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MATERIALMAPPE zu Gian Carlo Menottis musikalischem Drama DER KONSUL

MATERIALMAPPE zu Gian Carlo Menottis musikalischem ......Gian Carlo Menotti Gian Carlo Menotti war ein unruhiger Geist. Er wurde damit 95 Jahre alt und starb als gebürtiger Italiener

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Page 1: MATERIALMAPPE zu Gian Carlo Menottis musikalischem ......Gian Carlo Menotti Gian Carlo Menotti war ein unruhiger Geist. Er wurde damit 95 Jahre alt und starb als gebürtiger Italiener

MATERIALMAPPE zu Gian Carlo Menottis musikalischem DramaDER KONSUL

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Technischer Leiter: Ralf Zwirlein . Bühneneinrichtung: Thorsten Tingler . Beleuchtung: Thomas Güldenberg . Ton: Hardy von Harten . Maske: Raimond Otterbein-Bruhn, Henrik PecherRequisite: Frank Poeppel . Malersaal: Sabine SteinkeDekoration: Robert Seifert . Schlosserei: Thomas PrinzTischlerei: Holger von Glahn . Schneiderei: Viola Schütze Gewandmeisterinnen: Claudia Aurbach, Stefanie Grell Kostümassistenz: Rieke Bohmbach . Regiehospitanz: Ann-Katrin Oelrich, Franziska Wittmar

DER KONSULMusikalisches Drama von Gian Carlo MenottiAufführung in deutscher Sprache

Musikalische Leitung Marc NiemannInszenierung Matthias Oldag Bühne & Kostüme: Susanne Richter Dramaturgie Juliane Piontek Regieassistenz & Abendspielleitung Heidi Oßwald Studienleitung Hartmut BrüschMusikalische Einstudierung Eunhyun BangInspizienz Regina Wittmar

Magda Sorel Inga-Britt Andersson John Sorel Timothy Sharp Mutter Sünne PetersSekretärin Patrizia HäusermannGeheimpolizist Daniel DimitrovHerr Kofner Leo Yeun-Ku ChuZauberer MacKenzie Gallinger Italienerin Tijana GrujicAnna Gomez Alice FuderVera Boronel Michaela WeintrittAssan Róbert Tóth Sängerin Iris Wemme

Philharmonisches Orchester BremerhavenStatisterie

Premiere: 17. März 2018 / Großes HausAufführungsdauer: ca. 2 Std. 30 Min. / Pause nach dem 2. Akt

Bitte beachten Sie die aktuellen Besetzungsaushänge. Das Fotografieren sowie Video- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung untersagt.

Hauptsponsor des Stadttheaters Bremerhaven

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IRGENDWO AUF DER WELT1. AktDer Widerstandskämpfer John Sorel wird von der Polizei verfolgt und rettet sich verwundet in seine Wohnung. Rechtzeitig können ihn seine Frau Magda und seine Mutter vor der eintretenden Geheimpolizei verstecken. Bei dem anschließenden Verhör bleibt Magda standhaft und verrät ihren Mann nicht. Für die Sorels wird klar, dass sie in einem anderen Land Zuflucht suchen müssen. Daher soll Magda für sich, ihr gemeinsames Kind und die Mutter auf einem Konsulat Visa für eine legale Ausreise beantragen. John selbst will illegal die Grenze überqueren und nachfolgen.Im Konsulat warten verschiedene Leute auf ihre Visa. Eine Sekretärin verteilt Fragebögen, prüft Papiere und lehnt dringende Visumgesuche ab, egal, welche Schicksale hinter den einzelnen Personen stehen.In der festen Überzeugung, der Konsul helfe politisch Verfolgten, bittet Magda die Sekretärin, direkt zu ihm vorgelassen zu werden. Doch auch für sie gilt: Formulare ausfüllen und warten, denn: „Ihr Name ist eine Nummer, die Geschichte ist nur ein Fall.“ Die Bürokratie nimmt ihren Lauf.

2. AktZeit ist vergangen. Magda ist es weder gelungen, den Konsul zu sprechen, noch die Visa zu erhalten. Johns Verbleib ist ungewiss, ihr kleines Kind liegt im Sterben, die Schwiegermutter ist lebensmüde. Furchtbare Träume quälen Magda: John und die Sekretärin erscheinen ihr als drohende Visionen. Der Verbindungsmann Assan über-bringt Magda die Nachricht, John halte sich noch immer nahe der Grenze versteckt und werde erst ins Ausland flüchten, sobald Magda die Visa habe.

Noch einmal bittet Magda im Konsulat um ein Gespräch beim Konsul. Die Sekretärin lehnt eine Sonderbehand-lung weiterhin ab. Magdas Verzweiflung bricht sich Bahn in einem Aufschrei gegen unmenschliche Bürokratie. Die Sekretärin zeigt auf einmal Mitgefühl und erreicht, dass Magda zum Konsul vorgelassen wird. Als sich die Tür zu seinem Büro öffnet, tritt der Geheimpolizist heraus. Magda bricht ohnmächtig zusammen.

3. AktEin paar Tage später wartet Magda erneut im Konsulat. Assan ist ihr gefolgt, um ihr mitzuteilen, dass John trotz der lebensbedrohlichen Umstände an die Seite Magdas zurückkehren werde. Magda fasst einen endgültigen Entschluss.

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Ich habe starke ästhetische Vorstellungen. Ich schreibe meine Musik für das kollektive Unter-bewusstsein, für das Edelste im Menschen. Der Komponist erschafft eigentlich gar nichts. Er entdeckt, was bereits existiert. Wir müssen bescheiden genug sein, um Suchende zu sein, wir suchen nach dem Unvermeidlichen. Der höchste Beweis für die Unvermeidlichkeit ist die melodische Linie. Mir ist egal, was die anderen sagen. Jede große Musik enthält sie.

Gian Carlo Menotti

Gian Carlo Menotti war ein unruhiger Geist. Er wurde damit 95 Jahre alt und starb als gebürtiger Italiener und gefeierter Komponist Amerikas 2007 in Monte Carlo. Da spielte er aber bereits im öffentlichen Bewusstsein kaum mehr eine Rolle. Er schien sich gegen die zeitgenössische Musik in ihren vielfältigen Ent-wicklungen zu sträuben und hatte damit zumindest im Nachkriegseuropa keine Chance, wirklich ernstgenom-men zu werden.

Menotti wurde am 7. Juli 1911 in Cadegliano (auf der italienischen Seite des Luganer Sees) als sechstes von zehn Kindern einer Kaufmannsfamilie, die Kaffee exportierte, geboren. Sein musikalisches Talent wurde schon früh durch seine Mutter Ines gefördert. Nach dem Tod des Vaters 1928 reiste Ines Menotti mit ihren Kindern nach Kolumbien und versuchte dort vergeblich, das stark an-geschlagene Familienunternehmen vor dem Untergang zu bewahren. Im selben Jahr schrieb sich Gian Carlo für ein Studium am Curtis Institute of Music in Philadelphia ein, wo er Unterricht in Komposition bei Rosario Sca-lero erhielt. Scalero war wie Menotti Italiener und hatte in Wien studiert, wo er Kontakt mit Johannes Brahms pflegte. Am Curtis Institute lernte Menotti auch den jungen Samuel Barber kennen. Er wurde zu Menottis engstem Freund und Lebenspartner. Bei seinen eigenen

Opern stets auch sein eigener Librettist, schrieb Menotti für Barbers Oper Vanessa das Textbuch (die 2017 am Stadttheater Bremerhaven zu sehen war).Menotti war ein Meister der musikdramatischen Schlag-kraft. An seinem großen Vorbild Giacomo Puccini ge-schult, verstand er es, melodische Spannungen zu erzeu-gen. Er war ein Fanatiker der großen dankbaren Rollen. Menotti übertrug gekonnt Elemente des Verismo pub-likumswirksam auf das amerikanische Musiktheater. In seinen besten Zeiten gehörte er zu den meistgespielten Komponisten Amerikas. Von der Existenz der amerika-nischen Oper im mittleren 20. Jahrhundert wusste ein Großteil der Amerikaner nur durch Menotti, denn seine Fernseh- und Kinderoper Amahl und die nächtlichen Besucher wurde für viele Jahre Teil des amerikanischen Weihnachtsrituals und sein Name selbst für Kinder ein Begriff.Menotti war ein Traditionalist in jeder Hinsicht. Seine italienische Staatsbürgerschaft hat er nie aufgegeben. Fremden Librettisten traute er keine Erfindungskraft zu. Und weil seine Textbücher so gut waren, wurde er von Metro-Goldwyn-Mayer unter Vertrag genommen, Filmscripts zu schreiben. Doch die Verbindung mit der Filmindustrie funktionierte auf Dauer nicht. Menotti hasste alles Hereingerede und Sich-anpassen-Müssen. Er wurde selber Veranstalter und gründete 1958 das Festival zweier Welten in Spoleto, in dem alles erlaubt war, nur nicht, Menottis Werke zu spielen. Die kamen erst zu Gehör, nachdem sich Menotti von der Leitung des Festivals zurückgezogen hatte.In seiner langen Karriere hat er 23 Opern sowie Solo-konzerte und Kammermusik geschrieben. Zu Menottis bekanntesten Werken zählen – neben Amahl und die nächtlichen Besucher – die Opern Der Konsul (1950) und Goya (1977), die den spanischen Maler Franciso zum Vorbild hat und eigens für den spanischen Tenor Placido Domingo entstanden war.„Man würde nie sagen: Das klingt nachMenot"ti.

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„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“

Mit diesem Satz beginnt Franz Kafkas Roman Der Pro-zess und der Albtraum des 30-jährigen Prokuristen Josef K., aus dem es kein Erwachen mehr gibt.

„Sie führen sich ärger auf als ein Kind. Was wollen Sie denn? Wollen Sie Ihren großen, verfluchten Prozess dadurch zu einem raschen Ende bringen, dass Sie mit uns, den Wächtern, über Legitimation und Verhaftbe-fehl diskutieren? Wir sind niedrige Angestellte, die sich in einem Legitimationspapier kaum auskennen und die mit Ihrer Sache nichts anderes zu tun haben, als dass sie zehn Stunden täglich bei Ihnen Wache halten und dafür bezahlt werden. Das ist alles, was wir sind, trotzdem

Aus DER PROZESS von Franz Kafka

aber sind wir fähig, einzusehen, dass die hohen Behörden, in deren Dienst wir stehen, ehe sie eine solche Verhaftung verfügen, sich sehr genau über die Gründe der Verhaftung und die Person des Verhafteten unterrichten. Es gibt darin keinen Irrtum. Unsere Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen und muss uns Wächter ausschicken. Das ist Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?“

„Dieses Gesetz kenne ich nicht“, sagte K. „Desto schlimmer für Sie“, sagte der Wächter. „Es besteht wohl auch nur in Ihren Köpfen“, sagte K., er wollte sich irgendwie in die Ge-danken der Wächter einschleichen, sie zu seinen Gunsten wenden oder sich dort einbürgern. Aber der Wächter sagte nur abweisend: „Sie werden es zu fühlen bekommen.“

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Der Konsul steht in der Tradition des italienischen Verismo. Dies wird vor allem in den geschlossenen, ariosen Passagen deutlich. Daneben lassen sich in den rezitativischen Stellen Züge von Alban Bergs Wozzeck erkennen; anderes erinnert an Igor Strawinsky oder Paul Hindemith. Auch in der Instrumentation verzichtet Me-notti vollständig auf den Broadway-Sound, wie er zum Beispiel in Kurt Weills oder George Gershwins Werken so dominant ist.

Natürlich traf die Handlung der Oper den Nerv des Immigrations-Landes USA, weshalb Der Konsul dort zur erfolgreichsten Oper Menottis avancierte und 1954 mit dem Pulitzer Preis als das beste Musical Play ausge-zeichnet wurde. Aber letztlich ist Menottis Konsul eine „internationale“ und keine authentisch „amerikanische“ Oper. Ein Grund mehr wohl auch für den internationa-len Erfolg dieser Oper.

Man würde nie sagen: Das klingt nach Menotti.Natürlich ist das eine Schwäche. Aber jeder Takt passt exakt zur dramatischen Situation. Und das verwandelt den Eklektizismus auf der Bühne in eine Stärke.

Geoffrey Paterson, Dirigent

Der Konsul – eine zeitlose OperDer italienische Komponist und bekennende Kommu-nist Luigi Nono verteufelte die Oper seines Landsman-nes als „antisowjetische Propaganda“. Fakt ist, dass Der Konsul in einem totalitären Staat spielt, John Sorel im Untergrund kämpft und seine Frau Magda für sich und ihre Familie auf einem Konsulat die Ausreise beantragt, um ins Exil gehen zu können. In einem richtigen Propa-gandastück würde das Konsulat für den freien Westen stehen. Aber so eindeutig ist das nicht. Schließlich wird uns gezeigt, dass der Konsul mit der Geheimpolizei un-ter einer Decke steckt. Und wir erfahren nie, für welche politischen Ziele John Sorel tatsächlich kämpft. Menotti verweigert ein moralisches Urteil.

Der Konsul basiert auf einem Drehbuch, das Menotti auf Einladung des Präsidenten von Metro-Goldwyn-Mayer in Hollywood verfasst hatte, aber schließlich nie verfilmt wurde. Die Inspiration bekam der Komponist durch das Schicksal einer polnischen Emigrantin, das in einer Meldung der New York Times vom 12. Februar 1947 beschrieben wurde: Deren Antrag auf Einreise in die USA im Jahre 1940 war abgelehnt worden, weil sich ihr vorausgereister Mann inzwischen von ihr hatte scheiden lassen, ohne dass sie davon erfuhr. Während er für die gemeinsame Tochter bürgte, ließ er seine Frau im Stich. Sie erhängte sich daraufhin auf Ellis Island.

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Die Fähigkeit, sagte Cipolla, sich seiner selbst zu ent-äußern, zum Werkzeug zu werden, im unbedingtesten und vollkommensten Sinne zu gehorchen, sei nur die Kehrseite jener anderen, zu wollen und zu befehlen; es sei ein und dieselbe Fähigkeit; Befehlen und Gehorchen, sie bildeten zusammen nur ein Prinzip, eine unauflösliche Einheit; wer zu gehorchen wisse, der wisse auch zu befeh-len, und ebenso umgekehrt; der eine Gedanke sei in dem anderen einbegriffen, wie Volk und Führer ineinander einbegriffen seien, aber die Leistung, die äußerst strenge und aufreibende Leistung, sei jedenfalls seine, des Führers und Veranstalters, in welchem der Wille Gehorsam, der Gehorsam Wille werde, dessen Person die Geburtsstätte beider sei, und der es also sehr schwer habe.

Ich bestellte ein Bier. Ein kleiner alter Mann setzte sich zu mir. Er fragte mich fast sofort mit einem Blick auf den Handkoffer, für welches Land ich ein Visum hätte. Er fragte nicht etwa, wohin ich fahren wollte, sondern für welches Land ich ein Visum hätte. Darauf erwider-te ich, ich hätte kein Visum und keine Absicht, eines zu erwerben, ich wolle bleiben. Er rief: „Sie dürfen nie bleiben ohne Visum!“ Ich verstand seinen Ausruf nicht. Ich fragte aus Höflichkeit, was er selbst vorhabe. Er sei Kapellmeister in Prag gewesen, jetzt habe man ihm eine Stelle verschafft bei einer berühmten Kapelle in Carácas.

Er hatte schon einmal einen Kontrakt besessen, auf den Kontrakt ein Visum, auf das Visum das Transit. Die Ge-währung des Visa de sortie habe aber so lange gedauert, dass ihm inzwischen das Transit erloschen sei, darauf das Visum, darauf der Kontrakt. Letzte Woche habe man ihm das Visa de sortie gewährt, er warte jetzt Tag und Nacht auf die Verlängerung des Kontraktes, die ja dann ihrerseits die Verlängerung seines Visums bedinge. Die aber sei die Vorbedingung für die Gewährung des neuen Transits. Ich fragte verwirrt, was das bedeute: Visa de sortie? Er starrte mich entzückt an. „Das ist die Erlaubnis, Frankreich zu verlassen. Hat Sie denn niemand unterrichtet, armer junger Mann?“ – „Wel-chen Zweck soll das haben, Menschen zurückzuhalten, die doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt wenn sie bleiben?“ Darauf lachte er, dass ihm die Kiefer knirschten. „Und was hat das für eine Bedeutung mit dem Transit? War-um läuft es überhaupt ab? Warum lässt man die Leute nicht durchziehen nach ihren neuen Wohnstätten?“ Er sagte: „Mein Sohn, weil sich alle Länder fürchten, dass wir statt durchzuziehen, bleiben wollen. Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, dass man nicht bleiben will.“

Aus TRANSIT von Anna SeghersAus MARIO UND DER ZAUBERER von Thomas Mann

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Ort: Auf einer alten bescheidenen Holzbrücke, die über einen mittelgroßen Grenzfluss führt und zwei Staaten in gewisser Weise miteinander verbindet.

Konstantin: Ihren Grenzschein, bitte.Havlicek: Leider, ich kann Ihnen nur hier damit dienen –Konstantin: Aha. Eine Ausweisungssache.Havlicek: Innerhalb achtundvierzig Stunden. (Stille)

Konstantin: Und nun wollen Sie hier zu uns herein –Havlicek: Wollen? Ich muss.Konstantin: Aber Sie werden nicht können.Havlicek: Wieso?

Konstantin: Sie gehören doch nicht unserem Staatsver-bande an.

Havlicek: Wieso bitte nicht?

Konstantin: Weil Sie ein Ausländer sind.

Havlicek: Interessant. Aber die Herren Grenzorgane drüben behaupten, dass ich hier herüber zuständig bin infolge meiner seinerzeitigen hiesigen Geburt.

Konstantin: Das allein genügt noch nicht. Wir haben bereits vor zwanzig Jahren ein Gesetz erlassen in jener Hinsicht, dass sich ein jeder Staatsbürger, der dauernd im Ausland lebt, innerhalb von fünf Jahren beim zu-ständigen Konsulat melden muss, widrigenfalls er seine Staatsbürgerschaft verliert, und zwar automatisch.

Havlicek: Warum?

Konstantin: Nur so.

Havlicek: Das ist mir neu.

Konstantin: Die Notiz über das Gesetz stand aber in allen Tagesblättern.

Havlicek: Aber ich les ja nie eine Notiz, höchstens die Todesanzeigen.Konstantin: Ihre Schuld! Dadurch, dass Sie nur Todesan-zeigen lesen, haben Sie naturnotwendig die Anmeldefrist versäumt und gehören nun automatisch nicht mehr da her.

Havlicek: Sehr interessant. Aber wohin gehör ich denndann, bitte?

Konstantin: Dann nirgends. (Stille)

Havlicek: (lächelt) »Nirgends« – Unfug. Man ist doch immerhin vorhanden.

Konstantin: Gesetz ist Gesetz.

Havlicek: Aber solche Gesetze sind doch unmenschlich.

Konstantin: Im allgemeinen Staatengetriebe wird gar oft ein persönliches Schicksal zerrieben.

Havlicek: Schade.

Aus der Posse HIN UND HER von Ödön von Horváth

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Frau Hanusch:Die Jugend, die ist allweil keck,Und räumt gern alle Grenzen weg.Wir reiferen, gesetzteren Leut‘Wir denken an die Ewigkeit!

Konstantin:Und wenn ein jeder das tät, was er möchte,Und das unterließ, was er nicht möchte,Wenn ein jeder so wär, wie er ist,Na sevus! Das wär ein feiner Mist.Na gute Nacht, das wär ein Erwachen!Da hätten wir alle nichts zu lachen.

Szamek:Ohne Grenzen, ohne GrenzenGäb es keinen Staat und keine Ordnung in der Welt.Wir tun von den Grenzen leben,Also muss es Grenzen geben.Nein, das wär ein ganz ein arges Gfrett!Wenn man keine Grenzen, keine Grenzen hätt!

Alle:Ja, das ist wahr!Es liegt ganz klar.Grenzen wird es immer geben,Denn von den Grenzen tun wir leben.So ziehen wir die Konsequenz:Es lebe hoch die schöne Grenz!

Aus der Posse HIN UND HER von Ödön von Horváth

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IMPRESSUMHerausgeber: Stadttheater BremerhavenSpielzeit 2017/2018Intendant: Ulrich MokruschVerwaltungsdirektorin: Heide von Hassel-HüllerRedaktion: Juliane PiontekSatz: Hilka Baumann, Leonie KammGestaltung: KELLING! Agentur für Marketing und KommunikationDruck/Anzeigen: Müller Ditzen AG, Hoebelstraße 19, 27572 Bremerhaven

Probenfotos vom 14.3.2018: Heiko Sandelmann

Quellen: Donald L. Hixon: Gian Carlo Menotti – A Bio-Bibliogra-phie in Music, Number 77, 2000; Ödön von Horváth: Hin und her, Text im Projekt Gutenberg; Andreas Jaensch: Leonard Bernsteins Musiktheater, Bärenreiter Kassel 2003; Franz Kafka: Der Prozess, Text im Projekt Gutenberg; Thomas Mann: Mario und der Zau-berer, S. Fischer Verlag AG Berlin 1930; Münchner Abendzeitung: Geoffrey Paterson über Menottis Oper The Consul, Gespräch mit Robert Braunmüller, 27. März 2017; Michael Rösch: Studien zur amerikanischen Oper im mittleren 20. Jahrhundert, Inaugural-Dissertation, Freiburg Februar 1997; Anna Seghers: Transit, Aufbau-Verlag Berlin 1988

Die Texte wurden z.T. redaktionell gekürzt und bearbeitet.

Aufführungsrechte: Hans Sikorski Musikverlag Hamburg

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