Meinrad Walter Johann Sebastian Bach. · PDF fileim schlichten Choral „Ach mein herzliebstes Jesulein" durch die ... Eine „Chronologie der Johannespassion von J. S. Bach" dokumentiert

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  • Meinrad Walter, Johann Sebastian Bach. Weihnachtsoratorium, Kassel usw.:Brenreiter, 2006 (Brenreiter Werkeinfhrungen), 198 S.; ders., Johann SebastianBach. Johannespassion. Eine musikalisch-theologische Einfhrung, Stuttgart: Carus-Verlag und Philipp Reclam jun., 2011, 380 S.

    Die Deutung geistlicher Kompositionen in ihrem theologischen Entstehungskontext hat sich insbesonderefr das Verstndnis der Kirchenmusik Johann Sebastian Bachs als eine wesentliche Dimension derWerkbetrachtung erwiesen. Die Theologische Bach-Forschung hat es sich zur Aufgabe gemacht, diekomplexen Zusammenhnge theologischer Bezge in den Kantaten-, Passions- und OratorientextenBachs herauszuarbeiten und sie in Beziehung zu dessen Vertonungen zu setzen. Die Vermittlung der sogewonnenen Erkenntnisse an ein Konzertpublikum scheint dabei ein schwieriges Unterfangen zu sein, dadie wissenschaftliche Darstellung hier oftmals im Gegensatz zu jeweils sehr individuellen religisenErfahrungen und Einsichten im Bezug auf einzelne Bachsche Werke - ja oftmals vielleicht auch bloeinzelner Textzeilen - steht. Allein die Tatsache, da gerade die Growerke so gut wie gar nicht mehr inihrem liturgischen Kontext erklingen, fhrt - auch infolge des schwindenden Verstndnisses fr somanche uns heute fremd anmutende sprachliche Wendung der Texte - dazu, da eine zunehmende Zahlvon Konzertbesuchern diese Werke (zumindest abschnittsweise) als absolute Musik hren. Freilich istauch das ein Genu, wie die Beliebtheit der Passions- und Oratorienauffhrungen belegt, doch entgehtdem Hrer dadurch letztlich eine wichtige Ebene der originalen Werkkonzeption.Diesem Phnomen begegnen die beiden Publikationen von Meinrad Walter, die sich mit demWeihnachts-Oratorium und der Johannes-Passion nicht nur zwei der bekanntesten Werke Bachs widmen,sondern gleichsam die Eckpunkte der christlichen Theologie - die Geschichten von Jesu Geburt und Tod -umfassen. Die beiden Werkeinfhrungen sind unter dem Gesichtspunkt einer musikalisch-theologischenInterpretation verfat, die dem integrativen Konzept ,Hrend verstehen, verstehend hren'" verpflichtetsind und die Leser anregen sollen, dem Wechselspiel zwischen Musik-Machen, Hren und Nachdenkenber den unerschpflichen Reichtum" dieser Werke zu folgen. Beide Bnde beginnen mit einerberblickhaften Einfhrung in die Zusammenhnge der Werkentstehung (Bachs biographische Situation,Textdichter, Werkfassungen), bieten einen berblick ber die Gattungsentwicklung und umreien denbiblischen Kontext - die Rahmenhandlung - und dessen Rezeptionstraditionen, bevor sich ausfhrlicheInterpretationen der einzelnen Werkteile anschlieen.Dies tut Walter mit einer angenehmen und unkomplizierten Sprache, die es vermag, auch schwierigeSachverhalte verstndlich zu machen. Eine zustzliche Hilfe bieten die Glossare am Ende jedes Bandes, diesowohl theologische als auch musikanalytische Termini przise und gleichsam intuitiv verstehbar erklren.Der instruktive Charakter wird zudem durch mehrere zusammenfassende schematische Darstellungenund Graphiken untersttzt; in die gleiche Richtung zielen die zahlreichen Notenbeispiele und Faksimile-Abbildungen (in sehr ansprechender Qualitt).Der Wahrnehmung der groen oratorischen Werke Bachs durch das heutige Publikum begegnet Waltermit einer theologischen Beurteilung der dramatischen Gattung, wie sie sich im Weihnachtsoratoriumoffenbart. Hierbei handele es sich nicht um ein spannendes Schauspiel [...] oder gar um einmusikalisches Krippenspiel von gestern, sondern um einen predigthaften Spiegel, in dem sich die Hrer,mitten in der Weihnachtsgeschichte und zugleich hier und heute, selbst erleben und erkennen" (S. 18).Hiermit deutet Walter bereits den von ihm vielfach verwendeten Begriff des ,musikalischen Gebets' an,mit dem er vor allem Bachs Arien - auch in der Johannes-Passion - beschreibt. Die Hrer seien damalswie heute, direkt in das Werk mit hineinkomponiert", indem die Texte ein hohes Ma anIdentifikationspotenzial mit den handelnden Personen bieten und nicht mehr nur eine Nacherzhlung derbiblischen Geschichte leisten. Ausdruck findet dies in Arientexten wie Herr, dein Mitleid, dein Erbarmentrstet uns und macht uns frei" oder Ich will nur dir zu Ehren leben, mein Heiland gib mir Kraft undMut". Daraus leitet Walter letztlich auch den berragenden Erfolg" des Werkes ab, der in derVerbindung der sthetisch-musikalischen mit einer spirituell-theologischen Qualitt grnde (S. 39). Erbersieht dabei allerdings, da dieser Erfolg nicht allein werkimmanent ist, sondern zugleich der heutigenBedeutung des Weihnachtsfestes fr Christen wie Nicht-Christen geschuldet ist; denn das Weihnachtsfesthat sich zu einer tradierten kulturellen (und nicht allein christlichen) Institution entwickelt, zu derenKonventionen die Musik der ,alten Meister' ganz selbstverstndlich gehrt. Whrend die Bedeutung derPassionsmusiken auch weiterhin weitgehend auf einen christlichen Hrerkreis beschrnkt bleibt, knnendie musikalischen Werke zum Weihnachtsfest lngst nicht mehr allein religis reklamiert werden.Walters Werkeinfhrung liegt die Idee zugrunde, da jede Kantate des Weihnachts-Oratoriums Ausdruckeiner irdisch-himmlischen Polaritt" ist. Diese sieht er beispielsweise im ersten Teil in dem Gegensatzvon Niedrigkeit und Majestt", der in der Zweinaturenlehre - Christus als wahrer Gott und wahrerMensch - seine Entsprechung finde. Textlich drckt sich dies zunchst als Paradoxie zwischen den

  • Aussagen Er ist auf Erden kommen arm" und Groer Herr, o starker Knig" aus, wird aber musikalischim schlichten Choral Ach mein herzliebstes Jesulein" durch die Verwendung von Trompeten und Paukenzur Synthese gefhrt (S. 35).Fr die analytischen Beschreibungen der einzelnen Werkteile folgt Walter einem stets gleich bleibendenMuster, das sich als uerst fruchtbar erweist.Vorangestellt ist zunchst jeweils ein Blick in die Werkstatt" Bachs, der das Bewutsein fr den Prozeder Werkentstehung schrft und deutlich macht, wo der Komponist in welchem Umfang in diemusikalische Gestalt der weltlichen Parodie vorlagen eingriff. Hier setzt Walter immer wieder neueAkzente. Fr den dritten Teil beschreibt er beispielsweise die Neukomposition der Arie Schliee, meinHerze, dies selige Wunder", in der er das Ergebnis der Suche Bachs nach einer verinnerlichten Musik"sieht, die in dem ruhigmeditativen Thema und der Besetzung mit einer solistischen Violine Ausdruckfindet (S. 98). Spter beschreibt Walter in der Werkstatt-Rubrik Bachs Papierkonomie (S. 118) unddessen Konventionen bei der Komposition von Rezitativen (S. 142). Diesen Exkursen folgen Abdrucke derTexte des jeweiligen Oratorienteils unter Angabe der Besetzung. In die Werkbetrachtung im engeren Sinnfhrt dann ein Text ber den Aufbau der Kantaten ein, dem sich detaillierte Betrachtungen der einzelnenStze anschlieen. Bemerkenswert sind Walters - bewut vorsichtig formulierten - berlegungen zuUnstimmigkeiten in der Dramaturgie des zweiten und dritten Teils. Ausgehend von der FeststellungAlbert Schweizers, da das Wiegenlied Schlafe, mein Liebster, geniee die Ruh" seinenHandlungszusammenhang eigentlich im Anschlu an das Rezitativ Und sie kamen eilend" hat, fragtWalter, ob vielleicht noch weitere Stze des zweiten Teils ursprnglich fr den dritten vorgesehenwaren" und ob es mglicherweise einen frheren Plan zur Konzeption des dritten Teils" gab (S. 104).Mit Blick auf die dramaturgische Logik und durchaus naheliegende Stichwortanschlsse skizziert er einenmglichen ersten Plan fr die Textgestalt des dritten Teils, der sich insbesondere in den Arien von derbekannten Werkgestalt unterscheidet. Insgesamt liefert Walter eine anschauliche und falicheEinfhrung, die sich kaum auf mystisch-spekulative Interpretationsanstze einlt. Stattdessen findet einekritische Diskussion verschiedener theologischer Deutungen statt, wie sie beispielsweise der HirtenchorLasset uns nun gehen gen Bethlehem" bisher erfahren hat - und die zumeist ebenso einleuchtend wieunbeweisbar" waren (S. 106). _______

    Die Werkeinfhrung in Bachs Johannes-Passion folgt einem ganz hnlichen Muster, wobei dieser Banddurch seine ueren Merkmale (Hardcover, greres Format, gut gegliederter Satzspiegel) und innereGestaltung (Farbabbildung, umfangreiche Notenbeispiele sowie zahlreiche Graphiken und bersichten)wesentlich ansprechender wirkt als das Taschenbuch zum Weihnachts-Oratorium, das aufgrund derEditionsrichtlinien der Reihe Brenreiter Werkeinfhrungen" wenig einladend wirkt. Dies gilt allerdingsauch fr die Gestaltung des Schutzumschlages zum Band Johannespassion" (Carus/ Reclam), der mitBildmaterial und Textdesign reichlich berfrachtet wurde. Sehr ausfhrlich beschreibt Walter zunchst dieliturgischen und kirchengeschichtlichen Umstnde der Passionsgeschichte sowie die Entwicklung derPassion als musikalische Gattung bis ins 20. Jahrhundert und erlutert die Entstehung der verschiedenenTexttypen (oratorische Passion, Passionsoratorium) und deren Mischformen. Dabei macht er dem Leserbewut, da bereits zu Bachs Lebzeiten Passionsmusiken nicht allein einen Platz im liturgischen Kontextfanden, sondern auch in Konzerten erklangen; in diesem Zusammenhang beschreibt er die Rolle derTexthefte, die fr die Konzertauffhrungen zugleich als Eintrittskarte galten und fr die Auffhrungen inder Karfreitagsvesper zumindest einen Nebenerwerb fr den Kantor bedeuteten. Revisionsbedrftig isthier die Behauptung Walters, erhalten sei kein einziges [Textheft] zu den Passionsmusiken Bachs" (S.27) - von Tatjana Schabalina wurde krzlich in der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg einsolches fr eine Auffhrung von Bachs Markus-Passion im Jahr 1744 entdeckt. Das von Walter genannteoriginale Textheft" hingegen (S. 27), das Carl Friedrich Zelter 1829 im Zusammenhang mitMendelssohns Wiederauffhrung der Matthus-Passion angeblich erwhnt, hat mglicherweise nieexistiert - denn es gibt gute Grnde anzunehmen, da es sich bei dem alten Kirchentext", von demZelter spricht, in Wirklichkeit um den Druck von Picanders Ernst-Schertzhafften und Satyri