüb und verlogen unser Literaturverständnis wohl geblieben wäre, hätten uns die damals nach und nach erscheinenden Schriften Benjamins und der Frankfurter Schule, die ja eine jüdische Schule zur Erforschung der bürgerlichen Sozial- und Geistesgeschichte ge-wesen ist, nicht andere Perspektiven eröffnet.18

in: Wandernde Schatten. W. G. Sebalds Unterwelt, hg. v. Ulrich v. Bülow, Heike Gfrereis u. Ellen Strittmatter, Marbach/N.: Deutsche Schillergesellschaft 2008, S. 7-9, hier S. 8 [meine Hervorhe-bung].) Dieses Nachleben verdankt sich, so führen die Herausgeberinnen fort, einem Überschuss, der ein Fortschreiben verlangt: „Durch das Zurechtstutzen aller Wort- und Bildfelder, die er [Se-bald] vorgefunden hat, bleibt ein Überschuss, mit dem die Sebald’schen Werke wie sein Nachlass den Lesern zufallen, die an den offenen, nicht gedeckten Stellen weiterschreiben und weiterdeu-ten können.“ (Ebd., S. 8f.) Dieser Beobachtung möchte ich mich anschließen, die aus ihr sich ergebenden Konsequenzen aber dahingehend zuspitzen, dass der Leser nicht weiterschreiben kann, sondern nachgerade muss, wenn er dem Appellcharakter dieser „offenen, nicht gedeckten“ Werke gerecht werden will – wenn er, anders gesagt, nicht auf der Ebene der Erzählbarkeit ver-bleiben, sondern – selbst produktiv – an der Schreibbarkeit teilhaben will.

16 W. G. Sebald: „Es steht ein Komet am Himmel. Kalenderbeitrag zu Ehren des rheinischen Haus-freunds“, Log, S. 9-41, hier S. 11.

17 Ebd., S. 12. 18 Ebd.

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Dass Sebald hier unter den Denkern der Frankfurter Schule allein Benjamin na-mentlich nennt, mag einen ersten Hinweis auf dessen besondere Einflussstellung – über beispielsweise Adorno hinaus – bieten. Außerdem charakterisiert er die Frank-furter Schule als „jüdische Schule“ und positioniert sie damit noch vor den jeweils vertretenen Überlegungen auf einer sowohl kulturell-hintergründigen als auch ge-schichtlich-vordergründigen Ebene als andere der deutschen Geisteswissenschaf-ten. Tatsächlich markiert dies den Punkt, vom dem aus sich die Gegenüberstellung der deutschen Nachkriegsliteraturwissenschaft – sowie auch der deutschen Nach-kriegsliteratur – auf der einen und den Werken jüdischer Autoren auf der andern Seite durch Sebalds Denken und Schreiben zieht.

Besonders bemerkenswert an dieser Charakterisierung des Einflusses der Schrif-ten der Frankfurter Schule auf sein eigenes Denken ist auch, dass Sebald sie hier gleichsam als Medien darstellt, die ihm „andere Perspektiven“ vermittelt und eröff-net hätten, die ihm also im Wortsinne die Augen geöffnet hätten für eine andere Sicht auf Bekanntes. Hieraus lässt sich eine Erklärung für eine Beobachtung ablei-ten, die die Forschung in Hinblick auf das Verhältnis Sebalds zu Benjamin oft umtreibt und die beispielsweise Ben Hutchinson wie folgt formuliert:

Es gibt einige Autoren, deren Einfluss überall in Sebalds Werk zu spüren ist, die je-doch beim Namen kaum erwähnt werden. Adorno und Benjamin sind naheliegende Beispiele: Ihr Duktus, ihre Ideen mögen zwar passim in Sebalds Prosa zu spüren sein, dennoch hat er ihnen keine selbstständigen Aufsätze gewidmet.19

Wenn Benjamin und die Frankfurter Schule aber, wie Sebalds Beschreibung nahe-legt, gleichsam als die Brille fungieren, durch die er auf Literatur (und Gesellschaft) blicken lernte, dann erklärt sich, dass seine Lektüren weniger diese Brille selbst in den Blick nehmen als durch sie hindurch lesen und schreiben.20 Diese Erklärung lässt sich weiter dadurch untermauern, dass er zwar Benjamin keine eigene Arbeit gewidmet hat, dessen Theoreme und Überlegungen aber in seinen Schriften unter allen anderen Denkern den prominentesten – wenngleich freilich nicht immer ex-plizitesten – Platz einnehmen: „Unter den vielen Kritikern und Philosophen, die Sebald in seinen zwei Essaysammlungen zur österreichischen Literatur und einer späteren, hauptsächlich Schweizer Autoren gewidmeten heranzieht, wird keiner öfter zitiert als Benjamin.“21

19 Ben Hutchinson: W. G. Sebald – Die dialektische Imagination, Berlin: de Gruyter 2009, S. 57. 20 Eine ähnliche und damit für mein Verständnis des Verhältnisses von Sebald zu Benjamin auf-

schlussreiche These formuliert Judith Ryan, die anhand des Beispiels ihrer Surrealismus-Rezepti-onen zeigen will, „how Sebald engages with surrealism through the prism of his reading of Walter Benjamin“ (Judith Ryan: „Fulgurations: Sebald and Surrealism“, in: The Germanic Review 82:3 [2007], S. 227-249, hier S. 231).

21 Irving Wohlfahrt: „Anachronie. Interferenzen zwischen Walter Benjamin und W. G. Sebald“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33:2 (2008), S. 184-242, hier S. 187f. Gleichzeitig merkt aber auch Wohlfahrt ähnlich wie Hutchinson an, „es fällt auf, dass Sebald Benjamin nirgends zu einem seiner Gewährsmänner erklärt.“ (Ebd., S. 187.)

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Der Bezug Sebalds auf Benjamin ist also überaus intensiv und wirkmächtig, aber keineswegs geradlinig nachvollziehbar oder unmittelbar einsichtig. Es gilt, ihn aus seinen Schriften und, soweit dies möglich ist, aus in seinem Nachlass archivierten Materialien, die von einer Auseinandersetzung mit Benjamins Denken zeugen, zu rekonstruieren.22 Worauf in der Untersuchung des Verhältnisses von Sebald und Benjamin oftmals verwiesen wird, ist die Problematik, wie der Einfluss Benjamins auf Sebald zu fassen sei.23 Gerade vor dem Hintergrund der eingangs dieses Teils formulierten Beobachtung, dass sich Sebalds Schreiben einerseits durch eine große Nähe zu Benjamins Denken auszeichnet, sich aber andererseits in seinen Schriften kaum explizite Auseinandersetzungen mit ihm finden, muss zunächst die Frage gestellt werden, ob Sebalds Beschäftigung mit Benjamin auf anderen Wegen nach-vollzogen – und belegt – werden kann. Dieser Frage kann nachgegangen werden, indem der Nachlass Sebalds, der im Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert ist, mit in den Blick genommen wird. Neben Manuskripten und Typoskripten der veröffentlichten sowie auch einiger unveröffentlichter Schriften, Briefen, Kalen-dern, Exzerpt-Konvoluten, privaten Dokumenten und Gegenständen ist es insbe-sondere auch die Handbibliothek Sebalds, die – obgleich sie freilich keinesfalls als definitives Archiv der Gesamtheit der Lektüren Sebalds angesehen werden kann – einen aufschlussreichen Einblick in seine intellektuellen Beschäftigungen bietet.24 Die Besonderheit dieses Nachlasses liegt in der Spannung zwischen seiner planvoll wirkenden Zusammenstellung und seiner letztlich zufälligen Gestalt mit ihren of-fensichtlichen Lücken und Absenzen.

22 Vonseiten der Sebald-Forschung gibt es inzwischen unzählige Arbeiten zu verschiedenen Aspek-ten von Sebalds Schreiben, die im Laufe ihrer Argumentationen einen Verweis auf einen Begriff oder eine Idee Benjamins anführen oder anderweitig den Einflüssen der spezifisch ‚benjamin-schen‘ Qualitäten der Schriften Sebalds nachzugehen versuchen. Entscheidende Impulse und Einsichten für mein Vorhaben verdanke ich den Arbeiten von Irving Wohlfahrt („Anachornie“, a.a.O.), Eric Santner (On Creaturely Life, a.a.O.) und Anja Lemke („Figurationen der Melancho-lie. Spuren Walter Benjamins in W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 127:2 [2008], S. 239-267). Neben den bereits im Vorhergehenden sowie im Folgenden angeführten Arbeiten sind auch die folgenden Untersuchungen aufschlussreich: Jessica Dubow: „Case interrupted: Benjamin, Sebald, and the Dialectical Image“, in: Critical Inquiry 33 (2007), S. 820-836; Claudia Öhlschläger: „Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau. W. G. Sebalds poe-tische Zivilisationskritik“, in: W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, a.a.O., S. 189-204; Peter Schmucker: Grenzübertretungen. Intertextualität im Werk von W. G. Se-bald, Berlin: de Gruyter 2012, S. 240-354; Simon Ward: „Ruins and Poetics in the Work of W. G. Sebald“, in: W. G. Sebald – A Critical Companion, hg. v. Jonathan J. Long u. Anne Whitehead, Edinburgh: Edinburgh University Press 2004, S. 58-74.

23 Vgl. bspw. Wohlfahrt, „Anachronie“, a.a.O., S. 187 und Lemke, „Figurationen der Melancholie“, a.a.O., S. 247 Anm. 24.

24 W. G. Sebald: Nachlass, Deutsches Literaturarchiv Marbach, archiviert unter der Bestandssigna-tur A: Sebald. (Aus dem Nachlass wird im Folgenden zitiert unter Angabe des Vermerks DLA: der Bestandssignatur, des Haupttitels und der Mediennummer.) Für eine vollständige Auflistung al-ler Titel der Bibliothek Sebalds, die zumeist in die Nachlass-Bibliothek eingegangen sind, siehe Jo Catling: „A Catalogue of W. G. Sebald’s Library“, in: Saturn’s Moons. W. G. Sebald – A Handbook, hg. v. Jo Catling u. Richard Hibbitt, Oxford: Legenda 2011, S. 377-441.

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Es gibt nichts in Sebalds Manuskripten, Materialien und Kalendern, in seiner Biblio-thek und seinen Erinnerungsstücken, was nicht eine Bedeutung für sein Werk besäße. Man könnte diesen Nachlass als Arbeit am eigenen Mythos begreifen, wäre Sebald nicht überraschend gestorben, hätte er nicht immer wieder Platz in seiner Bibliothek, seiner Schallplattensammlung, seinen Manuskripten geschaffen durch Wegwerfen und Verkaufen. […] Dieser Nachlass verdankt sich einem unaufhörlichen Prozess des Schreibens, Weiterschreibens und Lesens. Er ist eine zufällige Momentaufnahme der permanenten Auseinandersetzung mit Literatur[.]25

Tatsächlich ergibt sich insbesondere bei der Suche nach expliziten Auseinanderset-zungen mit Benjamin ein Bild, das von auffälligen Absenzen geprägt ist. Zwar fin-den sich Spuren einer lebhaften und andauernden Auseinandersetzung, aber ge-messen an der zentralen Bedeutung Benjamins für Sebald und auch im Vergleich zu den archivierten Belegen der Beschäftigung mit anderen Autoren wie beispiels-weise Kafka fällt das Ergebnis der Recherche überraschend gering aus.

Unter den handschriftlichen Materialien des Nachlasses finden sich Exzerpte und Notizen, die Sebalds Benjamin-Lektüren belegen und insbesondere auch deren Beständigkeit anzudeuten scheinen, denn in mehreren Fällen weisen Notizen zu anderen Autoren Verweise auf Gedanken Benjamins auf, was den Schluss nahe-legt, dass er dessen Schriften so gut im Kopf beziehungsweise so rasch zur Hand hatte, dass er schnell Querverweise ziehen konnte.26 Aufschlussreich jedoch und bemerkenswert im Sinne der oben formulierten These, dass Benjamins Schriften für Sebald gleichsam die ‚Brille‘ gewesen seien, durch die er andere Autoren las, ist, dass sich in dem Karteikasten auch Exzerpte aus Schriften Benjamins auf Kartei-karten finden, die eigentlich anderen Autoren zugeordnet und entsprechend von Sebald auch unter deren Namen einsortiert sind.27

ähnlich schwierig gestaltet sich der Nachvollzug der Benjamin-Rezeption Se-balds anhand der Betrachtung der archivierten Handbibliothek.28 Eine grundsätz-

25 Gfrereis u. Strittmatter, „Wandernde Schatten“, a.a.O., S. 7. Zur Thematik des Nachlasses bei Sebald – sowie der Konstruktion seines eigenen Nachlasses noch zu Lebzeiten – siehe Ulrich v. Bülow: „The Disappearance of the Author in the Work. Some Reflections on W. G. Sebald’s Nachlass in the Deutsches Literaturarchiv Marbach“, in: Saturn’s Moons, a.a.O., S. 247-263.

26 Im Einzelnen finden sich ein loses Blatt mit einem Zitat aus Benjamins Proust-Essay in einem Konvolut, das ansonsten Sebalds Notizen zu Kafka versammelt (DLA: A: Sebald, Konvolut: No-tizen und Material zu Franz Kafka u.a., HS005268735), und ein Karteikasten, in dem er anschei-nend über längere Zeit auf Karteikarten notierte Exzerpte gesammelt hat (DLA: A: Sebald, Kon-volut: Exzerpte und Notizen [2 Alphabete], HS005082199; im Karteikasten finden sich auf zwei Registerkartenformaten hintereinander einsortiert zwei vollständige Alphabete). In diesen Kasten finden sich unter „B“ allerdings lediglich zwei Karteikarten mit Exzerpten aus einem Essay und einem Brief Benjamins (DLA: A: Sebald, Konvolut: Exzerpte und Notizen, HS005082199 [klei-nes Registerkartenformat, unter „B“]).

27 So finden sich unter „K“ und unter der Überschrift „Zu Kafka“ Exzerpte aus drei Briefen Benja-mins, während unter der Überschrift „Keller, Gottfried“ ein Verweis auf einen (ungenannten) Essay Benjamins in Angelus Novus zu finden ist (DLA: A: Sebald, Konvolut: Exzerpte und Noti-zen, HS005082199 [kleines Registerkartenformat, unter „K“]).

28 Eingang in die Nachlass-Bibliothek gefunden haben die folgenden Ausgaben von Schriften Ben-jamins: Angelus Novus (Ausgewählte Schriften 2), Frankfurt/M.: Suhrkamp 1966 (im Folgenden abgekürzt Angelus Novus, Seitenzahl); Briefe, hg. v. Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno,

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liche Schwierigkeit in der Untersuchung der Handbibliothek liegt darin, dass aus ihr gezogene Schlüsse keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit oder Verlässlichkeit erheben können: Denn es kann aus dem bloßen Vorhandensein eines Werks ebenso wenig auf eine erfolgte (vollständige) Lektüre geschlossen werden, wie umgekehrt aus dem Fehlen bestimmter Werke eine Unkenntnis derselben gefolgert werden kann.29 Hinweise auf erfolgte Lektüren sind freilich in erster Hinsicht die hand-schriftliche Bearbeitung der Texte in Form von Hervorhebungen oder Annotatio-nen, wobei für deren Vorhandensein oder Fehlen die gleiche Einschränkung gilt. Die Rekonstruktion der Benjamin-Rezeption wird darüber hinaus zusätzlich durch die Tatsache erschwert, dass Sebald verschiedene Ausgaben benutzte und nicht alle Eingang in die archivierte Handbibliothek gefunden haben.30 Erhalten haben sich allein die ersten Editionen und Auswahlbände, die in den 1960er und frühen 1970er Jahren erschienen sind, während Sebald später beispielsweise in seinen Es-saysammlungen auch und bevorzugt aus den Gesammelten Schriften zitiert.31 So-weit sich dies also nachvollziehen lässt, begann Sebald in den 1960er Jahren als Student Benjamin zu rezipieren (was auch seiner oben zitierten Selbstaussage ent-

Frankfurt/M.: Suhrkamp 1966, Bd. 1 u. 2; Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, hg. v. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973; Einbahnstraße, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1962 (im Folgenden abgekürzt Einbahnstraße, Seitenzahl); Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, Bd. III, IV.1, IV.2 (im Folgenden abgekürzt Gesammelte Schriften, Bandnummer, Seitenzahl); Illuminationen. Ausgewählte Schriften, hg. v. Siegfried Unseld, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1961 (im Folgenden ab-gekürzt Illuminationen, Seitenzahl); Über Kinder, Jugend und Erziehung. Mit Abbildungen von Kinderbüchern und Spielzeug aus der Sammlung Benjamin, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969; Ur-sprung des deutschen Trauerspiels, revidierte Ausg. bes. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhr-kamp 1963 (im Folgenden abgekürzt Ursprung, Seitenzahl); Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, mit einem Nachwort versehen von Herbert Marcuse, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1965 (im Folgenden abgekürzt Zur Kritik, Seitenzahl). Um klarer ersichtlich zu machen, wenn es sich um einen Verweis auf eine in der Nachlass-Bibliothek archivierte Ausgabe handelt, wird im Fol-genden nach der Angabe des (Kurz-)Titels und der Seitenzahl auch der Hinweis „DLA“ in Klam-mern stehen.

29 Beispielsweise findet sich in der archivierten Handbibliothek nur ein einziges Werk von Michel Foucault – nämlich dessen Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, das mit zahlreichen Hervor-hebungen und Annotationen versehen ist –, obwohl Sebald nachweislich auch andere Werke ge-lesen und diese zitiert und paraphrasiert hat (siehe bspw. den Verweis auf La volonté de savoir in BU 39f. Anm. 3).

30 Ich danke Jo Catling und Ulrich von Bülow für Hinweise darauf, dass Sebald häufig auch mit Bibliotheksexemplaren gearbeitet und eigene Ausgaben auch wieder verschenkt oder verkauft hat sowie auf die Tatsache, dass die archivierte Handbibliothek grundsätzlich nicht Sebalds vollstän-dige Bibliothek ist, da bspw. seine Ehefrau und Kollegen Bände behalten haben.

31 So finden sich in Die Beschreibung des Unglücks, die Essays aus den Jahren 1972 bis 1985 versam-melt und 1985 erschienen ist, Referenzen sowohl auf Ausgaben der Gesammelten Schriften (siehe BU 31, 50f., 65,) sowie auf Illuminationen (BU 82, 89 Anm. 29, 185) und Angelus Novus (BU 106 Anm. 10, 132). Es ergibt sich der Eindruck, dass Sebald bald nach dem Erscheinen der jewei-ligen Bände der Gesammelten Schriften diese bevorzugt nutzte, denn in der späteren Essaysamm-lung Unheimliche Heimat von 1991, die Essays aus den Jahren 1976 bis 1989 versammelt, zitiert er bis auf eine Ausnahme (UH 111f.) nur noch aus Ausgaben dieser Edition (UH 70, 72, 73, 75, 82, 102, 110).

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spricht), wobei er die jeweiligen Bücher bald nach ihrem Erscheinen erworben zu haben scheint.32

In den in der Nachlass-Bibliothek erhaltenen Ausgaben von Schriften Benja-mins finden sich insgesamt gesehen nur relativ wenig Hervorhebungen, Annotati-onen oder sonstige Belege der Textarbeit. Zwar sind einzelne Werke wie etwa Ur-sprung des deutschen Trauerspiels durchweg bearbeitet, in anderen Bänden aber finden sich über lange Strecken hinweg keinerlei Markierungen. Dies erstaunt ins-besondere bei solchen Texten, deren Gehalt Sebald zweifelsfrei intensiv durchgear-beitet und in verschiedenen Weisen in sein eigenes Schreiben aufgenommen hat. Ein Beispiel hierfür ist Sebalds Lektüre der Thesen „Über den Begriff der Ge-schichte“, die als einer der entscheidendsten Texte Benjamins für sein Denken und Schreiben gelten können. In der archivierten Handbibliothek finden sich die The-sen sowohl im Band Illuminationen als auch in Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze und in beiden Ausgaben finden sich kaum Spuren einer Lektüre.33 Dass Sebald aber gerade diesen Text intensiv gelesen haben muss, zeigt sich offensicht-lich beispielsweise in Luftkrieg und Literatur, wo er die in seinem Arbeitsexemplar mit keinerlei Markierung versehene IX. These an prominenter Stelle – nämlich am Schluss des II. Teils – zitiert und für seine Interpretation von Alexander Kluges Arbeiten fruchtbar macht.34 An diesem für die allgemeinere Problematik der Re-konstruktion der Benjamin-Lektüren Sebalds repräsentativen Beispiel zeigt sich, dass eine Betrachtung der Handbibliothek nicht ausreicht. Denn der erstaunliche Fall der anhand der archivierten Ausgaben nicht nachweisbaren Rezeption der The-sen „Über den Begriff der Geschichte“ lässt sich anhand der Lektüre von Sebalds eigenen Schriften klären, indem die Übernahme von Figuren (wie dem „Engel der Geschichte“) und vor allem Strukturen (wie der „geheimen Verabredung“ zwischen Gegenwart und Vergangenheit) aufgezeigt wird.35

Gerade weil also die Rekonstruktion der Benjamin-Lektüren Sebalds prekär ist, muss sich das Augenmerk auf eine andere Möglichkeit des Nachvollzugs seiner

32 So ist seine Ausgabe der Illuminationen – des ersten Bands der zweibändigen Ausgewählten Schrif-ten, die 1961 und 1966 vor der Edition der Gesammelten Schriften zwischen 1972 und 1989 er-schienen – mit dem tintengeschriebenen Eintrag „Winfried Sebald März 1965“ und seine Ausga-be von Ursprung des deutschen Trauerspiels, die 1963 erschienen ist, mit der Eintragung „e.l. Win-fried Sebald Juli 1964“ versehen.

33 In der erstgenannten Ausgabe sind allein die römischen Ziffern „VII“ und „XIV“ umkringelt und die letzten fünf Sätze des Teils „B“ der XVIII. These von einer eckigen Klammer umrahmt (Illu-minationen, 271, 276, 269 [DLA]). In der anderen Ausgabe sind die Ziffern „1“ und „2“ umkrin-gelt und es finden sich in den Thesen 1, 3, 7 und 11 jeweils eine Hervorhebung am Rand (Zur Kritik, 78, 80, 82, 87 [DLA]).

34 LL 73f. Diese Stellung erscheint noch prominenter, wenn bedacht wird, dass dies ursprünglich das Ende des Texts war (Teil III ist eine „Nachschrift“ [LL 75]); vgl. Schmucker, Grenzübertretun-gen, a.a.O., S. 242f.

35 Vgl. den in dieser Hinsicht aufschlussreichen Aufsatz von Tanja van Hoorn: „Der ‚Engel der Ge-schichte‘ erzählt W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn“, in: Weltliche Wallfahrten. Auf der Spur des Realen, hg. v. Stefan Börnchen u. Georg Mein, München: Wilhelm Fink 2010, S. 221-234. Siehe auch die Überblickszusammenfassung weiterer Arbeiten, die Bezüge zum „Engel der Geschichte“ herstellen, bei Schmucker, Grenzübertretungen, a.a.O., S. 240-244.

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Lektüren richten. Diese liegt in der Untersuchung von direkten oder indirekten Zitationen, Paraphrasen und Allusionen und darüber hinaus vor allem in dem, was Peter Schmucker überzeugend als „poetische Paraphrase“, als literarisierte Darstel-lung philosophischer Gedanken, bezeichnet hat.36 Entscheidend hierbei ist die Be-trachtung der wesentlich philosophischen, das heißt ästhetischen und ethischen, Dimension, die Sebalds ‚Wahlverwandtschaft‘ mit Benjamin auszeichnet. Die Auf-gabe einer in diesem Sinne komparatistischen Lektüre liegt damit darin, anhand einer Untersuchung der Übernahme und Literarisierung von Begriffen und Theo-remen Benjamins durch Sebald nicht nur deren Aus- und Umgestaltung in Litera-tur genau nachzuvollziehen und zu deuten, sondern auch die solcher Gestaltung unterliegende Analyse der Bedingungen von Literatur in ihrer Geschichtlichkeit miteinzubeziehen: Erzähltheorie und Geschichtsphilosophie sind, hierin mag der kleinste gemeinsame Nenner des Denkens und Schreibens von Sebald und Benja-min liegen, untrennbar miteinander verbunden.

36 Schmucker definiert den Begriff der „poetischen Paraphrase“ als eine spezielle Form der Intertex-tualität, nämlich „die Darstellung eines philosophischen Gedankens in einem literarischen, ins-besondere einem fiktionalen Text.“ (Grenzübertretungen, a.a.O., S. 229; für seine Lesart Sebalds unter diesem Gesichtspunkt der poetischen Paraphrase von Benjamins Philosophie siehe ausführ-lich ebd., S. 251-354). In gewisser Weise verfolgen Schmuckers Arbeit und mein Projekt hier das gleiche Ziel: die interpretatorische Erschließung und genaue Analyse benjaminscher Gedanken im Schreiben Sebalds.

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I. Lesbarkeit

i.1 Korpora der lektüre

„Wahrnehmung ist Lesen“, schreibt Benjamin in einem „Über die Wahrnehmung in sich“ überschriebenen Fragment und proklamiert damit in einer emphatischen Ausweitung des konventionellen Begriffs das Lesen als Erfahrung der Wahrneh-mung.1 Diese Erweiterung, eigentlich Sprengung, des Begriffs des Lesens als Lek-türe von Geschriebenem nähert sich dem etymologischen Ursprung des lateini-schen legere, sammeln, aussuchen, wieder an und verweist auf die wesentliche Dualität des Lesens, das zwischen der Materialität des Gelesenen und seiner imagi-nären Ausdeutung gespannt ist. Deren Verhältnis denkt Benjamin innig und pro-duktiv verbunden, denn die Schrift in ihrer Materialität ist ihm nicht bloßer Träger von Bedeutung, der im Lesen gleichsam überlesen und in die Bedeutung aufgeho-ben wird, sondern Schrift findet selbst Eingang ins Gelesene, während umgekehrt jenes an das Schriftbild gebunden bleibt: „Schrift [hat] nichts Dienendes an sich, fällt beim Lesen nicht ab wie Schlacke. Ins Gelesene geht sie ein als dessen ‚Figur‘.“2 Schrift, die ins Gelesene eingeht, aber darin nicht aufgeht, bleibt als materieller, nicht in Bedeutung transzendierbarer Rest des Lesens bestehen – und stellt so er-neut zu Lesendes dar.

Dies geschieht auch in der Wahrnehmung und also im Lesen von nicht-ge-schriebenen ‚Texten‘, denn „[d]ie Rede vom Buch der Natur weist darauf hin, daß man das Wirkliche wie einen Text lesen kann. […] Wir schlagen das Buch des Geschehens auf.“3 So ist es möglich, „Geschichte als einen Text [zu] betrachten“: „Die historische Methode ist eine philologische, der das Buch des Lebens zugrunde liegt. ‚Was nie geschrieben wurde, lesen‘ heißt es bei Hofmannsthal. Der Leser, an den hier zu denken ist, ist der wahre Historiker.“4 Hier tritt zur Wahrnehmung, die Lesen ist, die Methode, die der unhintergehbaren, unvermeidbaren Lesbarkeit der Welt begegnen kann. Denn diese Lesbarkeit ist eine, die sich nicht in gegebenen

1 Walter Benjamin: „Über die Wahrnehmung in sich“, GS VI, S. 32. Gershom Scholem bezeichne-te diese Stelle als „Keimzelle zu den Betrachtungen, die er [Benjamin] viele Jahre später in seiner Aufzeichnung Lehre vom Ähnlichen angestellt hat.“ (Gershom Scholem: Walter Benjamin – Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 80.) Vgl. auch Muriel Pic u. Em-manuel Alloa: „Lesbarkeit/Lisibilité. Einleitung“, übers. v. Caroline Gutberlet, in: Trivium 10 (2012), http://trivium.revues.org/4203.

2 UdT 388. 3 PW 580 (N 4, 2). Zur wirkmächtigen Metapher des Buches der Welt vgl. Hans Blumenberg: Die

Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986. 4 Walter Benjamin: „Das dialektische Bild“, GS I.3, S. 1238.

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Zusammenhängen manifestiert, sondern die Erkenntnis jener vielmehr allererst er-möglicht. (Historische) Erkenntnis fasst Benjamin als wesentlich abhängig von einer Lesbarkeit, die im je aktuellen Zusammenkommen von Lesendem und zu Lesendem entsteht.

Diese Einsicht, dass nicht nur Werke, sondern auch Lektüren geschichtlich sind – was nicht heißt, dass sie als schlicht gewesene, sondern im Gegenteil als produzierte, Geschichte produzierende betrachtet werden müssen –, kann als Fun-dament der niemals als solcher formulierten Theorie des Lesens Benjamins gelten.5 Solches Zusammenkommen von Lesendem und zu Lesendem, das sich also funda-mental von einem Denken von real vorgängigen erkennbaren Gegebenheiten un-terscheidet, fasst Benjamin im Begriff des „Bildes“:6

Was die Bilder von den ‚Wesenheiten‘ der Phänomenologie unterscheidet, das ist ihr historischer Index. […] Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, daß sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, daß sie erst in einer bestimm-ten Zeit zur Lesbarkeit kommen. Und zwar ist dieses ‚zur Lesbarkeit‘ gelangen ein bestimmter kritischer Punkt der Bewegung in ihrem Innern. Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder bestimmt, die mit ihr synchronistisch sind: jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit. […] Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Still-stand.7

Bild ist also als Produkt des konstellativen Aufeinandertreffens von Vergangenem und Gegenwärtigem im Jetzt gleichzeitig das Medium, durch das Phänomene les-bar – und darum erkennbar – werden.8 Damit ähnelt das Bild der Schrift, die, wie eingangs gesehen, nicht im Gelesenen aufgeht, sondern in ihm als „Figur“ bestehen bleibt und also ebenfalls sowohl Medium des Prozesses des Lesens ist als auch ma-terielles Produkt eines geschichtlichen Entstehens.

Die zwei unterschiedlichen, aber komplementären Figuren, die Lesbarkeit pro-duzieren und vorstellen, sind der Blitz und die Konstellation. Dabei ist die Kons-tellation weniger als die Stabilisierung der blitzhaften Erkenntnis zu denken, son-dern selbst durch die Potenzialität des Zerspringens bestimmt: „Das gelesene Bild,

5 Aufschlussreiche Arbeiten, die diese Theorie des Lesens aus Benjamins Lektürepraxis rekonstruie-ren, sind Alexander Honold: Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturge-schichte, Berlin: Vorwerk 2000, bes. S. 14-51; Karlheinz Stierle: „Walter Benjamin und die Erfah-rung des Lesens“, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 12 (1980), S. 227-248; Samuel Weber: „Benjamin Lektüre“, in: Modern Language Notes 94:3 (1979), S. 441-454; Irving Wohlfahrt: „‚Was nie geschrieben wurde, lesen‘. Walter Benjamins Theorie des Lesens“, in: Walter Benjamin 1892-1940. Zum 100. Geburtstag, hg. v. Uwe Steiner, Bern: Peter Lang 1992, S. 297-344.

6 Bild ist hier nicht als Gegensatz zu Sprache gemeint, sondern im Gegenteil: „der Ort, an dem man sie [dialektische Bilder] antrifft, ist die Sprache.“ (PW 577 [N 2 a, 3].)

7 PW 577f. (N 3, 1). 8 Vgl. Weber, Benjamin’s -abilities, a.a.O., S. 314.

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will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stem-pel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt.“9 Sternbildkonstellation und Blitz, extremste Stasis und extremste Bewegung, stehen für ein disjunktives Zusammenkommen, das lesbar ist oder genauer: das Lesbarkeit ist.

Der dem Lesen eingelegten Gefahr weiß sich der sebaldsche Erzähler beständig ausgesetzt und ihr unterliegt er letztlich. Beziehungsweise bereits hier muss genauer und leicht vorgreifend präzisiert werden, dass er um die Gefahr nur gleichsam un-bewusst weiß: sie ist das ungewusste Wissen, das nach einer Erfahrung sucht, die er nicht tragen kann und darum abwehrt. Sein Fehler, wie er sich aus benjaminscher Sicht darstellt, besteht darin, in seinem Lesen beständig etwas zu überlesen, sodass die Auslese seiner Wahrnehmungen weniger Gelesenes als Gedeutetes ist. Der se-baldsche Erzähler ist ein konstitutiv zu spät Gekommener, ein Nachgeborener, der sich der Vergangenheit allein anhand ihrer Überreste und Spuren annähern kann und also auf deren Lektüre angewiesen ist. Zunächst scheinen seine Lektüren dabei mit Benjamins Kritik am Historismus einherzugehen, insofern auch er aus dem Scheitern des Versuches der Vorstellung des Vergangenen den Schluss zieht, dass es nicht so zu ersehen ist, „wie es eigentlich gewesen ist“.10 So konstatiert er in Die Ringe des Saturn anlässlich eines Besuches der „sogenannte[n] historische[n] Ge-denkstätte auf dem Schlachtfeld von Waterloo“ über die „Kunst der Repräsentation der Geschichte“:

Sie beruht auf einer Fälschung der Perspektive. Wir, die Überlebenden, sehen alles von oben herunter, sehen alles zugleich und wissen dennoch nicht, wie es war. Ringsum dehnt sich das öde Feld, auf dem einmal fünfzigtausend Soldaten und zehn-tausend Pferde im Verlauf von wenigen Stunden zugrunde gegangen sind. In der Nacht nach der Schlacht muß hier ein vielstimmiges Röcheln und Stöhnen zu hören gewesen sein. Jetzt ist da nichts mehr als braune Erde.11

Sein Bemühen, sich die historischen Ereignisse vor der ihm gegenwärtigen Kulisse des Nicht-mehr-Vorhandenen vorzustellen, scheitert: „Ein deutliches Bild ergab sich nicht.“12 Gelingen will es ihm erst, als er vom Gegenwärtigen vollständig ab-sieht und sich seiner Einbildungskraft überlässt:

Erst als ich die Augen schloß, sah ich, daran erinnere ich mich genau, eine Kanonen-kugel, die auf schräger Bahn eine Reihe von Pappeln durchquerte, daß die grünen Zweige zerfetzt durch die Luft flogen. Und dann sah ich noch Fabrizio, den jungen Helden Stendhals, blaß und mit glühenden Augen in der Schlacht herumirren[.]13

9 PW 578 (N 3, 1); vgl. Weber, Benjamin’s -abilities, a.a.O., S. 230. 10 Vgl. Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, a.a.O., S. 695. 11 RS 150, 152. 12 RS 153. 13 Ebd.

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Den Stoff der Einbildungen des Erzählers bildet hier nicht mehr das Sichtbare, sondern eine erinnerte Lektüre des Romans Die Kartause von Parma (in dem Sten-dhal die Schlacht bei Waterloo ebenfalls nicht als Panorama des „vielberufenen historischen Überblick[es]“14 beschreibt, sondern episodenhaft das Erleben des Einzelnen schildert).15 Entscheidend ist, dass der Erzähler – hier wortwörtlich indem er die Augen schließt – vom gegenwärtig Gegebenen, vom materiell Übrig-gebliebenen absieht und stattdessen eine imaginäre – hier durch den intertextuel-len Verweis wiederum besonders offensichtlich fassliche – Lektüre vornimmt. Der entscheidende Unterschied in der Betrachtung der Lesbarkeit des Vergangenen, wie sie bei Benjamin theoretisch und bei Sebald im Schreiben seines Erzählers gleichsam praktisch gefasst ist, besteht also im Umgang mit der Materialität dersel-ben. Denn entgegen dem benjaminschen materialistischen Ansatz der Geschichts-betrachtung fällt der sebaldsche Erzähler – der streng von seinem Autor zu trennen ist – von diesem Anspruch ab und gibt sich einer vom Material absehenden, ima-ginären Annäherung an die Vergangenheit hin.

Diese imaginarisierende Lektürepraxis des Erzählers kann noch genauer nach-verfolgt werden. In Die Ausgewanderten beispielsweise liest der Erzähler bei seinem Versuch, die Lebensgeschichte seines Großonkels Ambros Adelwarth zu rekonstru-ieren, in dessen „Agendabüchlein“, wobei sich wiederum eine bemerkenswerte Ver-schiebung in der Betrachtung des zu Lesenden ereignet:

Vor mir auf dem Schreibtisch liegt das Agendabüchlein des Ambros […]. Es ist ein in weiches, weinrotes Leder gebundener, etwa zwölf auf acht Zentimeter großer Ta-schenkalender für das Jahr 1913, den der Ambros in Mailand gekauft haben muß, denn dort beginnt er am 20. August mit seinen Aufzeichnungen […]. Die Entziffe-rung der winzigen, nicht selten zwischen mehreren Sprachen wechselnden Schrift hat nicht wenig Mühe bereitet und wäre wahrscheinlich nie von mir zuwege gebracht worden, hätten sich nicht die vor beinahe achtzig Jahren zu Papier gebrachten Zeilen sozusagen von selber aufgetan.16

Die Beschreibung der materiellen Gegenständlichkeit des Notizbuchs, die durch die Einfügung dreier Bilder desselben noch betont wird,17 geht hier unvermittelt und unverhofft in die gleichsam wundersame Erfahrung der Selbstoffenbarung des Geschriebenen über. Analog zur Fantasie, die sich im Beispiel der Vorstellung der Schlacht von Waterloo erst gibt, wenn der Erzähler die Augen schließt, gelingt ihm auch hier eine erfolgreiche Lektüre erst, wenn er vom Gegebenen absieht und sich der Vorstellung einer sich selbst offenbarenden Schrift hingibt. Da sich die Zeilen „von selber aufgetan“ haben, muss sich die mühevolle „Entzifferung“ nicht mehr dem Buchstabieren des Geschriebenen widmen, sondern kann sich der Entschlüs-

14 RS 152. 15 Vgl. hierzu ausführlicher Christina Hünsche: Textereignisse und Schlachtenbilder. Eine sebaldsche

Poetik des Ereignisses, Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 181-189. 16 DA 186ff. 17 DA 187, 194f., 200f.

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selung des rätselhaften, andeutungsreichen und fragmentarischen Textes zuwen-den.

Wiederum in Die Ringe des Saturn findet sich die Beschreibung einer Lektüre, die das Lesen des Erzählers begrifflich zu fassen erlaubt. Hier liest der Erzähler bei einer Station seiner Englischen Wallfahrt im Sailors’ Reading Room des ostengli-schen Küstenortes Southwold im Logbuch eines dort während des Ersten Weltkrie-ges vor Anker liegenden Schiffes. Wohl weniger der Inhalt der knappen Notate als vielmehr ihre Lage als „vereinzelte, von viel Weiß umgebene Eintragungen“ veran-lassen ihn zu einer Reflexion über das „rätselhafte Überdauern der Schrift“: „Jedes-mal, wenn ich eine dieser Aufzeichnungen entziffere, wundere ich mich darüber, daß eine in der Luft oder im Wasser längst erloschene Spur hier auf dem Papier nach wie vor sichtbar sein kann.“18 Die Sichtbarkeit der Spur auf Papier verdankt sich zunächst dessen Materialität, die der Schrift einen beständigeren Grund bietet als Wasser oder Luft. Auch Wasser und – unter bestimmten Bedingungen – Luft sind sichtbar, aber die Spuren, die sie durchziehen, sind es nur momenthaft. Dass sie darum nicht lesbar seien, ist damit nicht gesagt und tatsächlich ist der sebald-sche Erzähler mindestens genauso intensiv damit beschäftigt, derart unsichtbare Spuren zu lesen wie geschriebene. Bereits beim Lesen der sichtbaren Spur der Schrift auf Papier, das einem konventionellen Verständnis von Lesen entspricht, verdoppelt sich das Lesen im Sinne einer Lektürepraxis („entziffern“) um die Di-mension einer Lektüreerfahrung („wundern“). Das Entziffern – seinerseits wie be-reits gesagt gespalten in das mühevolle Buchstabieren und die interpretative Geste der Enträtselung – ist unmittelbar an die Materialität der Schrift, an den Buchsta-ben gebunden, während das Wundern gleichsam über ihn hinwegsehen, ihn über-lesen und sich direkt auf der Ebene der Bedeutungen der gelesenen Worte bewegen kann. An dieser Stelle wird der Umgang des Erzählers mit den Materialitäten des zu Lesenden fasslich, der tatsächlich ein Umgehen derselben ist. Im Gegensatz zum ersten Beispiel, in dem er schlicht die Augen verschließt, und zum zweiten, in dem er dem Entziffern durch die Selbstoffenbarung der Schrift entgeht, kommt dieses hier als erster Schritt des Lesens vor, um dann allerdings wieder im Imaginären zu verschwinden. So verweist das „Wundern“, das das „Entziffern“ beim sebaldschen Erzähler unmittelbar auslöst, bereits darauf, dass er ein Leser ist, der, selbst wo er mit Materialitäten konfrontiert ist, die sein wie jedes Lesen allererst verursachen, doch von diesen absieht, um sich den Bedeutungen, dem „Rätselhaften“, des Gele-senen zu widmen.

Die Verdoppelung des Lesen als Entziffern und Wundern bei Sebald hat einen Vorgänger in der Konzeption des Lesens bei Benjamin, die auf einen „merkwürdi-gen Doppelsinn des Wortes Lesen nach seiner profanen und auch magischen Be-deutung“ abhebt:

Der Schüler liest das Abcbuch und der Astrolog die Zukunft in den Sternen. Im ers-ten Satz tritt das Lesen nicht in seine beiden Komponenten auseinander. Dagegen

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