Upload
vonhu
View
214
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
1
Sonntag, 10. Februar 2013 (20:05-21:00 Uhr) KW 6
Deutschlandfunk - Musik & Information
FREISTIL
Mit den Ohren sehen
Die Soundwelt des Kinos
Von Burkhard Reinartz
Redaktion: Klaus Pilger
Produktion: DLF 2013
M a n u s k r i p t
Urheberrechtlicher Hinweis
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
©
- ggf. unkorrigiertes Exemplar -
2
A. Ausschnitt "Barbara" von Christian Petzold
Kommen Sie bitte!
Was machen Sie hier eigentlich in der Provinz? Aufpassen, dass sich niemand separiert?
Mir gefällt es hier.
Ich habe ein schlechtes Gefühl, aber ich kann's nicht erklären.
Barbara, lass mich nicht allein. Geh nicht weg!
Wie spät ist es?
Wollen sie mich überzeugen? Wovon? den Ausreiseantrag zurück zu ziehen?
Sprecher:
„Barbara“, ein Film von Christian Petzold. Musik: Stefan Will. Silberner Bär 2011 für die beste Regie –
Oskar-nominiert für den besten ausländischen Film.
O-Ton 1 Christian Petzold
Man ist ja von Musik umgeben. Die Musik wird benutzt. Sie wird benutzt, um Wahlen zu gewinnen, um
Gefühle zu steuern. Und wenn man das im Film weiter macht, dann hat man versagt. Das Kino ist kein
Parteitag und auch keine Werbung.
Sprecherin:
Christian Petzold
O-Ton 2 Christian Petzold
Wenn die Musik so ist, dass sie uns pathetische Schauer über den Rücken jagt, hab ich Schwierigkeiten.
Da machen die immer noch die Sachen aus "Spiel mir das Lied vom Tod": Die Kamera zieht hoch hinter
Claudia Cardinale her über das Haus und die Musik wird sphärisch – und das mag ich nicht.
Kurze Klangcollage:
20 Century Fox-Intro, alter Tobis-Vorspann aus Chaplin Zeiten
plus Metro Goldwyn Mayer Löwengebrüll
darin unter Löwe:
Zitator:
Mit den Ohren sehen – Die Soundwelt des Kinos
von Burkhard Reinartz
Collage 0.60
Mundharmonika-Thema aus "Spiel mir das Lied vom Tod"
Harry-Lime-Thema aus "Der Dritte Mann"
Dialog aus der Musikspur von "Citizen Cane"
"As time goes by" aus "Casablanca"
3
Szene aus Petzolds "Gespenster"
Sprecherin:
Alles begann 1895 in Paris, kurz nach Weinachten im "Grand Café" am Boulevard Cappucines.
O-Ton 3 Daniel Kothenschulte
Zum ersten Mal sahen die Leute bewegte Bilder auf einer Leinwand. Projizierte Bilder. Die Brüder Lumière
hatten das erfunden und ein Programm zusammengestellt, das abwechslungsreich war und gleichzeitig
auch sehr spannend.
Sprecherin:
Erzählt der Filmkritiker, Musikwissenschaftler und Pianist Daniel Kothenschulte. Kurze Schwarz-weiß-
Filme von nur einer Minute Dauer begeisterten oder erschreckten die Zuschauer. Ein Zug fuhr in den
Bahnhof ein und löste im Saal eine kollektive Panikattacke aus. Die Zuschauer dachten, sie würden
geradewegs überrollt.
Atmo: Stummfilm-Piano- live (Daniel Kothenschulte)
O-Ton 4 Daniel Kothenschulte
Ja, der Zug fährt ein und so ein Zug war ja damals sehr unheimlich auf der Leinwand
weiter unter Piano
Und dann steigen die Leute aus und alles ist schön.
Man sagt ja, dass sich die Leute sehr erschreckt haben vor dem einfahrenden Zug und sind aber alle
glücklich angekommen und deshalb vielleicht ein harmonischer Ausklang.
Sprecher:
Schon in der Geburtsstunde des Kinos begleitete ein Pianist die bewegten Bilder. Warum, das weiß bis
heute keiner so genau. Sollte die Musik das Klappern des Projektors übertönen, die fehlende Sprache
ausgleichen oder wie in Bars und Restaurants üblich für einen angenehmen Hintergrundsound sorgen?
Stummfilm-Piano - Kothenschulte
O-Ton 5 Daniel Kothenschulte
Die Filme waren ja sehr dramatisch und stimmungsvoll und die Pianisten spielten das aus ihrem
Repertoire, was dazu passte. Die Mondscheinsonate von Beethoven, wenn es stimmungsvoll war und die
Überleitungen improvisierten sie.
Sprecher:
Einige Produzenten legten später den Filmrollen Hinweise bei, unter welchem Filmausschnitt welche
Musik zu spielen sei, die sogenannten Cue-Sheets. Schon bald gab es Nachschlagewerke für alle
erdenklichen Stimmungen.
4
Zitator:
Kino-Kapellmeister – Augen auf!!
Eine wichtige Neueinrichtung:
mein Expressversand in- und ausländischer Kinomusik in jeder Besetzung
Ein einziger Versuch wird Sie von meinem Riesenlager überzeugen
Musik- Augustin Berlin
Musik aus
Sprecherin:
Der Stummfilm war eine technische Sensation, doch schon bald erlahmte das Interesse der Zuschauer an
den schlichten Vorführungen. Die Filmindustrie reagierte:
O-Ton 6 Daniel Kothenschulte
In dem Moment, wo die Kinos feste Häuser waren und sich an ein anspruchsvolles Publikum wandten,
wurden die Filme komplexer. Es waren große arbeitsteilige Produktionen nötig. Riesige Ausstattungsfilme
entstanden und dazu musste auch eine andere Musik gespielt werden, die den Ansprüchen dieses
anderen Kinos gerecht wurde
Sprecherin:
Die neuen Aufführungspaläste konnte weder ein einzelner Pianist, eine Kinoorgel oder ein kleines
Streicherensemble beschallen, nur ein ganzes Kinoorchester.
Musik : Charlie Chaplin: Der Brötchentanz aus „Goldrausch“
O-Ton 7 Daniel Kothenschulte
1925 hatte Chaplin sich so entwickelt, dass er ein großes Drama, "Goldrausch", machte, das Drama und
Komödie in einem war. Und gleichzeitig blühte in Russland die Avantgarde: Sergei Eisenstein drehte
"Panzerkreuzer Potemkin".
Schnitt auf
Musik : Hans Erdmann: Nosferatu-Thema
O-Ton 8 Daniel Kothenschulte
Eine Besonderheit des deutschen Films, die dann auch weltweit erfolgreich war, war der Expressionismus,
der aus der Literatur und Malerei in das Kino kam. Unter anderem "Das Kabinett des Dr. Caligari" von
Robert Wiene oder von Murnau "Nosferatu – eine Symphonie des Grauens" – und diese Symphonie war
eben auch eine musikalische. Hans Erdmann hat das für den Film komponiert.
kurz frei und aus
5
Sprecherin:
Das Jahr 1927 revolutionierte das Kino. Der Tonfilm löste den Stummfilm ab. Im Film "Der Jazzsänger"
sprach zum ersten Mal ein Mensch von der Leinwand herab zum Publikum – was in den New Yorker
Kinos zu wahren Begeisterungsstürmen führte. Die stummen Leinwandgestalten begannen plötzlich zu
sprechen – und wirkten dadurch lebendiger.
Sprecher:
Für die Filmmusik hatte der Aufstieg des Tonfilms radikale Konsequenzen. Abgesehen von der
Untermalung des Vor- und Abspanns erschien sie erst einmal überflüssig. Mitten in der Zeit der
Weltwirtschaftskrise wurden Tausende von Kinomusikern arbeitslos. Mit Kampagnen und Flugblättern
wehrten sie sich – vergeblich – gegen den Tonfilm.
Zitator:
Die große Lüge des Tonfilms:
Der Tonfilm hält nicht, was er verspricht!
Das Kino soll Euch nach des Tages Last erfreuen und entspannen!
Das Kino soll Euch gute Musik bieten!
Erfüllt der Tonfilm eure berechtigten Wünsche? - NEIN!
Der Tonfilm verdirbt Gehör und Augen!
Der Tonfilm wirkt nervenzerrüttend
Fordert lebendes Orchester!
Meidet den Tonfilm!
Sprecherin:
In Deutschland war Walter Ruttmanns "Melodie der Welt" aus dem Jahr 1929 der erste abendfüllende
Tonfilm. Die Gewinne der Filmkonzerne stiegen in Amerika auf Rekordniveau.
Sprecher:
Während die Kinomusiker ihre Arbeit verloren, entstanden in den Filmstudios im Laufe der Zeit
differenzierte Musik-Departments mit Arrangeuren, Toningenieuren und ganzen Filmorchestern. In
Babelsberg wurde 1932 das erste Ufa-Symphonieorchester gegründet.
Musik: Max Steiner: King-Kong-Thema
O-Ton 10 Daniel Kothenschulte
Die wenigen Stummfilmmusiker, die noch einen Job hatten, spielten jetzt in den Filmstudios, zum
Beispiel in Hollywood, wo Max Steiner symphonische Filmmusik für zum Beispiel "King Kong"
komponierte.
6
Sprecherin:
Das, was heute "Hollywood-Sinfonik" genannt wird: großflächige Musikpassagen, die fast den ganzen
Film begleiten, selbst unter den Dialogen - wobei im sogenannten Underscoring die Sprachspur einfach
herunter gezogen wird.
Sprecher:
Die Hollywood-Sinfonik spiegelte das Geschehen auf der Leinwand Eins zu Eins. Bei dramatischen
Szenen kamen die tiefen Streichinstrumente wie Kontrabässe oder Violoncelli zum Einsatz. Bei
romantischen Liebesszenen wimmerten die Streicher. Heldenhafte Kampf- und Actionszenen waren den
Blechbläsern vorbehalten. Musik aus
Sprecherin:
Der Schweizer Musikwissenschaftler Hans-Jörg Pauli unterscheidet drei unterschiedliche Arten von
Filmmusik:
Zitator:
Als paraphrasierend bezeichne ich eine Musik, deren Charakter sich direkt aus dem Charakter der Bilder,
aus den Bildinhalten, ableitet. Als polarisierend bezeichne ich eine Musik, die kraft ihres eindeutigen
Charakters inhaltlich neutrale oder ambivalente Bilder in eine eindeutige Ausdrucksrichtung schiebt. Als
kontrapunktierend bezeichne ich eine Musik, deren eindeutiger Charakter den Bildern, den Bildinhalten,
klar widerspricht.
Sprecherin:
Stefan Will hat fast alle Filme Christian Petzolds instrumentiert. Der Hamburger Filmkomponist macht
keinen Hehl daraus, dass ihn die die paraphrasierende Technik der Hollywood-Sinfonik langweilt.
O-Ton 11 Stefan Will
Ich unterteile das in wirklich rein illustrative begleitende Musik, wie man sie zum Beispiel in einem
Comic-Film hat, wo die Musik genau das doppelt, was in dem Film passiert oder was im Kopf der
Menschen vor sich geht – bis zum anderen Extrem, wo die Musik exakt das Gegenteil von dem macht,
was man sieht. Da gibt es eine romantische Liebesszene und Musik macht eine schräge kakophonische
Atmosphäre, die total bedrohlich ist. Die Musik nimmt da eine Position ein, die weit über das hinausgeht,
was man sieht. Das sind die beiden Extreme. All das dazwischen kann Musik auch erfüllen. Da gibt es
sehr viele Zwischenstufen. Wie sich die Musik immer mehr von dem, was man im Bild sieht, löst, 19 also
einen eigenen Standpunkt einnimmt.
Sprecherin:
Max Steiner schuf mit "King Kong" nicht nur den ersten großen Soundtrack der Hollywood-Sinfonik. Er
war es auch, der das auf Richard Wagner zurückgehende "Leitmotiv" in die Filmmusik einführte. Es soll
die Handlung des Films strukturieren und den Zuschauern helfen, Personen, Orte oder Ideen besser
zuzuordnen.
7
Start Musik
Mit das bekannteste Leitmotiv der Filmgeschichte: das Tara-Thema aus "Vom Winde verweht"
Musik: Max Steiner: Tara-Motiv - aus "Vom Winde verweht"
Sprecher:
Die Dreißiger- und Vierzigerjahre gelten als "Goldene Ära" der orchestralen Filmmusik. Die wichtigsten
Komponisten dieser Zeit waren bereits erfolgreich bevor sie sich Hollywood zuwandten. Und die meisten
hatten eines gemeinsam: sie waren Europäer, die vor dem Terror des 3. Reichs geflohen waren:
Komponisten wie Erich Wolfgang Korngold, Franz Waxman und Friedrich Hollaender.
Sprecherin:
Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs bekam das Hollywood-Kino Probleme. In der Weltwirtschaftskrise
und während des Krieges waren die Menschen ins Kino geströmt. Jetzt blieben sie zuhause und ließen
sich von ihren Schwarz-Weiß-Fernsehern unterhalten. Die Filmkonzerne versuchten, dagegen zu halten.
Mit Breitwandformat, Farbe und Monumentalfilmen.
Musik aus mit angezerrtem Abriss
Sprecher:
Auch die Hollywood-Sinfonik kam auf den Prüfstand – und bis zur Rückkehr einer geläuterten
Orchestralmusik in den Siebziger Jahren ins Abseits. Der Regisseur Howard Hawks feuerte 1962 seinen
Komponisten als er in dem Abenteuerfilm "Hatari" Streicher einsetzen wollte.
Musik: Henry Mancini: Elephant walk
Sprecher:
"Bloß keine Geigen", war die Devise – die Henry Mancini dann mit Schweineorgel, Blech-und
Holzbläsern im berühmten "Elephant Walk" umsetzte. Musik aus
Sprecherin:
Ab den 50er, 60er Jahren waren dann zeitgenössischer Jazz, Rock' n Roll und später Rockmusik mit
Synthesizer und E-Gitarre als Leitinstrument angesagt.
Film / Filmmusik-Collage
- “Apocalypse Now”
- “James Bond jagt Dr. No”
- “Easy Rider”- “Born to be wild“-
Sprecherin:
In den Sechziger Jahren machte eine neue Generation von Filmemachern und Musikern ihre ersten
Erfahrungen mit dem Medium Film. Heute sind deren Filme und Klänge auf den Festivals der Welt zu
8
sehen und zu hören. In Deutschland neben anderen auch der Regisseur und Drehbuchautor Christian
Petzold und sein Komponist Stefan Will. Die beiden hatten sich zufällig über eine gemeinsame Freundin
bei einem Videoabend kennengelernt.
Musik: Steppenwolf: “The Pusher”
O-Ton 12 Christian Petzold
Natürlich gab's Filmmusikerfahrung: im Kino unterm Hallenbad: "Easy Rider" und der Song "Born to be
wild" und die Songs der Byrds, die wir dann alle gekauft haben, aber das waren so Songs und Jugend.
Musik: Richard Strauss: Also sprach Zaratustra
O-Ton 13 Stefan Will
Die ersten Filme, bei denen mir Musik aufgefallen ist, waren zwei Stanley Kubrick-Filme: „2001 –
Odyssee“ und der andere war „Barry Lyndon“. Und das war deswegen so, weil dort Musik verwendet
wurde, die ich eigentlich als pure Musik kannte und sie dort plötzlich in einem Bilderkontext auftaucht
und sie eine andere Bedeutung bekam. Bei „Barry Lyndon“ war das dieses Händel-Stück und bei „2001“
war es Richard Strauss: „Also sprach Zaratustra“. Und später auch die Ligeti-Sachen.
Musik 7: Bernard Hermann: „Vertigo“. Prelude and Rooftop
O-Ton 14 Christian Petzold
Filmmusik, die entweder unter oder neben oder über dem Film läuft hab ich erst innerhalb der Hitchcock-
Retro entdeckt, als der Hitchcock von Franz Waxman zu Bernard Hermann gewechselt ist, auch ein
deutsch-jüdischer Exilant, wir haben ja im Grunde alles verloren zwischen 1933 und 45. Und der Bernard
Hermann ist so eine Mischung aus Wagner und Mahler. Und als diese Filme da liefen, "Vertigo",
"Marnie", da hab ich die Filmmusik zum ersten Mal bewusst wahr genommen, weil diese Melodien
gingen weiter, wenn der Film zu Ende war. Das war im Grund ne sehr klassische und gleichzeitig auch
sehr moderne Filmmusik, die Hitchcock benutzte.
Musik: Bernard Hermann: “Taxi Driver”
O-Ton 15 Christian Petzold
Ich fing dann an, nur noch ins Kino zu gehen – völlig „vernerdet“ – und diese Filmmusik aus Taxi Driver,
dieses berühmte Thema, las ich dann in den Credits, dass das auch von Bernard Hermann ist. Und ich
dachte: das ist ne Verbindung, dass jemand in den 50er Jahren für den Hitchcock arbeitet, dann in den
70er Jahren für Scorsese. Beide Male hat man das Gefühl, dass eine Gesellschaft in der Auflösung ist. Bei
„Taxi Driver“ löst sich etwas auf, als ob die Musik melancholisch zurückschaut auf etwas, was gerade
verschwindet.
weiter Musik
9
O-Ton 16 Stefan Will
Und dann später „Fahrstuhl zum Schafott" mit der improvisierten Musik vom Miles Davis-Quintett. Das
war für mich ein totaler Meilenstein
Musik: Miles Davis: „Nuit sur les Champs-Elysées“
Sprecherin:
In den Stunden zwischen Mitternacht und dem frühen Morgen des 4. Dezembers 1957 entstand in Paris
eine Filmmusik der besonderen Art.
Sprecher:
Der junge Filmregisseur Louis Malle hatte Miles Davis bereits am Flughafen abgefangen, um ihn als
Komponisten für seinen ersten Spielfilm zu gewinnen: "Fahrstuhl zum Schafott", ein Film Noir mit
Maurice Ronet und Jeanne Moreau in den Hauptrollen.
Sprecherin:
Das Quintett des Trompeters gab ein Konzert im „Theatre Olympia“ und gastierte anschließend drei
Wochen lang im Club St. Germain. Miles Davis ließ sich auf den Vorschlag von Louis Malle sofort ein.
Zusammen mit seiner Band sah er sich die vom Regisseur ausgewählten Szenen an und begann zu
improvisieren. Es gab weder Arrangements, noch Proben oder festgelegte Akkordwechsel. Die Musik:
karg, skizzenhaft, minimalistisch – und doch von einer suggestiven Kraft.
Musik aus
Zitator:
Ein glücklicher Moment der Filmmusikgeschichte, in dem Bild und Klang in einer Art Kernfusion
zusammenschossen.
Sprecherin:
Schrieb Manfred Pabst in der Neuen Züricher Zeitung.
Sprecher:
"Fahrstuhl zum Schafott" war einer der ersten Filme, in denen Jazzklänge und bewegte Bilder stimmig
zusammen fanden. Zwei Jahre vorher Otto Premingers "Der Mann mit dem goldenen Arm". In der
Hauptrolle Frank Sinatra als Schlagzeuger und Ex-Junkie. Es sollten etliche Jazzfilme folgen:
Herausragend: Bertrand Taverniers "Round Midnight" mit Dexter Gordon als Saxofonist.
Musik: Ennio Morricone: “Deborah's Theme”
O-Ton 17 Stefan Will
Ennio Morricone – mit Sicherheit auch ne frühe Prägung. An dem kommt man mit Sicherheit nicht
vorbei. einerseits wegen seiner harmonischen Vielfalt und seiner unglaublichen Melodien. Ich kenn auch
10
schlechte Filmmusik von ihm, aber da gibt's ein paar Beispiele, die sind so sensationell.
Sprecher:
Zum Beispiel "Deborah's Theme" aus Sergio Leones Film "Es war einmal in Amerika". Robert De Niro in
der Grand Central Station New York: Selten hat Filmmusik dem Schmerz und der Süße der Erinnerung im
Gesicht eines Schauspielers eine intensivere Stimme gegeben.
kurz hoch und weiter
Zitator:
Wenn ein Regisseur will, dass die Musik funktioniert, muss er ihr Raum geben.
Sprecherin:
Ennio Morricone
Musik aus
O-Ton 18 Christian Petzold
Der Morricone kommt ja aus der italienischen Avantgardemusik und hatte unglaublich gute
Arrangements. Mir ist dann klar geworden: Eigentlich sind es die Arrangements und nicht die Melodien,
die eine gute Filmmusik ausmachen. Später als ich dann Delerue gehört hab, der im Grunde nur Bachs
„Cello-Suite No. 1“ arrangiert und das mit Barber's „Violinkonzert“ verbindet und plötzlich wird das ein
Raum, macht die Filmmusik eine Tür auf. Und das ist etwas, was mich bis heute beschäftigt: wie Musik
einen Raum aufmachen kann und an welcher Stelle sie das macht.
Zitator:
Von allen künstlerischen Bereichen besteht für mich die engste Verwandtschaft zwischen Musik und Film.
Es geht ja im Film darum, Zeit zu gestalten. Dauer, sonst das Maß der Zeit, wird im Film dazu eingesetzt,
die Zeit vergessen zu machen. Auch das, was man Phrasierung nennt, also der erzählerische Gestus,
kommt aus der Musik. Ich glaube, dass im Film und in der Musik die Klarheit und Stimmigkeit, die
Atmosphäre das wichtigste sind: der Ton, die Geräusche, der Rhythmus.
Sprecher:
Manfred Eicher, ECM-Records
Filmausschnitt Gespenster: Fahrt im Cabrio durch die Stadt unter Bach-Musik und Fahrgeräuschen
Der Mann legt eine Bachkantaten-CD in den Player. Die Frau fragt nach einer Weile: "Gardiner?" – der
Mann antwortet: "Richter"
Sprecherin:
Auf keiner Konzertbühne der Welt erreicht Musik derartig viele Zuhörer wie im Kino. Die meisten
Filmmusiker fristen dagegen ein Dasein jenseits des Rampenlichts. Mit Ausnahmen wie John Williams,
11
Ennio Morricone oder der Hollywood-Star Hans Zimmer. In keinem Konzertsaal ist das Publikum derart
gemischt wie im Kino – und extrem unterschiedlicher Musik ausgesetzt.
Sprecher:
Nirgendwo sonst hören Menschen derartig avantgardistische Töne wie im Kino. Sogenannte "Neue
Musik", der sich im Konzertsaal nur eine Minderheit von geschulten Hörern aussetzen würde, dominiert
ausgerechnet den Blockbuster "Der Exorzist" von William Friedkin: unter anderem Klänge von Anton
Webern, Krysztof Penderecki und Hans Werner Henze.
O-Ton 19 Christian Petzold
Diese alte Idee, über die wir immer wieder reden, der Stefan Will und ich, ist: Einer unser Lieblingsfilme:
"The Long Goodbye“ von Robert Altmann – John Williams hat, glaub ich, die Filmmusik gemacht. Und
der hat einen fantastischen Song im Stil von Cole Porter geschrieben. "It's a long goodbye and it happens
everyday". Das ist ein großes Abschied nehmen von Menschen, die wissen, dass sie nie zusammen
bleiben können und dass das ganze Leben ein einziges Abschiednehmen ist. Dieses Stück zieht sich
durch den ganzen Film hindurch. Wenn der Elliott Gould den Supermarkt betritt, ist das die Muzak in
dem Supermarkt, wenn er nach Mexiko fährt, um raus zu bekommen, ob sein Freund dort unter Eis liegt,
also ob die Leiche eingeeist ist, da zieht eine Mariachi-Combo vorbei und spielt auch diesen Song. Also
wir haben nur einen einzigen Song, der in allen Variationen durch den Film geht. Und das fanden wir
beide genial. ich glaube, dass fast alle Filme, die mir was bedeutet haben, sowieso nur ein Thema haben.
Die variieren das Thema, aber sie füllen nicht ein Thema neben das andere.
Sprecherin:
Weshalb auch in Petzolds Filmen meistens nur ein zentrales Thema auftaucht.
Musik: Stefan Will: „Drei Leben“ – „Abschied“ - verzahnt mit
Musik: „Nada é em vao“
O-Ton 21 b Stefan Will
Bei "Drei Leben" haben wir das versucht, in dem das Hauptthema noch mal in einem Song verarbeitet
wird, der sozusagen die Hauptmelodie übernimmt, so ein Brazil-Song, der dann in einer Partyszene
auftaucht.
mit Stimme rauskommen, kurz frei und aus
O-Ton 22 Christian Petzold
Wenn man heute viele Filme aus Hollywood sieht, sind sie musikverseucht und es ist sehr, sehr schwer
hinter der Musik die Schönheit des Films zu entdecken. In den letzten Jahren die Entdeckung der Stille,
das hat mir sehr gefallen, weil es von der Liebe zur Musik erzählt, die man eben nicht benutzt.
12
Sprecherin:
Diese Haltung Christian Petzolds hat Konsequenzen für die Arbeit von Stefan Will. Sparsam eingesetzte
Akzente sind viel schwieriger zu komponieren als ein Breitband- Score, der den Film permanent begleitet.
Zitator:
Ich habe mein ganzes Leben lang Musik komponiert, aber die beste Art von Musik ist für mich immer
noch die Stille.
Sprecherin:
Maurice Jarre
O-Ton 23 Christian Petzold
Aus Liebe zur Musik muss ich auf Musik manchmal verzichten.
Filmatmo: leise Zuggeräusche oder Regen aus der Ferne
Sprecher:
Bei kaum einem anderen Regisseur spielt Musik eine so geringe Rolle wie in den Filmen Andrej
Tarkowskis, bei wenigen bilden Stille und Geräusch so sehr den Raum, ersetzen Regen oder Schritte den
Klang und Rhythmus der Musik. In seinem Essayband "Die versiegelte Zeit", schreibt Tarkowski, wie
einfältig ihm Musik als Handlungsverdoppler und Gefühlsverstärker erscheint:
Zitator:
Man könnte fast vergessen, dass die Welt schon von sich aus sehr schön klingt, dass das Kino überhaupt
keine Musik benötigt, wenn wir nur richtig zu hören lernten.
Sprecherin:
Wer wie Tarkowski nach der "Inneren Zeit der Stille" sucht, muss konsequenterweise den Einsatz von
Musik reduzieren, um die Wirkung der Bilder nicht zu gefährden. Tarkowski nimmt den Ausdruck der
Gesichter als Melodie und die Bewegung der Kamera oder die Geräusche eines Zugs als Metrum – Der
Film an sich wird bei ihm zur Musik.
Musik : Thomas Newman: Dead Already
O-Ton 24 Daniel Kothenschulte
Ab den siebziger Jahren haben wir viel mehr perkussive Musik, die von Jazzleuten stammt. Die
dramatischen Szenen sind viel minimalistischer untermalt als man es vorher gemacht hätte oder in den
90er Jahren, wo der Film "Rain Man" mit afrikanischen Rhythmen arbeitete, einen perkussiven Sound als
Basis benutzte und das wurde dann vielfach imitiert, zum Beispiel von Newman in "American Beauty".
13
Sprecherin
Den Trend, den der Filmkritiker und Musikwissenschaftler Daniel Kothenschulte beschreibt, hat die
Klanglandschaft des Kinos deutlich verändert. Zwar gibt es in manchen Filmen weiterhin orchestrale
Scores – doch bei Produktionen jenseits von Hollywood haben sich kargere Klänge durchgesetzt. Neu ist
die Bedeutung von elektronischen Instrumenten, entweder als einzige Basis der Musik oder als
Zusammenspiel von Elektronik und Orchester.
Musik aus
Sprecher:
Bereits Ende der 80er Jahre komponierte James Horner den Soundtrack zu "Der Name der Rose" auf dem
Synclavier mit Bausteinen eines gesampleten Orchesters.
O-Ton 25 Daniel Kothenschulte
Tom Tykwer arbeitet mit elektronischen Instrumenten, die er dann zusammen mit anderen Musikern im
Studio weiter entwickelt, die sich dann auch erweitern lassen. Tykwer hat ja dann auf der Basis seiner
improvisierten Musik mit den Berliner Symphonikern gearbeitet für "Das Parfüm".
O-Ton 26 Stefan Will
Musik zu Filmen, die ich vertone, entsteht total unterschiedlich. Bei einer klassischen Komposition sitz
ich am Flügel und denk mir das aus. Ein Thema oder eine Akkordfolge. Und das wird am Computer
umgesetzt mit künstlichen Instrumenten und später meist mit echten Musikern. Und je sparsamer die
Besetzung ist desto schwieriger wird es eigentlich. Während elektronische Musik nur am Computer
entsteht, also wenn man so was sehr geräuschmäßiges macht, da sitz ich gar nicht am Klavier, sondern
sitzt man am Computer, durchforstet seine Sound-Bibliotheken und sucht nach dem richtigen Anfang.
Das ist so eine Collagenarbeit - mehr als ein Komponieren.
Musik: Stefan Will: Die innere Sicherheit
O-Ton 27 Stefan Will
Die Musik aus der „Inneren Sicherheit“, das sind eher so atmosphärische Fragmente. Es gibt nicht
wirklich ein Thema oder eine Melodie.
O-Ton 28 Christian Petzold
Den haben wir im Jahr 2000 gedreht. Der Stefan und ich haben in der Zeit angefangen, Musik zu hören,
die so‘n bisschen aus dem House- und Technobereich kommt, aber eher in Klangteppichen
weitergemacht hat. Ich kann mich noch erinnern, die Musik taucht zum ersten Mal richtig stark auf, als
die Familie fliehen muss aus Portugal, in einen Tunnel vor Lissabon fährt, um von dort auf die Autobahn
zu kommen. Und in diese Fahrt in den Tunnel hinein taucht diese Musik auf und in dem Thema ist etwas
drin, was nicht nur heißt "Fahren", wir sind "On the road", sondern ein Druck ist da drin, der unten im
Bass arbeitet. Es ist nicht nur die Familie, die einsam auf Autobahnen dahin driftet, sondern es ist auch
der Druck eines jungen Mädchens, die ins Leben will. Und ein Aufbruchsthema in so einem coolen
14
gelassenen Stück zu versenken, das hat der Stefan großartig gemacht.
B Filmausschnitt "Die innere Sicherheit"
Du hattest Recht, wir müssen uns die Wahrheit sagen. – Meine Eltern und ich, wir sind in einer Sekte, das
ist wirklich sehr schwer für mich.
Du lügst doch!
Nein das stimmt.
Hör auf, zu lügen. Ich glaub dir nicht, du lügst. Ich weiß nicht, wer Ihr seid, aber ihr habt die Bank
überfallen. - Ich hab doch recht. ---
Wir leben im Untergrund.
Was für ein Untergrund?
Sprecherin:
Im Jahr 2000 dreht Petzold "Toter Mann"
Musik: Stefan Will: Toter Mann
O-Ton 29 Christian Petzold
Ich hab dem Stefan gesagt, es sieht verdammt danach aus, dass es keine Musik geben wird. Und ich
wollte nur, dass wenn der Film zu Ende ist und die traumatisierte Rächerin wird aus diesem Bunker
abgeführt, dass das ein ganz langer Gang der Vergeblichkeit ist. Sie hat ihr Leben verpasst. Der Anwalt
hat seine Liebe verpasst und sie sitzen erschöpft und bis auf die Knochen frierend in einem
Krankenwagen. Und eine Musik, die dem hinterher fühlt. Dafür brauchte ich eine Musik. Und da wir das
alles in ganz leichter Zeitlupe gedreht haben, diese Zeitlupe hat er auch in seiner Musik drin. Man hat das
Gefühl, dass die Musik sagt: was macht ihr da eigentlich? was habt ihr da angerichtet?
C. Filmausschnitt Collage Jerichow
Alles o.k.?
Ich hab mir ein Grundstück in der Türkei gekauft, ein Ferienhaus. Es soll für immer sein.
Mich hat nur das Geld interessiert.
Du denkst, das ist nicht schlimm?
Ja, isses nicht.
Was machst Du denn da?
Nichts, ich dachte, da wär irgendwas.
Laura ist ne schöne Frau, ne?
Ich hab dich beobachtet heute Morgen...
O-Ton 30 Stefan Will
Die Musik zum Film "Jerichow", die kommt genau viermal in dem Film vor und unterteilt einerseits den
Film in Kapitel und andererseits spiegelt sie auch die tragische Geschichte wieder.
und aus
15
O-Ton 31 Stefan Will
„Barbara“ – Es gibt ja ganz viele Szenen, wo der Wind bläst und sie mit dem Fahrrad durch den Wund
fährt und irgendwie waren wir der Meinung, man braucht für den Film eher etwas Getriebenes. Wir haben
ja eher was ganz ruhiges in den Christian Petzold-Filmen und da lag es nahe, was Getriebenes zu
machen.
Sprecherin:
Nina Hoss, als in die Provinz strafversetzte ehemalige Charité-Ärztin hörte Lieder von Wolf Biermann, um
sich auf Ihre Rolle vorzubereiten. Auch Christian Petzold dachte unabhängig von ihr an diese Musik und
assoziierte sie mit dem vergeblichen Kampf der deutschen Brigaden gegen den Franco-Faschismus. Eine
Art Flamenco-Thema.
O-Ton 32 Christian Petzold
So eine Musik muss das sein, um diese Aggressivität und Melancholie im selben Moment in dieses
Thema zu bringen.
Musik 17: Stefan Will: „Barbara“ - Thema
O-Ton 33 Christian Petzold
Da ist ein Druck in dieser Musik und auch etwas, was aus der Fremde kommt und der Kommunismus hat
ja auch was Religiöses, dass irgendwo da draußen, in der Zukunft eine bessere Gesellschaft ist, davon
erzählt die Musik. Alle, die dort spielen, sind nicht als Fan des westdeutschen Kapitalismus auf die Welt
gekommen, sondern als Sozialisten. Deshalb sieht man in ihr eine Enkelin der Partisanen aus dem
spanischen Bürgerkrieg.
Musik aus
Sprecherin:
Wie und wann die Filmmusik in Petzolds Filmen entsteht, dafür gibt es keinen festen Fahrplan.
Musik: Stefan Will: Cuba Libre
O-Ton 34 Stefan Will
Wir haben da eigentlich alles probiert. Musik zum Drehbuch, Musik, bevor ich überhaupt irgendwas
wusste, bis Musik, wenn der fertige Film fertig ist. ... „Cuba Libre“, das war der allererste Film, den ich für
ihn gemacht habe. Da kannte ich noch nicht mal das Drehbuch, da kannte ich gar nix. Er hat mir grob die
Geschichte erzählt. Daraufhin hab ich die Musik gemacht. Die fand er auch toll, aber das funktioniert von
20mal einmal.
O-Ton 35 Stefan Will
Das ist eine Musik aus einem Christian Petzold-Film "Drei Leben" und die ist entstanden, bevor der Film
16
entstanden ist, also eine von den beiden Musiken, wo das mal geklappt hat. In diesem Fall wurde sie
dann genau wie sie ist im Film eingesetzt, von der Cutterin drunter gelegt und die blieb auch so. Ich mag
die nach wie vor sehr gerne und finde auch, es ist eine sehr typische Arbeit für Petzold.
Sprecherin:
Sparsam, dezent und doch prägnant, so möchte Stefan Will Filmmusik verstanden wissen.
O-Ton 37 Stefan Will
Es gibt Musik, die sich so den Bildern unterordnet, dass sie eigentlich überhaupt nicht auffällt und es ist
so‘n Satz, der in der Filmszene kursiert: Filmmusik ist dann gut, wenn man sie nicht bemerkt. Das ist
etwas, was ich eigentlich nicht unterschreiben würde, weil ich finde, gerade wenn Musik auffällt hat sie
die Chance, nicht nur das zu doppeln, was in den Bilden passiert, sondern ne eigene Rolle, eine eigene
Funktion einzunehmen.
Sprecherin:
Das sieht der Filmkritiker Daniel Kothenschulte ganz ähnlich.
O-Ton 38 Daniel Kohtenschulte
Eine Musik, die man nicht hört, die will ich auch gar nicht hören. Die Vorstellung, mit Musik konfrontiert
zu sein, die nicht wert ist, aufmerksam gehört zu werden, ist unerträglich. Das haben wir genug in
Fahrstühlen, Flughäfen oder beim Fernsehen. Nein, Musik möchte ich mit beiden Ohren hören und wer
mir das Vergnügen raubt, der tut das gleiche wie eine schlechte Kamera, die bloß den Schauspielern
hinter her läuft und keine Bilder macht. Das wollen wir nicht sehen im Kino.
Sprecherin:
Christian Petzold reagiert empfindlich auf emotional manipulierende Klänge. "Überwältigungsmusik"
nennt er solche Klänge.
O-Ton 39 Christian Petzold
Da machen die immer noch die Sachen aus "Spiel mir das Lied vom Tod": Die Kamera zieht hoch hinter
Claudia Cardinale her über das Haus und die Musik wird auch sphärisch – und das mag ich nicht. Ich will
damit nicht sagen, dass die Melodien oder Themen schwach sein müssen. So starke Themen, die so sind
wie Kapiteleinteilungen oder ein Kapitel abschließen oder sagen: hier ist nichts abzuschließen oder: wir
wissen nicht weiter. Wenn Musik an dieser Stelle steht, mag ich es sehr. Wenn die Musik aber so ist, dass
sie uns pathetische Schauer über den Rücken jagt, hab ich Schwierigkeiten. Das mag ich dann nur, wenn
die Regisseure sich darüber bewusst sind und nicht sagen: hier an dieser Stelle geht der Zuschauer ab
wie ne Granate.
Musik: Jürgen Knieper: Der Himmel über Berlin
17
Sprecherin:
Nicht zufällig setzen viele Filmemacher auf die emotionale Kraft der Musik. Hören ist ein vitaler Ursinn
und vor allem dem Stammhirn des Menschen zugeordnet. In der Entwicklung des Embryos entsteht er
als erste Sinneswahrnehmung. Töne dringen tief ins Unterbewusstsein ein, sie gehen unter die Haut.
Sprecher:
Aus dieser Funktion des Hörsinnes haben Filmtheoretiker gefolgert: das Ohr sei für die emotionale Seite
des Films zuständig, sozusagen für die Fühlarbeit, während der Sehsinn, der hauptsächlich in der
Großhirnrinde lokalisiert ist, mehr für die rationale Wahrnehmung, für das Zusammenfügen der
einzelnen Filmsegmente zuständig sei. Bilder für den Kopf? Musik für's Gefühl? Daniel Kothenschulte
widerspricht:
O-Ton 40 Daniel Kothenschulte
Natürlich entwickeln Bilder Emotionen, sonst hätten wir doch gar nicht diese Propaganda-Geschichte, wir
hätten überhaupt nicht diese Erschütterung, die wir haben, wenn wir Bilder von Holocaust sehen, alles
Quatsch. Die ganze Kunstgeschichte arbeitet mit Gefühlen. Dieses Erbe wird natürlich vom Kino genutzt
und bedient. Und das zweite ist die Musikgeschichte. Und nichts war einfacher als beides zusammen zu
führen.
Musik: Dionne Warwick: What the world needs now
Sprecher:
Beim Drehbuchschreiben unternimmt Christian Petzold oft Reisen mit der Bahn. Den Laptop vor sich
schaut er aus dem Fenster, denkt an mögliche Szenen des Films und hört mit dem Inneren Ohr Musik.
Häufig fallen ihm aber auch zu Hause bereits existierende Songs ein, die mit der Stimmung des
Drehbuchs korrespondieren.
O-Ton 41 Christian Petzold
Bei "Toter Man" war es klar, dass es Burt Bacharachs "What the world needs now is love" ist. Und den
hörte ich dann auch dauernd. Ich weiß noch, es wurde von Bauarbeitern ein Gerüst hoch gezogen und da
hörte ich wie einer sagte: "Ich glaub, hier wohnt nen Schwuler". Das fand ich total gut, lacht – weil
morgens um elf Dionne Warwick-Songs aus ner Kreuzberger Wohnung hören, das ist irgendwie nicht in
Ordnung.
Musik aus
O-Ton 42 Daniel Kothenschulte
"Do not forsake me, my Darling", "High Noon", Dimitri Tonkin, gesungen auf der Schallplatte von Tex
Ritter. "Que Sera" von Doris Day. Natürlich. Seit der Stummfilmzeit gab es Theme-Songs, Schlager, die
promotet wurden durch den Film. Das war schon immer so. Und das ist höchst effektiv.
18
Sprecherin:
"Moon River" von Henry Mancini aus "Frühstück bei Tiffany" oder "Mrs. Robinson" und "The Sound of
Silence" von Simon & Garfunkel. Die Reihe der erfolgreichen Filmhits lässt sich bis zur Gegenwart
verlängern. Der Titelsong von "Titanic", "My heart will go on" von Celine Dion" war nicht zuletzt der
Hintergrund für den enormen Erfolg des Soundtracks. 24 Millionen Tonträger wurden allein im ersten
Jahr ausgeliefert. Verkaufszahlen, die nur von "Saturday Night Fever" mit den Songs der BeeGees
übertroffen wurden. Dabei lief der Titanic-Hit nur über dem Abspann und wurde vorher als dezentes
Leitmotiv nur an wenigen Stellen des Films angedeutet.
Musik: Shirley Bassey: “Goldfinger”/Adele: “Skyfall”
Sprecher:
Die clevere Doppelvermarktungs-Strategie von Film und Titelsong zeigen die James Bond Filme. Zu fast
jedem Film wurde ein Song komponiert, der in die Charts kam und gleichzeitig den Filmerfolg ankurbelte.
Die Interpreten lesen sich wie eine illustre Geschichte der Pop-Musik: von Shirley Basseys „Goldfinger"
über Paul McCartneys "To live and let die" bis zu Adele im Titelsong von "Skyfall".
Musik : Tim Hardin: How can we hang on to a dream
O-Ton 43 Daniel Kothenschulte
Am Anfang von "Die innere Sicherheit", wenn das Mädchen in die Jukebox eine Münze wirft und dann
kommt dieser Song raus, was so ein Zeitbruch ist: ein Song aus den 60er Jahren in einer Szene, die in der
Gegenwart spielt, aber davon handelt, dass die Eltern mit einem Traum herumfahren, nämlich von ihrer
rebellischen terroristischen Existenz, das ist schon höchst eindrucksvoll.
O-Ton 44 Stefan Will
Grundsätzlich find ich Musik unter Dialogen meistens überflüssig. Wenn die Leute das gut spielen,
nimmt man das auch so wahr. Das macht man eigentlich nur, wenn es schlecht inszeniert ist und der
Regisseur sagt, hier musst du mir ein bisschen helfen, das haben die nicht so gut gespielt. Das ist in
Petzold-Filmen nicht nötig. Godard hat es übertrieben. Es ist bei ihm ein Kunstmittel.
E. 1 Filmausschnitt Jean-Luc Godard: Nouvelle Vague
O-Ton 45 Daniel Kothenschulte
Godard denkt ganz anders, der ist ein Montagekünstler, der ist von Eisenstein beeinflusst, der die
kontrapunktische Ton/Bild-Montage empfohlen hat, das heißt, was wir hören untermalt nicht das
Geschehen linear, sondern setzt etwas dagegen. "Nouvelle Vague" hat mir damals die Ohren geöffnet,
wie gut man Ton montieren kann. Und zwar nicht nur die Musik, sondern auch die Geräusche.
E. 2 Filmausschnitt Godard: „Nouvelle Vague“
19
Sprecher:
In der Stummfilmära waren die Projektor-Geräusche noch störendes Beiwerk, das mit Klavierklängen
zugedeckt wurde. Seit den 70er Jahren gelten Geräusche als kreatives Gestaltungselement im Rahmen
des Sounddesigns. So wird der Schuss einer Pistole, der im Alltag eher wie eine Knallerbse klingen würde,
nachträglich dramatisiert.
Sprecherin:
Der überlaute Sound der Tennisbälle in Michelangelo Antonionis "Blow Up". Die Deckenventilatoren, die
sich in Coppolas "Apocalypse Now" auch akustisch in Helikopter-Rotoren verwandeln. Der Gang Jodie
Fosters als FBI-Agentin durch eine akustische Hölle im "Schweigen der Lämmer". Bei der End-
Abmischung eines Films verschmelzen künstliche Klangakzente, natürliche Raum- oder
Verkehrsgeräusche mit der Dialog- und Musikspur zum Gesamtkunstwerk Film.
O-Ton 46 Christian Petzold
Aus Liebe zur Musik muss ich auf Musik manchmal verzichten, weil ich glaube, dass auch die
Atmosphäre, der Sound in einem Film Musik ist. So wie "Unter den Brücken" von Käutner die Frau Angst
hat nachts auf dem Schiff. Und dann kommt jemand an und sagt, das ist doch ne Musik. Das Tau, das
Schiff, der Wind und plötzlich ist sie umgeben von Tönen, einem akustischen Raum. Und dieser
akustische Raum öffnet ihr Tor zur Welt wieder.
Wind-Atmo"Barbara"
O-Ton 47 Christian Petzold
Mit dem Tonmann, dem Andreas Mücke und seinem Team, hatten wir vor zehn Jahren nach der "Inneren
Sicherheit" gemeinsam entschieden, den Sound der Orte, den Originalton, wesentlich präziser
aufzunehmen und nicht im Studio nachzubauen. Es gibt ja überall Atmos, die man so einsetzen kann. Da
ne Hummel, da nen Raben und dann hat man schon so ne halbe Naturatmo. Immer wenn wir eine Szene
gedreht haben, bleiben wir zwei Minuten stehen und es gab eine Atmo mit vier Mikrofonen. Und diese
Atmo ist sehr satt, sehr fett und sehr laut. Da hört man, wie laut die Welt eigentlich ist.
O-Ton 48 Stefan Will
Jetzt auch gerade in „Barbara“, diese Windsequenzen. Die kann man ja nicht planen beim Drehen. Für
mich macht das das unglaublich dicht und intensiv. Da haben wir auch überlegt: macht man da Musik
oder nicht. Ich hab's mal ausprobiert und finde, es geht, aber es reicht auch eins von beidem.
Sprecherin:
Zugespitzt hat Petzold den Klang der Welt in seinem Film "Gespenster." Christian Petzold erinnert sich,
wie er mit seiner Toncrew im Berliner Tiergarten-Bezirk lange mit geschlossenen Augen dagestanden hat
– und nur dem Sound der Stadt nachhorchte. Die Stadt hätte ganz nah und gleichzeitig weit weg
geklungen.
20
Film-Atmo-Ausschnitt "Gespenster"
Wie heißt Du?
Nina
Toni
Bist Du auch müde?
Dann lass uns zu Dir gehen!
Zu mir?
Straßenatmo verzahnt sich mit
Musik: Hauschka & Hillary Hahn: “Halo of Honey”
Zitator:
Film als Traum, Film als Musik. Keine andere Kunst dringt wie der Film direkt in unser Bewusstsein,
direkt in unsere Gefühle, tief in die dunklen Räume unserer Seele
Sprecherin:
Ingmar Bergman
Sprecher:
Mit den Ohren sehen – die Soundwelt des Kinos
von Burkhard Reinartz.
Sprecherin:
Mit Originaltönen des Regisseurs Christian Petzold, des Filmkomponisten Stefan Will und des
Filmkritikers Daniel Kothenschulte.
Sprecher:
und Zitaten von Ennio Morricone, Maurice Jarre, Manfred Eicher, Hans Jörg Pauli und Ingmar Bergman.
Sprecherin: Es sprachen Jean-Paul Baeck, Sigrid Burkholder und Bruno Winzen.
Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Anne Bartel.
Regie: der Autor
Redaktion: Klaus Pilger
21
Produktion: Deutschlandfunk 2013
ENDE