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1 Die kleine Seejungfrau Die kleine Meerjungfrau ist die jüngste und anmutigste der sechs Töchtern des Meerkönigs. Sie hat, wie alle Meermenschen, keine Füsse, sondern einen Fischschwanz. Sie besitzt als einzige die Marmorstatue eines Jünglings, welche im Meer versunken ist. Durch Erzählungen von der Oberfläche ("Die Blumen duften und die Fische (=Vögel) singen wunderbar") weckt ihre Grossmutter weiter die Sehnsucht nach der Menschenwelt. Mit fünfzehn Jahren dürfen die Töchter nachts hinauf und am Strand liegen - die älteren Schwestern, welche früher dieses Alter erreichen, erzählen ihr Wunderdinge von der lärmenden beleuchteten Stadt, den Vögeln, dem Sonnenuntergang, Kindern und Eisbergen. Als sie endlich selbst das Alter erreicht, steigt sie empor und beobachtet die Matrosen auf einem Schiff - am besten gefällt ihr aber der Prinz mit den dunklen Augen, der gerade seinen sechzehnten Geburtstag feiert. Jedoch zieht ein Sturm auf, das Schiff sinkt, und die Meerjungfrau erinnert sich, dass Menschen nur tot auf den Meeresgrund gelangen können, und bringt den Prinzen an den Strand. Sie beobachtet, wie ein Mädchen ihn findet und ist traurig, dass sie sich anlächeln - der Prinz weiss schliesslich nicht, wer ihn gerettet hat. Die Meerjungfrau findet heraus, wo das Schloss steht und besucht die Gegend immer wieder. Sie erfährt, dass die Meermenschen im Gegensatz zu den normalen Menschen keine Seele besitzen, die nach ihrem Tod in die Luft aufsteigt - die einzige Möglichkeit, eine solche zu erlangen, ist, von einem Menschen geliebt zu werden. So begibt sie sich zur Meerhexe, die sie bisher stets fürchtete, und lässt sich einen Trunk brauen, der ihr Beine wachsen lässt statt ihrem Fischschwanz. Die Verwandlung ist jedoch unumkehrbar - sie wird nie wieder zu ihrem Vater und ihren Schwestern zurückkehren können. Falls der Prinz sich nicht in sie verliebt, bekommt sie keine unsterbliche Seele und wird zu Schaum auf dem Meere werden. Ausserdem muss sie ihre Stimme hergeben. Stumm trifft sie also den Prinzen und wird von ihm in sein Schloss geführt. Dort bleibt sie bei ihm, aber der Prinz liebt nur das unbekannte Mädchen, dass er am Strand sah und für seine Retterin hält. Später stellt sich heraus, dieses Mädchen ist die Prinzessin des Nachbarkönigreiches, und der Prinz heiratet sie. Da der erste Sonnenstrahl nach seiner Hochzeitsnacht der kleinen Meerjungfrau den Tod bringen soll, geben ihre Schwestern ihr den Rat, den Prinz zu töten: Das würde sie wieder in ein Meerwesen verwandeln und retten. Sie bringt es aber nicht fertig, springt ins Wasser und löst sich in Schaum auf.

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DiekleineSeejungfrauDie kleine Meerjungfrau ist die jüngste und anmutigste der sechsTöchterndesMeerkönigs. Siehat,wiealleMeermenschen, keineFüsse,sondern einen Fischschwanz. Sie besitzt als einzige die MarmorstatueeinesJünglings,welcheimMeerversunkenist.DurchErzählungenvonderOberfläche ("Die Blumen duften und die Fische (=Vögel) singenwunderbar") weckt ihre Grossmutter weiter die Sehnsucht nach derMenschenwelt.MitfünfzehnJahrendürfendieTöchternachtshinaufundam Strand liegen - die älteren Schwestern, welche früher dieses Altererreichen, erzählen ihr Wunderdinge von der lärmenden beleuchtetenStadt,denVögeln,demSonnenuntergang,KindernundEisbergen.Alssieendlich selbst das Alter erreicht, steigt sie empor und beobachtet dieMatrosenaufeinemSchiff-ambestengefällt ihraberderPrinzmitdendunklenAugen,dergeradeseinensechzehntenGeburtstagfeiert.JedochziehteinSturmauf,dasSchiff sinkt,unddieMeerjungfrauerinnertsich,dass Menschen nur tot auf den Meeresgrund gelangen können, undbringtdenPrinzenanden Strand. Siebeobachtet,wieeinMädchen ihnfindetundisttraurig,dasssiesichanlächeln-derPrinzweissschliesslichnicht, wer ihn gerettet hat. Die Meerjungfrau findet heraus, wo dasSchlossstehtundbesuchtdieGegendimmerwieder.Sieerfährt,dassdieMeermenschen im Gegensatz zu den normalen Menschen keine Seelebesitzen,dienachihremTodindieLuftaufsteigt-dieeinzigeMöglichkeit,einesolchezuerlangen, ist,voneinemMenschengeliebtzuwerden.SobegibtsiesichzurMeerhexe,diesiebisherstetsfürchtete,undlässtsicheinenTrunkbrauen,derihrBeinewachsenläsststattihremFischschwanz.DieVerwandlung ist jedochunumkehrbar - siewirdniewiederzu ihremVater und ihren Schwestern zurückkehren können. Falls der Prinz sichnicht in sie verliebt, bekommt sie keine unsterbliche Seele undwird zuSchaum auf dem Meere werden. Ausserdem muss sie ihre Stimmehergeben. Stumm trifft sie also den Prinzen und wird von ihm in seinSchloss geführt. Dort bleibt sie bei ihm, aber der Prinz liebt nur dasunbekannteMädchen,dasseramStrandsahundfürseineRetterinhält.Später stellt sich heraus, dieses Mädchen ist die Prinzessin desNachbarkönigreiches, und der Prinz heiratet sie. Da der ersteSonnenstrahl nach seiner Hochzeitsnacht der kleinenMeerjungfrau denTodbringensoll,geben ihreSchwestern ihrdenRat,denPrinzzutöten:DaswürdesiewiederineinMeerwesenverwandelnundretten.Siebringtesabernichtfertig,springtinsWasserundlöstsichinSchaumauf.

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Dort stirbt sie jedochnicht, sondernverwandelt sich ineinenLuftgeist -diewiederumdieMöglichkeithaben,durchBemühenumguteMenscheneineunsterblicheSeelezuerlangen.WeithinausimMeeristdasWassersoblau,wiedieBlätterderschönstenKornblume,undsoklar,wiedasreinsteGlas,aberesistsehrtief,tieferalsirgendeinAnkertaureicht;vieleKirchtürmemüsstenaufeinandergestelltwerden,umvomBodenbisüberdasWasserzureichen.Nunmussmanabernichtglauben,dassdanurderweisseSandbodensei;nein, da wachsen die sonderbarsten Bäume und Pflanzen, die sogeschmeidig im Stiel und in den Blättern sind, dass sie sich bei dergeringstenBewegungdesWassers rühren,geradealsob sie lebten.AlleFische, kleine und grosse, schlüpfen zwischen den Zweigen hindurch,ebensowiehierobendieVögelinderLuft.AnderallertiefstenStelleliegtdesMeerkönigs Schloss, die Mauern sind von Korallen und die langen,spitzen Fenster vom allerklarsten Bernstein; aber das Dach bildenMuschelschalen, die sichöffnenund schliessen, jenachdemdasWasserströmt.Dassiehtherrlichaus,denninjederliegenstrahlendePerlen;eineeinzigewürdeinderKroneeinerKönigindiegrösstePrachtgeben.Der Meerkönig dort unten war seit vielen Jahren Witwer gewesen,währendseinealteMutterbeiihmwirtschaftete.SiewareineklugeFrau,aber stolz auf ihren Adel, deshalb trug sie zwölf Austern auf demSchwanze, die anderen Vornehmen durften nur sechs tragen. – Sonstverdiente sie grosses Lob, besonders weil sie viel von den kleinenMeerprinzessinnen, ihren Enkelinnen, hielt. Es waren sechs schöneKinder,aberdiejüngstewardieschönstevonallen,ihreHautwarsoklarundfeinwieeinRosenblatt, ihreAugensoblauwiedietiefsteSee,aberwie all' die andern hatte sie keine Füsse, ihr Körper endete in einenFischschwanz.DenganzenTagkonntensieuntenimSchlosse,indengrossenSälen,wolebendigeBlumenausdenWändenhervorwuchsen,spielen.DiegrossenBernsteinfensterwurden aufgemacht, und dann schwammen die Fischezu ihnenherein,wie bei uns die Schwalbenhereinfliegen,wennwir dieFenster aufmachen. Doch die Fische schwammen gerade zu denPrinzessinenhin,frassenausihrenHändenundliessensichstreicheln.Draussen vor dem Schlosse war ein grosser Gartenmit feuerroten unddunkelblauen Bäumen; die Früchte strahlten wie Gold, und die Blumenwie brennendes Feuer, indem sie fortwährend Stengel und Blätterbewegten. Die Erde selbst war der feinste Sand, aber blau, wie dieSchwefelflamme.

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Über dem Ganzen lag ein eigentümlich blauer Schein, man hätte eherglaubenmögen, dassman hoch in der Luft stehe und nurHimmel überund unter sich habe, als dass man auf dem Grund des Meeres sei.WährendderWindstillekonntemandieSonneerblicken,sieerschienwieeinePurpurblume,ausderenKelchallesLichtausströmte.Eine jedederkleinenPrinzessinnenhatte ihrenkleinenFleck imGarten,wosiegrabenundpflanzenkonnte,wieesihrgefiel.DieeinegabihremBlumenfleck dieGestalt einesWalfisches, einer andern gefiel es besser,dassderihrigeeinemkleinenMeerweibgleiche,aberdiejüngstemachteden ihrigen ganz rund, der Sonne gleich, und hatte nur Blumen, die rotwiedieseschienen.SiewareinwunderbaresKind,stillundnachdenkend,undwenndieandernSchwesternmitdenseltsamenSachen,welchesievongestrandetenSchiffenerhaltenhatten,Staatmachten,wolltesienurausser den rosenroten Blumen, die der Sonne dort oben glichen, einhübschesMarmorbildhaben; eswareinherrlicherKnabe, ausweissem,klaren Stein gehauen, der beim Stranden auf den Meeresgrundgekommenwar. SiepflanztebeidemBildeeine rosenroteTrauerwinde,diewuchs herrlich und hingmit ihren frischen Zweigen über denselbenhinweg, gegen den blauen Sandboden hinunter, wo der Schatten sichbläulichzeigteundgleichdenZweigen inBewegungwar;essahaus,alsobdieSpitzeunddieWurzelnmiteinanderspielten,alswolltensiesichküssen.EsgabkeinegrössereFreudefürsie,alsvonderMenschenweltdortobenzu hören; die alte Grossmutter musste alles, was sie von Schiffen undStädten,MenschenundTierenwusste, erzählen.Hauptsächlicherschienihrganzbesondersschön,dassobenaufderErdedieBlumenduften,dasthatensieaufdemGrundedesMeeresnicht,unddassdieWäldergrünsind,unddassdieFische,diemandortzwischendenBäumenerblickt,solaut und herrlich singen können, dass es eine Lust ist; das waren diekleinenVögel,welchedieGrossmutterFischenannte,dennsonstkonntendieKindersienichtverstehen,dasienochkeinenVogelerblickthatten.»Wenn Ihr Euer fünfzehntes Jahr erreicht habt,« sagtedieGrossmutter,»dannsolltIhrdieErlaubniserhalten,ausdemWasseremporzutauchen,imMondscheinaufderKlippezusitzenunddiegrossenSchiffe,dievorbeisegeln,zusehen,WälderundStädtewerdetIhrdannerblicken!«IndemkommendenJahrwardieeinederSchwesternfünfzehnJahralt,aberdieandern,dawareineimmereinJahrjüngeralsdieandere,diejüngstevonihnenhattedemnachnochvollefünfJahrezuwarten,bevorsieausdemGrund des Meeres hinauf kommen und sehen konnte, wie es bei unsaussah.

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Aberdieeineversprachderandernzuerzählen,wassieerblickt,wassieam ersten Tag am schönsten gefunden habe; denn ihreGrossmutter erzählte ihnen nicht genug, da war vieles, worüber sie Auskunft habenwollten.Keinewarsosehnsüchtig,alsdieJüngste,geradesie,dienochdielängsteZeitzuwartenhatte,unddiesostillundgedankenvollwar.MancheNachtstand sie am offenen Fenster und sah durch das dunkelblaue Wasserempor,wiedieFischemit ihrenFlossenundSchwänzenschlugen.MondundSternekonntesiesehen,freilichschienensieganzbleich,aberdurchdasWasser sahen sieweit grösser aus, als vor unsernAugen. Zog dannetwaseinerschwarzenWolkegleichunter ihnenhin,sowusstesie,dassesentwedereinWalfisch,derüberihrschwamm,oderaucheinSchiffmitvielenMenschenwar;diedachtensichernichtdaran,dasseineliebliche,kleine Seejungfrau unten stehe und ihreweissenHände gegen den Kielemporstreckte.Nun war die älteste Prinzessin fünfzehn Jahre alt und durfte über dieMeeresflächeemporsteigen.Als sie zurückkehrte, hatte sie hunderterlei zu erzählen, aber dasSchönste,sagtesie,warimMondscheinaufeinerSandbankinderruhigenSeezuliegen,undnahebeidieKüstemitdergrossenStadtzubetrachten,wodieLichtergleichhundertSternenblinkten,dieMusikunddenLärmunddasTobenvonWagenundMenschenzuhören,dievielenKirchtürmeundSpitzenzusehen,unddasLäutenderGlockenzuhörenGeradeweilsie noch nicht da hinauf gelangen konnte, sehnte die Jüngste sich amallermeistennachallemdiesem.O,wiehorchtesieauf,undwennsiespäterdesAbendsamFensterstandund durch das dunkelblaue Wasser emporblickte, gedachte sie dergrossen Stadt mit all' dem Lärm und Toben, und dann glaubte sie dieKirchenglockenbiszusichherunterläutenhörenzukönnen.ImfolgendenJahreerhieltdiezweiteSchwesterdieErlaubnis,durchdasWasseremporzusteigenundzuschwimmen,wohinsiewolle.Sietauchteauf, ebenalsdie Sonneunterging,unddieserAnblick, fand sie,wardasSchönste. Der ganze Himmel habewie Gold ausgesehen, sagte sie, unddieWolken, ja,derenSchönheitkonntesienichtgenugbeschreiben;rotundblauwarensieüberihrdahingesegelt,aberweitschnelleralsdiese,flog,einemlangen,weissenSchleiergleich,einSchwarmwilderSchwäneüber das Wasser hin, wo die Sonne stand. Sie schwammen derselbenentgegen, aber die Sonne sank, und der Rosenschein erlosch auf derMeeresflächeunddenWolken.

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DasJahrdaraufkamdiedritteSchwesterhinauf;siewardiemutigstevonallen,deshalbschwammsieeinenbreitenFlussaufwärts,derindasMeerausmündete.HerrlichgrüneHügelmitWeinrankenerblicktesie,SchlösserundGehöfteschimmertendurchprächtigeWälderhervor;siehörte,wiealleVögelsangen,unddieSonneschiensowarm,dasssieoftunterdasWasser tauchenmusste,um ihrbrennendesAntlitzabzukühlen. Ineinerkleinen Bucht traf sie einen ganzen Schwarm kleiner Menschenkinder,ganz nackt liefen sie und plätscherten imWasser; sie wollte mit ihnenspielen, aber diese liefen erschrocken davon, und es kam ein kleines,schwarzesTier,daswareinHund,abersiehattenieeinenHundgesehen,derbelltesiesoerschrecklichan,dassihrbangewurdeundsiedieoffeneSee zuerreichen suchte.Abernie konnte siedieprächtigenWälder,diegrünen Hügel und die niedlichen Kinder vergessen, die im Wasserschwimmenkonnten,obgleichsiekeinenFischschwanzhatten.Die vierte Schwester war nicht so kühn, sie blieb draussen mitten imwilden Meer, und erzählte, dass es dort am schönsten sei; man seheringsumher,vieleMeilenweit,undderHimmelstehewieeineGlasglockedarüber.Schiffehattesiegesehen,abernurinweiterFerne,siesahenwieStrandmöven aus, und die possierlichen Delphine hatten Purzelbäumegeschossen, und die grossenWalfische aus ihren NasenlöchernWasseremporgespritzt, sodass es ausgesehen hatte, wie hunderte vonSpringbrunnenringsumher.NunkamdieReiheandiefünfteSchwester;ihrGeburtstagfielgeradeimWinter,unddeshalbsahsie,wasdieanderndasersteMalnichtgesehenhatten. Die See nahm sich ganz grün aus, und ringsumher schwammengrosseEisberge,einjedersahwieeinePerleaus,sagtesie,undwardochweitgrösseralsdieKirchtürme,welchedieMenschenbauen.Siezeigtensich in den sonderbarsten Gestalten und glänzten wie Diamanten. Siehatte sich auf einen der allergrössten gesetzt und alle Segler kreuztenerschrockendraussenherum,wosiesassunddenWindmitihremlangenHaar spielen liess;abergegenAbendhatte sichderHimmelmitWolkenüberzogen, es blitzte und donnerte, während die schwarze See diegrossenEisblöckehochemporhobundsiebeimrotenBlitzerglänzenliess.Auf allen Schiffen nahmman die Segel ein, da war eine Angst und einGrauen, aber sie sass ruhig auf ihrem schwimmenden Eisberge und sahdieblauenBlitzstrahlenimZickzackindieschimmerndeSeefahren.DasersteMal,wenneineder SchwesternüberdasWasserempor kam,wareinejedeentzücktüberdasNeueundSchöne,wassieerblickte;aberdasienunalserwachseneMädchendieErlaubnishatten,hinaufzusteigenwannsiewollten,wurdeesihnengleichgültig.

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Siesehntensichwiederzurück,undnachVerlaufeinesMonatssagtensie,dassesdauntenbeiihnenamallerschönstensei,unddaseimanhübschzuHause.In mancher Abendstunde nahmen die fünf Schwestern einander in dieArmeundstiegenineinerReiheüberdasWasserauf;herrlicheStimmenhattensie,schönerals irgendeinMensch,undwenndanneinSturm imAnzug war, sodass sie vermuten konnten, dass Schiffe untergehenwürden, schwammen sie vor den Schiffen her und sangen lieblich, wieschön es auf demGrunde desMeeres sei, und baten die Seeleute, sichnichtzufürchten,dahinunterzukommen;aberdiesekonntendieWortenicht verstehen, und glaubten, es sei der Sturm, und sie bekamen auchdieHerrlichkeitendortuntennichtzusehen,dennwenndasSchiffsank,ertranken die Menschen und kamen als Leichen zu des MeerkönigsSchloss.WenndieSchwesternsodesAbends,ArminArm,hochdurchdasWasserhinaufstiegen,dannstanddiekleineSchwesterganzallein,undsahihnennach,undeswarihr,alsobsieweinenmüsste,aberdieSeejungfrauhatkeineThränen,unddarumleidetsieweitmehr.»Ach,wäreichdochfünfzehnJahrealt!«sagtesie.»Ichweiss,dassichdieWelt dort oben und die Menschen, die darauf wohnen, recht liebenwerde.«EndlichwarsiefünfzehnJahrealt.»Sieh,nunbistDuerwachsen!« sagtedieGrossmutter,diealteKönigin-Witwe. »Komm, nun lass mich Dich schmücken, gleich Deinen andernSchwestern!«Undsie setzte ihreinenKranzweisser LilienaufdasHaar,aberjedesBlattinderBlumewardieHälfteeinerPerle;unddieAlteliessacht grosse Austern sich im Schwanze der Prinzessin festklemmen, umihrenhohenRangzuzeigen.»Dasthutweh!«sagtediekleineSeejungfrau.»Ja,HoffartmussZwangleiden!«sagtedieAlte.O, sie hätte gern alle diese Pracht abschütteln undden schwerenKranzablegenmögen, ihre rotenBlumen imGarten kleideten siebesser, abersiekonnteesnunnichtändern.»Lebtwohl!«sprachsie,undstiegleichtundklar,gleicheinerBlase,durchdasWasserauf.Die Sonne war eben untergegangen, als sie den Kopf über dasWassererhob,aberalleWolkenglänztennochwieRosenundGold,undinmittenderblassrotenLuft strahltederAbendsternhellundschön,dieLuftwarmildundfrisch,unddasMeerganzruhig.

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Da lag ein grosses Schiff mit drei Masten, ein einziges Segel war nuraufgezogen, denn es rührte sich kein Lüftchen, und ringsumher imTauwerk und auf den Stangen sassen Matrosen. Da war Musik undGesang,undwiederAbenddunklerward,wurdenHundertevonbuntenLaternenangezündet;siesahenausalsobdieFlaggenallerVölkerinderLuftwehten.DiekleineSeejungfrauschwammbiszumKajütenfensterhin,und jedesmal, wenn das Wasser sie emporhob, konnte sie durch diespiegelklaren Fensterscheiben blicken, wo viele geputzte Menschenstanden; aber der schönste war doch der junge Prinz mit den grossen,schwarzenAugen.Erwarsichernichtmehrals fünfzehnJahrealt;heutewarseinGeburtstagunddeshalbherrschteall'diesePracht.DieMatrosentanztenaufdemVerdeck,undalsder jungePrinzdahinaustrat, stiegenüberhundertRaketenindieLuft,dieleuchtetenwiederhelleTag,sodassdiekleineSeejungfrausehrerschrakundunterdasWassertauchte,abersiestecktebalddenKopfwiederhervor,unddawaresgerade,alsoballeSterne des Himmels zu ihr herunter fielen. Nie hatte sie solcheFeuerkünste gesehen. Grosse Sonnen sprühten herum, prächtigeFeuerfischeflogenindieblaueLuft,undallesglänzteinderklaren,stillenSeewieder.AufdemSchiffeselbstwaressohell,dassman jedeskleineTau, wie viel mehr die Menschen sehen konnte. O, wie war doch derjunge Prinz hübsch, und er drückte den Leuten dieHände und lächelte,währenddieMusikinderherrlichenNachterklang!Eswurde spät, aberdie kleineSeejungfraukonnte ihreAugennicht vondemSchiffeunddemschönenPrinzenwegwenden.DiebuntenLaternenwurdenausgelöscht,RaketenstiegennichtmehrindieHöhe,esertöntenauchkeineKanonenschüssemehr,abertiefunten imMeersummteundbrummtees.InzwischensasssieaufdemWasserundschaukelteaufundnieder, sodass sie in die Kajüte hineinblicken konnte; aber das Schiffbekam mehr Wind, ein Segel nach dem andern breitete sich aus, nungingen die Wogen stärker, grosse Wolken zogen auf, es blitzte in derFerne.O,eswirdeinerschrecklichbösesWetterwerden;deshalbnahmendie Matrosen die Segel ein. Das grosse Schiff schaukelte in fliegenderFahrt auf der wilden See, das Wasser erhob sich, gleich grossen,schwarzen Bergen, die über die Maste wälzen wollten, aber das Schifftauchte einem Schwan gleich zwischen den hohen Wogen nieder, undliess sich wieder auf die aufgetürmten Wasser heben. Der kleinenSeejungfraubedünkteeseinerechtlustigeFahrtzusein,abersoerschienesdenSeeleutennicht.

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Das Schiff knackte und krachte, die dicken Planken bogen sich bei denstarkenStössen,dieSeedrangindasSchiffhinein,derMastbrachmittendurch, als ob er ein Rohr wäre und das Schiff legte sich auf die Seite,während das Wasser in den Raum eindrang. Nun sah die kleineSeejungfrau,dass sie inGefahrwaren, siemusste sich selbst vorBalkenund Stücken vom Schiff, die auf demWasser trieben, in acht nehmen.Einen Augenblick war es so stockdunkel, dass sie nicht das mindestewahrnehmenkonnte,aberwennesdannblitzte,wurdeeswiedersohell,dass sie alle auf demSchiff erkennen konnte; besonders suchte sie denjungen Prinzen, und sie sah ihn, als das Schiff verschwand, in das tiefeMeerversinken.Zuerstwurdesieganzvergnügt,dennnunkamerzuihrhinunter,aberdagedachtesie,dassdieMenschennichtimWasserlebenkönnen, und dass er nicht anders als tot zum Schlosse ihres Vatershinuntergelangen konnte. Nein, sterben, das durfte er nicht; deshalbschwammsiehinzwischenBalkenundPlanken,dieaufderSee trieben,undvergassvöllig,dassdiesesiehättenzerquetschenkönnen;sietauchtetiefunterdasWasserundstiegwiederhochzwischendenWogenempor,undgelangteamEndesozudemjungenPrinzenhin,derfastnichtlängerin der stürmenden See schwimmen konnte; seine Arme und Beinebegannen zu ermatten, die schönen Augen schlossen sich, er hättesterbenmüssen,wäre die kleine Seejungfrau nicht hinzugekommen. Siehielt seinen Kopf über demWasser empor, und liess sich dannmit ihmvondenWogentreiben,wohinsiewollten.AmMorgen war das böse Wetter vorüber, von dem Schiffe war keineSpur zu erblicken, die Sonne stieg rot und glänzend aus dem Wasserempor,eswar,alsobdesPrinzenWangenLebendadurcherhielten,aberdieAugenbliebengeschlossen.DieSeejungfrauküssteseinehohe,schöneStirnundstrichseinnassesHaarzurück;eskamihrvor,alsgleicheerdemMarmorbilde unten in ihrem kleinenGarten, sie küsste ihnwieder, undwünschte,dassernochlebenmöchte.Nun erblickte sie vor sich das feste Land, hohe, blaue Berge, auf derenGipfelderweisseSchneeerglänzte,alswärenesSchwäne,diedortlägen;unten an der Küste waren herrliche, grüne Wälder, und vorn lag eineKircheodereinKloster,daswusstesienichtrecht,abereinGebäudewares. Citronen- und Apfelsinenbäume wuchsen im Garten, und vor demThorstandenhohePalmbäume.DieSeebildetehiereinekleineBucht,dawaresganzstill,abersehrtief;hierherbiszurKlippe,woderweisse,feineSandaufgespültwar,schwammsiemitdemschönenPrinzen,legteihninden Sand, und sorgte besonders dafür, dass der Kopf hoch imwarmenSonnenscheinlag.

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Nun läuteten die Glocken in dem grossen, weissen Gebäude, und eskamen viele jungeMädchen durch denGarten.Da schwammdie kleineSeejungfrauweiterhinaus,hintereinigehoheSteine,dieausdemWasseremporragten, legte Seeschaum auf ihr Haar und ihre Brust, sodassniemandihrkleinesAntlitzsehenkonnte,unddannpasstesieauf,werzudemarmenPrinzenkommenwürde.Es währte nicht lange, bis ein jungesMädchen dorthin kam; sie schiensehr zuerschrecken,abernureinenAugenblick,dannholte siemehrereMenschen, und die Seejungfrau sah, dass der Prinz zum Lebenzurückkehrte,unddasseralle ringsherumanlächelte,aber zu ihrhinauslächelteernicht,erwusste jaauchnicht,dasssie ihngerettethatte.Siefühltesichsehrbetrübt,undalser indasgrosseGebäudehineingeführtwurde, tauchte sie traurig unter das Wasser und kehrte zum SchlosseihresVaterszurück.Immer war sie still und nachdenkend gewesen, aber nun wurde sie esweitmehr.Die Schwestern fragten sie,was siedasersteMaldortobengesehenhabe,abersieerzähltenichts.Manchen Abend und Morgen stieg sie da hinauf, wo sie den Prinzenverlassen hatte. Sie sah, wie die Früchte des Gartens reiften undabgepflückt wurden, sie sah, wie der Schnee auf den hohen Bergenschmolz, aber den Prinzen erblickte sie nicht, und deshalb kehrte sieimmer betrübter heim. Da war es ihr einziger Trost, in ihrem kleinenGartenzusitzenundihreArmeumdasschöneMarmorbildzuschlingen,das demPrinzen glich, aber ihreBlumenpflegte sie nicht, diewuchsen,wie in einer Wildnis, über die Gänge hinaus und flochten ihre langenStiele und Blätter in die Zweige der Bäume hinein, sodass es dort ganzdunkelwar.Zuletztkonntesieesnichtlängeraushalten,sondernsagteeseinerihrerSchwestern,unddabekamenesgleichalleandernzuwissen,aberauchniemandsonstalsdieseundeinpaarandereSeejungfrauen,dieesnichtweitersagten,ausserihrennächstenFreundinnen.Einevonihnenwusste,werderPrinzwar,siehatteauchdasFestaufdemSchiffegesehen,undgaban,wohererwarundwoseinKönigsschlosslag.Dieses war aus einer hellgelben, glänzenden Steinart aufgeführt, mitgrossenMarmortreppen,dereneinegeradeindasMeerhinunterreichte.Prächtige vergoldete Kuppeln erhoben sich über dem Dache, undzwischen den Säulen, die um das Gebäude herumliefen, standenMarmorbilder,diesahenaus,alslebtensie.

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Durch das klare Glas in den hohen Fenstern blickte man in dieprächtigsten Säle hinein, wo köstliche, seidene Vorhänge und TeppicheaufgehängtundalleWändemitgrossenGemäldengeziertwaren,sodasseseinwahresVergnügenwar,siezubetrachten.MittenindemgrösstenSaalplätscherteeingrosserSpringbrunnen,seineStrahlenreichtenhochhinaufgegendieGlaskuppelinderDecke,durchwelchedieSonneaufdasWasser und die schönen Pflanzen schien, die in dem grossen Beckenwuchsen.Nun wusste sie, wo er wohnte, und dort war sie manchen Abend undmancheNachtaufdemWasser;sieschwammdemLandeweitnäher,alseine der andern es gewagt hatte, ja sie ging den schmalen Kanal ganzhinauf, unter den prächtigen Marmoraltan, welcher einen langenSchatten über das Wasser hinwarf. Hier sass sie und betrachtete denjungenPrinzen,derglaubte,erseiganzalleinindemklarenMondschein.SiesahihnmanchenAbendmitMusikinseinemprächtigenBoote,wodieFlaggenwehten, segeln; sie lauschte durchdas grüne Schilf hervor, undergriffderWindihrenlangen,silberweissenSchleier,undjemandsahihn,soglaubteer,esseieinSchwan,derdieFlügelausbreite.Sie hörte in mancher Nacht, wenn die Fischer mit Fackeln auf der Seewaren, dass sie viel Gutes von dem jungen Prinzen erzählten, und esfreute sie, dass sie sein Leben gerettet hatte, als er halb tot auf denWogenherumtrieb, und sie dachtedaran,wie fest seinHaupt an ihremBusen geruht, und wie herzlich sie ihn da geküsst hatte; er wusste garnichtsdavon,konntenichteinmalvonihrträumen.Mehr und mehr fing sie an die Menschen zu lieben, mehr und mehrwünschtesie,unterihnenumherwandelnzukönnen,derenWeltihrweitgrösserzuseinschien,alsdieihrige;siekonntenjaaufSchiffenüberdasMeerfliegen,aufdenhohenBergenhochüberdieWolkenemporsteigen,und die Länder, die sie besassen, erstreckten sich mit Wäldern undFeldernweiter,alsihreBlickereichten.Dawarsovieles,wassiezuwissenwünschte, aber die Schwesternwussten ihr nicht alles zu beantworten,deshalbfragtesiediealteGrossmutter,unddiesekanntediehöhereWeltrechtgut,diesiesehrrichtigdieLänderüberdemMeernannte.»Wenn die Menschen nicht ertrinken,« fragte die kleine Seejungfrau,»könnensiedannewigleben,sterbensienicht,wiewiruntenimMeer?«»Ja,« sagte die Alte, »sie müssen auch sterben, und ihre Lebenszeit istsogar noch kürzer, als die unsere. Wir können dreihundert Jahre altwerden,aberwennwirdannaufhörenzusein,sowerdenwirinSchaumauf dem Wasser verwandelt, haben nicht einmal ein Grab hier untenunterunsernLieben.

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Wir haben keine unsterbliche Seele,wir erhalten niewieder Leben,wirsindgleichdemgrünenSchilf, istdaseinmaldurchschnitten, sokannesnicht wieder grünen. Die Menschen dahingegen haben eine Seele, dieewiglebt,lebt,nachdemderKörperzuErdegewordenist;siesteigtdurchdieklareLuftemporhinaufzuallendenglänzendenSternen!SowiewirausdemWasserauftauchenunddieLänderderMenschenerblicken,sosteigen sie zu unbekannten, herrlichen Orten auf, die wir nie zu sehenbekommen.«»Warum bekamen wir keine unsterbliche Seele?« fragte die kleineSeejungfraubetrübt.»IchmöchteallemeineHundertevonJahren,dieichzu leben habe, dafür geben, um nur einen Tag einMensch zu sein unddannAnteilanderhimmlischenWeltzuhaben.«»Daran musst Du nicht denken!« sagte die Alte. »Wir fühlen uns weitglücklicherundbesser,alsdieMenschendortoben!«»IchwerdealsosterbenundalsSchaumaufdemMeertreiben,nichtdieMusikderWogenhören,dieschönenBlumenunddieroteSonnesehen?Kannichdenngarnichtsthun,umeineunsterblicheSeelezugewinnen?«»Nein,«sagtedieAlte,»nurwenneinMenschDichsoliebenwürde,dassDu ihm mehr als Vater und Mutter wärest; wenn er mit all' seinemDenkenundall'seinerLiebeanDirhinge,unddemPredigerseinerechteHand in die Deinige, mit dem Versprechen der Treue hier und in alleEwigkeit,legenliesse,dannflösseseineSeeleinDeinenKörperüber,undauchDuerhieltestAnteilanderGlückseligkeitderMenschen.ErgäbeDirSeeleundbehieltdochseineeigene.Aberdaskannniegeschehen!WashierimMeergeradeschönist,DeinFischschwanz,findensiedortaufderErde hässlich, sie verstehen es nun nicht besser, man muss dort zweiplumpeStützenhaben,diesieBeinenennen,umschönzusein!«DaseufztediekleineSeejungfrauundsahbetrübtaufihrenFischschwanz.»Lassunsfrohsein!«sagtedieAlte.»Hüpfenundspringenwollenwir inden dreihundert Jahren, die wir zu leben haben. Das ist wahrlich langeZeit genug, später kann man um so besser ausruhen. Heute AbendwerdenwirHofballhaben!DaswaraucheinePracht,wiemansienieaufErdenerblickt.DieWändeund die Decke des grossen Tanzsaales waren von dickem, aber klaremGlase. Mehrere hundert ungeheure Muschelschalen, rosenrote undgrasgrüne, standenzu jederSeite inReihenmiteinemblaubrennendenFeuer, welches den ganzen Saal beleuchtete und durch die Wändehinausschien,sodassdieSeedraussenganzbeleuchtetwar;mankonntealle die unzähligen Fische sehen, grosse und kleine, die gegen dieGlasmauernhinschwammen;

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auf einigen glänztendie Schuppenpurpurrot, auf andern erschienen siewieSilberundGold.–MittendurchdenSaalflosseinbreiterStrom,undauf diesem tanzten die Meermänner und Meerweibchen zu ihremeigenen lieblichenGesang.SoschöneStimmenhabendieMenschenaufderErdenicht.DiekleineSeejungfrausangamschönstenvonihnenallen,siewurdedeshalbbeklatscht,undeinenAugenblickfühltesieeineFreudeinihremHerzen,dennsiewusste,dasssiedieschönsteStimmevonallenaufderErdeundimMeerehatte.AberbaldgedachtesiewiederderWeltobenübersich;siekonntedenhübschenPrinzenundihrenKummer,dasssie keine unsterbliche Seele wie er besass, nicht vergessen. DeshalbschlichsiesichausihresVatersSchlosshinaus,undwährendallesdrinnenGesang und Frohsinnwar, sass sie betrübt in ihrem kleinen Garten. DahörtesiedasWaldhorndurchdasWasserertönen,undsiedachte:»Nunsegeltersicherdortoben,er,vondemichmehrhalte,alsvonVaterundMutter,er,andemmeineSinnehängenund indessenHand ichmeinesLebens Glück legen möchte. Alles will ich wagen, um ihn und eineunsterbliche Seele zu gewinnen! Während meine Schwestern dort inmeines Vaters Schloss tanzen,will ich zurMeerhexe gehen, vor der ichmich immer gefürchtet habe, aber sie kann mir vielleicht raten undhelfen!«Nun ging die kleine Seejungfrau aus ihrem Garten hinaus nach denbrausendenStrudelnhin,hinterdenendieHexewohnte.DenWeghattesie früherniezurückgelegt;dawuchsenkeineBlumen,keinSeegras,nurder nackte, graue Sandboden erstreckte sich gegen die Strudel hin, wodasWassergleichbrausendenMühlrädernherumwirbelteundalles,wases erfasste, mit sich in die Tiefe riss. Mitten zwischen diesenzermalmenden Wirbeln musste sie hindurch, um in den Bereich derMeerhexezugelangen,undhierwarein langesStückkeinandererWeg,alsüberwarmensprudelndenSchlamm,welchendieHexeihrenTorfmoornannte. Dahinter lag ihr Haus mitten in einem seltsamen Walde. AlleBäumeundBüschewarenPolypen,halbTier,halbPflanze,siesahenaus,wie hundertköpfige Schlangen, die aus der Erde hervorwuchsen; alleZweige waren lange, schleimige Arme, mit Fingern, wie geschmeidigeWürmer, undGlied umGlied bewegten sie sich, vonderWurzel bis zuräusserstenSpitze.Alles,wassieimMeererfassenkonnten,umschlangensiefestundliessenesniewiederfahren.DiekleineSeejungfraubliebganzerschrockenstehen;ihrHerzpochtevorFurcht,fastwäresieumgekehrt,aberdadachtesieandenPrinzenundandieSeeledesMenschen,unddabekamsieMut. Ihr langes, fliegendesHaarband sie festumdasHaupt,damitdiePolypensienichtdaranergreifenmöchten,

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beideHände legte sie über ihre Brust zusammen, und schoss so davon,wiederFischdurchdasWasserschiessenkann,zwischendenhässlichenPolypen hindurch, die ihre geschmeidigen Arme und Finger hinter ihrherstreckten.Siesah,wie jedervon ihnenetwas,waserergriffenhatte,mit Hunderten von kleinen Armen, gleich starken Eisenbanden, hielt.Menschen, die auf der See umgekommen und tief hinunter gesunkenwaren, sahen als weisse Gerippe aus den Armen der Polypen hervor.SchiffsruderundKistenhieltensie fest,KnochenvonLandtierenundeinkleinesMeerweib,welchessiegefangenunderstickthatten,daswar ihrfastdasSchrecklichste.Nun kam sie zu einem grossen, sumpfigen Platz im Walde, wo grosse,fette Wasserschlangen sich wälzten und ihren hässlichen weissgelbenBauchzeigten.MittenaufdemPlatzewareinHaus,vonweissenKnochengestrandeter Menschen errichtet, da sass die Meerhexe und liess eineKröteausihremMundefressen,geradewiedieMenscheneinemkleinenKanarienvogel Zucker zu essen geben. Die hässlichen, fettenWasserschlangen nannte sie ihre Küchlein und liess sie sich auf ihrerschwammigenBrustwälzen.»IchweissschonwasDuwillst!«sagtedieMeerhexe;»esistzwardummvon Dir, doch sollst Du Deinen Willen haben, denn er wird Dich insUnglück stürzen, meine schöne Prinzessin. Du willst gern DeinenFischschwanz los sein und statt dessen zwei Stützen gleich wie dieMenschen zum Gehen haben, damit der junge Prinz verliebt in Dichwerdenmöge,undDuihnundeineunsterblicheSeeleerhaltenkannst!«DabeilachtedieHexewiderlich,sodassdieKröteunddieSchlangeaufdieErde fielen,wo sie sichwälzten. »Du kommst gerade zur rechten Zeit,«sagtedieHexe, »morgen,wenndie Sonne aufgeht, könnte ichDir nichthelfen, bis wieder ein Jahr vorüber wäre. Ich werde Dir einen Trankbereiten,mitdemmusstDu,bevordie Sonneaufgeht,nachdemLandeschwimmen, Dich dort an das Ufer setzen und ihn trinken, dannschwindet Dein Schweif und schrumpft zu dem, was die MenschenniedlicheBeinenennen,ein;aberdasthutwehe,esist,alsobeinscharfesSchwertDichdurchdränge.Alle,dieDichsehen,werdensagen,DuseiestdasschönsteMenschenkind,wassiegesehenhaben!DubehältstDeinenschwebenden Gang, keine Tänzerin kann schweben wie Du, aber beijedemSchritt,denDumachst,istDir,alsobDuaufscharfeMesserträtest,alsobDeinBlutfliessenmüsste.WillstDuallesdiesleiden,sowerdeichDirhelfen!«»Ja!« sagte die kleine Seejungfraumit bebender Stimme, und gedachtedesPrinzenundderunsterblichenSeele.

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»Aber bedenke,« sagte die Hexe, »hast Du erst menschliche Gestaltbekommen,sokannstDuniewiedereineSeejungfrauwerden!Dukannstnie durch das Wasser zu Deinen Schwestern und zum Schlosse DeinesVaterszurückkehren,undgewinnstDudesPrinzenLiebenicht,sodasserfürDichVaterundMuttervergisst,anDirmitLeibundSeelehängtunddenPredigerEureHändeineinanderlegenlässt,dassIhrMannundFrauwerdet, so bekommst Du keine unsterbliche Seele! Am erstenMorgen,nachdemermiteinerandernverheiratetist,dawirdDeinHerzbrechen,undDuwirstzuSchaumaufdemWasser.«»Ichwilles!«sagtediekleineSeejungfrauundwardbleichwiederTod.»AberDumusstmichauchbezahlen!« sagtedieHexe,»undes istnichtwenig,was ichverlange.DuhastdieschönsteStimmevonallenhieraufdem Grunde des Meeres, damit glaubst Du wohl, ihn bezaubern zukönnen, aber diese Stimme musst Du mir geben. Das Beste, was Dubesitzest, will ich für meinen köstlichen Trank haben! Mein eigen Blutmuss ich Dir ja darin geben, damit der Trank scharf werde, wie einzweischneidigSchwert!«»Aber wenn Du meine Stimme nimmst,« sagte die kleine Seejungfrau,»wasbleibtmirdannübrig?«»Deine schöne Gestalt,« sagte die Hexe, »Dein schwebender Gang undDeine sprechenden Augen, damit kannst Du schon ein Menschenherzbethören.Nun,hastDudenMutverloren?–StreckeDeinekleineZungehervor,dann schneide ich sieanZahlungsStatt ab,undDuerhältstdenkräftigenTrank!«»Es geschehe!« sagte die kleine Seejungfrau und die Hexe setzte ihrenKessel auf, um den Zaubertrank zu kochen. »Reinlichkeit ist eine guteSache!«sagtesieundscheuertedenKesselmitdenSchlangenab,diesieineinenKnotenband;nunritztesie sichselbst indieBrustund liess ihrschwarzes Blut dahinein tröpfeln; der Dampf bildete die sonderbarstenGestalten, sodass einem angst und bange werden musste. JedenAugenblickwarfdiealteHexeneueSachenindenKessel,undalsesrechtkochte,klanges,alsobeinKrokodilweinte.ZuletztwarderTrankfertig,ersahauswiedasklarsteWasser.»DahastDuihn!«sagtedieHexeundschnittderkleinenSeejungfraudieZungeab,dienunstummwar,wedersingennochsprechenkonnte.»Sollten die Polypen Dich ergreifen, wenn Du durch meinen Waldzurückkehrst,«sagtedieHexe,»sowirfnureineneinzigenTropfendiesesGetränkes auf sie, davon zerspringen ihre Arme und Finger in tausendStücke!«

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AberdasbrauchtediekleineSeejungfraunichtzutun,diePolypenzogensicherschrockenvonihrzurück,alssiedenglänzendenTrankerblickten,der in ihrer Hand leuchtete, als sei es ein funkelnder Stern. So kam sieschnelldurchdenWald,denMoorunddiebrausendenStrudel.SiekonnteihresVatersSchlosssehen,dieFackelnwarenindemgrossenTanzsaal erloschen; sie schliefen sicher alle darin, aber sie wagte dochnicht, sie aufzusuchen, nun, da sie stumm war und sie auf immerverlassenwollte.Eswar,alsobihrHerzvorTrauerzerspringensollte.Sieschlich in den Garten, nahm eine Blume von jedem Blumenbeet ihrerSchwestern, warf tausende von Kussfingern dem Schlosse zu und stiegdurchdiedunkelblaueSeehinauf.Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie des Prinzen Schlosserblickte und die prächtigeMarmortreppe hinanstieg. DerMond schienherrlich klar. Die kleine Seejungfrau trank den brennenden, scharfenTrank,undeswar,alsgingeeinzweischneidigSchwertdurchihrenfeinenKörper,siefieldabeiinOhnmachtundlagwietotda.AlsdieSonneüberdie See schien, erwachte sie und fühlte einen schneiden den Schmerz,aber vor ihr stand der schöne junge Prinz und heftete seinekohlschwarzenAugenaufsie,sodasssiedie ihrigenniederschlug.Dasahsie,dassihrFischschwanzfortwar,unddasssiedieniedlichsten,kleinenweissenBeinehatte,dienureinMädchenhabenkann;abersiewarganznackt, deshalb hüllte sie sich in ihr grosses, langes Haar ein. Der Prinzfragte,wersiesei,undwiesiedahingekommensei,undsiesahihnmildeunddochbetrübtmitihrendunkelblauenAugenan,sprechenkonntesiejanicht.DanahmersiebeiderHandundführtesieindasSchlosshinein.BeijedemSchritt,densiethat,warihr,wiedieHexevorausgesagthatte,als träte sie auf spitze Nadeln und scharfeMesser, aber das ertrug siegern;andesPrinzenHandstiegsiesoleichtwieeineSeifenblase,undersowieallewundertensichüberihrenlieblichen,schwebendenGang.KöstlicheKleider vonSeideundMusselinbekamsienunanzuziehen, imSchlosse war sie die Schönste von allen, aber sie war stumm, konnteweder singen, noch sprechen. Herrliche Sklavinnen, in Seide und Goldgekleidet, kamen hervor und sangen vor dem Prinzen und seinenköniglichen Eltern; eine sang schöner als alle die andern, und der Prinzklatschte in die Hände und lächelte sie an, da wurde die kleineSeejungfrau betrübt, sie wusste, dass sie selbst weit schöner gesungenhatte.»O,«dachtesie,»ersolltenurwissen,dassich,umbeiihmzusein,meineStimmefüralleEwigkeitdahingegebenhabe.«

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NuntanztendieSklavinnenniedliche,schwebendeTänzezurherrlichstenMusik; da erhob die kleine Seejungfrau ihre schönen, weissen Arme,richtetesichaufdenZehenspitzenemporundschwebtetanzendüberdenFussbodenhin,wienochkeinegetanzthatte;beijederBewegungwurdeihre Schönheit noch sichtbarer, und ihre Augen sprachen tiefer zumHerzen,alsderGesangderSklavinnen.Alle waren entzückt davon, besonders der Prinz, der sie sein kleinesFindelkindnannte,undsietanzteimmerfort,obwohles jedesmal,wennihrFussdieErdeberührte,war,alsob sieauf scharfeMesser träte.DerPrinzsagte,dasssieimmerbeiihmseinsolle,undsieerhieltdieErlaubnis,vorseinerThüraufeinemSamtkissenzuschlafen.Er liess ihreineMännertrachtmachen,damitsie ihnzuPferdebegleitenkönne.SierittendurchdieduftendenWälder,wodiegrünenZweigeihreSchultern berührten, und die kleinen Vögel hinter den frischen Blätternsangen. Sie klettertemit dem Prinzen auf die hohen Berge hinauf, undobgleichihrezartenFüssebluteten,sodassdieandernessehenkonnten,lachte sie doch darüber und folgte ihm, bis sie die Wolken unter sichsegelnsahen,alswäreeseinSchwarmVögel,dienachfremdenLändernzögen.ZuHause indesPrinzenSchloss,wennnachtsdieandernschliefen,gingsie aufdiebreiteMarmortreppehinaus, undes kühlte ihrebrennendenFüsse, imkaltenSeewasserzustehen,unddanngedachtesiedererdortunteninderTiefe.EinmalnachtskamenihreSchwesternArminArm,siesangensehrtraurig,indemsieüberdemWasser schwammen,und siewinkte ihnen,und sieerkannten sie und erzählten, wie sie sie allesamt betrübt habe. Daraufbesuchten sie dieselbe in jeder Nacht, und einst erblickte sie auch inweiter Ferne ihre alte Grossmutter, die in vielen Jahren nicht über derMeeresflächegewesenwar,unddenSeekönig,mitseinerKroneaufdemHaupte; sie streckten beide die Hände gegen sie aus, wagten sich aberdemLandenichtsonahe,alsdieSchwestern.TagfürTagwurdesiedemPrinzenlieber,erhattesiesolieb,wiemannurein gutes, liebesKind lieben kann, aber sie zur Königin zumachen, kamihm nicht in den Sinn, und seine Frau musste sie doch werden, sonsterhielt sie keine unsterbliche Seele, und musste an seinemHochzeitsmorgenzuSchaumaufdemMeerewerden.»LiebstDumichnichtammeistenvonihnenallen?«schienenderkleinenSeejungfrau Augen zu sagen,wenn er sie in seine Arme nahmund ihreschöneStirneküsste.

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»Ja,Dubistmirdieliebste,«sagtederPrinz,»dennDuhastdasbesteHerzvonallen,Dubistmirammeistenergeben,undDugleichsteinemjungenMädchen, die ich einmal sah, aber sicher nie wieder finde. Ich war aufeinem Schiffe, welches strandete, die Wellen warfen mich bei einemTempelandasLand,womehrerejungeMädchendenDienstverrichteten;die jüngstedort fandmichamUferund rettetemein Leben; ich sah sienur zweimal; siewäre die einzige, die ich in dieserWelt lieben könnte,aber Du gleichst ihr, Du verdrängst fast ihr Bild aus meiner Seele, siegehörtdemheiligenTempel an,unddeshalbhatmeingutesGlückDichmirgesendet,niewollenwirunstrennen!«–»Ach,erweissnicht,dassichsein Leben gerettet habe!« dachte die kleine Seejungfrau. »Ich trug ihnüberdasMeerzumWaldehin,woderTempelsteht,ichsasshinterdemSchaume und sah, ob keine Menschen kommen würden. Ich sah dashübsche Mädchen, das er mehr liebt, als mich!« Und die Seejungfrauseufztetief,weinenkonntesienicht.»DasMädchengehörtdemheiligenTempelan,hatergesagt,siekommtnieindieWelthinaus,siebegegnensichnichtmehr, ichbinbei ihm,seheihnjedenTag, ichwill ihnpflegen,lieben,ihmmeinLebenopfern!«AbernunsolltederPrinzsichverheiratenunddesNachbarkönigsschöneTochter haben, erzählteman, deswegen rüstete er ein prächtiges Schiffaus.DerPrinz reist,umdesNachbarkönigsLänderzubesichtigen,heissteswohl,aberesgeschieht,umdesNachbarkönigsTochterzusehen,eingrossesGefolgesoll ihnbegleiten;aberdiekleineSeejungfrauschütteltedasHauptundlächelte;siekanntedesPrinzenGedankenweitbesser,alsdie andern. »Ich muss reisen!« hatte er zu ihr gesagt. »Ich muss dieschönePrinzessinsehen,meineElternverlangenes,abersiewollenmichnichtzwingen,siealsmeineBrautheimzuführen.Ichkannsienichtlieben,siegleichetnichtdemschönenMädchenimTempel,derDuähnlichbist;sollte ich einst eine Braut wählen, so würdest Du es eher sein, meinliebes,gutesFindelkindmitdensprechendenAugen!«UnderküsstesieaufihrenrotenMund,spieltemitihrenschönen,langenHaarenundlegtesein Haupt an ihr Herz, sodass dieses von Menschenglück und einerunsterblichenSeeleträumte.»DufürchtestdochdasMeernicht,meinstummesKind?«sagteer,alssieauf dem prächtigen Schiffe standen, welches ihn nach dem Lande desNachbarkönigsführensollte,undererzählte ihrvomSturmundvonderWindstille,vonseltsamenFischen inderTiefeundwasdieTaucherdortgesehen, und sie lächelte bei seiner Erzählung, siewusste ja besser, alssonstjemand,aufdemGrundedesMeeresBescheid.

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IndermondhellenNacht,wennsieallebisaufdenSteuermann,deramRuder stand, schliefen, sass sie an dem Bord des Schiffes und starrtedurchdasklareWasserhinunter,undsieglaubte ihresVatersSchlosszuerblicken; hoch auf demselben stand die alte Grossmutter mit derSilberkrone auf dem Haupte und starrte durch die reissenden StrömenachdesSchiffesKielempor.DakamenihreSchwesternüberdasWasserhervor, und starrten sie traurig an und rangen ihre weissen Hände; siewinkte ihnenzu, lächelteundwollteerzählen,dasses ihrgutgehe,dasssieglücklichsei,aberderSchiffsjungenähertesichihrunddieSchwesterntauchten unter, sodass er glaubte, dasWeisse,was er gesehen, sei nurSchaumaufderSeegewesen.Am nächsten Morgen segelte das Schiff in den Hafen von desNachbarkönigsprächtigerStadt.AlleKirchenglockenläutetenundvondenhohenTürmenwurdendiePosaunengeblasen,währenddieSoldatenmitfliegenden Fahnen und blitzenden Bajonetten in Reihe und Glieddastanden. Jeder Tag führte ein neues Fest mit sich. Bälle undGesellschaftenfolgteneinander,aberdiePrinzessinwarnochnichtda,siewerde weit davon entfernt in einem Tempel erzogen, sagten sie, dortlernesiealleköniglichenTugenden.Endlichtrafsieein.Die kleine Seejungfrau war begierig, ihre Schönheit zu sehen, und siemusste anerkennen, dass sie eine lieblichere Erscheinung noch niegesehenhabe.DieHautwarfeinundklarundhinterdenlangen,dunklenAugenwimpernlächelteneinpaarschwarzblaue,treueAugen.»Du bist es,« sagte der Prinz, »Du, die mich gerettet hat, als ich einerLeichegleichanderKüste lag!«UnderdrückteseineerrötendeBraut inseineArme.»O, ichbinallzuglücklich!«sagteerzurkleinenSeejungfrau.»Das Beste, was ich je hoffen durfte, ist mir in Erfüllung gegangen. DuwirstDichübermeinGlückfreuen,dennDumeinstesambestenmitmirvon ihnenallen!«DiekleineSeejungfrauküssteseineHand,undeskamihrschonvor,alsfühlesieihrHerzbrechen.SeinHochzeitsmorgensollteihrjadenTodgebenundsieinSchaumaufdemMeereverwandeln.Alle Kirchenglocken läuteten, die Herolde ritten in den Strassen umherundverkündetendieVerlobung.AufallenAltärenbrannteduftendesÖlinköstlichen Silberlampen. Die Priester schwangen die Räucherfässer, undBrautundBräutigamreichteneinanderdieHandunderhieltendenSegendesBischofs.DiekleineSeejungfraustandinSeideundGoldundhieltdieSchleppederBraut,aber ihreOhrenhörtendiefestlicheMusiknicht, ihrAugesahdieheiligeHandlungnicht, siegedachte ihrerTodesnacht,undallesdessen,wassieindieserWeltverlorenhatte.

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NochandemselbenAbendgingendieBrautundderBräutigamanBorddesSchiffes;dieKanonendonnerten,alleFlaggenwehtenundmittenaufdem Schiffe war ein köstliches Zelt von Gold und Purpur und mit denschönstenKissenerrichtet, da sollte dasBrautpaar in der stillen, kühlenNachtschlafen.DieSegelschwollenimWinde,unddasSchiffglittleichtundohnegrosseBewegungüberdieklareSeedahin.Als es dunkelte, wurden bunte Lampen angezündet und die Seeleutetanzten lustige Tänze auf dem Verdeck. Die kleine Seejungfrau mussteihres ersten Auftauchens aus dem Meere gedenken, wo sie dieselbePracht und Freude erblickt hatte, und sie drehte sich mit im Tanze,schwebte, wie die Schwalbe schwebt, wenn sie verfolgt wird, und allejubeltenihrBewunderungzu,niehattesiesoherrlichgetanzt;esschnittwiescharfeMesserindiezartenFüsse,abersiefühlteesnicht;esschnittihrnochschmerzlicherdurchdasHerz.Siewusste,esseiderletzteAbend,an dem sie ihn erblickte, für den sie ihre Verwandten und ihre Heimatverlassen, ihre schöne Stimme dahingegeben und täglich unendlicheQualenertragen,ohnedassereineAhnungdavonhatte.EswardieletzteNacht,dasssiedieselbeLuftmit ihmeinatmete,dastiefeMeerunddensternklaren Himmel erblickte, eine ewige Nacht ohne Gedanken undTraumharrte ihrer,diekeineSeelehatte,keineSeelegewinnenkonnte.AlleswarFreudeundHeiterkeitaufdemSchiffebisweitüberMitternachthinaus, sie lachte und tanzte mit Todesgedanken im Herzen. Der PrinzküssteseineschöneBraut,undsiespieltemitseinenschwarzenHaaren,undArminArmgingensiezurRuheindasprächtigeZelt.Es wurde tot und stille auf dem Schiffe, nur der Steuermann stand amRuder,diekleineSeejungfraulegteihreweissenArmeaufdenSchiffsrandund blickte gegen Osten nach derMorgenröte, der erste Sonnenstrahl,wusstesie,würdesie töten.Dasahsie ihreSchwesternausdemMeereaufsteigen,siewarenbleich,wiesie; ihrelangen,schönenHaarewehtennichtmehrimWinde,siewarenabgeschnitten.»WirhabensiederHexegegeben,umDirHilfebringenzukönnen,damitDudieseNachtnichtsterbenmusst!SiehatunseinMessergegeben,hierist es! SiehstDu,wie scharf?Bevor die Sonne aufgeht,musstDu in dasHerzdesPrinzenstechen,undwenndanndaswarmeBlutaufDeineFüssespritzt,sowachsendiese ineinenFischschwanzzusammenundDuwirstwieder eine Seejungfrau, kannst zu uns herabsteigen und lebst Deinedreihundert Jahre, bevor Du der tote, salzige Seeschaum wirst. BeeileDich!EroderDumusststerben,bevordieSonneaufgeht!

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UnserealteGrossmuttertrauertso,dassihrweissesHaargefallenistwiedas unsrige, von der Schere der Hexe. Töte den Prinzen und komm'zurück!BeeileDich,siehstDudenrotenStreifenamHimmel?InwenigenMinuten steigt die Sonne auf und dann musst Du sterben!« Und siestiesseneinentiefenSeufzerausundversankenindieWogen.DiekleineSeejungfrauzogdenPurpurteppichvomZeltefort,undsiesahdie schöneBrautmit ihremHaupteandesPrinzenBrust ruhen,und siebogsichnieder,küssteihnaufseineschöneStirn,blicktegenHimmelauf,wo die Morgenröte mehr und mehr leuchtete, betrachtete das scharfeMesser und heftete die Augen wieder auf den Prinzen, der im TraumseineBrautbeimNamennannte;nursiewarinseinenGedanken,unddasMesserzitterteinderSeejungfrauHand,–aberdawarfsieesweithinausin die Wogen, die glänzten rot; wo es hinfiel, sah es aus, als keimtenBlutstropfen aus dem Wasser auf. Noch einmal sah sie mithalbgebrochenemBlickeaufdenPrinzen,stürztesichvomSchiffe indasMeerhinabundfühlte,wieihrKörpersichinSchaumauflöste.Nun stieg die Sonne aus dem Meere auf, die Strahlen fielen mild undwarmaufdentodkaltenMeeresschaumunddiekleineSeejungfraufühltenichts vomTode; sie sahdieklareSonne,undobenüber ihr schwebtenHunderte von durchsichtigen, herrlichen Geschöpfen, sie konnte durchdieselben des Schiffes weisse Segel und des Himmels rote Wolkenerblicken.DieSprachederselbenwarmelodisch,abersogeistig,dasskeinmenschlichesOhresvernehmen,ebensowiekeinmenschlichesAugesieerblicken konnte; ohne Schwingen schwebten sie vermittelst ihrereigenen Leichtigkeit durch die Luft. Die kleine Seejungfrau sah, dass sieeinenKörperhatte,wiediese,dersichmehrundmehrausdemSchaumeerhob.»Zu wem komme ich?« fragte sie, und ihre Stimme klang wie die derandernWesen, so geistig, dass keine irdischeMusik sie wiederzugebenvermag.»ZudenTöchternderLuft!«erwidertendieandern.»DieSeejungfrauhatkeine unsterbliche Seele, kann sie nie erhalten, wenn sie nicht einesMenschen Liebe gewinnt; von einer fremden Macht hängt ihr ewigesDasein ab.Die Töchter der Luft haben auch keine ewige Seele, aber siekönnendurchguteHandlungensichselbsteineschaffen.WirfliegennachdenwarmenLändern,wodieschwülePestluftdenMenschentötet;dortfächelnwirKühlung.WirbreitendenDuftderBlumendurchdieLuftausund senden Erquickung und Heilung. Wenn wir dreihundert Jahre langgestrebthaben,allesGute,waswirvermögen,zuvollbringen,

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soerhaltenwireineunsterblicheSeeleundnehmenteilandemewigenGlücke der Menschen. Du arme, kleine Seejungfrau hast mit ganzemHerzennachdemselben,wiewirgestrebt,Duhastgelittenundgeduldet,Dich zur Luftgeisterwelt erhoben, nun kannst Du Dir selbst, durch guteWerkenachdreiJahrhunderteneineunsterblicheSeeleschaffen.«Die kleine Seejungfrau erhob ihre verklärtenArme gegenGottes Sonne,undzumerstenmalfühltesieThränenin ihrenAugen.–AufdemSchiffewarwiederLärmundLeben,siesahdenPrinzenmitseinerschönenBrautnachihrsuchen;wehmütigstarrtensiedenperlendenSchauman,alsobsiewüssten, dass sie sich indie Fluten gestürzt habe.Unsichtbar küsstesiedieStirnderBraut,lächelteihnan,undstiegmitdenübrigenKindernderLuftaufdierosenroteWolkehinauf,welchedenÄtherdurchschiffte.»NachdreihundertJahrenschwebenwirsoindasReichGotteshinein!«»Auchkönnenwirnochfrüherdahingelangen!«flüsterteeineTochterderLuft.»UnsichtbarschwebenwirindieHäuserderMenschenhinein,woKindersind,undfürjedenTag,andemwireingutesKindfinden,welchesseinenElternFreudebereitetundderenLiebeverdient,verkürztGottunserePrüfungszeit.DasKindweissnicht,wannwirdurchdieStubefliegen,undmüssenwirausFreudeüberdasselbelächeln,sowirdeinJahrvondendreihundertabgerechnet,abersehenwireinunartigesundbösesKind,somüssenwirThränenderTrauervergiessen,undjedeThränelegtunsererPrüfungszeiteinenTagzu!«

HansChristianAndersen