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Materialien für den Unterricht
zur Ausstellung Musée a vendre pour cause de faillite. Herbert Foundation und mumok im Dialog
21.2. – 18.05.2014
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Gerhard Richter, 1024 Farben in 4 Permutationen, 1973, Emaille auf Leinwand, Gesamt 254 x 478 cm, Courtesy Herbert
Foundation, Gent, Photo: P. De Gobert/Herbert Foundation, Gent, © Gerhard Richter
Einleitung zur Ausstellung
Die Sammlung Annick und Anton Herbert ist eine der bedeutendsten Privatsammlungen zeitgenössischer Kunst
in Europa. Das belgische Ehepaar begann im Sog der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der späten
1960er-Jahre erste Ankäufe zu tätigen. Seine Begeisterung und Interesse galten jenen künstlerischen
Entwicklungen, die – parallel zu den gesellschaftlichen Erneuerungsbestrebungen der Zeit – die Erweiterung
des Kunst- und Werkbegriffs vorantrieben. Mit besonderem Feingefühl und Know-how erwarben die Herberts
bedeutende Werke von amerikanischen wie europäischen Vertretern der Minimal Art sowie konzeptueller
Tendenzen – darunter Arbeiten von Carl Andre, Marcel Broodthaers, Hanne Darboven, Donald Judd, On Kawara,
Sol LeWitt, Michelangelo Pistoletto, Niele Toroni und Lawrence Weiner wie auch von Art & Language, Dan
Graham, Bruce Nauman oder Gerhard Richter. Ab Mitte der 1980er-Jahre kamen mit Werken von Martin
Kippenberger, Franz West und Mike Kelley noch wesentliche Werkgruppen einer späteren
KünstlerInnengeneration hinzu. Der letzte in die Sammlung aufgenommene Künstler ist Heimo Zobernig. Seit
Juni 2013 macht das Paar seine Bestände in einer ehemaligen Industriehalle in Gent jeweils im Sommer der
Öffentlichkeit zugänglich. Die Ausstellung in Wien mit dem bewusst provokant gewählten Titel Musée à vendre
pour cause de faillite (Museum zu verkaufen wegen Konkurs) zu Jahresbeginn 2014 wird die letzte umfassende
Präsentation außerhalb dieses Rahmens sein. Bereichert durch einzelne, von Annick und Anton Herbert
ausgewählte Schlüsselwerke aus den Beständen des mumok wird die Sammlung in Wien so umfassend wie nie
zuvor gezeigt. (Pressetext)
Kuratorin: Eva Badura-Triska
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Ausstellungsansicht, Musée à vendre pour cause de faillite. Herbert Foundation und mumok im Dialog,
mumok, Wien, 21. Februar bis 18. Mai 2014, © Photo: mumok/Laurent Ziegler
Ist die Ausstellung „Musée a vendre pour cause de failitte“ für SchülerInnen geeignet und wenn für welche
Altersgruppe?
Die umfangreiche Ausstellung bietet SchülerInnen die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit bedeutenden
Werken verschiedener künstlerischer Strömungen seit den 1960er-Jahren. Sie ist für alle Altersstufen geeignet,
denn sie ermöglicht unterschiedliche thematische Gewichtungen. Je nach Interesse, Alter der SchülerInnen und
Unterrichtsplanung können Sie einzelne Themenfelder herausgreifen.
Die verschiedenen Kunstwerke regen zur Beschäftigung mit vielen Themen an, einzelne davon werden hier
hervorgehoben:
Dekonstruktion
Hinterfragung der Kunst und der Institution Museum
Zeit
Das Subjekt im Verhältnis zum Kunstwerk
Das Abgründige im Alltäglichen
Zu diesen Themen bieten wir Anregungen für den Unterricht an, um diese auch für unterschiedliche
Altersgruppen aufzubereiten und zu vertiefen.
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Themen in der Ausstellung
Einen Schwerpunkt der Sammlung Herbert stellen die Arbeiten des belgischen Künstlers Marcel Broodthaers
dar, der, ursprünglich Lyriker, relativ spät als bildender Künstler tätig wurde. Die Sprache blieb sein
wesentlichstes Element, das er in unterschiedlicher Form zu Bildern, sei es Malerei, Fotografie oder Film in
Bezug setzte. Sprachkritik, Dekonstruktion und Institutionskritik sind zentrale Themen seiner Arbeit. Auch
Gerhard Richter und Heimo Zobernig analysieren und dekonstruieren die Sprachformen der Kunst. Werke dieser
beiden Künstler sind den Arbeiten Broodhthaers gegenübergestellt.
Das Thema Zeit ist wesentlich in den Arbeiten von Hanne Darboven, On Kawara und Jan Dibbets. Alle drei
konzipierten individuelle Notationsformen, um die ungreifbare und flüchtige Dimension der Zeit in einer
geordneten Struktur visuell erfahrbar zu machen.
Die Künstlergruppe Art & Language entwickelte eine Strategie der Systematisierung von Texten. Lawrence
Weiner begreift Sprache als bildnerisches Material. Er formuliert Sätze beziehungsweise Satzfragmente, denen er
nicht von vornherein eine definierte materielle Form gibt.
Carl Andre legt schmale Metallplatten ohne Sockel auf den Boden und lässt so die traditionellen Vorstellungen
von Skulptur hinter sich. Den BetrachterInnen eröffnet sich ein Spannungsfeld physischer Teilhabe und reflexiver
Distanz. Carl Andre gehört wie Donald Judd oder Sol LeWitt zu den bekanntesten VertreterInnen der Minimal Art.
Ab Mitte der 1960er-Jahre schufen diese KünstlerInnen bewusst nüchterne Objekte, die jede Form von
(expressiver) künstlerischer Handschrift, Narration und Illusionismus meiden, um so ein „objektives Sehen“ zu
erlauben.
Dan Graham zählt zu jenen KünstlerInnen, die sich vom Objektivitätsanspruch der Minimal Art distanzierten.
Seine künstlerischen und theoretischen Arbeiten fokussieren immer wieder das Subjekt und dessen
Beziehungen zur Umwelt. Er sieht das Subjekt nie isoliert, sondern im sozialen und psychologischen Kontext.
In kritischer Distanz zur Selbstbezogenheit der Minimal Art stehen auch die Werke von Michelangelo Pistoletto
und Franz West, die, wie die Arbeit von Dan Graham, zur physischen Interaktion einladen. Pistoletto schuf eine
künstlerische Grundform, die in der Serie Segno Arte in zahlreiche Objekten (Sitzgelegenheiten, Matratzen,
Behälter, Türen) ihren Widerhall findet. Das Segno Arte ist ein Zeichen, das das Alltägliche konzeptualisiert, ein
Objekt, das als Zeichen der Kunst entworfen wurde und auch im praktischen Leben verwendet werden kann.
Teilhabe und Benutzung ist auch ein zentraler Aspekt im Schaffen von Franz West. Stühle, die ursprünglich von
den BesucherInnen benutzt werden konnten, boten den BenutzerInnen körperliche wie mentale Erfahrungen.
Die Kunstwerke von Bruce Nauman verbinden die formale Sprache der Minimal Art und der Konzeptkunst mit der
physischen Bewegung sowie der Auseinandersetzung mit Affekt und physisch Verdrängtem.
John Baldessaris Arbeiten handeln von unterschiedlichen Bildern und der Frage, wie diese durch Medien
vermittelt werden, von deren Konstruktionsprinzipen und der Manipulierbarkeit ihrer Botschaften. Mike Kelley
sucht das Abgründige im Alltäglichen. Kinderspielzeug, unter einer riesigen Häkeldecke verborgen, kann ein
unangenehmes Gefühl von Verdrängtem oder Vergessenem aufkommen lassen. Genauso wie Mike Kelley gehört
Martin Kippenberger zu jenen KünsterInnnen, die eine schonungslose Offenlegung des Selbst in ihren
Werkbegriff integriert haben. Ihre Werke greifen tief in das Reservoir der Alltags- und Subkultur – mit großem
Gespür für Mythen, Klischees und gesellschaftliche Verdrängung. Kippenberger hat die Rolle des Künstlers
exzessiv in verschiedener Form thematisiert. Seine zumeist von ihm selbst gestalteten Plakate nutzte er oft als
Plattform für eine ironische Inszenierung des Künstlersubjekts.
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Dekonstruktion
Der Begriff Dekonstruktion (frz. déconstruction = Zerlegung, Auflösung, Auseinandernahme) dient als Schlagwort
für eine Reihe von Strömungen in Philosophie, Philologie, Werkinterpretation von Werken der Literatur,
Architektur und Kunst seit den 1960er-Jahren. Der Begriff wurde von Jacques Derrida als Bezeichnung für ein
Lektüre- und Analyseverfahren von Texten geprägt, das sich von hermeneutischen Theorien und deren Praxis der
Interpretation abgrenzt. Die Methode der Dekonstruktion ist ein kritisches Hinterfragen und Auflösen eines Textes
im weiteren Sinn.
Arbitrarität (wörtlich Willkürlichkeit, von lateinisch arbitrarius ‚willkürlich‘) bedeutet die Entstehung oder
Beschaffenheit einer Sache aufgrund von Willkür oder Willensentscheidung statt Naturnotwendigkeit. In der
Sprachwissenschaft und Semiotik bezeichnet der Begriff eine grundlegende Eigenschaft sprachlicher Zeichen:
Die Beziehung zwischen dem Bezeichnenden (Signifikant, Lautbild, Zeichengestalt) und dem Bezeichneten
(Signifikat) beruht auf menschlicher Konvention und Vereinbarung statt auf einer naturgegebenen
Gesetzmäßigkeit. Ferdinand de Saussure bezieht Arbitrarität auf das Verhältnis von Lautbild (image acoustique)
und Vorstellung (concept) eines sprachlichen Zeichens. Er belegt die Willkürlichkeit dieser Zuordnung mit der
Tatsache, dass dasselbe Objekt der Realität von Sprache zu Sprache verschieden benannt wird.
Anregungen für den Unterricht
Verschiedene Objekte wie Regenschirme, Kugelschreiber, mechanische Uhren usw. werden zunächst in ihre
Einzelteile zerlegt. Aus den gewonnenen Materialien werden neue Gebilde gebaut. Dieser Vorgang kann mit
einer Kamera gefilmt und somit dokumentiert werden. Die entstandenen Objekte stehen wieder zum Zerlegen
und Recyceln zur Verfügung. Dieser Vorgang kann prinzipiell unendlich oft wiederholt werden.
Kartenpaare mit der Darstellung und der Bezeichnung eines Objekts werden in eine Ordnung gebracht. Ist diese
Ordnung unumstößlich? Gibt es neue Zuordnungsmöglichkeiten? Die Fragen von Signifikat (das Bezeichnete)
und Signifikant (das Bezeichnende) und der Begriff der Arbitrarität kann in diesem Zusammenhang thematisiert
werden.
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Annick und Anton Herbert bei der Documenta V (1972), © Herbert Foundation, Gent
Hinterfragung der Kunst und der Institution Museum
Marcel Broodthaers stellt die Frage nach den Bedeutungszuschreibungen an den Begriff Kunst und beschäftigt
sich mit deren Rahmenbedingungen. Er hinterfragt die Institution Museum und verweist auf den Warencharakter
der Kunst.
„Sein erstes fiktives Museum eröffnet Broodthaers am 27. September 1968 in seinem eigenen Atelier. Was er
dort installiert, ist eine Bestandsaufnahme der materiellen wie immateriellen Komponenten und Instrumentarien
dieser Werte erhaltenden sowie mit ihrer ideellen Macht auch generierenden Institution. Im Raum stehen
Transportkisten mit englischen oder französischen Beschriftungen wie „picture“, „with care“, „keep dry“ oder
„fragile“, während vor der Türe das Lastauto einer Kunsttransportfirma parkt. Werke sind nur stellvertretend in
Form von Reproduktionen – von Gemälden, Zeichnungen und Karikaturen des 19. Jahrhunderts – anwesend. Sie
hängen als Postkarten an der Wand beziehungsweise werden als Diapositive (unter anderem auf die
Transportkisten) projiziert. Eröffnungsreden – als wesentliche Rituale der Bedeutungserzeugung – werden
performt: Mit Broodthaers und Johannes Cladders, dem damaligen Direktor des Museums in Mönchengladbach,
sprechen nacheinander ein fiktiver, selbst ernannter Direktor und ein tatsächlicher.“ (Eva Badura, Katalogtext)
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Anregungen für den Unterricht
Die SchülerInnen schreiben auf, was ihnen spontan zu dem Wort „Kunst“ einfällt. Die Beiträge werden
gesammelt und gemeinsam wird daraus ein „Bild“ erstellt.
Dasselbe mit dem Wort „Museum“.
Wie funktioniert ein Museum? Was sind seine Ziele? Welche Berufe gibt es im Museum? Ist das Museum eine
Bildungseinrichtung?
Wer agiert wo?
Institutionen als gesellschaftliche Einrichtungen gibt es viele. Das Museum ist eine, die Schule eine andere. Aber
was ist eine Institution überhaupt? Und welche Bedeutung hat sie für eine Gesellschaft? Welche Personen
arbeiten in ihr und in welcher Weise gestalten sie diese? Im Unterricht können diese Fragen in den Raum gestellt
werden.
Akteure und Akteurinnen in einem Museum und ihre Tätigkeiten (→ z. B. Kunstwerke – Präsenz, Inszenierung,
KuratorInnen – Ausstellungen planen, Kunstwerke aussuchen, RestauratorInnen – Kunstwerke erhalten,
Aufsichten – Kunstwerke sichern, KunstvermittlerInnen – über Kunst sprechen, informieren, Raum für eigene
Kreativität schaffen, usw.) können beispielsweise denen in einer Schule gegenübergestellt werden.
Institutionsportraits
Institutionen brauchen für gewöhnlich konkrete Räumlichkeiten. Aber wie lassen sich die Architekturen der
verschiedenen Institutionen charakterisieren und wie wirken sie auf den Einzelnen? Ein Projekt, in dem die
SchülerInnen durch Fotos, Texte oder Audioaufnahmen, ausgehend von ihrer persönlichen Wahrnehmung, ein
Portrait der Räumlichkeiten einer Institution entwerfen, kann eine Möglichkeit sein, sich diesen Fragen zu nähern.
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Zeit
Sowohl in der Sammlung Herbert als auch in der Sammlung des mumok befinden sich Werke von KünstlerInnen,
die sich auf unterschiedliche Art mit dem Thema Zeit beschäftigten.
Ab den späten 1960er-Jahren entwickelten Künstler unterschiedliche Ansätze, um eine unlösbare Verbindung
von Zeitlichkeit und Zeichenhaftigkeit ersichtlich machen. Zu den namhaftesten zählen Hanne Darboven, On
Kawara und Roman Opalka. Dabei haben sich Hanne Darboven und On Kawara an den gebräuchlichen Kalender
gehalten, doch mit spezifischen konzeptuellen Erweiterungen.
Für On Kawara ist Zeit primär Lebenszeit. In einer Reihe von Werkserien hat er Informationen
zusammengetragen, die sein eigenes Leben betreffen. Die Serie I Met zum Beispiel umfasst eine Liste aller
Personen, die er an einem Tag getroffen hat; in der Serie I Went ist auf Karten der Weg verzeichnet, den er an
einem Tag zurückgelegt hat. Bei den Serien I GOT UP AT… und I AM STILL ALIVE hat er die entsprechenden
Informationen in alle Welt verstreut, indem er sie auf Postkarten an ihm bekannte Personen versendete.
Hanne Darboven beschäftigt sich unter anderem mit Zahlenordnungen, die der Zeitmessung dienen. Die
Notationsform der Kalenderdaten wählt sie als Material für Arbeiten, die Zeit und Zeiterfahrung – als unser
Dasein essentiell bestimmende Struktur – zu visualisieren suchen.
Anregungen für den Unterricht
Das Thema Zeit, subjektives Zeitempfinden mit den SchülerInnen besprechen. Wann vergeht die Zeit schnell,
wann langsam? Sie können dafür ein ganz persönliches System zur Darstellung von Zeit erfinden.
In einer Liste „ich traf“ tragen sie alle Personen ein, welche sie an diesem Tag getroffen haben.
Auf einer Karte “ich ging“ trägt jede Schülerin und jeder Schüler die Wege ein, welche sie/er an diesem Tag
zurückgelegt hat.
Die SchülerInnen erfinden eigene Systeme, um Kalenderdaten darzustellen.
Schicken Sie die SchülerInnen nach draußen und lassen Sie sie Wolken fotografieren. Beamen Sie die Fotos an
die Wand oder drucken Sie diese aus. Was wurde in der Wolkenform gesehen? Wie lange hatte die Wolke in
etwa diese Form?
Die SchülerInnen stellen die Stopuhr auf dem Handy auf 60/90/120 Sekunden ein. Jeder Schüler, jede Schülerin
nimmt eine ungewöhnliche Körperhaltung für diese 60/90/120 Sekunden ein. Wie ist das Zeitempfinden und
das Körperempfinden in dieser Zeit? Die SchülerInnen stellen das in einer Zeichnung dar
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Ausstellungsansicht, Musée à vendre pour cause de faillite. Herbert Foundation und mumok im Dialog,
mumok, Wien, 21. Februar bis 18. Mai 2014, © Photo: mumok/Laurent Ziegler
On Kawara, Date Paintings
1966 begann On Kawara die Serie der Date Paintings: monochrome Gemälde in standardisierten Formaten und
Farben, auf denen in großen weißen Lettern und Ziffern das Datum ihrer Herstellung geschrieben steht. Zu jedem
Date Painting gehört eine Schachtel, in der es aufbewahrt werden kann und die einen Zeitungsausschnitt von
einer Tageszeitung von jenem Tag und Ort enthält, an dem es hergestellt wurde. Dabei gibt der Künstler sein
Privatleben nicht preis. Er benutzt die kulturell geläufigen Zeitangaben, um Blickpunkte für eine Neuorientierung
des Zeitbewusstseins zu schaffen. Letzteres wird von der Vorstellung entlastet, dass es etwas zu erreichen gilt;
und stattdessen die Aufmerksamkeit auf Zeit als Geschehen und als Lebensvollzug gelenkt. Beides deckt sich
nicht, denn das Ende des eigenen Lebens bedeutet nicht das Ende zeitlichen Geschehens. Der Künstler hat dies
unter anderem durch seine kalenderartige Auflistung von einer Million Jahre zum Ausdruck gebracht. Doch egal,
ob es sich um einen Tag handelt oder um One Million Years , immer wird ein finiter Zeitraum durch eine Menge
von Zeichen prononciert. On Kawara zeigt also Zeit als etwas durch Zeichen Vermitteltes.
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Hanne Darboven, Ein Jahrhundert (Bücherei), 1970–1971, Holzregal, 402 Ordner, 101 gerahmte Blätter,
222 x 505 x 30 cm, museum moderner kunst stiftung ludwig wien, Leihgabe der Österreichischen Ludwig
Stiftung, seit 1981, Installationsansicht, Musée à vendre pour cause de faillite. Herbert Foundation und
mumok im Dialog, mumok, Wien, 21.2.–18.5.2014, mumok, Wien, Photo: mumok/Laurent Ziegler,
© mumok/Bildrecht Wien, 2014
Hanne Darboven, Ein Jahrhundert
„Ein Jahrhundert“ besteht aus einem Regal mit 402 Aktenordnern sowie 15 DIN A3 und 86 DIN A4 Blättern. 365
Ordner beinhalten jeweils einen bestimmten Tag (z.B. den 1. Jänner, den 2.Jänner). Jeder dieser Ordner enthält
100 Einlageblätter. So enthält ein Ordner alle Quersummen des 1.1. durch ein Jahrhundert hindurch (1.1.00
1+1=2; 1.1.01 1+1+1=3 usw.). In handgeschriebenen Tabellen werden die Quersummen (=K für
Konstruktion) der einzelnen Kalenderdaten gebildet und auch mittels einer entsprechenden Anzahl von Kästchen
graphisch notiert. Die übrigen Ordner sowie die teilweise maschinenschriftlichen DIN A3 und DIN A4 Blätter
beinhalten verschiedene Systeme, Zusammenfassungen und Auflistungen der Ks.
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Ausstellungsansicht, Musée à vendre pour cause de faillite. Herbert Foundation und mumok im Dialog,
mumok, Wien, 21. Februar bis 18. Mai 2014, © Photo: mumok/Laurent Ziegler
Das Subjekt im Verhältnis zum Kunstwerk
Die künstlerischen und theoretischen Arbeiten des amerikanischen Künstlers Dan Graham fokussieren immer
wieder das Subjekt und dessen Beziehungen zur Umwelt. Denn für Graham ist das Subjekt „keine atomistische
Entität, sondern es ist erst im Netz der Beziehungssysteme und der Strukturen der Umgebung definiert." (Quelle:
www.kunst-als-wissenschaft.de/personen/person.asp?PersonID=66) Er sieht das Subjekt nie isoliert, sondern
im sozialen und psychologischen Kontext. Grahams Annäherung an die Bildende Kunst erfolgte nicht über den
Weg der Akademie, eher liegt die Herausbildung seiner künstlerischen Positionen in seinem Werdegang als
Musikjournalist, Fotograf, Kunsttheoretiker, Kulturkritiker und Galerist – ein Weg, der als typisch postmoderne
Entwicklung angesehen werden kann.Grahams theoretische Schriften ermöglichen Einblick in seine eigene
Arbeit, aber auch in die Kunstszene seiner Zeit.
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Annick und Anton Herbert in Public Space / Two Audiences (1976) von Dan Graham, (1976), Holz,
Thermopanglas, Spiegel, Baumwollstoff, fluoreszierende Lampen, 285 x 732 x 321 cm (gesamt),
Photo: R. Lautwein (2006), © Herbert Foundation, Gent
Dan Graham, Public Space/Two Audiences
Public Space/Two Audiences (1976) ist ein begehbarer Raum, der durch eine schallisolierende Glasplatte geteilt
ist. Beide Teile können getrennt betreten werden. Zusätzlich ist eine Rückwand verspiegelt. Steht man in der
verspiegelten Hälfte des Raums, erblickt man auf der anderen Seite Personen, die einen betrachten. Steht man
auf der anderen Seite, sieht man nicht nur die Personen im anderen Raum, sondern auch sich selbst, aber
jeweils ohne die anderen zu hören. Statt einfach ein Kunstobjekt zu betrachten, „werden die BetrachterInnen
durch die Struktur und die Materialien des minimalistischen Containers selbst zur Schau gestellt; in ähnlicher
Weise werden die sozialen und psychologischen Wirkungen der Materialien und der Konstruktion des Pavillons
im Widerspruch zu ihrer angeblichen ‚Neutralität‘ offenkundig“. (Quelle: Begleittext zur Ausstellung) In diesem
Raum vollziehen sich – sobald sich mehrere Personen darin befinden – Prozesse der Selbst- und
Fremdbeobachtung respektive der Selbstbetrachtung durch Fremdbeobachtung. Durch die Struktur des Raumes
werden Themen wie Isolation, Trennung und Abschottung erfahrbar. Das Beobachten und Beobachtetwerden
verweist auf alltägliche und gesellschaftliche Abläufe und deren Rolle für den einzelnen Menschen.
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Michelangelo Pistoletto, Segno Arte – Unlimited (12 Pezzi), 1976–1998, Verschiedene Materialien,
Maße variabel, Installationsansicht, Raas Van Gaverestraat, Gent, Courtesy Herbert Foundation, Gent,
Photo: P. De Gobert/Herbert Foundation, Gent, © Bildrecht Wien, 2014
Michelangelo Pistoletto, Segno Arte
Der Serie Segno Arte hat Pistoletto jeweils eine X-Form zugrunde gelegt, abgeleitet von einer mit gespreizten
Armen und Beinen stehenden menschlichen Figur in den Körpermaßen des Künstlers selbst. Die Maße des
Basismoduls betragen 210 x 120 x 60 cm und beziehen sich auf den Künstler selbst. In Anlehnung an Leonardo
da Vincis Vitruvianischen Menschen schreibt sich Pistoletto mit ausgestreckten Händen und Beinen in seine
Form ein. „Das Segno Arte ist ein Zeichen, welches das Alltägliche konzeptualisiert: Diese Idee wird bis an jenen
Punkt getrieben, wo es schwierig ist, den Teil der Kunst von jenem des Gelebten zu trennen: Ein Möbelstück, das
als Zeichen der Kunst entworfen wurde, kann dann im praktischen Leben gebraucht werden.“ (Quelle:
Michelangelo Pistoletto, 2008, zit. n.: http://herbertfoundation.org/en/media/documentation) In dieser
Grundform schuf er von den 1970er-Jahren bis in die 2000er-Jahre zahlreiche Arbeiten, die bewusst zwischen
Kunstwerk und Gebrauchsobjekt oszillieren, etwa Sitzgelegenheiten, Matratzen, verschiedene Behälter oder eine
Tür. Sie sollen eine Verbindung von Kunst und Leben herstellen.
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Exkurs
1999 wurde der Flügel von Krems realisiert:
„Anlässlich der Umgestaltung des Bahnhofsplatzes in Krems durch Boris Podrecca schuf Michelangelo Pistoletto
an der westlichen Seite des Platzes zwischen Fußgängerbereich und Fahrbahn anstelle einer der Leuchten eine
Lichtskulptur. Mit dem Titel "L'ala di Krems" ("Der Flügel von Krems") ist diese hohe flügelartige Konstruktion
seine erste Arbeit in Niederösterreich, die aus einzelnen Plexiglasflächen an beiden Seiten besteht, die in der
Nacht von innen her beleuchtet werden. Diese tragen Zeichen, die in Zusammenarbeit mit Kremser Bürgern
entstanden sind, die Vorlagen für die einzelnen Felder zur Verfügung stellten. Nur ein Zeichen, nämlich das
SEGNO ARTE, stammt von Michelangelo Pistoletto selbst.“
Quelle:http://geschichte.landesmuseum.net/index.asp?contenturl=http://geschichte.landesmuseum.net/kunst/
kunstdetail.asp___ID=1282704469
Anregungen für den Unterricht
Die SchülerInnen gestalten ihr persönliches Segno Arte.
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Das Abgründige im Alltäglichen
Der US-amerikanische Künstler Bruce Nauman hat sich von seinen Anfängen der 1960er-Jahre bis heute zu
einer Schlüsselfigur der Gegenwartskunst entwickelt. Seine Werke verbinden die formale Sprache der Minimal
Art und der Konzeptkunst mit physischer Bewegung sowie einer Auseinandersetzung mit Affekt und psychisch
Verdrängtem. Naumans reduzierte, präzise kalkulierte Objekte, Filme und Installationen werden zu Aufhängern
einer Konfrontation mit tief greifenden existenziellen Themen.
Während Naumans künstlerischer Ansatz um 1965 aus der Beschäftigung mit dem neuen amerikanischen Tanz,
mit Musik, Literatur, Theater und Sprachkritik hervorgegangen ist, setzten Mike Kelley und Martin Kippenberger
in den punkigen Endsiebziger- und Achtzigerjahren ein.
Mike Kelleys grundsätzlich von der Performance geprägte künstlerischer Arbeit kreist um Themen wie Kindheit
und Jugend, Gefühle und Erinnerung, Erziehung und soziale Normen. Er sucht das Abgründige im Alltäglichen.
Die Niedlichkeit von Kinderspielzeug wird bei ihm in bisweilen albtraumhafte Szenarien gewendet. Die über
Stofftieren ausgebreitete Häkeldecke in Lumpenprole (1991) kehrt die emotionalen Verwicklungen, für die
Kelleys Plüschfiguren stehen, buchstäblich unter den Teppich. Die Hügellandschaft des unter dem riesigen
Teppich verborgenen Kinderspielzeugs entfaltet ein emotionales Eigenleben, kann ein unangenehmes Gefühl
von schuldhaft Verdrängtem oder Vergessenem aufkommen lassen.
Kippenberger hat die Rolle des Künstlers exzessiv in verschiedener Form thematisiert. Seine meist von ihm selbst
gestalteten Plakate nutzte er oft als Plattform für eine ironische Inszenierung des Künstlerobjekts. Als
Selbstdarsteller bezog Kippenberger rückhaltlos wie kein anderer die eigene Biografie und den eigenen Körper
in die Kunst mit ein. Sein selbstzerstörerischer Einsatz steht nicht nur in Widerspruch zu einer Entwicklung seit
den 1960er-Jahren, in der versucht wurde, das Subjekt des Künstlers immer mehr zurückzudrängen. Es ist auch
eine ironische Übersteigerung der Wiederentdeckung des Künstlergenies, die mit der Neubelebung der Malerei
in den 1980er-Jahren einherging.
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Mike Kelley, Lumpenprole, 1991, Teppich Zig-Zag Afghan aus Acrylgarn, darunter 48 Stofftiere, Teppich:
610 x 915 cm, museum moderner kunst stiftung ludwig wien, Leihgabe der Österreichischen Ludwig
Stiftung, seit 1993, Photo: mumok, © Mike Kelley Foundation for the Arts
Anregungen für den Unterricht
Die SchülerInnen bringen ein Kuscheltier in den Unterricht mit. Sind diese immer nett oder haben sie auch einen
unheimlichen Aspekt? Sie tauschen die Kuscheltiere untereinander und erfinden eine unheimliche Geschichte zu
ihrem neuen Kuscheltier, welche sie in einem Comicstrip aufzeichnen.
Die SchülerInnen erfinden für sich ein „Künstlerimage“. Wie würden sie sich als KünstlerIn inszenieren? Je nach
Möglichkeit können sie sich gemäß diesem Bild verkleiden und stylen oder sie stellen es zeichnerisch/malerisch
dar.
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Ausstellungsansicht, Musée à vendre pour cause de faillite. Herbert Foundation und mumok im Dialog,
mumok, Wien, 21. Februar bis 18. Mai 2014, © Photo: mumok/Laurent Ziegler
Bruce Nauman, Musical chairs
Frei schwebend im Raum kreuzt Bruce Nauman in der Arbeit Musical Chairs zwei Doppel-T-Träger und montiert
jeweils noch zwei Stahlstühle an sich gegenüberliegende Seiten. Die Installation aus dem Jahr 1983 vereinnahmt
den ganzen Raum. Sie hängt im Weg, zwingt zur Umschreitung und zum Abstand halten. Die einzelnen Elemente
bilden eine Art Mobile und befinden sich in einem fragilen Gleichgewicht. Der Titel Musical Chairs verheißt
eigentlich nach der Übersetzung aus dem Englischen eine spannende und spaßige Benutzung der Möbel.
Bruce Nauman aber sagt über seine Kunst: „Am liebsten ist es mir, wenn sie uns kalt erwischt, wie ein Schlag ins
Genick.“ Der Ausgangsgedanke des Kinderspiels Reise nach Jerusalem oder Sesseltanz bei dem am Ende ein
Kind als GewinnerIn auf seinem Sessel übrig bleibt, kippt in ein bedrohliches Szenario.
Die harten und schweren Materialien und die rohen Formen erzeugen eine beklemmende Atmosphäre. Bruce
Nauman verweist auf seine Lektüre der Reiseberichte V.S. Naipauls und auf die politische Dimension seiner
Kunst. Der Literaturnobelpreisträger schreibt erschütternde Analysen und Erfahrungsberichte über die
menschenverachtenden Regime wie beispielsweise in Argentinien oder dem Kongo. Folter, Aggression und
Unterdrückung sind zentrale Motive seiner Schriften. Nauman zentriert das Scheitern der Menschlichkeit
stellvertretend auf die beiden Stühle, auf denen man nicht als Sieger sitzen darf sondern jedeR einzelne als
einsames anonymes Opfer von Gewalt sitzen bleiben muss.
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Mike Kelley, Memory Ware Flat #18, 2001, Knöpfe, Schmuck, Papiermaché, Mörtel und
Acrylfarbe auf Holzpaneel, 216 x 318 x 15 cm, Courtesy Herbert Foundation, Gent, Photo:
P. De Gobert/Herbert Foundation, Gent, © Mike Kelley Foundation for the Arts
Mike Kelley, Memory Ware
Mike Kelley ist von Anbeginn seiner künstlerischen Arbeit begeistert von allen Arten der „B“ Kultur, vom
Kitschigen, abgründigen, dreckigen und dem billigen Schrott der Massenkultur, die sich jeder Form der
Ästhetisierung widersetzt. All diese scheinbar wertlosen Dinge, die Kelley für seine Werkserie der Memory Ware
hortet und anhäuft sind keine belanglosen Konsumartikel – wie die Suppendosen etwa, die Andy Warhol in
vielfarbigen Siebdrucken wiederholte und zum ästhetischen Bildmotiv machte. Es sind vielmehr kleine Dinge des
privaten Gebrauchs, die emotional besetzt sein können, gesammelt werden, kleine, eigentlich wertlose
sentimentale Andenken, ähnlich wie die überall aufgesammelten Kostbarkeiten, die sich in den geheimen
Verstecken von Kindern finden oder wie die Votivgaben, mit denen Gläubige in Kirchen die Wände von Kapellen
behängen. Memory Ware, wörtlich „Erinnernungsware“ bringt all diese Dinge in einem riesigen Feld fast
unüberschaubar zusammen. Über und über gehäuft sind Broschen, Anstecker und Tand zu einem versammelt.
Während wir neugierig jedes Detail betrachten können mag sich dazwischen auch die beklemmende Frage
auftauchen woher all diese Dinge stammen, zu welchem Zweck sie gesammelt wurden oder welch manische
Persönlichkeit hinter dieser Sammlung stehen mag. Wer könnte nicht nachvollziehen, dass Sammeln auch leicht
zwanghaft werden kann?
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Martin Kippenberger, Spiderman Atelier, 1996, Holz, Eisen, Kunststoff, Plexiglas, Spiegel, Bronze,
Styropor, Wodkaflasche, Balsaholz, Öl auf Leinwände, 279 x 375 x 380 cm, Courtesy Herbert
Foundation, Gent, Installationsansicht, Musée à vendre pour cause de faillite. Herbert Foundation und
mumok im Dialog, mumok, Wien, 21.2.–18.5.2014, Photo: mumok/Laurent Ziegler, © Estate Martin
Kippenberger/Galerie Gisela Capitain, Köln
Martin Kippenberger, Spiderman Atelier
Das Spiderman Atelier ist eine von Martin Kippenbergers letzten großen Arbeiten. Die Installation knüpft an eine
lange Tradition von Darstellungen an, in der Künstler und Künstlerinnen sich im Atelier inszenieren.
Kippenberger baut einen kleinen, kargen Raum mit einem großen schrägen Fenster als Guckkastenbühne. An
den Wänden lehnen fertig gemalte Bilder und der Boden ist mit Farbspuren übersät. In der Mitte sitzt der
Künstler als Spiderman, der mit Pinseln in der Hand zum Absprung bereit scheint.
Kippenbergers Installation ist voller Anspielungen und Verweise. Die Selbstdefinition als Superheld gibt auch
dem künstlerischen Werk den Status einer großartigen und übernatürlichen Leistung. Die monochromen Bilder,
die an der Atelierwand lehnen, legen die Substanzen offen, aus denen der Künstler seine Kräfte bezieht:
Haschisch, Pot, Koffein oder Speed. Ein Kontext jedoch erschließt sich erst im dazugehörigen Plakat, das sich
auch in der Ausstellung befindet. Das Spiderman Atelier entstand anlässlich einer Ausstellung in der Galerie
Soardi in Nizza. Deren Räumlichkeiten dienten in den 1930er Jahren als Atelier für Henri Matisse. Nun hat es
Spiderman untergemietet, wie der kursive Schriftzug ankündigt.
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Impressum:
Texte und Konzept: Astrid Frieser und Christiana Wustinger
Redaktion: Johanna Lettmayer
© Kunstvermittlung mumok 2013
Leitung Kunstvermittlung, Schulen, Kinder, Jugendliche
Claudia Ehgartner
Mumok
Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien
Museumsplatz 1
1070 Wien
Tel.: 0043 1 52500 1313
Mail: [email protected]
www.mumok.at
Die Materialien können unter http://www.mumok.at/kunstvermittlung/schulen/ heruntergeladen werden.
Titelblatt:
Marcel Broodthaers, Detail des Covermotivs, Musée d'Art Moderne à vendre pour cause de faillite, 1970–1971,
Auflage von 19 Katalogen des kölnischen Kunstmakts in einem Umschlag mit schwarzem Druck auf weißem
Papier, 45 x 32 cm, Edition Galerie Michael Werner, Photo: mumok, © Estate Marcel Broodthaers