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Tony Blair Mein Weg | Thomas Pynchon Natürliche Mängel | Colm Tóibín Brooklyn | Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse Argentinische Literatur | Thomas Maissen Geschichte der Schweiz | Margarete Mitscherlich Die Radikalität des Alters | Weitere Rezensionen zu Iwan Bunin, Klaus Merz, Victoria Ocampo, Urs Frauchiger u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese Nr. 8 | 26. September 2010

MeinWeg| ThomasPynchon NatürlicheMängel| ColmTóibín ... · Iwan Bunin schildert das Herzzerreis-sende dieses Exodus in eine ungewisse Zukunft – «Wie ist es wohl, dieses Land

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Page 1: MeinWeg| ThomasPynchon NatürlicheMängel| ColmTóibín ... · Iwan Bunin schildert das Herzzerreis-sende dieses Exodus in eine ungewisse Zukunft – «Wie ist es wohl, dieses Land

Tony BlairMeinWeg |Thomas PynchonNatürlicheMängel |Colm TóibínBrooklyn | Schwerpunkt Frankfurter BuchmesseArgentinische Literatur |ThomasMaissenGeschichte der Schweiz |MargareteMitscherlichDieRadikalität desAlters |Weitere Rezensionen zu Iwan Bunin, KlausMerz,Victoria Ocampo, Urs Frauchiger u.a. |Charles LewinskyZitatenlese

Nr. 8 | 26. September 2010

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Belletristik4 Thomas Pynchon: Natürliche Mängel

Von David Signer6 Iwan Bunin: Am Ursprung der Tage

Von Ralph Dutli7 Klaus Merz: Aus dem Staub

Von Manfred Papst8 José Saramago: Die Reise des Elefanten

Von Thomas DavidArnold Odermatt: In zivilVon Gerhard Mack

9 Colm Tóibín: BrooklynVon Sacha Verna

10 Tanguy Viel: Paris­BrestVon Monika Burri

11 Brigitte Kronauer: FavoritenVon Manfred Koch

Kurzkritiken Belletristik11 Félix Bruzzone: 76

Von Regula FreulerRuth Klüger: Was Frauen schreibenVon Manfred PapstJoseph Roth: «Ich zeichne das Gesichtder Zeit»Von Manfred PapstSabina Altermatt: FallhöheVon Regula Freuler

Essay12 Die Schatten der Vergangenheit

Ina Boesch besuchte Autorinnen undAutoren in Argentinien, dem Gastland derdiesjährigen Frankfurter Buchmesse

Kolumne15 Charles Lewinsky

Das Zitat von Christian Morgenstern

Kurzkritiken Sachbuch15 Mamoun Fansa, Karen Aydin: Gaza

Von Geneviève LüscherDominique Strebel: WeggesperrtVon Urs RauberAndrea Blunschi: Die Frau des Dorfarztes undder WehrmachtoffizierVon Urs RauberNapoleon Bonaparte: Maximen und GedankenVon Kathrin Meier-Rust

Sachbuch16 Margarete Mitscherlich: Die Radikalität

des AltersVon Kathrin Meier-Rust

18 Tony Blair: Mein WegVon Martin Alioth

Frank Arnold: Management – Von den BestenlernenVon Leonid Leiva

19 Peter Hablützel: Die Banken und ihre SchweizVon Reinhard Meier

20 Tom Segev: SimonWiesenthalVon Klara Obermüller

21 Victoria Ocampo, Renate Kroll: VictoriaOcampo – Mein Leben ist mein WerkVon Kirsten Voigt

22 AramMattioli: «Viva Mussolini!»Von Janika GelinekAsteris Kutulas: Mikis Theodorakis. Ein Lebenin BildernVon Geneviève Lüscher

23 Stephan Truninger: Die AmerikanisierungAmerikasVon Fritz TrümpiLiaquat Ahamed: Die Herren des GeldesVon Sebastian Bräuer

24 Thomas Maissen: Geschichte der SchweizVon Beatrix Mesmer

25 Michael Stausberg: Religion immodernenTourismusVon Geneviève LüscherUrs Frauchiger: damals ganz zuerst am anfangVon Martin Walder

26 Sita Mazumder: Das Geschäft mit dem TerrorVon Urs RauberDas amerikanische BuchEric Jaffe: The King’s Best HighwayVon Andreas Mink

Agenda27 Alberto Giuliani: Malacarne. Leben mit

der MafiaVon Manfred PapstBestseller September 2010Belletristik und SachbuchAgenda Oktober 2010Veranstaltungshinweise

Tony Blair gehört zu den bedeutendsten britischen Politikern derNachkriegszeit, in eine Reihe mit Winston Churchill und MargaretThatcher. Der Erfinder von «New Labour» hat seine Partei 1997 mitdem grössten Wahlsieg der Geschichte für 13 Jahre an die Machtgeführt, das Land modernisiert und in der Weltpolitik – vom Kosovo-Krieg 1999 bis zum Kampf gegen den Terror – eine herausragende,wenn auch umstrittene Rolle gespielt. In seinen Memoiren gibt Blairnun Einblick in sein Denken, Fühlen, seine Ängste, skizziert dieausgeklügelten Schritte, die hinter den Kulissen zu gehen waren, bisschwierige Entscheide reif waren. Der unverhüllte Bericht aus demZentrum der Macht bietet hochinteressanten Lesestoff (Seite 18).Einen zweiten Schwerpunkt bildet die Literatur Argentiniens, Gastlandder am 6. Oktober beginnenden Frankfurter Buchmesse. Ina Boesch hatClaudia Piñeiro und zwei weitere Autoren in Buenos Aires besucht(S. 12). Während ihre Werke um die Militärdiktatur der 1970er Jahrekreisen, gehört Victoria Ocampo, die «Mona Lisa der Pampa», zu denbedeutendsten Intellektuellen der Ära Perón (S. 21).Auf dem Programm sodann: Thomas Pynchons Thriller aus demHippie-Milieu, eine irische Emigrationssaga von Colm Tóibín, dasAltersbuch von Margarete Mitscherlich und anderes mehr. Wirwünschen viel Vergnügen! Urs Rauber

Von Tony Blairzur Mona Lisa derPampa

Tony Blair(Seite 18).Illustration vonAndré Carrilho

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Nr. 8 | 26. September 2010

Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Monika Werth (Layout), Bettina Keller, Rita Pescatore, Benno Ziegler (Korrektorat)Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 04425811 11, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]

26. September 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3

Inhalt

Argentinische Bestsellerautorin: Claudia Piñeiro inihremGarten in Buenos Aires, September 2010.

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seine Untaten Busse tun. Aber nochbevor er den Plan umsetzen konnte,wurde er von seiner Frau und ihremruchlosen Liebhaber in eine dubiosePrivatklapsmühle versorgt. Was es aller-dings mit dem «Goldenen Fang» aufsich hat, der dräuend durch die gut 500Seiten irrlichtert, bleibt rätselhaft. Baldist es ein Drogenkartell, das zugleicheine exklusive Rehabilitationsklinik un-terhält, bald ein Konglomerat von Waf-fenschiebern, die sich als Zahnärzte aus-geben, bald ein Geisterschiff, auf demder Geheimdienst Offshore-Verhöredurchführt.

Diese dschungelhafte Unwegsamkeitmag manche Leser nerven, man kann sieauch mit Humor nehmen. Denn sie passtimmerhin zum mafiösen Gewirr vomLos Angeles Anfang der siebziger Jahreund zum mentalen Zustand von Doc.«Wer sagte eigentlich, dass es Zeitreisennicht gab», sinniert er einmal vor sichhin, «und dass an Orten mit einer Adres-se in der realen Welt keine Gespenster– nicht nur von Toten, sondern auch vonLebenden – umgehen konnten? Es half,

4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. September 2010

Thomas Pynchon: Natürliche Mängel.Aus dem Amerikanischen von NikolausStingl. Rowohlt, Reinbek 2010.512 Seiten, Fr. 41.50.

Von David Signer

Die Stärken von Thomas Pynchon sindzugleich seine Schwächen. Der weiteHorizont und die stupende Bildungdes geheimnisumwitterten Amerikanersführen dazu, dass er innerhalb wenigerSeiten locker vom Kapstadt des 17. Jahr-hunderts ins Dresden des Zweiten Welt-kriegs springen und nebenbei noch diewichtigsten Fragen der Landvermes-sung und der Entropie abhandeln kann.Die Zentrifugalkräfte in seinem Schrei-ben wurden mit fortschreitendem Alternicht etwa gedrosselt, sondern be-schleunigt, von «Die Enden der Para-bel» (1973) über «Mason & Dixon»(1997) bis «Gegen den Tag» (2006). Nunhat sich der Autor nach diesen Tausend-Seiten-Wälzern offenbar eine Art Ur-laub gegönnt und mit «Natürliche Män-gel» einen leichten, witzigen Thrillerum einen Hippie-Ermittler am Ende derFlower-Power-Ära in Kalifornien ge-schrieben.

Larry «Doc» Sportello betreibt in LosAngeles ein Ermittlungsbüro mit demNamen LSD (Location, Surveillance,Detection). Der Roman beginnt klas-sisch. Docs Ex-Freundin Shasta suchtihn zu Hause auf, über die Hintertreppe.«Es gibt da so einen Typen», sagt sie.Der dauerbekiffte Doc ist sonst eherschwer von Begriff, aber sogar er spürt,dass sich Ärger ankündigt. Shasta hateine Affäre mit dem schwerreichenImmobilienmakler Mickey Wolfmann.Aber das Problem ist, dass sie ihn wirk-lich liebt und dass die Frau des Milliar-därs ebenfalls einen Lover hat, mit demsie sich das Vermögen des Gatten unterden Nagel reissen will.

Eine schmutzige Geschichte. Doc, ei-gentlich rundum eine Fehlbesetzung für

den Job des hartgekochten Detektivs,hat gehofft, sich langsam aus dem Ge-schäft zurückziehen zu können. «Dochatte auf dem Pasadena Freeway fri-sierte Rolls-Royces voll aufgebrachterHeroindealer abgehängt, einzig daraufbedacht, mit über hundertsechzig imNebel unbeschadet durch all die simpelkonstruierten Kurven zu kommen, erwar östlich des L.A. River mit nichts alseinem geliehenen Afrokamm als Waffein der Tasche in irgendwelche finsterenGassen hineinspaziert, er war bei Ge-richt ein und aus gegangen, während erein kleines Vermögen in Form von viet-namesischem Gras besessen hatte, under war mittlerweile eigentlich über-zeugt, dass die ganze Ära des Leicht-sinns hinter ihm lag, doch nun ...»

Immer neue FreaksWenig später bekommt er von einemehemaligen Sträfling den Auftrag, beiWolfmanns Bodyguard Schulden zu kas-sieren. Aber dann geht etwas schief. Alser zu sich kommt, liegt die blutüber-strömte Leiche des Leibwächters nebenihm, und Lieutnant Bigfoot Bjornsen –stadtbekannter Hippiehasser – blicktihn fragend an. Natürlich hängen diebeiden Aufträge irgendwie zusammen,so wie auch all die anderen undurch-sichtigen Gestalten, hanebüchenen Epi-soden, gefährlich-absurden Begegnun-gen, metaphysischen Ermittlungen, psy-chedelischen Sexualverschmelzungenund esoterischen Exkurse.

Sicher, «Natürliche Mängel» ist fürPynchon-Verhältnisse ein simpel ge-strickter Unterhaltungsroman. Aber dasschliesst nicht aus, dass alle paar Seitenwieder neue Freaks auftauchen mit soseltsamen Namen wie Sauncho Smilax,Vincent Indelicato oder Trillium Fort-night oder dass ein toter Saxofonspielerplötzlich in einer Garderobe aufersteht.Was mehr oder weniger klar ist: MickeyWolfmann wandelte sich vom Sauluszum Paulus, mit einem gigantischensozialen Bauprojekt wollte er für all

BelletristikRoman Im neuen Thriller des geheimnisumwitterten US-AutorsThomas Pynchon ermittelt ein Hippie-Detektiv in Los Angeles. Er führtuns in ein Labyrinth skurriler Personen und absurder Ereignisse

Wirklichernstwird’snie

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massenhaft Gras zu rauchen und ab undzu einen Trip einzuwerfen, aber manch-mal kriegte es auch ein prosaisch den-kender Abstinenzler wie Bigfoot hin.»

Pynchon schildert, nicht nur in sei-nem neuesten Werk, Orte und Milieuspräzise, ja hyperrealistisch, mit vielLiebe zum (absurden) Detail, währendseine Charaktere jedoch seltsam diffusbleiben. Das hat auch mit der durchge-henden Ironisierung zu tun. Die Welt istbei Pynchon eine Art offene psychiatri-sche Anstalt. Begriffe wie Realität, Sinn,KausalitätoderPersönlichkeitsindledig-lich Hilfskonstruktionen, die sich dieMenschen zurechtlegen. Selten spürtman unverstellte Gefühle oder gar Lei-denschaft. Vielleicht passt es dazu, dasssich der inzwischen 73-Jährige auch imwirklichen Leben lieber versteckt hält.Die Haltung der amüsierten Distanzkann nach ein paar hundert Seiten ermü-den, weil keine tiefere Spannung auf-kommen kann, solange nicht wirklichetwas auf dem Spiel steht. Hält man«Natürliche Mängel» beispielsweiseneben die jüngste Erzählung von Philip

Die Flower­Power­Ära Kaliforniens –hier eine Aufnahmevon 1970 – bildetden Hintergrund vonThomas PynchonsneuemRoman.

Roth, «Die Demütigung», muss mansagen: Im Vergleich mit der Unerbitt-lichkeit und emotionalen Direktheit desetwa gleichaltrigen Roth wirkt das vier-mal längere Pynchon-Werk wie eineartistische Spielerei.

Leicht bekiffte ProsaPynchon selbst weiss durchaus um seineeigenen «natürlichen Mängel». Im Vor-wort zur Publikation seiner frühen Er-zählungen, unter dem Titel «Spätzün-der», unterzog er seinen eigenen Stil1984 einer erbarmungslosen Kritik. EinSchriftsteller solle sich weniger mit im-posanten Theorien, literarischen An-spielungen und ausgefallenen Meta-phern beschäftigen als vielmehr mitMenschen und Milieus aus dem realenLeben, am besten aus jenem, das er sel-ber kennt, postuliert er. Und: Die Ernst-haftigkeit erzählender Literatur bemes-se sich letztlich an ihrer Einstellung zumTod. «Die Demütigung» handelt voneinem ausgebrannten Schauspieler, derdem unausweichlichen Niedergang einSchnippchen zu schlagen versucht,

indem er sich in ein Abenteuer mit einerFrau stürzt, die seine Enkelin sein könn-te. Fatal in jeder Hinsicht. Bei Pynchonhingegen kommen nicht nur viele Surfervor, sondern auch der Autor selbst surftüber alle Abgründe hinweg. Wie ineinem Comic gibt es letztlich nichtsEndgültiges und keinen Tod. Nach einerExplosion mögen alle bis aufs Skelettverkohlt sein – sie schütteln sich kurz,und weiter geht’s. Auch Doc mag in diehaarsträubendsten Abenteuer geraten,wirklich ernst wird’s nie.

«Natürliche Mängel» ist einer derbesten Pynchon-Romane, weil er hieraus der Not eine Tugend machen kann.Seine Prosa wirkte schon immer leichtbekifft; hier wird der Stil stimmig, weiler zum dauerdelirierenden Detektiv undseiner benebelten Entourage in Sanda-len und Batikhemden passt. Aber mankönnte den Schlusssatz des Romansauch auf Pynchon selbst anwenden:Doc, nach einer Autopanne am Strassen-rand, hoffend, «dass es den Nebel weg-brannte und dass stattdessen diesmalirgendwie etwas anderes da war». l

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Belletristik

Iwan Bunin: Am Ursprung der Tage.Frühe Erzählungen 1890–1909. Aus demRussischen von Dorothea Trottenberg.Hrsg. und Nachwort von Thomas Grob.Dörlemann, Zürich 2010.288 Seiten, Fr. 37.90.

Von Ralph Dutli

Über Nacht verliert ein russisches Dorfdie Hälfte seiner Einwohner. Erst nachund nach wird klar, was die Menschenzum Aufbruch treibt. Wohin emigrierensie? «Ans Ende der Welt» (so der Titelder Erzählung), an den Ussuri-Fluss.Der Grund: Armut, Missernten, Hunger.Iwan Bunin schildert das Herzzerreis-sende dieses Exodus in eine ungewisseZukunft – «Wie ist es wohl, dieses Landam Ussuri?» – nur scheinbar distanziert.In Wahrheit bebt seine Erzählung vorWehmut und Trauer.

Die allmähliche Verarmung konnteder aus dem Landadel stammende, 1870in Woronesch geborene Tolstoi-Vereh-rer und Tschechow-Freund an seinereigenen Familie studieren. Der Nieder-gang begann kurz nach seiner Geburt.Der Vater verjubelte das Restvermögenbeim Kartenspiel. Unterschlupf fand dieFamilie bei Geschwistern und Verwand-ten, oft lebte sie aus dem Koffer. Buninjobbte als Journalist, und ihm stand biszu seinem Durchbruch als Schriftstellerdas Wasser meist bis zum Hals. Verbit-tert über die Russische Revolution, emi-grierte er 1920 mit seiner Frau von Odes-sa über Konstantinopel nach Paris. ImExil wuchs sein Ruhm rasch, er bekam1933 als erster russischer Autor denLiteraturnobelpreis. Bunin starb 1953 inParis, schwer krank, vereinsamt unddesillusioniert.

Über die KlassenschrankenDer Zürcher Dörlemann-Verlag setzt –nach dem Revolutionstagebuch «Ver-fluchte Tage» und den Reiseberichten«Der Sonnentempel» – seine von Doro-thea Trottenberg einfühlsam und schönübersetzte Bunin-Ausgabe mit frühenErzählungen fort und ermöglicht so einelohnende Entdeckung. Ein russischerAutor mit Klassikerformat findet end-lich seinen Weg zum deutschsprachigenPublikum.

Der Abkömmling des Adels hatteüber die Klassenschranken hinweg eineAntenne für die einfache Landbevölke-rung und ihre Nöte. Dass Bunin ab 1900mit dem Barfüsserautor Maxim Gorkibefreundet war, symbolisierte gleich-sam sein soziales Paradox, das sich inden literarischen Texten wiederfindet.Allerdings zerbrach die Freundschaft,als Bunin der Russischen Revolutionnur Verachtung entgegenbrachte. Aber

die Antenne ist nicht zu leugnen. In«Nachrichten aus der Heimat» erinnertsich der Erzähler an den BauernjungenMischka, der einst als bester Freund mitihm die Kindheit teilte. Als er in einemBrief beiläufig von dessen Tod erfährt(«verhungert!»), vergegenwärtigt ersich die letzte Begegnung mit dem ver-wahrlosten Bauernsohn, der ihn auf derBahnstation um eine Fahrkarte anbet-telte, um in der Stadt nach etwas Ess-barem zu suchen. Das Verletzendstedabei: Der einstige Freund siezt ihn. DerHunger hat die in der Kindheit eingeris-sene Klassenschranke wieder hochge-fahren.

Bunin wurde oft vorgeworfen, dass erdie soziale Schärfe der Probleme durchdie zarte Poesie seiner Naturschilde-rungen zu sehr mildere. Denn keiner inder ganzen russischen Literatur hat sozauberhafte, luftige Naturbilder entwor-fen. Tatsächlich ist viel von «bläulichen

Wäldern» und «smaragdgrünen Eisblö-cken» die Rede, von «silbrigen Dunst-schwaden» und «duftendem Halblicht».Doch der Vorwurf ist ungerecht. Viel-leicht wirkt die Not noch schmerzhafterund absurder, weil die Natur gleich ne-benan ihre bestürzend schönen, stillenSpektakel veranstaltet. Die träume-rische, schönheitstrunkene Abschieds-magie macht die Marke Bunin aus: Ab-schied von der Kindheit, vom Dorf, vonder Heimat, vom erfüllten Augenblick.Tolstois Lehren vom richtigen und vomfalschen Leben tröpfeln nach und nachaus dem Geplauder der Sommergästehervor («Auf der Datscha»).

Dieser Autor ist mehr als der trau-ernde Chronist verödender Landgüterund Dörfer. Ein heimlicher Romantikervoller Wehmut und Melancholie – aberohne alle Sentimentalität – ist er, einwunderbarer Träumer und stiller Hor-cher. Als sensibler Erkunder dermenschlichen Seele spürt er der aufkei-menden Sehnsucht («Erste Liebe»)ebenso nach wie der unheilbaren Al-terseinsamkeit. Vielleicht ist Bunin sel-ber das junge Mädchen, das in der Er-zählung «Glück» einem Heiratsantragentgegenfiebert, um ihn schliesslichdoch abzulehnen.

Diskrete EhedramenDie Erzählungen sind lichtvoll gewo-bene Kindheitserinnerungen, anmutigeDetails aus dem russischen Landlebenwerden mitgeteilt, doch auch der Todhinterlässt schon früh seine Spur in die-sem Gedächtnis, sei es der Tod eineskleinen Mädchens oder eines erfrorenenBettlers. «Der Tod, Bruder, ist wie dieSonne, mit den Augen kannst du ihnnicht ansehen. Er findet dich überall.Und man stirbt nicht zehnmal, sonderneinmal.»

Die Wehmut über alles Vergänglichelässt zumindest Glücksmomente zu. Ausder versammelten Kindheitsseligkeitblitzen zwei Ehegeschichten auf, diezum Besten des Bandes gehören. Sie be-schwören eine überraschende Versöh-nung («In später Nacht»), das Auffla-ckern eines in der Neujahrsnacht erneu-erten Zugehörigkeitsgefühls («Neu-jahr»). Nur sehr diskret lässt der Erzäh-ler die Ehedramen ahnen. «Blass undwunderschön, müde von allem, was wirdurchlebt hatten und was uns so oft zubitteren, erbarmungslosen Feinden ge-macht hatte.» Für Ehehöllen ist einSchwede zuständig, Bunin ist der rus-sische Meister fragiler Augenblickeeines wiedergefundenen, vorläufigenGlücks. lRalph Dutli hat die Ossip-Mandelstam-Gesamtausgabe herausgegeben undübersetzt und ist Mitglied der DeutschenAkademie für Sprache und Dichtung.

ErzählungenDie frühenGeschichten des ersten russischen Literaturnobelpreisträgers IwanBunin

ErhatteeineAntennefürdieeinfacheBevölkerung

Zauberhafte Natur,soziale Not: DieErzählungen von IwanBunin (1870–1953)sind vollerWehmutund Trauer. Im Bildrussische Buben Endedes 19. Jahrhunderts.

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Klaus Merz: Aus dem Staub. Gedichte.Mit fünf Pinselzeichnungen vonHeinz Egger. Haymon, Innsbruck 2010.87 Seiten, Fr. 25.90.

Von Manfred Papst

Klaus Merz bereichert die SchweizerGegenwartsliteratur seit Jahrzehntennicht nur mit erzählender Prosa voninhaltlicher Dringlichkeit und hoherformaler Qualität, sondern meldet sichauch immer wieder als Lyriker von Rangzu Wort. Wir erleben es von Buch zuBuch – dankbar und stets aufs Neueüberrascht. Seit jeher ist der AargauerAutor, der am 3.Oktober 65 Jahre altwird, ein Meister des präzisen Aperçus,der Verknappung und der Andeutung:einer, der die Farbe, den Klang, das spe-zifische Gewicht jedes Wortes sorgsambetrachtet, bevor er es setzt.

Das braucht Zeit, Geduld, auch Stren-ge gegen sich selbst. Deshalb ist dasWerk von Klaus Merz vergleichsweiseschmal. Es ist jedoch auch von bemer-kenswerter Konstanz und Eigenständig-keit. Dieser Dichter hat schon früh zueinem unverwechselbaren Ton gefun-den. Er hat ihn beibehalten, ohne ihn zurManier verkommen zu lassen. Und nochetwas zeichnet Merz aus: Er versteht es,tiefgründig und gleichsam zwischen denZeilen zu schreiben, ohne schwer ver-ständlich zu sein.

Ähnlich wie bei Günter Eich lässt sichin den Gedichten von Klaus Merz einProzess fortwährender Klärung beo-bachten. Sie werden immer lakonischerund kürzer – manche von ihnen umfas-sen nur drei oder vier Zeilen –, dabeiaber keineswegs kryptischer, herme-tischer, abweisender,sondernimmerkla-rer und leichter. Die Sehnsucht nach

Leichtigkeit auf dem dunklen Grund desLebens begegnet uns denn auch explizit:«Der Schwermutsichbeugen/undleichtwerden dabei», lesen wir in «Die Brün-ner Mädchen». «Zukunft bleibt flüchtig /nur die Toten sind nah. / Und die Gegen-wart / verliert ihr Gewicht», heisst es in«Zurüsterin Nacht». In zwei weiterenGedichten ist von Tagen die Rede, dieleichter sind als Luft, und von Gott, derLuft für uns ist und den wir einatmen,ohne es zu merken.

Dass Klaus Merz, der sich noch nieals wortgewaltiger Poet und barockerFabulierkünstler verstanden hat, die Re-duktion immer weitertreibt, heisst nunallerdings nicht, dass seine Texte sprödund fahl würden. Im Gegenteil. Es ver-blüfft, wie mit wenigen Worten hier rei-che Welten erschaffen werden und Epi-phanien des Alltags vor unseren Augenerstehen. Durch die Lamellen betrach-ten wir das staubige Fell des Sommers.Welch ein Bild! Ein anderes: Jemandlehnt in der Tiefe eines Ladens am Süd-früchteregal und schaut zu, wie dieSonne als erste Kundin über die Schwel-le tritt. Im Weiteren wird uns ein Apfel-baum als borkiger Dreizack vorgestellt,der uns im Herbst vom Meeresgrundseine Früchte heraufträgt. «Boskop»heisst dieser Vierzeiler, und wir schme-cken beim Lesen sofort die kräftige Säuredes ledrigen Apfels, in der sich so vielSüsse verbirgt.

Nichts entgeht dem Blick diesesDichters. Er sieht die Bewegung im Still-stand und umgekehrt. «Wolken ziehendahin / unverrückbar und leicht», lesenwir im Gedicht «Pinakothek», und wei-ter: «Die eine Frau schenkt / Milch aus,die andere / kämmt ihr Haar, seit / drei-hundert Jahren.»

Rilke hat es pathetischer formuliert,doch im Kern geht Klaus Merz mit ihm

einig: Wer sich für ein Leben als Dichterentscheidet, wählt eine Existenzform,nicht nur eine Tätigkeit, die man manch-mal ausübt und manchmal nicht. DerVierzeiler «Biografie», den man alsSelbstbildnis, zugleich aber auch alsversteckte Hommage an Gerhard Meierlesen kann, hält den Tatbestand mitfeinem Humor fest: «Im Lauf der Zeitselber / zum Bleistift geworden / derauch ein Bleistift bleibt / wenn er nichtschreibt.»

Es weht ein herbstlicher Wind durchdiese Gedichte. Von Abschied, Tod, Ver-gänglichkeit ist die Rede, aber auchimmer wieder von der Schönheit derWelt in ihrer steten Gefährdung. KlausMerz wagt – ohne Tremolo, dafür mitzärtlicher Akribie – etwas, das seit Jahr-tausenden die Aufgabe der Dichter ist,auch wenn wir das grosse Wort mittler-weile scheuen: Er feiert das Dasein. l

LyrikDerAargauerKlausMerz zeigt sich in seinen neuenGedichten alsMeister derReduktion

DasstaubigeFelldesSommers

KlausMerz, 64,Erzähler und Lyriker,bereichert mitkonstanter Qualitätdie SchweizerGegenwartsliteratur.

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Die NominiertenEinladung an die Waghalsigen, Dorothee Elmiger, DuMont BuchverlagPaarbildung, Urs Faes, Suhrkamp VerlagDer Goalie bin ig, Pedro Lenz, Der gesunde MenschenversandNotizen und Details 1964 – 2007, Kurt Marti, Theologischer Verlag ZürichTauben fliegen auf,Melinda Nadj Abonji, Jung und Jung Verlag

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8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. September 2010

Belletristik

José Saramago: Die Reise des Elefanten.Aus dem Portugiesischen von MarianneGareis. Hoffmann und Campe,Hamburg 2010. 240 Seiten, Fr. 34.90.

Von Thomas David

«Die Reise des Elefanten» ist der vor-letzte Roman des portugiesischenSchriftstellers José Saramago (1922–2010), der im vergangenen Juni verstor-ben ist. Es ist kein ganz grosses Buch des1998 mit dem Literaturnobelpreis ausge-zeichneten portugiesischen Erzählers,der auch als Lyriker, Dramatiker und Es-

sayist hervortrat und 1982 mit dem im18. Jahrhundert spielenden Liebesroman«Das Memorial» den internationalenDurchbruch schaffte. Aber doch einschöner, von leiser Ironie und einer sou-veränen, mitunter geradezu dickfelliganmutenden Gelassenheit durchdrun-gener Roman. Den Stoff dazu lieferte diewahre Geschichte des Elefanten Salo-mon, den Johann III. von Portugal imJahr 1551 seinem Vetter Maximilian ausWien zum Geschenk gemacht hatte. DerDickhäuter Salomon ist drei Meter grossund vier Tonnen schwer, er ist ein Ge-sandter des Teufels, ein grauhäutigerGott, Johanns wertvollster und zugleich

entbehrlichster Besitz. Als sich dieMarschkolonne in Lissabon in Bewe-gung setzt, schreitet Salomon «anmutigund sauber wie ein leuchtender Hosti-enteller einher».

Kämpferische KuhAn einer Stelle im Buch macht die Ko-lonne, die den Elefanten nach Wienbringen soll, auf ihrem Marsch nach Val-ladolid Station in der Festung von Cas-telo Rodrigo. Der Elefant ist zur Nachtgebettet, die Soldaten stehen entspanntin dem improvisierten, mit Heubündelnversehenen Schlafsaal, als der indischeElefantenführer Subhro den Soldatendie Geschichte von der kämpferischenKuh erzählt. Diese habe sich und ihrKalb in den galizischen Bergen zwölfTage und Nächte gegen ein Rudel Wölfeverteidigt. Die Soldaten empfinden «inihrem Innersten ein grosses Erstaunenüber den Mut dieser Kuh». Kalt sei esgewesen, erzählt Subhro, auf messer-scharfen Steinen zwölf Tage lang nur Eisund Matsch, «Geheul und Gebrüll»:eine tapfere, wohl irgendwie wild ge-wordene Kuh, die sich mit den Hörnerngegen die Angriffe der Wölfe verteidig-te, während das frierende Kalb an ihrenZitzen saugte.

Einer der Soldaten beginnt am Wahr-heitsgehalt der Geschichte zu zweifeln.«Dann ist also alles Lüge?», fragt Subhro,der als persönlicher Mahut des Elefan-ten vor zwei Jahren mit ihm aus Indienan den Hof des portugiesischen Königsgekommen ist und vom Erzherzog Maxi-milian von Österreich Fritz genanntwird. «Nein», sagt der Soldat, den JoséSaramago einen gewichtigen Teil derPoetik sagen lässt, die seinem Romanzugrunde liegt. «Lüge sind nur die Über-treibungen, die sprachlichen Schnörkelund die Halbwahrheiten, die als volleWahrheiten durchgehen wollen.»

Schelmisches VergnügenSaramago erzählt von der Angst undEhrfurcht in den Augen der Ungläubi-gen, die Salomon auf seiner Reise zusehen bekommen. Er erzählt von Subhround dessen Sorge, als Elefantenführerabgelöst zu werden, von den Machtran-geleien der portugiesischen und öster-reichischen Kommandanten, die darü-ber streiten, wem die Ehre gebührt, Sa-lomon dem Erzherzog zu übergeben.

Was als schillernder Stoff für einenverzierten, im opulenten Farbenrauscheines vergangenen Jahrhunderts ausge-malten Historienschinken taugen könn-te, wird in Saramagos Händen zu einerluftigen Erzählung. Aus der Distanz des21. Jahrhunderts zurückblickend, lügtund fabuliert José Saramago lustvoll undstellt die Ungereimtheiten und Über-treibungen seiner faszinierenden Ge-schichte mit schelmischem Vergnügenaus. Gerade indem er seinem Romanden Anspruch auf historische Wahrheitverweigert, verleiht er ihm ein StückWahrhaftigkeit. l

RomanNobelpreisträger José Saramagos vorletzter Roman ist ein lustvolles Gebildeaus Ungereimtheiten, das den historischen Wahrheitsanspruch unterläuft

EinElefantüberquertdieAlpen

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LebensgefühlPolizeifotograf in zivil

Die Landschaft um Stans versinkt im Regen. Doch einSchirmmit gelben Blumen und ein lachendes Gesichtseiner Tochter genügen Arnold Odermatt, um Lebens­lust ins Bild zu zaubern. Die Familie weiss: Der Vaterist Fotograf und fühlt sich auch im Dienst, wenn er zuHause ist. Tagsüber dokumentiert er mit der Kameradie verunfallten Autos am Vierwaldstättersee, amWochenende die Familie. «In zivil», aber nicht privat.Die Crash­Bilder haben längst die gebührende inter­nationale Aufmerksamkeit gefunden. Nun legt Sohn

Urs auch die Aufnahmen aus dem Familienalbum vor.Sie zeigen dieselbe Ruhe, mit der der Polizeifotografdie Welt wahrnimmt, und machen gerade deshalb dasLeben einer Familie in der Schweizer Provinz zumSpiegel für die Gesellschaft und das Lebensgefühleiner Epoche. Man möchte das Buch gar nicht mehrzur Seite legen. Gerhard MackArnold Odermatt: In zivil. Hrsg. Monika Faber undAstrid Mahler. Steidl, Göttingen 2010. 260 Seiten,281 Abbildungen, Fr. 110.–.

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26. September 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9

Colm Tóibín: Brooklyn. Aus demAmerikanischen von Giovanni und DitteBandini. Hanser, München 2010.300 Seiten, Fr. 35.90.

Von Sacha Verna

Pathos war Colm Tóibíns Sache nochnie. Dabei enthalten die bisher fünf Ro-mane des vielfach preisgekrönten Irenausreichend melodramatisches Materialfür eine ganze Wagenladung feuchterTaschentücher. In «Porträt des Meistersin mittleren Jahren» (2004) zum Bei-spiel schilderte Tóibín die Einsamkeitund Enttäuschungen des alterndenHenry James. In «Das Feuerschiff vonBlackwater» (1999) findet eine kaputteFamilie am Sterbebett eines Aidskran-ken wieder zusammen. Auch der sechs-te Roman des 1955 in Irland geborenenSchriftstellers verfügt über gewaltigesHeulpotenzial. «Brooklyn» ist eine Emi-grationssaga mit Heimweh und Herz-schmerz, angesiedelt im Irland undAmerika der frühen 1950er Jahre.

Die junge Eilis Lacey wird von ihrerwohlmeinenden Verwandtschaft in dieNeue Welt verschifft, wo Arbeit undeine rosige Zukunft sie erwarten sollen.Arbeit gibt es, allerdings gestaltet sichdie Gegenwart alles andere als rosig,fühlt sich Eilis in der unvertrautenUmgebung doch lange verloren undallein. Als sie sich endlich eingelebt hat,ja sogar leise Hochzeitsglocken bim-meln, muss sie wegen eines Todesfallszurück nach Irland und steht plötzlichvor den schicksalsträchtigen Fragen:Wohin gehöre ich? Was will ich? Bisdahin hat sich freilich gezeigt, dass«wollen» keine von Eilis’ Stärken ist.

Frei von SentimentalitätTóibín erzählt in der dritten Person, je-doch ganz aus der Perspektive seinerProtagonistin. Eilis sieht, Eilis denkt,Eilis ist dieser Roman. Nichts, was aus-serhalb ihres Wahrnehmungsfeldesliegt, kommt darin vor. So hat Eilis keineAugen für die Skyline von Manhattan.Für das Schönste an Amerika hält sieden Umstand, dass alle die Heizungüber Nacht anlassen. Und an dem Tag,an dem das Kaufhaus, in dem sie arbei-tet, seine Tore zum ersten Mal fürSchwarze öffnet, beschäftigt sie, warumman ausgerechnet ihr aufgetragen hat,den neuen Kundinnen bei der Auswahlvon Red-Fox-Strümpfen in den FarbenCoffee und Sepia zu helfen. Weil man ihrVerkaufstalent besonders schätzt? Odereben gerade nicht? Manchen mag dieGeschichte ins Wohnzimmer galoppie-ren. An Eilis galoppiert sie vorbei.

Sprachlich ist «Brooklyn» der Gipfelder Verhaltenheit. Als barocker Schnör-kel fällt schon auf, wenn die Luft einmalals «wie Toast» beschrieben wird. Meta-phern fehlen nahezu völlig in der Eilis-Tóibínschen Prosa. Am buchstäblichbuntesten wird das Vokabular, wo vonKleidern und Schuhen die Rede ist.Grosse Gefühle werden in diesemRoman so klein gemacht, dass sie amEnde bestimmt an Minderwertigkeits-komplexen leiden. Das hängt auch mitEilis’ Unsicherheit in dieser Hinsichtzusammen. Ist sie wirklich in Tony ver-liebt, den Italiener, den sie an einerTanzveranstaltung der örtlichen Pfarreikennengelernt hat? Was empfindet sieihrer spiessigen Pensionswirtin Mrs.Kehoe und ihren mehr oder weniger

spiessigen Mitbewohnerinnen gegen-über? Es ist, als sei Eilis von ihrer inne-ren Befindlichkeit durch eine Watte-schicht getrennt – mit der angenehmenFolge, dass «Brooklyn» nie auch nur indie Nähe der Sentimentalität gerät.

Der kleinbürgerliche Kokon, der Eilisdaheim in Enniscorthy umgeben hat,umfängt sie in lediglich leicht abgeän-derter Form auch in Brooklyn wieder,und es liegt nicht in ihrer Natur, dagegenzu protestieren. Oder genauer: WasTóibíns Heldin sich an Skandalösemleistet – etwa dass sie sich als anständi-ges irisches Mädchen mit einem Italie-ner einlässt –, geschieht so nebenbei,dass einem die Gewagtheit von Eilis’Handeln beinahe entgeht.

Verbale SeiltänzeTóibíns Stil hat in «Brooklyn» etwas fastProtokollarisches an sich. Die morgend-lichen Badezimmer-Rituale in Mrs. Ke-hoes Pension, die Tischgespräche inihrer Küche, der Lehrplan des Buchhal-tungskurses, den Eilis abends besucht:Der Autor vermisst Eilis’ Mikrokosmosmit einer Akribie, die einen oft darüberhinwegtäuscht, wie viel in diesemRoman eigentlich nicht gesagt wird.Denn der archetypische Plot böte un-zählige Möglichkeiten für Verlustverar-beitungstherapeutisches und Existenz-gründungsmythologisches, für Rassen-Klassen-Analysen und Emanzipations-diskurse. Mit all dem verschont einenColm Tóibín. Er betrachtet ein Epo-chengemälde durch die Lupe, und waser da an der linken unteren Ecke ent-deckt, ist unendlich viel eindrücklicherals die Leinwand ingesamt. Und erstrecht als das erklärende Täfelchen, dasdaneben hängt.

Das Brooklyn der Nachkriegszeit, dasder Autor durch präzise Details evo-ziert, die Stimmung dieser kleinenGesellschaft in der grossen, vermögenso einprägsam weder Fotografien nochGeschichtsbücher zu vermitteln. Auchwirkt die rigorose Selbstbeschränkung,der sich Tóibín mit der ungebrochenenpersonalen Erzählhaltung unterwirft, ankeiner Stelle limitierend, und die Spra-che, deren er sich dabei bedient, niemanieriert. Es ist erstaunlich, wie kunst-voll Einfachheit klingt. Die Dialoge, häu-fig gespickt mit Redundanzen undGemeinplätzen, verwandeln sich unterColm Tóibíns Regie in verbale Seiltän-ze. Gespannt beobachtet man, ob einerder Tänzer nicht jäh ins Leere tritt.«Brooklyn» ist wie eines jener Papier-klümpchen, die sich im Wasser zu einerwunderbaren Blume entfalten. Blossbraucht man den Roman dafür nicht ein-mal einzuweichen. l

RomanDas neue Buch von Colm Tóibín ist eine Emigrationssaga, die in Irland und im Amerika derfrühen 1950er Jahre spielt

BrooklynskleineWeltwirdzumEpochengemälde

Eine Irin in Amerika:Jazz­Lokal im NewYork der fünfzigerJahre.

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Tanguy Viel: Paris­Brest.Aus dem Französischen von HinrichSchmidt-Henkel. Wagenbach,Berlin 2010. 144 Seiten, Fr. 28.50.

Von Monika Burri

Das grosse Geld und die darin verwi-ckelten niederen Instinkte gehören zuden wiederkehrenden Requisiten vonTanguy Viels Romanen. In «Unverdäch-tig», seinem ersten, 2007 auf Deutscherschienenen Krimidrama, versucht einmittel- und skrupelloses Pärchen, an dasVermögen eines alleinstehenden Kunst-händlers zu gelangen. Die Fiktion ist inder tragisch-zynischen Novelle mehr-fach gebrochen, gebannt folgt man demSchleuderkurs eines halbprofessionellenTäuschungsmanövers von der ersten biszu letzten Seite. Und in «Das absolutperfekte Verbrechen», 2001 im franzö-sischen Original und 2009 in deutscherÜbersetzung erschienen, ist es eineGruppe von Provinzmafiosi, die denultimativen Coup planen und durchfüh-ren. Stilsicher montiert Viel die Erzähl-muster und Genresignale des Film noirzu einer Gaunerballade, die mit den Mit-teln der Literatur gründlich demaskiertund hintertrieben wird. Besser und iro-nischer als im Kino, befand das Feuille-ton, das sich von der virtuosen Erzähl-kunst des 37-jährigen Franzosen gernebezaubern und inspirieren liess.

Mit «Paris-Brest» präsentiert der Wa-genbach-Verlag nun den dritten Viel-Roman in deutscher Übersetzung, wie-derum vom renommierten Literatur-vermittler Hinrich Schmidt-Henkel mitsichtlichem Vergnügen in eine konge-niale Kunstsprache übertragen. VielsFamilienroman spielt im äusserstenWinkel der Bretagne, in Brest, jenerHafenstadt, in welcher der Autor seineKindheit verbrachte und die aufgrundihres Neuaufbaus nach dem ZweitenWeltkrieg zu den architektonischenSchandflecken Frankreichs zählt.

Stilistische EleganzDas sieht Louis, der jugendliche Ich-Er-zähler, anders: Lieber als mit seinenEltern ins verhasste Languedoc-Roussil-lon zu ziehen, wäre er in seiner regen-reichen Heimatstadt geblieben, in einerStudiowohnung unter dem Luxusappar-tement seiner Grossmutter. Diese hat imhohen Alter das grosse Los gezogen: Aufeiner Treppe ist sie dem 88-jährigen Ma-rineoffizier Albert begegnet. Dafür, dasssie dem Witwer beim Hören von Beet-hoven-Sinfonien Gesellschaft leistete,setzte er sie als seine Universalerbin ein.Und während die alte Dame nach demTod des Kavaliers pflichtbewusst dieRiten seines musealen Lebensstils wei-terpflegt, lassen Pech, Unheil und Be-gehrlichkeiten nicht auf sich warten.

Für den Ruin des Familiennamenssorgt Louis’ Vater. Als Vizepräsident des

lokalen Fussballvereins ist er in einenstadtbekannten Finanzskandal verwi-ckelt. Um Schimpf und Schande zu ent-gehen, verziehen sich die Eltern ins süd-französische Exil. Zudem ist das millio-nenschwere Vermögen des Marineoffi-ziers an eine delikate Bedingung ge-knüpft: Zum Erbe gehört auch einePutzfrau, und zu dieser gehört ein Sohn,der junge Kermeur. Ausgerechnet jenerzwielichtige Schulkollege von Louis, fürdessen Versetzung in ein anderes Schul-haus Louis’ Mutter einst ihre Bezie-hungen spielen liess.

Tanguy Viel hat eine fintenreicheAusgangslage geschaffen, köstlich, wit-zig und voller Hohlräume wie dasBrandteiggebäck «Paris-Brest», das demFamilienroman den Namen gibt. Dasprogrammierte Drama wird aus der iro-nischen Sicht von Louis geschildert, unddieser spannt den erzählerischen Bogennach allen Regeln der Kunst. Viel, schonhäufig ausgezeichnet für seine stilis-tische Eleganz, brilliert einmal mehrmit einer kunstvoll rhythmisiertenSprechmelodie. Der schelmisch zwi-schen Plauderton und Poetik oszillie-rende Erzählstil lässt die jugendlicheSehnsucht nach Legendenbildung eben-so anklingen wie die Codes und Redens-arten der verknöcherten Provinzbour-geoisie. Und welthaltiger als in den vor-angegangenen Romanen skizziert dieeffektvoll komprimierte Schicksalsbal-

FamilienromanDer französischeAutorTanguyViel erzählt eine rasanteGaunerballade

MonetäreObsessionen

lade das Porträt einer Gesellschaft, diesich mit ihren monetären Obsessionengründlich verrechnet hat.

Filmreifer ShowdownIn dem auf Status bedachten Familien-clan gärt das bekannte Vakuum aus un-terdrückten Aggressionen und einge-spielten Lebenslügen. Als Meisterin dergutbürgerlichen Fassadenpolitur er-weist sich Louis’ Mutter, die ihren Sohnals Wachhund des neuen Reichtums ein-zuspannen versucht. Nach einem nächt-lichen Absturz, dessen kläglicher Tief-punkt hier nicht verraten sein soll,nimmt Louis den Zug nach Paris. DreiJahre später kehrt er an die bretonischeKüste zurück, im Koffer das Manuskriptseines Familienromans. Die Verschach-telungstechnik entfacht ein Vexierspielder Ängste und Fiktionen. Die Lese-rinnen und Leser, die das Objekt derversammelten Projektionen in Händenhalten, sehen sich zunehmend alsschmunzelnde Mehrwissende.

Vor allem führt das Buch im Buch zueinem filmreifen Showdown. Der immerwieder angedeutete Generationen- undKlassenkonflikt und die Abarbeitung ander Übermutter münden in ein Fiasko,aus welchem der junge Louis – sekun-diert von seinem aus der Lethargie er-wachten Vater – eine abgebrühte Por-tion Selbstvertrauen und ein verblüf-fendes Stück Leseglück herausträgt. l

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Generationen­ undKlassenkonfliktesowie eine Über­mutter stehen imZentrum von TanguyViels Roman.

Belletristik

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Brigitte Kronauer: Favoriten. Aufsätze zurLiteratur. Klett-Cotta, Stuttgart 2010.198 Seiten, Fr. 30.50

Von Manfred Koch

Der Lyriker und Landarzt William Car-los Williams (1883–1963) hat einmal ge-sagt, seine Neugier und seine Leiden-schaft gälten der Geburt von Babys undVersen. Williams ist einer der «Favo-riten», die Brigitte Kronauer in einemEssayband über Seelenverwandte ihreseigenen Schreibens vorstellt. Bei Wil-liams beschäftigt sie vor allem die Per-sonalunion von Dichter und Geburts-helfer, deren Bedeutung weit über dieblosse Analogie der «Entbindung»neuen, unbekannten Lebens hinausgeht.Williams war auch im Gespräch mit Pa-tienten, die stammelnd versuchten, sichdem Arzt zu öffnen, ein Hebammen-künstler. Er wartete auf jenen «Augen-blick der Wahrheit, wenn die Worte ansLicht kommen, die das Geheimnis derPerson preisgeben». Ein Leben lang seiWilliams dem «Aussergewöhnlichen»nachgejagt, das jeder in sich trage unddas momenthaft, in einer unscheinbarenGeste, im Abschiedswort an der Praxis-tür, aufblitzen konnte. Wenn der Arzt-Poet diesen Augenblick erkennt, kann erdem Gedicht, das jeder einzelne Menschmit seiner unverwechselbaren Lebens-geschichte ist, eine Form geben, es ingewissem Sinn zur Welt bringen.

Williams schaffe es in seiner Autobio-grafie, «den künstlerischen Herstel-lungsprozess, die Wortfindung, wie Ge-burt und Geburtshilfe nicht metapho-risch, vielmehr körperlich miterleben zulassen». Solche Augenblicke der sinn-lichen Wahrnehmung und Wortfindung,

in denen Dinge, Gesten plötzlich «ausder Banalität ins gleissend Inbild-hafte» rücken, sind für Kronauerder Kernbestand der Literatur. Siefindet sie bei so unterschiedlichenAutoren wie Eduard Mörike, Her-

man Melville, Knut Hamsun,JosephConrad,VirginiaWoolf,Helmut Heissenbüttel, Marie-

Luise Scherer und taucht sie– um eine Formulierung ausihrer Büchnerpreisrede auf-zugreifen – in das «Beleuch-tungswunder» der eigenenSprache.

Entstanden ist ein faszi-nierendes Buch, das zeigt,was Poesie leisten kann:«Die Entscheidung für dieLiteratur ist eine für die

sinnliche Suggestions-kraft, für die humanisie-rende Wucht des Kon-kreten.» l

AufsätzeDieAutorin BrigitteKronauerstellt Seelenverwandte vor

LeuchtendeWorte

Félix Bruzzone: 76. Erzählungen. Aus demSpanischen von Markus Jakob. Berenberg,Berlin 2010. 144 Seiten, Fr. 28.90.

76 ist – immer noch – das grosse Themades Frankfurter-Buchmesse-Gastlandes2010, Argentinien. Gemeint ist 1976, dasJahr des Militärputschs. Félix Bruzzone– er gehört zur offiziellen DelegationArgentiniens auf der Buchmesse – kam1976 zur Welt, der Vater verschwanddrei Monate vor, die Mutter drei Monatenach seiner Geburt. Von den Nachkom-men der rund 30000 «Verschwun-denen», Gefolterten und Ermordetenhandeln die acht nüchternen Erzäh-lungen in «76». In «Fotos von Mama»sucht der Ich-Erzähler nach Spuren sei-ner Mutter, führt ein Heft mit Aufzeich-nungen. Zufällig lernt er einen ihrerehemaligen Liebhaber kennen. Der lädtihn ein, zeigt ihm Fotos der Mutter, ver-spricht Abzüge. Später betrinkt sich derIch-Erzähler, wie immer, wenn er Einzel-heiten über die Verschwundene erfährt.Zurück bleibt die Lücke.Regula Freuler

Ruth Klüger: Was Frauen schreiben.Zsolnay, Wien 2010. 270 Seiten,Fr. 33.90.

Die 1931 in Wien geborene GermanistinRuth Klüger hat ein bewegtes Lebenhinter sich. Als junges Mädchen wurdesie in mehrere KZ verschleppt. Wiedurch ein Wunder überlebte sie. Ihre Er-fahrungen hat sie in dem bewegendenBuch «weiter leben» (1992) niederge-legt, dem sie 2008 leider den völlig miss-ratenen, von Kleingeistigkeit und Res-sentiments geprägten Band «unterwegsverloren» folgen liess. Nun publiziertdie kritische Feministin eine Auswahlvon Rezensionen, die sie in den letzten15 Jahren hauptsächlich für die «Litera-rische Welt» geschrieben hat. Sie geltenBüchern von Frauen unserer Zeit: Nadi-ne Gordimer und Iris Murdoch, HertaMüller und Doris Lessing, MargaretAtwood und Irene Dische kommen vor.Da ist ein blitzgescheiter Verstand amWerk. Auch wo wir widersprechen,lesen wir mit Gewinn.Manfred Papst

Sabina Altermatt: Fallhöhe.Roman. Limmat, Zürich 2010. 156 Seiten,Fr. 32.–.

Nach Krimis, Erzählungen und Hörspie-len verliess Sabina Altermatt mit demRoman «Fallhöhe» erstmals das Span-nungsgenre. Das Buch liest sich aller-dings weniger als solcher; vielmehrglaubt man ein Theaterstück in Prosavor sich zu haben. Die knappe Einfüh-rung der Figuren, die rasche Entwick-lung des Plots, die Direktheit der Dialo-ge, die lineare Zuspitzung der Klimax –nein, langen Erzählatem beweist dieAutorin nicht. Das tut der Lektüre je-doch keinen Abbruch. Die Geschichteder fünf einstigen Klassenkameraden,Frauen und Männer, die sich 15 Jahrenach der Matura in den Bergen treffen,ist spannend und gerade für Mittdreis-siger wie aus dem Alltag gegriffen. DasGefühl, kurz vor der Lebensmitte undsomit am Punkt zu stehen, «durchstar-ten» zu können (und die Gelegenheitvielleicht verstreichen zu lassen) – dasmögen viele dieser Generation kennen.Regula Freuler

Joseph Roth: «Ich zeichne das Gesichtder Zeit». Essays, Reportagen, Feuilletons.Wallstein, Göttingen 2010. 544 S., Fr. 56.90.

Das erzählerische und essayistischeWerk des grossen österreichischen Au-tors Joseph Roth (1894–1939) liegt in derEdition von Fritz Hackert und KlausWestermann bei Kiepenheuer & Witschvor. Ergänzt wurde sie durch den imgleichen Verlag von Rainer-Joachim Sie-gel edierten Band «Unter dem Bülowbo-gen» (1994). Wer seinen Roth liebt undkennt, muss also nur ins Regal greifen.Doch für den Afficionado ist auch dieWallstein-Edition ausgewählter Essays,Reportagen und Feuilletons des meister-haften Prosaisten ein Gewinn. Sie bringt– erstmals in der Gestalt der Erstdruckeund mit akribischem Kommentar – rund70 journalistische Texte Roths. DenKern bildet der epochale Essay «Judenauf Wanderschaft» von 1927. Aber auchin der kleinen Form, in sogenanntenBrot- und Gelegenheitsarbeiten, erweistsich Roth als unerreichter Seismographseiner Epoche.Manfred Papst

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KurzkritikenBelletristik

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Essay

Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ist Argentinien.Die Literatur des Landes kreist um die Aufarbeitung der Vergangenheit.Ina Boesch hat drei argentinische Autoren in ihrer Heimat besucht

DieSchattenderVergangenheit

Es regnet Bindfäden. Die Herbstkälte kriechterbarmungslos zwischen Haut und Kleider, undbei jedem Schritt gluckst das Wasser in denSchuhen. Das Wetter passt zum Ort. Vielleichtfast zu gut. Wir suchen Schutz unter den Re-genschirmen und konzentrieren uns auf dieKommentare des jugendlichen Führers zu denmächtigen Gebäuden im Norden von BuenosAires: In der Technikschule der Marine, kurzESMA genannt, wurden während der Militär-diktatur von 1976 bis 1983 rund fünftausendMenschen inhaftiert und systematisch gefol-tert. Nur zweihundert haben überlebt.

Auf unserer vierstündigen Tour durch dasehemalige Folterzentrum, in der lediglich dienackten Räume, jedoch keine Gegenstände vomStaatsterror erzählen, kreuzen vier Männer undeine Frau unseren Weg. Sie folgen mit ernstenMienen einer weiblichen Guía durchs riesigeAreal. Es sind argentinische Schriftsteller, dieauf Einladung eines Verlags die Erinnerungs-stätte besuchen. Sie gehören zur mittlerenGeneration der argentinischen Literaturszene,und wie bei vielen Argentiniern ist ihre Biogra-fie mit der Geschichte der Militärdiktatur aufdie eine oder andere Weise verbunden: MartínKohan beispielsweise wuchs einige hundertMeter von der ESMA entfernt auf; MartínCaparrós wollte in den siebziger Jahren dieWelt verändern, wenn nötig mit Gewalt.

Solch existenzielle Erfahrungen prägenzwangsläufig das Werk vieler argentinischer

Schriftsteller – der älteren wie der jüngerenGeneration. Dazu gehören beispielsweise derkürzlich verstorbene Tomás Eloy Martínez(*1934), der sich unter anderem der literari-schen Dekonstruktion des Peronismus widme-te, oder Alan Pauls (*1959), der in einer Trilogiedie jüngste Geschichte Argentiniens verarbei-tet. Der Übervater der argentinischen Literatur,Jorge Luis Borges, schrieb einmal: «Es gibtnichts Schlimmeres als das Vergessen.» DiesemUmstand tragen nicht nur viele Autoren, son-dern auch deutsche Verlage Rechnung: EinDrittel der aktuell im Hinblick auf die Frankfur-ter Buchmesse übersetzten Bücher dreht sichums Thema Militärdiktatur.

Voller Wut niedergeschriebenEin paar Tage nach der zufälligen regennassenBegegnung in der ESMA treffe ich Martín Ca-parrós, einen der bedeutendsten Intellektuel-len und produktivsten Schriftsteller und Essay-isten Argentiniens, bei sich zu Hause. Er wohntim Ausflugsort Tigre nördlich von BuenosAires, zirka eine Autostunde von der ESMAentfernt. Am blauen Himmel kein Wölkchen;im Garten der stattlichen Villa jahrhundertealteBäume, in denen exotische Vögel tirilieren; umdie Ecke ein träger Nebenarm des Paraná, aufdem kleine Boote tuckern.

Caparrós residiert im Paradies – allein mitseiner Katze Mini. Vor rund fünfunddreissigJahren wollte er die Welt verändern – und dasParadies für alle errichten. Damals arbeitete erals Journalist unter dem für die Junta unbeque-men und später von den Militärs ermordetenPublizisten Rodolfo Walsh. Als sich GeneralVidela an die Macht putschte, flüchtete MartínCaparrós und ging nach Paris ins Exil, wo erseinen ersten (nicht auf Deutsch übersetzten)Roman «Beweine nicht deine Toten» überseine Erfahrung als militanter Jugendlicherschrieb. «Ich dachte, damit sei das Kapitelabgeschlossen», verrät Caparrós in seinerSchreibklause mit Blick in den üppigen Garten.

Er hatte sich geirrt. In den neunziger Jahrenbeschäftigte er sich (zusammen mit einem ehe-maligen Mitstreiter) erneut mit dem Thema,weil ihm nicht passte, dass die damalige Zeit inder Literatur und im öffentlichen Diskurs ledig-

lich als historischer Ausrutscher abgehandeltwurde. Das Resultat war eine fünfbändige Kol-lektivbiografie, die heute zur universitärenPflichtlektüre gehört. Caparrós nimmt Minivon seinen Knien, geht zum Büchergestell undlegt das gewichtige Werk vor mir auf den Tisch.Zum zweiten Mal dachte er: «Nun ist Schluss,basta mit dem Thema Militärdiktatur.» Dochals er vor ein paar Jahren einen Roman über den

Mord an einem Priester in einem kleinen Pro-vinznest zu schreiben begann, schlich sichplötzlich und wider Willen die Geschichte dersiebziger und achtziger Jahre in den Plot ein.

Im Zentrum des neuen, voller Wut niederge-schriebenen Romans Wir haben uns geirrt(Berlin-Verlag, Fr. 36.50) steht Carlos, ein viel-schichtiger Antiheld, der sich mal verzweifelt,mal melancholisch, mal bitterböse mit seinerVergangenheit als militanter junger Mann aus-einandersetzt. Als seine Frau verhaftet wurdeund verschwand, stieg er aus dem Kampf aus.Seither ist Carlos ein gebrochener Mann, der inGesprächen mit ehemaligen Mitstreitern undTätern Antworten auf den Sinn politischerMilitanz sucht – und schliesslich einen Priestertötet, in der Meinung, dieser sei mitverantwort-lich für das Verschwinden seiner Frau.

Ob er nach diesem dritten Werk über dieMilitärdiktatur das Thema nun ad acta legenkönne? Die Vergangenheit werfe nach wie vorihre Schatten in die Gegenwart, meint Caparróssibyllinisch. Das gegenwärtige Argentinien seiResultat der damaligen Verfolgungspolitik. Umdie Kontinuität zwischen den Massakern vondamals und dem Argentinien von heute zu zei-gen, machte er für die Gestaltung der Erinne-

Ein Drittel der auf dieFrankfurter Buchmesse hinübersetzten argentinischenBücher dreht sich umdieMilitärdiktatur der1970er Jahre.

GastlandArgentinien

Nach Mexiko und Brasilien ist Argentinien dasdritte lateinamerikanische Land, das seineLiteratur und Kultur an der Frankfurter Buch­messe (6.–10. Oktober) präsentieren kann.Rund 100 Verlage und 45 Autoren werdenvorgestellt. Eines der Kernthemen ist dieliterarische Aufarbeitung der Vergangenheit.Am 3.Oktober wird Claudia Piñeiro in derChristuskirche, Frankfurt amMain, für ihrenRoman «Elena weiss Bescheid» mit dem dies­jährigen Literaturpreis ausgezeichnet.

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ESMA, das ehemaligeFolterzentrum inBuenos Aires (oben).Claudia Piñeiro (links),Martín Kohan (rechts)undMartín Caparrós(unten) gehören zurmittleren Generationder argentinischenLiteraturszene.Ihre Biografien sindmit der Militärdiktaturverbunden.

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Essay

rungsstätte ESMA mit ihren kahlen Wändeneinen unkonventionellen Vorschlag: In einemSaal möge man eine Liste mit den Namen derToten aufhängen, in einem zweiten eine Listemit den Namen der Mörder und in einem drit-ten Fernsehmonitoren, auf denen ununterbro-chen aktuelle Nachrichten gesendet würden.

Ganz anderer Meinung ist sein renommier-ter Schriftstellerkollege Martín Kohan. Derdreiundvierzigjährige Autor und Literaturpro-fessor empfindet die ESMA als einen Ort derLeere. «Es gibt nichts.» Und das findet er rich-tig: «Es fehlt nichts.» Es liege an den Besuchern,die kahlen Wände und die leeren Räume zumSprechen zu bringen. In seinem preisgekröntenRoman «Zweimal Juni», der zur Zeit der Mili-tärdiktatur spielt, kommt auch das Folterzent-rum vor.

Schauplatz seines neuen Romans Sitten-lehre (Suhrkamp, Fr. 30.50) ist ebenfalls ein mitGeschichte befrachtetes Gebäude, das ColegioNacional. Dieses Elitegymnasium in der Näheder Plaza de Mayo, des Herzstücks von BuenosAires, besuchten viele argentinische Schrift-steller, unter ihnen Martín Caparrós und Mar-tín Kohan. Im prunkvollen Bau, in dem linksund rechts der Eingangshalle massive Treppenaus weissem Marmor hochführen und vor denhohen Fenstern dicke Vorhänge die Aussenweltaussperren, ist die Luft dumpf und stickig. Diedominante Farbe ist Grau, die Tonlage derGespräche gedämpft.

Die Normalität des DrillsAn dieser einschnürenden Atmosphäre hat sichseit Anfang der achtziger Jahre nichts geändert.Schon damals hatte der Schüler Kohan das Ge-fühl, nicht frei atmen zu können. «Zu meinerZeit herrschte ein Klima der Angst und Unter-drückung», sagt der Autor, der bei unserer Be-gegnung, gekleidet in seiner üblichen blau-weiss gestreiften Trainerjacke, noch immeretwas Jungenhaftes ausstrahlt. Er erinnert sichdetailgenau an die schulische Drillanstalt, etwaan die regelmässigen Schülerdefilees («mithochfliegenden Beinen und Armen») durch dieStrassen von Buenos Aires oder an die peinlichgenaue Kontrolle des Haarschnittes («auf kei-nen Fall zu lang»). Über die Einhaltung der Ge-bote wachten so genannte preceptores, Aufse-her. Im Roman «Sittenlehre» ist es die scheueund einsame Aufseherin Maria Teresa, welchedie Schülerinnen und Schüler zu Disziplin an-hält. Sie geht in der Perfektion ihrer Aufgabe soweit, dass sie sich eines Tages in der Knaben-toilette einschliesst, um Schüler beim Rauchenin flagranti zu ertappen. Was aus subalternemEifer begann, endet schliesslich in einer per-sönlichen Katastrophe. Die komplexe Bezie-

hung zwischen dem Oberaufseher Biasutto undder Aufseherin Maria Teresa, die Verstrickungvon Untergeordneten ins Räderwerk der Machtsowie die Produktion von Mitläufern und De-nunzianten zeichnet Kohan vor dem Hinter-grund der zu Ende gehenden Militärdiktatur ineiner beklemmenden Mischung aus Groteskeund Bösem. Die damalige Normalität des Bösenerschreckt Kohan noch heute: «Wie konntenuns Drill und Disziplinierung als normal er-

scheinen? Wie konnte es so weit kommen?»Seine literarisch eindrückliche Antwort ist«Sittenlehre».

Den Schauplatz von Claudia Piñeiros neuemRoman Die Donnerstagswitwen (Unionsver-lag, Fr. 33.90) kann ich nicht besuchen, schlichtweil mir die Bestsellerautorin davon abrät: Essei zu weit, ich müsste ein Auto mieten, manwürde mich am Eingang längeren Schikanenaussetzen – den Kofferraum öffnen, unter dieMotorhaube gucken, meine Dokumente pein-lichst genau prüfen.

Statt in der geschlossenen Wohnanlage fünf-zig Kilometer auswärts von Buenos Aires, inder Piñeiro wohnt und die Anschauungsmateri-al für ihren Roman bietet, empfängt sie mich in

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New York auf Postkarten1880–1980Die Sammlung Andreas Adam

Eine faszinierende und reichillustrierte Architektur-, Kultur-und Stadtgeschichte New Yorks.Die mehr als 900 farbigen Repro-duktionen aus einer einzig-artigen Sammlung von Original-Postkarten erzählen zugleich eineGeschichte der Blicke auf dieseWelt-Ikone.

Landschaftund KunstbautenEin persönliches Inventarvon Jürg Conzett,fotografiert von Martin Linsi

Herausragende Werke desSchweizer Verkehrswege-baus, gewürdigt durchden bekannten IngenieurJürg Conzett.

Gebunden, 560 Seiten,948 farbige AbbildungenISBN 978-3-85881-211-7sFr. 69.– | E 59.–

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Scheidegger&

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KunstIFotografieIArchitektur

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ger-spiess.ch

«Kaum einer ist für diese besondere Art der Schweizreise so geeignetwie Jürg Conzett.» Gerhard Mack

ihrem Pied-à-Terre in einem noblen Viertel derMetropole. In einem rasend schnellen Spa-nisch, mehr Stakkato denn Andante, erzählt sievon den Ausschlussritualen an der Eingangs-pforte ihrer Wohnsiedlung und vom Leben hin-ter gesicherten Zäunen. Piñeiro, die ursprüng-lich Soziologie studieren wollte, doch wegender Schliessung des Instituts durch die Militär-diktatur schliesslich Wirtschaftswissenschaf-ten wählte und Rechnungsprüferin wurde, hatein kritisches Verhältnis zu solchen Gated Com-munities. Sie betont, dass sie nicht primär einenRoman über das Leben in einem Country habeschreiben wollen, wie die geschlossene Wohn-anlage auf Amerikanischargentinisch heisst,sondern über den Boom der neunziger Jahre inArgentinien und die Folgen der Wirtschafts-krise von 2001 für die Neureichen im Land.

Sozialkritischer KriminalromanDa sind sie wieder, die Schatten der Vergangen-heit. «Die neunziger Jahre sind eine Folgeer-scheinung der Diktatur», sagt sie. «Ganz allge-mein interessiert mich die Verletzlichkeit derMenschen. Die Neureichen verloren mit derKrise nicht nur ihre Habe, sondern auch ihrePersönlichkeit.» So wird im Roman «Die Don-nerstagswitwen» ein Familienvater nach demanderen arbeitslos. Zwar versuchen sie, denSchein so lange als möglich zu wahren, doch alsdie Fassade zu bröckeln beginnt, überredet einBewohner des Countrys seine Spielfreunde zueinem kollektiven Selbstmord. Da er wie einUnfall aussähe, würden ihre jeweiligen Lebens-versicherungen ihren Lieben weiterhin einLeben in Würde, das heisst in Saus und Braus,garantieren. Das war der Plan, doch es kommtzu einem Mord.

Piñeiro beherrscht das Genre der sozialkriti-schen Kriminalromane, das in Argentinien mitAutoren wie Rodolfo Walsh oder in einer ver-sponnenen Weise mit Grossmeistern wie JorgeLuis Borges oder Adolfo Bioy Casares eine rei-che Tradition hat, derart gut, dass ihre Bücherregelmässig zu Bestsellern werden. Allein von«Las viudas de los jueves» hat sie 250000Bücher verkauft, bei einer üblichen Auflage von5000. Sie nimmt ein Exemplar vom Stapel aufdem Boden, schreibt schwungvoll eine Wid-mung auf die erste Seite und überreicht mir diespanische Ausgabe. Wie in Europa hat ClaudiaPiñeiro auch in Argentinien mit den üblichenVorurteilen der Kritikerzunft zu kämpfen: alsweibliche Autorin, als Krimiautorin, als Best-sellerautorin. Sie trägt es mit Fassung, denn sieund ihre Fangemeinde wissen um die literari-sche Qualität ihrer Bücher und um die inhaltli-che Relevanz. Es sind ebenfalls Romane, indenen das Echo der Vergangenheit nachhallt. l

Im ElitegymnasiumColegioNacional in Buenos Airesherrschte ein Klima derAngst und Unterdrückung;Drill und Schülerdefileeswaren an der Tagesordnung.

Alltag nach demPutsch: Soldaten bedrohen Jugendlichein Buenos Aires (undatierte Aufnahme).

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KolumneKolumne

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Die Möwen sehenalle aus, als ob sieEmma hiessen.

Christian Morgenstern

Nur in der Literatur heissen die Men-schen so, wie sie sind.

Im wirklichen Leben kann mandurchaus einem Siegfried Eisenhammerbegegnen, der sein Leben lang friedlichin der Materialausgabe einer Behördevor sich hin werkelt.

Oder einem Pius Jerusalem, der mitReligion überhaupt nichts am Hut hat.

Wenn dagegen in einem «HarryPotter»-Roman, wo es nicht nur vonsprechenden, sondern von geradezuschreienden Namen nur so wimmelt,jemand Draco Malfoy heisst, dann kannsich der Leser darauf verlassen, dassdie Figur hinterhältig, verlogen unddurch und durch bösartig ist.

Genauso wie er, um von Hogwarts indie Lübecker Mengstrasse weiterzu-reisen, von Anfang an sicher sein kann,dass Tony Buddenbrooks Ehe scheiternmuss. Weil man mit einem Mannnamens Bendix Grünlich einfach nichtglücklich werden kann. Nicht in einemBuch. (Mit einem Alois Permanedernatürlich auch nicht.)

Ich bin nicht einmal sicher, ob dieAutoren das immer absichtlich machen.Klar, wenn Shakespeare eine Prostitu-ierte Doll Tearsheet nennt, dann ist daskein Zufall.

Und dass Jonathan Swift seinenLemuel Gulliver ganz bewusst vomleichtgläubigen Adjektiv «gullible»abgeleitet hat, scheint mir auch nocheinleuchtend.

Aber hat Arthur Miller seinen tod-geweihten Protagonisten wirklich alsWilly Loman auf die Reise geschickt,damit wir dabei an «low man» denken?

Hat Heinrich Mann seinen rückgrat-losen Untertan tatsächlich nur deshalbDiederich Hessling getauft, damit wirauch ja den Gleichklang mit «hässlich»nicht überhören?

Und wie ist das mit dem vergeblicherwarteten Godot? BeabsichtigteBeckett damit tatsächlich, wie es man-che Literaturwissenschafter gern hät-ten, einen Hinweis auf «god»?

Oder stimmt doch die Anekdote vonden Autogramme sammelnden kleinenJungen, die vor dem Vélodrome d’Hiverauf den Rennfahrer Roger Godeau war-teten? Wenn man ihn danach fragte,antwortete Beckett jedes Mal, er habekeine Ahnung, wie er auf den Namengekommen sei. Oder mit Pozzos Wor-ten: «Gentlemen, I don’t know whatcame over me.»

Das scheint mir auch die einleuch-tendste Antwort zu sein.

Literarische Figuren denken sichweitgehend selbst aus. Inklusive ihrerNamen.

Und man heisst ebennicht Siegfried Eisen-hammer, wenn mankein Held ist.

26. September 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15

Mamoun Fansa, Karen Aydin (Hrsg.):Gaza.Ausstellungskatalog, Oldenburg.Zabern, Mainz 2010. 150 Seiten, Fr. 30.50.

Angesichts der aktuellen Lage im Gaza-streifen mutet der Untertitel des Bu-ches, «Brücke zwischen den Kulturen»,wie Hohn an. Aber es geht nicht umheute, sondern um die Vergangenheit.Der ein wenig altmodisch aufgemachteBildband lässt 6000 Jahre Revue passie-ren. Gaza hat eine wechselvolle Ge-schichte hinter sich, an der viele Völkerbeteiligt waren: Ägypter, Perser, Römer,Osmanen, Palästinenser. Nicht immerberuhte sie «auf Dialog und Austausch»,wie es im Vorwort heisst. Weder Alex-ander der Grosse noch die Römer kamenin friedlicher Absicht. Als Umschlag-platz des Fernhandels war das Land amMeer zu allen Zeiten strategisch wich-tig. Nach einem Kapitel zur Frühzeit,zur Antike, zu Byzanz und zum Islamschliesst das Buch mit Reflexionen überdie heutige Situation, in der Zerstörungund Enteignung von palästinensischemKulturgut an der Tagesordnung sind.Geneviève Lüscher

Andrea Blunschi: Die Frau des Dorfarztesund der Wehrmachtoffizier. Chronos,Zürich 2010. 223 Seiten, Fr. 32.–.

Dies ist die ungemein interessante Re-cherche einer Enkelin über ihre Gross-mutter: Martina Bucher (1915–2003) wardie Gattin eines angesehenen Dorfarztesim Entlebuch, eine schöne, exaltierteund etwas rastlose Frau, Mutter von dreiKindern – bis sie im Juni 1945 in Luzerneinem deutschen Internierten begegnet.In einer Amour fou tanzt sie «nur einenSommer» mit dem Hauptmann derWehrmacht, wird von ihm schwanger,verlässt Ehemann und Kinder. Die Ge-schiedene wird zum Dorfgespräch, dasuneheliche Kind ihr weggenommen undin einer Pflegefamilie placiert. Späterwird die «Wilde» Lastwagenfahrerin beider Armee. Die grossen Themen derZeit (Weltkrieg, Nationalsozialismus,Kindswegnahme, Frauenemanzipation)verdichten sich zu einer bunten, überra-schungsreichen und gut erzählten Ge-schichte aus dem Luzerner Hinterland.Urs Rauber

KurzkritikenSachbuch

Charles Lewinsky,64, ist Schriftsteller,Radio­ und TV­Autorund lebt in Frankreich.Seine Advents­Parodie «Der Teufelin derWeihnachts­nacht» ist gerade beiNagel & Kimche neuaufgelegt worden.

Dominique Strebel: Weggesperrt. WarumTausende unschuldig hinter Gittern sassen.Beobachter, Zürich 2010. 144 Seiten, Fr. 29.–.

Eindringlich schildert Dominique Stre-bel das Schicksal eines halben DutzendPersonen, die in den 1950er bis 1970erJahren administrativ «versorgt» wur-den. Ihre Eltern respektive Vormund-schaftsbehörden hatten sie als angeblichschwererziehbare, liederliche, arbeits-scheue Jugendliche zum eigenen«Schutz» in Arbeitserziehungsanstaltenund Gefängnisse verfrachtet – ohne dasssie ein Verbrechen begangen hatten. Essind traurige Geschichten, wie sie ge-mäss «Beobachter» Tausende in derSchweiz erlebt haben – bis diese Praxis1981 definitiv aufgegeben wurde. Dieporträtierten Frauen und Männer arbei-ten heute ihre Vergangenheit auf unddrängen auf eine Wiedergutmachungoder zumindest eine offizielle Entschul-digung. Entstanden ist ein fairer Report,in dem auch ein Ex-Direktor und eineehemalige Adjunktin der StrafanstaltHindelbank zu Wort kommen.Urs Rauber

Napoleon Bonaparte: Maximen undGedanken. Hrsg. H. de Balzac. Matthes &Seitz, Berlin 2010. 135 Seiten, Fr. 28.90.

«Alle Parteien sind Jakobiner», «Manglaubt nur, was einem zu glauben Freu-de macht», «Unglück ist die Hebammedes Genies»: Sind solche Erkenntnisselebenserfahren, tiefsinnig oder banal?525 Zitate Napoleon Bonapartes hat Ho-noré de Balzac gesammelt, geprüft, nachThemen sortiert und 1838 publiziert. Er-gänzt mit dem hellsichtigen Napoleon-Porträt, das sein siegreicher Gegenspie-ler Fürst Metternich schrieb, sind dieMaximen samt Balzacs Einführung nunauf Deutsch zu lesen. Sie zeigen Bona-parte als den machiavellistischen – «DieZeitungen müssten auf die kleinen An-zeigen beschränkt werden» – und zyni-schen Machtmenschen, den wir erwar-ten: «Die grossen Schriftsteller sindhoch angesehene Schwätzer.» Dennochüberrascht er zwischen vielen Gemein-plätzen: «Den Tod fürchten heisst, sichzum Atheismus zu bekennen.»Kathrin Meier-Rust

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Margarete Mitscherlich: Die Radikalitätdes Alters. Einsichten einer Psycho-analytikerin. S. Fischer, Frankfurt 2010.272 Seiten, Fr. 28.90.

Von Kathrin Meier-Rust

Der Titel dieses Buches ist irreführend– nicht ein Buch über das Alter hat dieheute 93-jährige PsychoanalytikerinMargarete Mitscherlich geschrieben,vielmehr handelt es sich um eine Samm-lung von Essays und Vorträgen aus denletzten Jahren, die zum grossen Teilbereits in Zeitschriften erschienen sind.

In allen diesen hier neu überarbei-teten Texten geht es um die Erfahrungenihres langen Lebens und um die The-men, denen sie ihre zahlreichen Büchergewidmet hat: die schwierige psychischeErbschaft des Dritten Reiches, die neueFrauenbewegung, in der sich Mitscher-lich seit den 70er Jahren engagiert, und– natürlich – die Psychoanalyse. Dass eszu Überschneidungen kommt, auch imausführlichen Gespräch mit AliceSchwarzer, das den Band beschliesst,liegt in der Natur eines solchen Sammel-bandes, ist aber in diesem Falle keinNachteil, da vieles dabei präzisiert und

nuanciert wird. So etwa im Fall von Mit-scherlichs eigenem Leben und Lebens-werk, das immer wieder zur Sprachekommt. 1917 geboren, wuchs sie alsjüngstes von fünf Kindern in einem klei-nen Kurort an der Ostsee auf, der heutezu Dänemark gehört. Ihr Vater war eindänischer Arzt, ihre Mutter eine deut-sche Lehrerin – der «Riss», der damit injener nationalistisch gesinnten Zeitdurch ihre Familie ging, habe sie zwarals Kind und Jugendliche hin und hergerissen, aber auch gelehrt, in zwei ge-gensätzlichen Weisen zu denken, zufühlen und zu werten, was sie für diePsychoanalyse geradezu prädestinierthabe. Im deutschen Gymnasium inFlensburg begeisterte sich Margaretefür deutsche Literatur, geriet aber inSchwierigkeiten, weil sie dem BundDeutscher Mädchen nicht beitrat.

Um der Nazi-Ideologie auszuweichen,studierte sie dann auch nicht Literatur,sondern Medizin. Hass und Angst seiendie alles beherrschenden Gefühle wäh-rend der Zeit des Dritten Reiches gewe-sen, ihr Bruder schloss sich dem dä-nischen Widerstand an, sie selbst wurdevon der Gestapo observiert.

Lebenslang ein PaarNach dem Krieg kam die junge Medizi-nerin in die Schweiz, wo sie mit demneun Jahre älteren Alexander Mitscher-lich auch die Psychoanalyse kennen-lernte, die zum geistigen Zentrum ihresLebens werden sollte. Als Assistenz-ärztin bekam sie im Jahr 1948 einen Sohnvom damals in zweiter Ehe verheira-teten Mitscherlich. Erst 1955, nachdemsich Margarete in London und Deutsch-land psychoanalytisch ausgebildet hatte,heiratete das Paar und begann jeneLebens- und Arbeitsgemeinschaft, die imberühmten Buch «Die Unfähigkeit zutrauern» (1967) gipfelte und die bis zuAlexander Mitscherlichs Tod im Jahr1982 andauerte.

«Die Unfähigkeit zu trauern» ist einhartnäckig missverstandener Titel, derzu Unrecht zum Schlagwort einer erst

EssayDie Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich reflektiertüber die Themen ihres Lebens

Verdrängungmussnichtfalschsein

16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. September 2010

Sachbuch

viel später einsetzenden Holocaust-Ge-denkkultur avancierte. Nicht so sehr dieTrauer um die jüdischen Opfer hattendie Mitscherlichs nämlich damals imBlick, sondern die Verleugnung deremotionalen Bindung an den geliebtenFührer und die NS-Ideologie, die zueiner intensiven Abwehr von Trauer,Scham und Schuld führte. Eindrücklicherinnert Mitscherlich in diesen Essaysimmer wieder an die Zeitstimmung der50er und 60er Jahre. Um eine jeden Le-benswillen lähmende Depression und

Das Ehepaar Alexander (1908–1982) undMargarete Mitscherlich (* 1917) forschteund lehrte am 1960 gegründetenSigmund­Freud­Institut in Frankfurt.1967 veröffentlichten die beiden Psycho­analytiker gemeinsam die Studie «DieUnfähigkeit zu trauern», die zu einem dermeistdiskutierten Bücher der Nach­kriegszeit wurde. Beide erhielten zahlrei­che Preise. Zu Margaretes bekanntestenPublikationen gehören «Die friedfertigeFrau» (1985), «Die Zukunft ist weiblich»(1987) und «Die Mühsal der Emanzipa­tion» (1990).

EhepaarMitscherlich

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26. September 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17

«Das Ich altert nicht.»Dennoch fällt esschwer, sichmit demTod abzufinden. DiePsychoanalytikerinMargareteMitscherlich auf derCouch.

in Gestapo-Haft gesessen hatte, habe alsBeobachter des Ärzteprozesses in Nürn-berg von 1947 das Ausmass und die Tiefeder Verstrickung nicht erkennen kön-nen: Von den Verbrechen der KZ-Ärztetief erschüttert, machte er dafür in sei-nem ersten Bericht von 1949 eine tech-nisierte und bürokratisierte Medizinverantwortlich. Erst in der Neufassungdes Berichts von 1960 liess er den be-treffenden Passus weg.

Die Erkenntnis, wie schwer, ja gerade-zu unmöglich es war, sich der eigenen

Identifikation mit einem barbarischenSystem und damit dem eigenen Versa-gen zu stellen, möchte Mitscherlich imheutigen Kontext genutzt sehen: Geradeweil «wir Deutschen» wissen, dass derAbschied von idealisierten Traditionen,die versagt haben, «ein schwerer undtrauervoller Prozess ist», müsse manVerständnis aufbringen für die defensi-ve Bindung vieler heutiger Muslime anihre zwiespältige religiöse Tradition:«Das auf Verleugnung aufgebauteSelbstbild ist leicht zu erschüttern unddeswegen unfähig, Kritik zu ertragen.»

Mitscherlichs Reflexionen oszillierenpermanent zwischen Geschichte undpsychoanalytischer Deutung. So etwa inden Beiträgen zu weiblichen Wertenund Frauenemanzipation, also zwischenden äusseren Zwängen der Gesellschaft(Patriarchat) und den mindestens eben-so mächtigen inneren der Seele (verin-nerlichte Modelle von Weiblichkeit,Schuldgefühle, Angst vor Liebesver-lust): Die Psychoanalyse erstarre zurIdeologie, meint sie, wenn sie «gesell-schaftliche Prozesse ausser Acht lasseund eine biologisch-ahistorische Ein-stellung … beibehalte». Keine Theorie,auch keine psychoanalytische, sollte alsendgültige Wahrheit angesehen werden.Den heutigen Bedeutungsverlust derPsychoanalyse erklärt Mitscherlich mitderen Selbstidealisierung, dem hierar-chischen Ausbildungssystem und demFehlen wirklich unabhängiger Köpfe.

Brüchige AltersweisheitImmer sind es die Fragen, die Mitscher-lich mehr interessieren als Antworten,und immer sind ihre Überlegungen vontiefer psychoanalytischer Skepsis, auchgegenüber den eigenen Erinnerungenund Aussagen. Das gilt ebenso für dieGedanken zur titelgebenden Radikalitätdes Alters. Ist diese ein Zeichen für dieLebendigkeit des Geistes – oder eher fürStarrsinn und Rechthaberei? Soll nochmöglichst viel in den letzten Lebensab-schnitt gepresst werden, geht es darum,einen Hauch von Unsterblichkeit zuerlangen oder – noch immer – um infan-tile Sehnsüchte?

Eine Antwort findet die Autorinnicht, aber immer wieder die Erkennt-nis, wie schwer es Menschen fällt, sichgefühlsmässig mit dem Tod abzufinden.«Wir müssen ihn verdrängen, um nichtin Depression zu verfallen», meint Mit-scherlich in Übereinstimmung mitFreuds Erkenntnis: «Das Ich ist im we-sentlichen ein Körper-Ich», und: «DasIch altert nicht.» Und macht gleich dieBrüchigkeit der eigenen Altersweisheitzum Exempel, wenn sie erzählt, vieleslasse sie heute gelassen, alles sei irgend-wie nicht mehr so wichtig, «ich selberschon gar nicht» – und dann innehält:«Stimmt das? Mit dem Verstand weissich es, aber mit dem Gefühl? Da bin ichmir nicht so sicher.»

«Lebendig bleiben nur solche Men-schen, die die Lust an neuen Erkenntnis-sen auch über sich selbst höher bewer-ten als die Anerkennung von aussen»,schreibt Mitscherlich einmal. Sie gehörtunzweifelhaft dazu. l

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Apathie abzuwehren, habe man sichtaub und blind, ja tot gestellt und mitmanischer Hingabe den Wiederaufbaubetrieben. Von den traumatisierten Pati-enten der Abteilung für Psychosoma-tische Medizin in Heidelberg etwa, diesie damals betreute, habe sich «so gutwie keiner» zur durchlebten Katastro-phe geäussert: «Über alles wurde ge-sprochen, nur nicht über Krieg und Ver-brechen.»

Selbst ihr Mann, so erkennt Marga-rete aus heutiger Sicht, der monatelang

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18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. September 2010

Tony Blair: Mein Weg. C. Bertelsmann,München 2010. 784 Seiten, Fr. 48.50.

Von Martin Alioth

Diverse britische Buchläden habengemeldet, Aktivisten hätten die Origi-nalausgabe von Tony Blairs Memoirenin «unpassenden» Abteilungen aufge-stellt. Am beliebtesten sind offenbar dieRubriken «Fantasy» und «Wahre Ver-brechen». Blair weckt – wie einst seinVorbild Margaret Thatcher – in seinerHeimat starke Emotionen, und gegendiese schreibt der inzwischen globetrot-tende Friedensstifter, Redner, Beraterund Wohltäter nun an.

In Prinzessin Diana entdeckt er eineverwandte Seele: «Wir waren beide aufunsere Art manipulativ, nahmen raschdie Gefühle anderer wahr und konntensie instinktiv für uns nutzen.» DerartigePerlen der Selbsterkenntnis ziehen sichdurch das geschwätzige, stilistisch ehersaloppe Buch wie ein roter Faden. DochBlair will als radikaler politischer Den-ker ernst genommen werden. Er gibt zu,dass seine Neigungen eigentlich konser-vativ sind, «aber mein Herz schlägt fürdie progressive Politik, und meine Seeleist die eines Rebellen».

Das Konstrukt des «Dritten Weges»,das «New Labour» unter Blair verfocht,erweist sich aber bei näherem Zusehenals wässriges Gebräu, der Autor als poli-tischer Dünnbrettbohrer, der die Wahr-heit ahnt. «Der Dritte Weg war keineschlaue Einigung in der Mitte zwischen

links und rechts (...) auch kein Populis-mus auf der Basis des kleinsten gemein-samen Nenners», protestiert Blair, aberder Leser murmelt trotzig: «Doch!» Die-ser etwas frustrierte Leser mag dann inder Beschreibung des unglückseligen«Millennium-Dome», des riesigen Aus-stellungsgebäudes bei Greenwich an derThemse, eine unfreiwillige Metapherauf «New Labour» erkennen: «Das Pro-blem war, dass nie so richtig klar war,was in der Ausstellung gezeigt werdensollte. Das Thema Zukunft war als allge-meiner Ansatz gut, aber im Detail nurschwer zu fassen.»

Es zählt, was funktioniertZwei Maximen durchziehen sowohl dieRegierungszeit von Tony Blair als Pre-mierminister des Vereinigten König-reichs (1997–2007) als auch dieses Buch.Das Motto des waschechten Pragmati-kers und Managers: «Was zählt, ist, wasfunktioniert»; und der ethische Impera-tiv: «das Richtige tun». Letzteres wird

zur Begründung unpopulärer Entschei-dungen – namentlich des Irak-Krieges –mit nahezu religiöser Inbrunst vorgetra-gen. Was auch nicht weiter erstaunt,denn Blair selbst gesteht, Religion seifür ihn stets die «grössere Leidenschaftals Politik» gewesen. Damit entziehtsich der inzwischen zum Katholizismuskonvertierte Blair, der nie den Stallge-ruch Labours aufwies, bis zu einemgewissen Grade der demokratischenLegitimation.

«Mein Weg» beginnt mit dem Erd-rutschsieg Labours von 1997 und endetmit einer Kritik an der heutigen Labour-Partei, die aus gedanklicher Faulheit alleLösungen beim Staat suche. Die Kapitelfolgen dem Zeitablauf nicht exakt, son-dern sind thematisch gruppiert. BesagteDiana erhält ein eigenes Kapitel, Europaindessen nicht. Breiten Raum nimmt dieApologie für den Irak-Krieg ein, derBlairs Karriere letztlich ruinierte.

Der Autor steht verbissen zu seinenEntscheidungen – es war eben «the rightthing to do». Doch der Meister der poli-tischen Propaganda bleibt auch dannselektiv, wenn er den Leser vertrauens-voll bittet, die Lage nochmals neu zuerwägen. So erwähnt Blair mit keinemWort, dass die Juristen des britischenAussenministeriums an der Widerrecht-lichkeit des Krieges festhielten, alsBlairs Freund und Generalstaatsanwaltdessen Rechtmässigkeit attestiert hatte.Er hält an der irreführenden Behaup-tung fest, Frankreichs Präsident JacquesChirac habe sein Veto im Uno-Sicher-heitsrat für immer und ewig angedroht.

GrossbritannienDie Memoiren von Ex-Premierminister Tony Blair entfalten ein farbiges Panoramader Macht. Neben Perlen der Selbsterkenntnis finden sich verbissene Rechtfertigungen

DerauserwählteKonservative

Parteifreundeund Rivalen:PremierministerTony Blair (links)mit seinem desig­nierten NachfolgerGordon Brown.Manchester, 25.Sep­tember 2006.

ManagementSechzig Porträts erfolgreicher Führungskräfte lesen sich als Anleitung zum Erfolg

Profund, praxisrelevant, unterhaltsam

Frank Arnold: Management – Von denBesten lernen. Hanser, München 2010.431 Seiten, Fr. 37.90.

Von Leonid Leiva

Aus vielen Büchern über Management-Techniken, die heute in den Regalen desBuchhandels stehen, ist kaum zu schlies-sen, dass dies eine relativ junge Diszip-lin ist. Erst 1946 mit der Veröffentli-chung von «Concept of the Corpora-tion» durch Peter Drucker erhielt dasWissensgebiet die formale Statur einerWissenschaft. Und zwar einer Geistes-wissenschaft, wie Drucker selbst immerwieder betonte, weil sie den Fokus aufMenschen und Verantwortung richtet.

Frank Arnold, promovierter Ökonomund Management-Experte, gelingt es inseinem Buch, diese Geisteswissenschaft

auch geistreich und fundiert zu präsen-tieren. Sein Ansatz ist erfrischend: Ernimmt das Leben erfolgreicher Men-schen zum Anlass, den Leser zum Nach-denken über effektives Managementanzuregen. Das ist zwar nicht neu, aberArnold meistert die Aufgabe, seinenStoff menschennah und doch seriös zuvermitteln, mit Leichtigkeit. Dabei istdie Lektüre auch für Laien unterhalt-sam, die Sprache schnörkellos, präzise,und – was sich als Wohltat erweist – derAutor verzichtet weitgehend auf densonst üblichen, wuchernden Fachjargon.

Man erfährt bei der Lektüre vielmehr,dass James Watt nicht die Dampf-maschine selbst erfand, sondern siedurch einen Fliehkraftregler effizienterund somit erst marktfähig machte. Oderdass selbst der Eiffelturm anfänglichvon der Pariser Elite argwöhnisch be-äugt wurde, wodurch der Widerstand

illustriert wird, den jede Innovation inden Anfängen überwinden muss.

Von Steve Jobs über Camille Pissarrobis hin zu Barack Obama – die über 60Porträts erfolgreicher Personen sindnicht länger als sechs Seiten und lassensich in beliebiger Reihenfolge lesen. DasBuch hat dennoch eine klare Struktur. Jeein Teil wird dem Management vonOrganisationen, Innovationen und Per-sonen gewidmet. Dadurch will derAutor die Aufmerksamkeit auf die dreiErfolgsschlüssel von Führungskräftenkonzentrieren. Für diese stellt Arnoldam Ende eines jeden Kapitels Denkan-stösse und Aufgaben zusammen, die derUmsetzung der behandelten Prinzipiendienen sollen. Das originelle Buch isteine kluge und unaufdringliche Anlei-tung zum Erfolg. Für Top-Managergenauso empfehlenswert wie für Nach-wuchskräfte – ein Buch für Praktiker. l

auch geistreich und fundiert zu präsen-tieren. Sein Ansatz ist erfrischend: Er nimmt das Leben erfolgreicher Men-schen zum Anlass, den Leser zum Nach-denken über effektives Management anzuregen. Das ist zwar nicht neu, aber Arnold meistert die Aufgabe, seinen Stoff menschennah und doch seriös zu vermitteln, mit Leichtigkeit. Dabei ist die Lektüre auch für Laien unterhalt-sam, die Sprache schnörkellos, präzise, und – was sich als Wohltat erweist – der Autor verzichtet weitgehend auf den sonst üblichen, wuchernden Fachjargon.

dass James Watt nicht die Dampf-maschine selbst erfand, sondern sie durch einen Fliehkraftregler effizienter und somit erst marktfähig machte. Oder dass selbst der Eiffelturm anfänglich von der Pariser Elite argwöhnisch be-äugt wurde, wodurch der Widerstand

illustriert wird, den jede Innovation in den Anfängen überwinden muss.

bis hin zu Barack Obama – die über 60 Porträts erfolgreicher Personen sind nicht länger als sechs Seiten und lassen sich in beliebiger Reihenfolge lesen. Das Buch hat dennoch eine klare Struktur. Je ein Teil wird dem Management von Organisationen, Innovationen und Per-sonen gewidmet. Dadurch will der Autor die Aufmerksamkeit auf die drei Erfolgsschlüssel von Führungskräften konzentrieren. Für diese stellt Arnold am Ende eines jeden Kapitels Denkan-stösse und Aufgaben zusammen, die der Umsetzung der behandelten Prinzipien dienen sollen. Das originelle Buch ist eine kluge und unaufdringliche Anlei-tung zum Erfolg. Für Top-Manager genauso empfehlenswert wie für Nach-

wuchskräfte – ein Buch für Praktiker.

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26. September 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19

Einzug in der DowningStreet Nr. 10 inLondon: Tony Blair mitFamilie amMorgennach derWahl zumPremierminister (undeiner Stunde Schlaf),2.Mai 1997.

Für Blair wurde die zunehmende –und anfänglich ungewohnte – Kritik zurbösartigen, grundlosen Vendetta. Ver-mutlich verstärkte diese durchaus the-matisierte Vereinsamung an der Machtdas Bedürfnis nach einer metaphysi-schen Rechtfertigung. So wird Blair vonAnfang an zum Werkzeug des Schick-sals. Anlässlich seines ersten Besuchsim Unterhaus trifft es ihn «wie einSchlag aus heiterem Himmel: Ich wuss-te, hier gehörte ich hin.»

Er nennt die Erleuchtung «eineuntrügliche Ahnung». Im April 1994wacht er in einem Pariser Hotel nebenseiner Gattin Cherie auf und teilt ihrmit: «Wenn John stirbt, werde ich Par-teichef, nicht Gordon. Und irgendwieglaube ich, dass es bevorsteht.» Erbrauchte nicht lange zu warten. EinenMonat später war OppositionsführerJohn Smith tot, im Juli erklomm Blairden Parteivorsitz.

Kritik an Gordon BrownDieser messianische Unterton beziehtsich nicht bloss auf die martialischeAussenpolitik Blairs, sondern auch aufseine Reformen im öffentlichen Dienst.Schon ein Jahr nach dem Regierungs-antritt allerdings erkennt Blair «eineKluft zwischen dem Inhalt der Erklärun-gen und der Qualität der Reformen».Ansprechende Verpackung, dürftigerInhalt – daran sollte sich in den folgen-den neun Jahren nicht viel ändern. Blairschreibt jegliches Ungenügen in diesemzentralen Bereich seiner Nemesis zu:Gordon Brown.

Der einstige Weggefährte wabertdurch dieses Buch wie Banquos Geist.Blair kann seine Schadenfreude überdie missglückte Regierungszeit Brownskaum bemänteln. Er kennt auch denGrund: Brown sei vom rechten Pfad«New Labours» abgekommen. Blairselbst hätte noch einmal gesiegt, denn:«Durch die ganze Zeit habe ich meinenOptimismus, mein Selbstvertrauen undden Glauben an die Erreichbarkeit mei-ner Ziele nie verloren.» l

WirtschaftEin Plädoyer für mehr Einfluss der Politik auf den Finanzplatz Schweiz

MehrKontrolle tutnotPeter Hablützel: Die Banken und ihreSchweiz. Perspektiven einer Krise.Conzett bei Oesch, Zürich 2010.303 Seiten, Fr. 28.–.

Von Reinhard Meier

Peter Hablützel hat seine beruflicheKarriere als persönlicher Mitarbeitervon Bundesrat Willi Ritschard begon-nen und war dann in Bern über zwanzigJahre lang in einflussreichen Positionenim schweizerischen Finanzdepartementtätig.

Die jüngste globale Finanzmarktkrise,die den Bundesrat zu dramatischenSchritten zur Rettung der grösstenSchweizer Bank zwang, nimmt er zumAnlass für grundsätzliche Überlegun-gen über das Verhältnis von Politik und

Wirtschaft in unserem Land. Peter Hab-lützel ist gelernter Historiker und gutvertraut mit der sozialwissenschaft-lichen Literatur – ebenso mit derenmanchmal etwas gestelztem Jargon. Sei-ner Meinung nach haben die Finanz-platz-Erschütterungen die Schweiz «ineine der schwierigsten Orientierungs-krisen ihrer Geschichte geführt».

Autor Peter Hablützel warnt eindring-lich vor dem Klumpenrisiko der beidenGrossbanken, die zeitweise neunzigProzent der Bilanzsumme aller hiesigenBanken auswiesen. An konkreten Verän-derungen fordert er wie viele andereExperten höhere Eigenmittel für dieGrossbanken. Damit liessen sich die ver-blendenden hohen Renditen und diedamit gerechtfertigten obszönen Abzo-cker-Boni auf ein vernünftigeres Masszurückführen.

Der Autor vertritt die These, dassdie Politik in unserem Land gegenüberden organisierten Wirtschaftsinteressenüber zu wenig Gewicht verfüge. Aber erlehnt es ab, Wirtschaft und Politik sche-matisch als unvereinbare Intereressen-Ebenen gegeneinander auszuspielen.

Bei aller berechtigten Empörung überdie Exzesse eines verantwortungslosenKasino-Kapitalismus ist Hablützel keineinseitiger Eiferer. Er gesteht, dass er«keine realisierbare und humane Alter-native zum marktwirtschaftlich organi-sierten Kapitalismus» erkennen könne.Gerne hätte man in Peter Hablützelsdifferenzierten Reformüberlegungenauch seine Ansichten zur hängigenAbzocker-Initiative des UnternehmersThomas Minder sowie zur Frage eineseventuellen EU-Beitritts der Schweizvernommen. l

Wirtschaft in unserem Land. Peter Hab-lützel ist gelernter Historiker und gut vertraut mit der sozialwissenschaft-lichen Literatur – ebenso mit deren manchmal etwas gestelztem Jargon. Sei-ner Meinung nach haben die Finanz-platz-Erschütterungen die Schweiz «in eine der schwierigsten Orientierungs-krisen ihrer Geschichte geführt».

lich vor dem Klumpenrisiko der beiden Grossbanken, die zeitweise neunzig Prozent der Bilanzsumme aller hiesigen Banken auswiesen. An konkreten Verän-derungen fordert er wie viele andere Experten höhere Eigenmittel für die Grossbanken. Damit liessen sich die ver-blendenden hohen Renditen und die damit gerechtfertigten obszönen Abzo-cker-Boni auf ein vernünftigeres Mass zurückführen.

die Politik in unserem Land gegenüber den organisierten Wirtschaftsinteressen über zu wenig Gewicht verfüge. Aber er lehnt es ab, Wirtschaft und Politik sche-matisch als unvereinbare Intereressen-Ebenen gegen einander auszuspielen.

die Exzesse eines verantwortungslosen Kasino-Kapitalismus ist Hablützel kein einseitiger Eiferer. Er gesteht, dass er «keine realisierbare und humane Alter-native zum marktwirtschaftlich organi-sierten Kapitalismus» erkennen könne. Gerne hätte man in Peter Hablützels differenzierten Reformüberlegungen auch seine Ansichten zur hängigen Abzocker-Initiative des Unternehmers Thomas Minder sowie zur Frage eines eventuellen EU-Beitritts der Schweiz vernommen.

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20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. September 2010

Tom Segev: SimonWiesenthal.Die Biographie. Aus dem Hebräischenvon Markus Lemke. Siedler,München 2010. 576 Seiten, Fr. 48.50.

Von Klara Obermüller

Über Simon Wiesenthal ist viel geschrie-ben worden – nicht zuletzt von ihmselbst. Er hat in mehreren Büchern überseine Jagd nach NS-Verbrechern berich-tet. Er hat seine Lagererlebnisse zu Pro-tokoll gegeben und sie gleichzeitig aucherzählerisch verarbeitet. Er hat eineAutobiografie in Auftrag gegeben, istnoch zu Lebzeiten einer Biografin Redund Antwort gestanden und hat inunzähligen Prozessen als Zeuge ausge-sagt. Als er 2005 im Alter von 97 Jahrenin Wien verstarb, war er eine derbekanntesten Figuren der Zeitgeschich-te und eine lebende Legende. Aberwusste irgendjemand, wer Simon Wie-senthal wirklich war?

Mysteriöses LebenTom Segev, der bekannte israelischeHistoriker und Journalist, hat es jetztunternommen, die erste vollständigdokumentierte Lebensgeschichte überSimon Wiesenthal herauszubringen: eindickes, von Namen und Fakten nur sostrotzendes Buch, das von seinem deut-schen Verlag auch prompt als die Bio-grafie angepriesen wird. Nach eigenenAussagen hat Tom Segev Tausende vonAkten in insgesamt 14 über die ganzeWelt verstreuten Archiven gesichtet,um dieses lange, an Leid, Anfeindungenund Triumphen reiche Leben bis inseine feinsten Verästelungen hineinnachzuzeichnen. Dabei gelingt ihm dasKunststück, Wiesenthals über jedenVerdacht erhabene Verdienste zu wür-digen, ohne die fragwürdigen Seiten sei-ner Persönlichkeit und das Zwielichtigegewisser Aktivitäten zu unterschlagen.

Einen tragischen Helden, «der sichstets in das Mysterium seiner Lebensge-schichte hüllte», nennt er ihn bereits imProlog seines Buches und verhehltnicht, wie schwer es ihm auch nach allseinen Recherchen noch immer gefallenist, Simon Wiesenthals «Geheimnissezu dechiffrieren», will heissen: zwi-schen Fiktion und Wirklichkeit zu un-terscheiden.

Wie bei vielen Holocaust-Überleben-den, die ihre Geschichte immer undimmer wieder erzählen mussten, hattensich auch in Wiesenthals Erinnerungengewisse Stereotype und legendenhafteElemente eingeschlichen. Er erzählteseine Lebensgeschichte je nach Situati-on und Adressat unterschiedlich. Er warauf Wirkung bedacht, neigte zu Pathosund Übertreibungen, und es war nieganz klar, wo bei ihm die Grenze zwi-schen Protokoll, autobiografischemZeugnis und fiktionalisierter Erzählung

verlief. Entsprechend schwierig, jaunmöglich ist es im Nachhinein, dieseverschiedenen Ebenen klar auseinander-zuhalten. Doch es macht gerade dieQualität von Segevs Buch aus, dass erseiner Leserschaft nicht nur gesicherteTatsachen vorlegt, sondern sie auch anseinen Zweifeln und den Schwierigkei-ten der Wahrheitsfindung teilhabenlässt.

Phantast und HumanistVor die nicht ganz einfache Aufgabegestellt, die Geschichte eines Menschenzu erzählen, von dem alle schon alles zuwissen glauben, hat Tom Segev sich ent-schlossen, all die bekannten Stationenim Leben des Simon Wiesenthal – seineOdyssee von KZ zu KZ, seine Aktivitä-ten als Nazi-Jäger, den Aufbau desDokumentationszentrums, den unseli-gen Streit mit Kreisky, das verfehlteEngagement für Waldheim und vielesanderes mehr – zwar auch bis in alle Ein-zelheiten hinein zu behandeln, siejedoch stets in einen grösseren zeitge-schichtlichen Zusammenhang zu stellenund nach Möglichkeit durch bisherunbekannte Hintergrundinformationenzu ergänzen. Auf diese Weise erfährtman nicht nur viel über WiesenthalsArbeitsweise, seine Verbindungen zuden Geheimdiensten und das Netz sei-ner Informanten, sondern man bekommtauch Einblick in sein Denken undbegreift, welch eminenten Einfluss die-ser im Wesentlichen auf sich allein

gestellte Mann auf die politische Aufar-beitung der NS-Zeit sowie auf die Erin-nerungskultur Europas, Israels und derVereinigten Staaten gehabt hat.

Simon Wiesenthal mag ein eitler, gel-tungssüchtiger Phantast gewesen sein,ein «Don Quichotte mit dem Imageeines James Bond», wie sein Biograf ihneinmal nennt, doch er war auch einunverbesserlicher Humanist und Mah-ner gegen das Vergessen, der mit seinemLeitspruch «Recht – nicht Rache» vieldazu beitrug, dass das Wissen um dienationalsozialistischen Verbrechen unddas Versagen der abendländischen Kul-tur bis heute wachgehalten wurde.

Tom Segevs ebenso anschaulicherwie akribisch genauer Erzählweise ist eszu danken, dass einem Simon Wie-senthal bei der Lektüre in seiner ganzenWidersprüchlichkeit sehr nahekommt.Zu fassen allerdings bekommt man ihnauch nach fast 600 Seiten nicht. Dasmag zum einen an seiner komplexenPersönlichkeit selbst liegen, zum andernaber auch am Autor, der seine Figurunter der Fülle neu zu Tage geförderterNamen, Fakten und biografischerDetails förmlich vergräbt und durchRedundanzen und chronologische Brü-che dem Leser die Lektüre zusätzlicherschwert.

Eine gewisse Straffung sowie eineZeittafel und ein Personenregister hät-ten dem Buch über Simon Wiesenthalzweifellos gutgetan. Doch danach suchtman leider vergeblich. l

BiografieDer Historiker Tom Segev arbeitet in seinem monumentalen Werk über den Nazi-JägerSimon Wiesenthal dessen Licht- und Schattenseiten heraus

WidersprüchlicherHeld

SimonWiesenthal,Jude, unermüdlicherNazi­Jäger undtragischer Held,in seinemWienerBüro, 1998.

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Sachbuch

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26. September 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21

Victoria Ocampo, Renate Kroll: VictoriaOcampo – Mein Leben ist mein Werk.Eine Biografie. Aufbau, Berlin 2010.352 Seiten, Fr. 34.90.

Von Kirsten Voigt

Hungrig war Victoria Ocampo (1890–1979) ihr Leben lang – auf Kultur, Geistund Menschen, auf Neues, das Schöneund die Freiheit. Das machte sie zur ide-alen Leserin, zur Zuhörerin, die begann,sich einzumischen, und damit zu einerder einflussreichsten Frauen Lateiname-rikas. Sie gründete 1931 in Buenos Airesdie Zeitschrift und dann den Verlag«Sur», die sich der Vermittlung europä-ischer Kultur widmeten. Es erschienenmehr als 200 Ausgaben, Ocampos Milli-onen-Vermögen wurde davon aufge-zehrt. «Sur» veröffentlichte unter ande-rem Texte von Borges, Gropius, Le Cor-busier, Zweig, Benjamin, Jaspers, Mal-raux, Dürrenmatt, Adorno und Horkhei-mer. Der Verlag brachte Werke vonLorca, Huxley, Camus und VirginiaWoolf heraus. Im Jahr 1953 wurde Victo-ria Ocampo, die strenge Distanz zurPerón-Diktatur hielt, für 27 Tage inhaf-tiert; und sie begriff, dass, «was sie ein-sperren und zerstören wollten, meineGedankenfreiheit war».

Während ihr Kindermädchen ihreinst attestiert hatte, sie sei «faul wieeine Raupe», beflügelten die Expeditio-nen in die intellektuelle LandschaftEuropas ihren enormen publizistischenFleiss. Ein Blick in ihre Korrespondenzund ihre Essays versetzt den Leser mit-ten hinein in Jahrhundertdebatten ver-schiedenster Disziplinen, in ein Ge-spräch mit tausend prominenten Stim-

men, in dem es stets auch um die Rechteder Frau ging.

Nun hat die Romanistin Renate KrollOcampos Biografie in Selbstzeugnissenerarbeitet – aus opulentem Material.Ocampos Porträt entsteht, durch Zwi-schenbemerkungen der Biografin er-gänzt, vor allem im Spiegel dessen, wassie selbst amüsant, klug, begeistert überBegegnungen mit Künstlern und Philo-sophen, im Austausch mit ihnen schrieb.Dadurch wirkt dieses Buch ungemeinreich (gelegentlich auch an Wiederho-lungen), oft weitschweifig und skizzen-,ja bruchstückhaft zugleich, offen inBewegung wie Ocampos Denken selbst.

Manchmal verheddert sich der Fadender Lebensbeschreibung allerdings der-art in netten Nebensächlichkeiten, dassman den Wunsch hegt, die Verfasserinhätte wesentlichere Akzente gesetzt,nämlich der intellektuellen Biografieder Ocampo tiefer nachgespürt, anstattdie lange Reihe ihrer Dialogpartnerparadieren zu lassen.

Im Jahr 1890 als erste von sechs Töch-tern einer begüterten Familie geboren,wurde Victoria streng für ein klassi-sches Frauenleben erzogen und 1912zwangsverheiratet. Erzieherinnen ausFrankreich, England und Dänemark hat-ten sie mit der Kultur Europas vertrautgemacht und den Grundstein für lebens-längliche Leidenschaften gelegt. 1916lernte sie Ortega y Gasset kennen, dersich in die «Mona Lisa der Pampa» hef-tig verliebte, 1924 beherbergte sie dentief verehrten Rabindranath Tagore beisich, der ihre Intelligenz rühmte. Her-mann Graf Keyserling hatte sie bis überdie Schwelle zur Peinlichkeit hinwegschwärmerische Briefe geschrieben.Doch der Schock war überwältigend, als

sie dem Gründer der «Schule der Weis-heit» 1929 persönlich gegenüberstand –sie im Chanel-Kostüm, eine blendendschöne Liebhaberin von Esprit und Ele-ganz, er ein ungeschlachter Bacchus, derseinen Chauvinismus nicht kaschierteund sich später einer Affäre mit ihrrühmte, die es nie gegeben hatte. MitVirginia Woolf, Susan Sontag und derLiteraturnobelpreisträgerin GabrielaMistral teilte sie emanzipatorischeÜberzeugungen.

Zu den eindrucksvollsten Texten der1979 gestorbenen Intellektuellen gehö-ren jene, die sie nach ihrem Besuchder Nürnberger Prozesse 1946 schrieb.Nicht nur ihre Schilderung Görings aufder Anklagebank und des jungen US-Soldaten, der ihn bewachte, zeigt, wiefein sie beobachtete. Octavio Paz nannteVictoria Ocampo die Begründerin einesgeistigen Raums. In ihm bewegt mansich noch heute mit Gewinn. l

ArgentinienDie Biografie von Victoria Ocamporuft eine der bedeutendsten lateinamerikanischenIntellektuellen in Erinnerung

Bei ihrpaarte sichEspritmitEleganz

«Mona Lisa derPampa»: VictoriaOcampo (1890–1979), berühmt fürihre Intelligenz undSchönheit, war eineVorkämpferin derFrauenbewegung.

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Chronosseit 25 JahrenBücherzur Zeit

BruNo Spoerri (Hg.)

MUSIK AUS DEM NICHTS

die geScHicHte derelektroakuStiScHeN MuSikiN der ScHweiz

Mit LangeM ateMzuM erfoLg50 Jahre sChweizerentwiCkLungshiLfe

Von der zaubereizur aLLgegenwartwie die eLektro­akustisChe Musikdie weLt eroberte

René Holensteinwer langsam geht,kommt weitEin halbes JahrhundertSchweizer Entwicklungshilfe

2010. 293 S. 35 Abb. Br. CHF 38

Chronos VerlagEisengasse 98008 Zü[email protected]

Bruno Spoerri (Hg.)Musik aus dem nichtsDie Geschichte derelektroakustischenMusik in der Schweiz

2010. 412 S. 100 Abb. Geb. CHF 58

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AramMattioli: «Viva Mussolini!».Die Aufwertung des Faschismus imItalien Berlusconis. NZZ Libro,Zürich 2010. 212 Seiten, Fr. 38.–.

Von Janika Gelinek

In Zeiten zunehmender Verwirrung, wiemit dem politisch destabilisierten Ita-lien Berlusconis umzugehen sei, legt derLuzerner Geschichtsprofessor AramMattioli eine historisch und kulturellbreit angelegte Studie vor, die wesent-liche Erkenntnisse über den Aufstiegdes Berlusconismus zutage fördert. Wiekonnte mit der Wahl Berlusconis 1994erstmals nach 1945 ein Rechtsbündnisan die Macht gelangen, das eine beken-nende postfaschistische Partei enthielt?Wie kann in einem Land, dessen antifa-schistische «Resistenza» während desZweiten Weltkriegs die grösste AktivitätWesteuropas entfaltete, heute straffreider «römische Gruss» durch Ministe-rinnen und Fussballstars wieder ausge-führt werden?

Mattioli beschränkt sich nicht aufeine Rekapitulation der Ära Berlusconi,sondern geht zurück bis zur Gründungder italienischen Republik 1946. Um dasdurch den Bürgerkrieg zwischen Wider-standskämpfern und Faschisten tief ge-spaltene Italien zu einen, erliess derkommunistische Justizminister PalmiroTogliatti eine Amnestie für die Verbre-chen der faschistischen Diktatur; gleich-zeitig setzte der euphorische, unkriti-sche Resistenza-Mythos ein – womit dieVoraussetzungen geschaffen waren fürdie sich konstituierende landesweiteGrundüberzeugung, die italienischeNachkriegsrepublik sei aus dem Geistdes Widerstandes entstanden und habesich aus sich selbst heraus vom Faschis-mus befreit.

Während in Deutschland die Nürn-berger Prozesse der Weltöffentlichkeiterst die Einzelheiten des Naziterrors be-wusst machten, versäumte Italien eineAufarbeitung des «ventennio fascista»und der Kriegsverbrechen in Äthiopien,Libyen und auf dem Balkan. Hier siehtMattioli einen Hauptgrund für die heutezu beobachtende Verharmlosung bzw.Aufwertung Mussolinis und seines Re-gimes, das von revisionistischen Histo-rikern wie Renzo De Felice, aber zuneh-mend auch in nostalgisch eingefärbtenBüchern und Filmen eher links orien-tierter Autoren wie Enzo Monteleoneals «gute» italienische Variante des«bösen» deutschen Faschismus rezi-piert wird.

Einen zweiten Grund für die «Erosiondes antifaschistischen Grundkonsens»benennt Mattioli mit dem Zerfall derseit 1946 regierenden Democrazia Cris-tiana nach dem Tangentopoli-Skandalvon 1992, der eine gigantische Korrupti-

onsmaschinerie offenlegte – und Berlus-conis ambivalentes Rechtsbündnis, mitentscheidender Hilfe der Postfaschis-ten, erstmals an die Macht brachte. Mitdiesem Sieg und der durch das Ende desKalten Krieges obsolet gewordenenideologischen Frontstellung verlor dasantifaschistische Geschichtsverständnisweiter an Bedeutung.

Gleichzeitig begann die politischeRechte um Berlusconi einen erinne-rungskulturellen Feldzug, der dieGleichstellung der Resistenza mit demAufstand in Mussolinis Republik vonSalò erwirken soll, aber auch lokaleInitiativen beinhaltet, mit Hilfe dererz.B. die Via Gramsci in Guidonia durch

Via Aldo Chiorboli, benannt nacheinem ortsansässigen Faschisten, ersetztwurde.

Mattioli legt eine vielschichtige Ana-lyse vor, in der Berlusconis Wahlsiege2001 und 2008 nicht als populistischeVerirrung der Italiener erscheinen, son-dern als beunruhigende Konsequenzeiner Entwicklung, die systematisch dieUmwertung einstiger antifaschistischerWerte zugunsten eines «unverkrampf-ten» Umgangs mit dem Faschismusproklamiert. Offen bleibt die Frage, obdieser popkulturell aufgewertete Post-faschismus vielleicht kein italienischerSonderfall ist, sondern in Europa insge-samt an Boden gewinnt. l

PolitikAram Mattioli zeigt, wie heute in Italien die Erinnerungskultur umgewertet wird

Der«gute» italienischeFaschismusscheintwieder salonfähig

22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. September 2010

MikisTheodorakisMusik undWiderstand

Die weitausholenden Arme waren eine typische GesteMikis Theodorakis’, sowohl auf der Bühne wie imStudio (hier im Pariser Exil 1970). Sie drückt dieInbrunst aus, mit denen der Grieche seine Wider­standslieder gegen die Militärdiktatur vortrug. Erst1974, nach deren Sturz, konnte er wieder in Athenauftreten. Das legendäre erste Konzert «war derabsolute Höhepunkt meines Lebens», zitiert AsterisKutulas den Komponisten im Bildband zu dessen85. Geburtstag. Es war eine triumphale Rückkehrnach Jahren des Exils, nach Gefängnissen und Straf­lagern. Theodorakis ist berühmt als Komponist und

Sänger von Liedern, die in Griechenland noch heutejedes Kind kennt. Beliebt sind seine Vertonungen vonGedichten griechischer Lyriker. Weniger bekannt –mit Ausnahme der Filmmusik zu «Alexis Zorbas» –sind die Symphonien, Oratorien und Opern. Seinmusikalisches Werk pendelt zwischen Volksmusikund Avantgarde, zwischen Zentrum und Peripherie.Auch seine politische Ausrichtung war instabil,was ihn später einiges an Sympathien kostete.Geneviève LüscherAsteris Kutulas: Mikis Theodorakis. Ein Leben inBildern. Schott, Mainz 2010. 160 S., 3 CD, Fr. 70.90.

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26. September 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23

Stephan Truninger: Die AmerikanisierungAmerikas. Thorstein Veblensamerikanische Weltgeschichte.Westfälisches Dampfboot, Münster 2010.212 Seiten, Fr. 40.50.

Von Fritz Trümpi

So trocken-akademisch, wie es der Un-tertitel «Thorstein Veblens amerika-nische Weltgeschichte» vermuten lies-se, ist Stephan Truningers neues Buchüber die «Amerikanisierung Amerikas»nicht. Im Gegenteil: Der Schweizer So-ziologe erzählt eine sehr lesenswerteGeschichte über die Entwicklung deramerikanischen Gesellschaft zwischen1890 und 1920, deren Phänomene bisheute brennend aktuell sind, denn dasGerede von der «Amerikanisierung» istverbreiteter denn je. Truninger spürtdieser Frage nach und enttarnt jenen ge-sellschaftlichen Wandlungsprozess inden USA zwischen Industrialisierungund New Deal als Wurzel des Phäno-mens der Amerikanisierung, die eigent-lich als Überwindung der Nationalstaat-lichkeit im europäischen Sinn angese-hen werden kann: Amerikanisierung alsglobal ausgreifender Prozess also, derauch jenseits des pejorativen Labelsdurchaus allgegenwärtige Wirkungs-macht besitzt – darum «amerikanischeWeltgeschichte.»

Als Orientierung seiner Forschungendient ihm der amerikanische Gesell-schaftswissenschafter Thorstein Veblen,dessen Name indes nicht einmal imInhaltsverzeichnis aufscheint: Truningergeht es nicht um einen akademischenBeitrag zum Werk dieses wichtigen Den-kers. Vielmehr kommen Veblens Schrif-

ten Quellencharakter zu: Er wird alsChronist und Theoretiker der Amerika-nisierung Amerikas begriffen.

Ausgangspunkt der Erörterungen bil-det dabei der Begriff des «melting pot»,den Truninger gründlich gegen denStrich liest. Gemeinhin wird darunterdie erzwungene Assimilationder Einwanderer an die inden USA dominierende Kul-tur der angelsächsischenProtestanten verstanden.Truninger hingegen fasst ihnals «industrielle Metapher»,als «Adaption» an eine Indus-triegesellschaft auf, welche «dieArbeit rational organisierte unddarüber auch die Individuen zurRationalität und letztlich zurDemokratie zwang». Und genauhier liegt der springende Punkt:Schon Veblen war klar, dass die-ser Prozess nicht mehr nur ge-nuin amerikanische Elemente auf-wies, sondern als globaler «Ent-faltungsprozess der industri-ellen Gesellschaft» wirksamwurde, welcher sich «Gesell-schaften wie Individuen ad-aptieren mussten, ob in Amerikaoder anderswo».

Truninger will denn seinBuch nicht nur «als Beitragzur Geschichte der VereinigtenStaaten» verstehen, sondern alsRezeption einer «grundlegendenErfahrung moderner bürgerlicherGesellschaft». Als Kontrastfoliedienen ihm Rückbezüge auf euro-päische Nationalstaaten, vorallem Deutschland, das zwar um1900 ebenfalls über eine immensewirtschaftliche Potenz verfügte,

aber in staatspolitischer Hinsicht nachwie vor als Obrigkeitsstaat funktionier-te, dessen Nationalismus sich aus derVergangenheit speiste.

In Amerika konnte sich die Nations-bildung «nur in Referenz auf dieZukunft, letztlich als transnationalnation » begründen. Und darin bestehtfür Truninger in den USA das radikalModerne, das heute in der globalisiertenWelt erst wirklich spürbar wird: «Dieamerikanische Nation sprengt die natio-nalstaatlichen Grenzen und zielt letzt-lich auf die ganze Menschheit – erstwenn sie diese tatsächlich umfasst,könnte der Prozess der Amerikanisie-rung Amerikas zum Abschluss kom-men.» Wir stecken mittendrin in diesem

Prozess namensAmerikanisierung.

Truninger führtin seinem Buchmit stringenterArgumentationvor Augen, was

sich hinterdiesem Begriff ver-birgt: «Amerikani-

sierung war und istauch heute noch ein

Kampf um indivi-duelle und kol-lektive Emanzi-

pation.» l

GesellschaftZur Überwindung der Nationalstaatlichkeit in den USA

Amerikanisierungglobal

Liaquat Ahamed: Die Herren des Geldes.FinanzBuch, München 2010. 638 Seiten,Fr. 43.50.

Von Sebastian Bräuer

Sommer 1927, Woodlands, BundesstaatNew York. In einem neu-georgianischenHerrenhaus mit 20 Zimmern treffen sichdie vier mächtigsten Notenbanker derWelt zur Krisensitzung. Die grösstenVolkswirtschaften sind in Aufruhr, esgibt düstere Vorzeichen auf einen dra-matischen Absturz. So wichtig ist dieGeheimhaltung, dass Montagu Normanvon der Bank of England und HjalmarSchacht von der deutschen Reichsbankihre Namen von der Passagierliste desSchiffes streichen lassen, das sie überden Atlantik bringt.

Fünf Tage dauern die Gespräche hin-ter verschlossenen Türen. Wenige Tagespäter setzt Gastgeber Benjamin Strong,Präsident der Federal Reserve Bank ofNew York, den Beschluss des verschwie-genen Zirkels um: Die amerikanischeNotenbank senkt die Leitzinsen. Es isteine fatale Fehlentscheidung, die eineSpekulationsorgie an der Wall Streetauslöst und schliesslich deren Absturzim Herbst 1929 einleitet, der die Welt inden Abgrund reisst.

Ahamed erzählt, wie es so weit kom-men konnte. Er beschreibt Werdegangund persönliche Handlungsmotive vonNorman, Schacht, Strong und ihremfranzösischen Kollegen Emile Moreau.Er macht deutlich, dass die Grosse De-pression keine unabwendbare Katastro-phe war, die ungeahnt über die Mensch-heit hereinbrach, sondern die Folge fata-

ler Fehlentscheidungen weniger Men-schen. Er zitiert aus Zeitungsartikelnund Fachbüchern, arbeitet die komple-xen ökonomischen Zusammenhänge inbeeindruckender Detaildichte auf – undschafft es, dass sich die Schilderung sospannend liest wie ein Thriller.

Der Autor, der mit dem Pulitzer-Preisgeehrt wurde, arbeitete 25 Jahre lang alsInvestmentmanager, heute berät erHedge-Funds. Während des Schreibenskonnte er kaum ahnen, welch beklem-mende Aktualität sein Buch im Sommer2010 gewinnen würde. Die schlimmsteWirtschaftskrise seit der Grossen De-pression ist noch nicht überstanden –und heute tobt erneut ein Streit, ob dieamerikanische Notenbank mit ihrenaussergewöhnlich niedrigen LeitzinsenGefahren heraufbeschwört. Alle Verant-wortlichen sollten Ahamed lesen. l

ter verschlossenen Türen. Wenige Tage später setzt Gastgeber Benjamin Strong, Präsident der Federal Reserve Bank of New York, den Beschluss des verschwie-genen Zirkels um: Die amerikanische Notenbank senkt die Leitzinsen. Es ist eine fatale Fehlentscheidung, die eine Spekulationsorgie an der Wall Street auslöst und schliesslich deren Absturz im Herbst 1929 einleitet, der die Welt in den Abgrund reisst.

men konnte. Er beschreibt Werdegang und persönliche Handlungsmotive von Norman, Schacht, Strong und ihrem französischen Kollegen Emile Moreau. Er macht deutlich, dass die Grosse De-pression keine unabwendbare Katastro-phe war, die ungeahnt über die Mensch-heit hereinbrach, sondern die Folge fata-

ler Fehlentscheidungen weniger Men-schen. Er zitiert aus Zeitungsartikeln und Fach büchern, arbeitet die komple-xen ökonomischen Zusammenhänge in beeindruckender Detaildichte auf – und schafft es, dass sich die Schilderung so spannend liest wie ein Thriller.

geehrt wurde, arbeitete 25 Jahre lang als Investmentmanager, heute berät er Hedge-Funds. Während des Schreibens konnte er kaum ahnen, welch beklem-mende Aktualität sein Buch im Sommer 2010 gewinnen würde. Die schlimmste Wirtschaftskrise seit der Grossen De-pression ist noch nicht überstanden –

tobt erneut ein Streit, ob die und heute amerikanische Notenbank mit ihren aussergewöhnlich niedrigen Leitzinsen Gefahren heraufbeschwört. Alle Verant-wortlichen sollten Ahamed lesen.

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FinanzgeschichteWie vier Zentralbanker die Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre auslösten

HatdieUS-Notenbanknichtsgelernt?

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24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. September 2010

Thomas Maissen: Geschichte der Schweiz.Hier + jetzt, Baden 2010. 334 Seiten,Fr. 38.–.

Von Beatrix Mesmer

Geschichtsschreibung ist kein harm-loses Unternehmen. Seit der Entstehungvon Nationalstaaten gehört die Kon-struktion von Erzählungen über ferneUrsprünge und verpflichtendes Her-kommen zu ihrer Legitimation gegeninnen und aussen. Diese politischeFunktion der Geschichte ist nicht nurunter Historikern zu einem breit disku-tierten Thema geworden, gerade in derSchweiz, die sich angesichts des Fehlenssprachlicher, konfessioneller und topo-grafischer Klammern als Willensnationversteht. Die Rückprojektion der Leit-bilder Freiheit, Unabhängigkeit, Neutra-lität und Demokratie auf die frühe Eid-genossenschaft und die Konstruktioneines schweizerischen Sonderfallserwiesen sich lange als erfolgreichesMittel nationaler Integration, sie wur-den erst in Frage gestellt, als ihre Ver-wendung zu parteipolitischen Zweckenallzu offensichtlich wurde.

Zwar ist die Gründungssage, diedurch Friedrich Schillers «WilhelmTell»ihr anschauliches Personal erhielt,längst durch die historische Forschungwiderlegt, und die Geschichtswissen-schaft hat sich auch der folgenden Epo-chen bis an die Schwelle der Gegenwartangenommen. Es liegt eine ganze Reihevon Gesamtdarstellungen vor, vonmehrbändigen Werken bis zu hand-lichen Kurzfassungen für den eiligenLeser. Wenn trotzdem in den letztenJahren nach einer neuen Geschichte derSchweiz verlangt wurde, so offenbardeshalb, weil es an einer konsensfähigenErzählung fehlte, die den politisch inte-ressierten Bürgern einen Bezug zur Ver-gangenheit vermittelt, der Wege in dieZukunft öffnet.

Territoriale KontinuitätWer sich diesem Anspruch stellt, dermuss ein hohes Mass an Wissen, Erfah-rung und Verlässlichkeit mitbringen.Thomas Maissen, seit 2004 Professor fürNeuere Geschichte an der UniversitätHeidelberg, verfügt über diese Voraus-setzung, hat er doch sowohl über dasfrühneuzeitliche Staatsverständnis alsauch über die Anfechtungen der Schweizim 20. Jahrhundert geforscht und dane-ben als Mitarbeiter der NZZ die Fähig-keit zu lesergerechtem Schreiben bewie-sen. Der Blick von aussen – sein Buch istam Institute for Advanced Studies inPrinceton entstanden – bürgt für einenheilsamen Abstand von den Querelenim Innern der Schweiz, lässt jedochauch die Besonderheiten ihrer Geschich-te hervortreten.

Zu den Besonderheiten der Eidgenos-senschaft gehört vor allem, so stelltMaissen fest, ihre territoriale Kontinui-

tät, die Tatsache, dass ihre im 16. Jahr-hundert erreichten Aussengrenzen sichbis heute kaum verändert haben. Diesein Europa einzigartige Stabilität ist umsoerstaunlicher, als es zwischen ihren Be-wohnern oft blutig ausgetragene Kon-flikte gab. Wenn die Gegensätze zwi-schen Herrschern und Untertanen, Stadtund Land, Reformierten und Katholiken,Liberalen und Konservativen, Bürger-lichen und Arbeitern nicht zum Ausein-anderbrechen der Schweiz führten, sodeshalb, weil die möglichen Bruchliniennicht deckungsgleich verliefen und jenach Konstellation durch Koalitionenüberbrücktwerdenkonnten.Zusammen-halt, auch wenn er Kompromisse erfor-derte, war allemal der Eingliederung inein benachbartes politisches Gebildevorzuziehen.

Modernisierung von aussenDie räumliche Kontinuität bedeutetjedoch nicht, dass die Schweiz 1291gegründet wurde. Bis die Eidgenossen-schaft zu einem modernen Staatswesenmit demokratischer Verfassung wurde,durchlief sie eine kontinuierliche Trans-formation. Maissen konzentriert sichauf die Etappen des Weges vom Geflechtder Bündnisse innerhalb des HeiligenRömischen Reiches bis zur Uno-Mit-gliedschaft. Er macht deutlich, wie sichdas Verständnis von Herrschaftsaus-übung veränderte, wie Territorial- undNationalstaaten entstanden und wie sielegitimiert wurden.

EidgenossenschaftDerHistorikerThomasMaissen legt eine neue SchweizerGeschichte vor

TransformationeinesLandes

Dabei geht er nicht nur auf die Kon-struktion der schweizerischen Grün-dungssage ein, sondern ebenso auf dieReformation und die Konfessionalisie-rung der Staatenwelt. Erläutert werdenauch die auf völkerrechtlichen Vorga-ben entwickelten Konzepte der Souve-ränität und der Neutralität sowie dassich mit der Aufklärung veränderndeRechtsbewusstsein. Der in ganz Europaseit der Französischen Revolution sichdurchsetzenden Norm des Verfassungs-staates konnte auch die Eidgenossen-schaft sich nicht entziehen: Wenn auchder Einheitsstaat rasch scheiterte unddie Kantone auf ihrer Autonomie be-harrten, brachten doch die VerfassungenRechtsgleichheit und weitgehende Volks-rechte. Diese Modernisierung verän-derte die Schweiz im Innern durch dieVerlagerung der Entscheide auf Verbän-de und Parteien, in den Aussenbezie-hungen bewirkte sie durch die Teilnah-me an internationalen Organisationeneine stärkere Abhängigkeit von den poli-tischen Grosswetterlagen.

Deshalb sollte man, legt Maissen denLesern nahe, den heutigen Staat nichtals unabänderlich in seinem Wesen vor-gegebenes Resultat der historischenEntfaltung sehen, sondern als eine vonvielen, bisher immer wieder erfolg-reichen Leistungen der Anpassung anveränderte Verhältnisse. lBeatrix Mesmer ist emeritierte Profes-sorin für Zeitgeschichte der UniversitätBern.

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Die Schweiz: Resultateiner ständigen An­passung an veränderteVerhältnisse. Im Bilddie Rütliwiese imKanton Uri.

Sachbuch

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26. September 2010 ❘NZZ am Sonntag ❘ 25

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Michael Stausberg: Religion immodernenTourismus. Verlag der Weltreligionen,Berlin 2010. 230 Seiten, Fr. 37.50.

Von Geneviève Lüscher

Es ist erstaunlich: Menschen, die jahr-ein, jahraus keinen Fuss in die Kirchesetzten, besuchen in den Ferien Kirchen,Klöster und Tempel. Eine Städtereisenach Istanbul ohne Besuch der HagiaSophia, Rom ohne den Petersdom oderParis ohne Notre Dame? Undenkbar.Man pilgert wochenlang zu Fuss nachSantiago de Compostela, zeigt sich be-eindruckt von den Tempeln in AngkorWat, spürt sich selber in Stonehengeund glaubt, an besonderen «Kraftorten»wie den Pyramiden der Spiritualität zubegegnen. Urlaub und Religion habenalso etwas miteinander zu tun.

Der Religionswissenschafter MichaelStausberg hat in einem Essay zusam-mengetragen, was ihm zu diesem Pro-blemkreis in den Sinn gekommen ist.Er präsentiert seine Studie als «erstenVersuch, den Überschneidungen vonReligion(en) und Tourismus» auf dieSpur zu kommen. Er will dabei wederdem Tourismus religiöse Weihen zu-sprechen noch die Religionen entwei-hen. Er zeigt, dass und wie sich im Zeit-alter der Globalisierung Tourismus undReligion berühren und überschneiden.

Eine kurze Einleitung zur Geschichtedes Tourismus stimmt den Leser ein.Touristen sind alle, die zu Orten ausser-halb ihres gewöhnlichen Umfeldes rei-sen: Bildungshungrige, Abenteuerlusti-

ge, Kongressteilnehmer, Pilger, Sportler,Ferienhausbesitzer … Die Liste ist end-los, klare Abgrenzungen gibt es nicht.Der Businessmensch besucht eine Flug-hafenkapelle, der Priester schläft in Romin einem Hotel und kauft in LourdesDevotionalien.

In acht Kapiteln breitet Stausbergseine bedenkenswerten Beobachtungenaus, herausgepickt seien die Wallfahrtund der Besuch sakraler Stätten.

Pilgerreisen bilden einen scheinbarunüberbrückbaren Gegensatz zum Tou-rismus: auf der einen Seite das Heilige,Tiefgründige, Jenseitige und die Erlö-sung, auf der anderen das Profane,Oberflächliche und die Erholung. Wall-fahrten gehören zu den ältesten Formendes Reisens und zum Repertoire allergrossen Religionen – auch heute noch.Etliche Pilgerreisen wurden schon imMittelalter unternommen, andere stam-men aus dem 20. Jahrhundert. Sie boo-men derart, dass heute neue Pilgerwegekreiert werden, nicht aus religiösen,sondern aus kulturellen, politischen undökonomischen Gründen. Nach Lourdesbeispielsweise strömen 5 Millionen Be-sucher im Jahr, für indische Wall-fahrsorte und Mekka sind es wohl nochmehr, eine Vermassung, die nicht nurden Charakter der Pilgerstätten verän-dert, sondern auch zu gravierenden öko-logischen Problemen führt.

Wallfahrten sind gemäss Stausbergheute deshalb so populär, «weil sie eingeeignetes Forum für die Inszenierung(…) posttraditioneller Formen von Reli-giosität – oft als Spiritualität bezeichnet– bieten». Über die Schiene der Archi-

tektur, Ästhetik oder Kunstgeschichtegeraten Sakralbauten fremder Religi-onen ins Bewusstsein der Touristen.Man besucht bewusst Kultstätten ande-rer, älterer oder fremder Glaubensrich-tungen, um diese kennenzulernen. Siewerden als Attraktion wahrgenommenund scheinen «das kulturelle Grundge-rüst einer Gesellschaft in verdichteterForm zum Ausdruck zu bringen».

Der Autor schliesst mit der Rückwei-sung seiner beiden Anfangsthesen:Weder entwickelt sich der Tourismus zueinem Religionsersatz, noch säkulari-siert sich der Tourismus. Was aber ge-schieht und warum? Leider vermeidetder Autor jede Wertung und tiefere Ana-lyse, seine Schlussfolgerung ist neutral:«Tourismus und Religion sind keine Ge-gensätze, sondern wichtige Ressourcenfüreinander.» Das lässt die Leserinhungrig zurück – ein spannendes Themaist hier erst angedacht. l

TourismusEinReligionswissenschafter untersucht denZusammenhang zwischenGlauben undReisen

KirchenalstouristischesMuss

In Sakralbautenwie Notre Damein Paris verdichtetsich die Kultur einerGesellschaft.

KulturDerKulturschaffendeUrs Frauchiger erinnert sich an seine EmmentalerKindheit

Warumeiner auszog, dieMusik zu leben

Urs Frauchiger: damals ganz zuerst amanfang. Huber, Frauenfeld 2010.152 Seiten, Fr. 36.–.

Von Martin Walder

Urs Frauchiger, 74, Musiker, Radiomann,Konservatoriumsleiter, Pro-Helvetia-Chef und Dozent, Grossvater geworden,holt Aufzeichnungen über Jahre hervorund tastet sich im inneren Gespräch mitdem Winzling an seine frühe Emmenta-ler Kindheit heran. Er will dabei «nichtsbemühen als meinen alten Kopf». KaumFotos, keine Tagebücher, Chroniken,Oral History, «das lenkt alles nur ab».Spüren, wie es «damals, ganz zuerst, amAnfang» (so heisst’s bei Spitteler) war:

Sehen also, Hören, Riechen, Schmecken,Tasten.

«Ein Heimgehen» in die Sinne. DassErinnern nie mehr unvermittelt seinkann, ist dem Autor keine Krux. Dochder Wunsch, das Gedächtnis bewahresicher, was zu bewahren sich lohnt, er-weist sich natürlich als ein frommer. Sosetzt Frauchiger auf die allmähliche Ver-fertigung des Erinnerns beim Schreiben:Seines ist sinnlich, detailsatt und leuch-tet von damals herüber.

Wir tauchen mit ein in eine helve-tische Kindheit vor dem und währenddes Kriegs, der übers Radio in die Stubedrang, in einem Schulhaus, das einmalein Bauernhof war. Die Mutter war zu-ständig für die Unterstufe, der Vater fürdie Oberstufe, beide pedantisch idealis-

tisch. Das Kind mittendrin und drumherum, genau registrierend, auch das,was verschwiegen, unausgesprochenund unerklärlich blieb und handfest ge-wesen zu sein scheint.

Die Kräche der Eltern, zwei starke,unerlöste Gestalten, so wie sie im Buchaufscheinen, offenbar zerstritten auchim Politischen, unangepasst in der Dorf-gemeinschaft, doch am Lehrerpult undsonntags an der Orgel im Zentrum, ob-serviert vom Schulkommissionspräsi-denten.

Des Kindes Sehnsucht nach VatersNähe geistert illusionslos verschämtdurch das Buch. Von seiner Musik, denMelodien, den Versen und Strophen, istdas Erinnern getränkt. Das, was wohlauch am Ende noch bleibt. l

Sehen also, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten.

Erinnern nie mehr unvermittelt sein kann, ist dem Autor keine Krux. Doch der Wunsch, das Gedächtnis bewahre sicher, was zu bewahren sich lohnt, er-weist sich natürlich als ein frommer. So setzt Frauchiger auf die allmähliche Ver-fertigung des Erinnerns beim Schreiben: Seines ist sinnlich, detailsatt und leuch-tet von damals herüber.

tische Kindheit vor dem und während des Kriegs, der übers Radio in die Stube drang, in einem Schulhaus, das einmal ein Bauernhof war. Die Mutter war zu-ständig für die Unterstufe, der Vater für die Oberstufe, beide pedantisch idealis-

tisch. Das Kind mittendrin und drum herum, genau registrierend, auch das, was verschwiegen, unausgesprochen und unerklärlich blieb und handfest ge-wesen zu sein scheint.

unerlöste Gestalten, so wie sie im Buch aufscheinen, offenbar zerstritten auch im Politischen, unangepasst in der Dorf-gemeinschaft, doch am Lehrerpult und sonntags an der Orgel im Zentrum, ob-serviert vom Schulkommissionspräsi-denten.

Nähe geistert illusionslos verschämt durch das Buch. Von seiner Musik, den Melodien, den Versen und Strophen, ist das Erinnern getränkt. Das, was wohl auch am Ende noch bleibt.

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Sachbuch

26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. September 2010

Die Geschichte derBoston Post Roadprägte die Besiedlungder USA nachhaltig.Autor Eric Jaffe(unten).

DasamerikanischeBuchVom Indianerpfad zum Superhighway

Von Passanten kaum beachtet, steht imBostoner Viertel Roxbury ein verwit-terter Wegstein, der in grossen Letterndie gemeisselten Worte «The PartingStone» und das Datum 1744 trägt. Hiergingen einst der nördliche und dersüdliche Zweig einer Strasse auseinan-der, ohne die Boston heute vermutlichkeine boomende Metropole wäre: dieBoston Post Road. Während der Kolo-nialzeit verband die Strasse im NordenBoston mit Springfield am ConnecticutRiver, um von dort südlich am Flussentlang über Hartford schliesslich NewHaven am Long Island Sound zu errei-chen. Dort traf die Post Road auf ihrensüdlichen Zweig, der von Boston nachProvidence, Rhode Island, und dannweiter an der neuenglischen Küste ent-lang zu der alten Universitätsstadtstrebte. Von New Haven aus verlief diePost Road der Küste folgend nachManhattan, an dessen Südspitze sie amFort James in der Gegend des heutigenBowling Green endete.

Hobby-Archäologen und Lokalhistori-ker haben andere Wegmarken wie Mei-lensteine oder sogar einige wenige, ausder Kolonialzeit erhalten gebliebeneAbschnitte dieser Verkehrsader identi-fiziert. Aber es blieb dem jungen Jour-nalisten Eric Jaffe in seinem erstenBuch The King’s Best Highway. The LostHistory of the Boston Post Road, theRoute That Made America (Scribner,New York 2010, 322 Seiten) vorbehalten,ihre Geschichte zu schreiben. Diese be-ginnt um 1630, als die Puritaner in Bos-ton ihre Fühler nach Westen undSüdwesten ausstreckten. Emissäre und

Kundschafter folgten dabei Indianerpfa-den, die sich wiederum an Wasserläufenund indigenen Dörfern orientierten. DieIndianer hielten ihre Wege durch regel-mässiges Abbrennen von Gestrüpp freiund erleichterten weissen Pionieren da-mit die Eroberung ihrer Heimat. Diesebauten entlang der alten Pfade Siedlun-gen. Deren Zahl war nach dem letztengrossen Indianerkrieg in Neuenglandum 1675 bereits so stark angewachsen,dass die britische Krone einen Post-dienst zwischen Boston und New Yorkeinrichten liess.

«The King’s Best Highway» wird vor al-lem von den grossen Zeitungen entlangder Ostküste stark beachtet. Allerdingskritisiert die «Washington Post» JaffesStil zu Recht als etwas uneben, weil ermitunter blumig formuliert und imSchlusskapitel in die Manier von Jack

Kerouacs «On the Road» verfällt. In-haltlich liesse sich bemängeln, dassJaffe die technische Dimension desStrassenbaus nur am Rande beschreibt,etwa wie die Post Road in verschiede-nen Epochen tatsächlich konstruiertworden ist. Aber dafür gelingt ihm dieDarstellung der Dynamik, die das Le-ben entlang der Verkehrsader bis heuteprägt: Die Strasse transportierte Ideenebenso wie Güter und brachte damitKommunen zum Blühen, die wiederumwachsende Anforderungen an die PostRoad stellten. So wichen Postreiternach dem Unabhängigkeitskrieg regel-mässig neu verkehrenden Kutschen.Diese wurden nach 1835 von Eisenbah-nen überholt, ehe ab 1890 Teerstrassenzunächst für Fahrräder und dann fürAutomobile dem Verlauf des ursprüng-lichen «King’s Highway» folgten.

Die Vehikel stammten zunächst ausden Werkstätten von Erfindern undUnternehmern an der Post Road, die ab1924 den offiziellen Namen «Route 1»trägt. Doch auch die bald vierspurigausgebaute Strasse wurde schon vordem Zweiten Weltkrieg zum Opfer ih-res eigenen Erfolges, als Staus und Un-fälle Rufe nach einem «Superhighway»anschwellen liessen. Dieser entstandunter Präsident Dwight D. Eisenhowerund läuft seither als «I 95» entlang dersüdlichen Trasse der alten Poststrasse.Heute hat auch dieser «InterstateHighway» seine Kapazität längst über-schritten. Aber erstmals in der Ge-schichte der Post Road ist derzeit eineAlternative dazu nicht in Sicht. lVon Andreas Mink

Sita Mazumder: Das Geschäft mit demTerror. Wie sich al-Kaida und Co.finanzieren und was uns ihre Tatenkosten. Orell Füssli, Zürich 2010.157 Seiten, Fr. 37.90.

Von Urs Rauber

Wer über internationalen Terrorismusspricht, beginnt mit dem 11.September2001. Sita Mazumder erinnert sich anjenen Nachmittag, als sie im Swiss Ban-king Institute in Zürich sass und ausdem Radio ungläubig die Meldung ver-nahm, ein Flugzeug sei in das WorldTrade Center gedonnert. Der Horroran-schlag war für die Ökonomin, die geradeihre Dissertation zur «Sorgfalt derSchweizer Banken im Lichte der Kor-ruptionsbekämpfung» eingereicht hatte,Anlass, sich vertieft mit den Finanzie-rungsströmen rund um den Terrorismuszu befassen. Nun legt Mazumder, inzwi-schen Professorin am Institut für Finanz-

dienstleistungen Zug der HochschuleLuzern, eine auf zahlreichen Quellen be-ruhende Studie zum Geschäft mit demTerror vor. Eine Darstellung, die mit dernotwendigen Vorsicht bei Zahlen ope-riert (da es sich immer nur um Schät-zungen handelt) und differenziert argu-mentiert, wo individuelle und kollektiveSchäden bilanziert werden. Zudem istdie knappe Darstellung anschaulich ge-schrieben.

Die Autorin streift die Blutspur desinternationalen Terrors von der Entfüh-rung der «Achille Lauro» (1985) überLockerbie (1988) und Luxor (1997) bisMumbai (2008). Im Zentrum ihrer Aus-führungen stehen jedoch die Gescheh-nisse um 9/11. Die Gesamtkosten des Al-Kaida-Anschlags auf die USA inklusiveRekrutierung, Ausbildung der Terroris-ten, Propaganda, Vorbereitung usw.betrugen 1,1 Milliarden Dollar. Gelder,die überwiegend aus Privatspenden, Fir-mengewinnen, Handel und der religiö-sen Almosensteuer Zakat stammen.

Der Schaden, den die Terroristendamit anrichteten, betrug 32 MilliardenDollar Direktkosten (Sachbeschädigung,Rettungs-/Bergungskosten, Wiederher-stellung, Versicherungsleistungen u.Ä.)und zwischen 511 und 845 MilliardenDollar indirekte Folgekosten (Vergel-tungsmassnahmen,Prozess-undGefäng-niskosten, wirtschaftlicher Outputver-lust, Wertverlust von Firmen usw.).Mögen diese immensen Zahlen auch ab-strus anmuten, ist das Fazit doch ein-deutig: «Mit geringem finanziellem Ein-satz kann ein enormer Schaden ange-richtet werden.»

Der Bekämpfung des Terrors gilt dasletzte Drittel des Buches. Die dort vor-geschlagenen Massnahmen wie etwa dieUnterbindung der Terrorismusfinanzie-rung sind alle sehr vage formuliert undbilden nicht den stärksten Teil der Stu-die. Zuzustimmen ist der Autorin aberbei der Begründung solcher Untersu-chungen: «Nur was wir verstehen, kön-nen wir auch bekämpfen.» l

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TerrorismusWas Gewaltanschläge kosten und welche Schäden sie verursachen

BlutspurdesVerbrechens

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BaselMontag, 4.Oktober, 19 UhrMarcelo Figueras: Der Spion der Zeit.Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus,Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50.

Dienstag, 5. Oktober, 20 UhrRüdiger Safranski: Schopenhauer unddie wilden Jahre der Philosophie.Lesung. Unternehmen Mitte, Gerber-gasse 30, Tel. 061 263 36 63.

Mittwoch, 13.Oktober, 20 UhrSuresh & Jyoti Guptara: Calaspia. DasErbe der Apheristen. Lesung, Fr. 12.–.Thalia, Freie Strasse 32, Tel. 061 264 26 25.

BernDienstag, 5.Oktober, 18 UhrPatricia Purtschert: Früh los. ImGespräch mit Bergsteigerinnen über 70.Alpines Museum, Helvetiaplatz 4,Tel. 031 350 04 40.

Dienstag, 19.Oktober, 20 UhrDaniela Janjic, Marius Popescu: Mutter,wo übernachtet die Sprache? Lesungund Diskussion, Fr. 15.–. ONO Bühne,Kramgasse 6, Tel. 031 312 73 10.

Mittwoch, 27.Oktober, 20 UhrEveline Hasler: Undwerde immer Ihr Freundsein. Lesung, Fr. 12.–.Stauffacher Buchhand-lungen, Neuengasse25/37, Tel. 031 313 63 63.

ZürichSonntag, 3.Oktober, 17 UhrRolf Dobelli: Massimo Marini. Buch-premiere, Lesung, Fr. 15.–. Theater amNeumarkt, Neumarkt 5, VorverkaufTel. 044 267 64 64.

Dienstag, 5.Oktober, 20 UhrMelinda Nadj Abonji: Tauben fliegenauf. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro.Literaturhaus, Limmatquai 62,Tel. 044 254 50 00.

Dienstag, 12.Oktober, 20 UhrIan McEwan: Solar.Lesung, Fr. 25.–. Kauf-leuten, Pelikanplatz 1,Tel. 044 225 33 77.

Donnerstag, 14.Oktober, 20 UhrArnon Grünberg: Mitgenommen.Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literatur-haus (s. oben).

Donnerstag, 21.Oktober, 20.30 UhrFelicitas Mayall: Die Stunde der Zikaden.Lesung, Fr. 15.– inkl. Apéro. Orell Füssli,Theaterstrasse 8, Tel. 0848 849 848.

AgendaOktober 2010

26. September 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27

Mailand, im Juni 2008. Im Zuge polizeilicher Ermitt­lungen gegen die Drogengeschäfte der ’Ndrangheta,des kalabrischen Zweigs der Mafia, wird einmutmassliches Bandenmitglied vor dem Haus seinerSchwester durch Polizisten in Zivil überwältigt. DasBild ist Teil einer Serie, die der 1975 in Italiengeborene Fotograf Alberto Giuliani geschossen hat.Seit 2007 widmet sich der vielfach preisgekrönteRechercheur dem Phänomen der Mafia. Rund hundertseiner beklemmenden Bilder im vorliegenden Bandzeigen jene Landstriche Italiens, die bis heute von der

kriminellen Organisation beherrscht werden. DieFotos werden durch Essays profilierter Autorenergänzt. Zudem enthält das Buch zwei CDmit Liedernder Mafia. Die «canti di malavita» widerlegen denSatz, dass böse Menschen keine Lieder haben, undliefern den folkloristischen Soundtrack zum Grauen.Manfred PapstAlberto Giuliani: Malacarne. Leben mit der Mafia.Texte von Roberto Saviano, Rita Borsellino u.a.Earbooks, Edel Germany, Hamburg 2010. 154 Seiten,100 Abbildungen, 2 CD, Fr. 50.90.

Sachbuch

Bestseller September 2010

Belletristik

Bücher amSonntag Nr.9erscheint am31. 10. 2010

Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher amSonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solangeVorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,8001 Zürich, erhältlich.

Agenda

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MafiaBilderwider das Böse

1 Natascha Kampusch: 3096 Tage.List. 220 Seiten, Fr. 33.90.

2 Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab.DVA. 464 Seiten, Fr. 38.90.

3 Daniel Ammann: King of Oil.Orell Füssli. 320 Seiten, Fr. 39.90.

4 StephenW.Hawking: Der grosse Entwurf.Rowohlt. 192 Seiten, Fr. 37.90.

5 Michael Mittermeier: Achtung Baby!Kiepenheuer & Witsch. 256 Seiten, Fr. 23.50.

6 Annemarie Wildeisen: Das grosse Buch vomFleischgaren. AT. 192 Seiten, Fr. 49.90.

7 Duden. Die deutsche Rechtschreibung,25.Auflage.Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 50.50.

8 Guy Bodenmann, Caroline Brändli: WasPaare stark macht.Beobachter. 224 S., Fr. 38.–.

9 Jonathan Safran Foer: Tiere essen.Kiepenheuer & Witsch. 352 Seiten, Fr. 30.50.

10 Ulrich Detrois, Bad Boy Uli: Höllenritt.Econ. 256 Seiten, Fr. 29.90.

1 Hansjörg Schneider: Hunkeler und die Augendes Oedipus. Diogenes. 240 Seiten, Fr. 29.90.

2 Jonathan Franzen: Freiheit.Rowohlt. 736 Seiten, Fr. 37.90.

3 Lukas Hartmann: Finsteres Glück.Diogenes. 320 Seiten, Fr. 29.90.

4 Ingrid Noll: Ehrenwort.Diogenes. 336 Seiten, Fr. 35.90.

5 Martin Suter: Der Koch.Diogenes. 320 Seiten, Fr. 34.90.

6 Karin Slaughter: Entsetzen.Blanvalet. 512 Seiten, Fr. 31.90.

7 Eveline Hasler: Und werde immer Ihr Freundsein. Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 28.90.

8 Laura Brodie: Ich weiss, du bist hier.DTV. 340 Seiten, Fr. 22.90.

9 Bernhard Schlink: Sommerlügen.Diogenes. 288 Seiten, Fr. 29.90.

10 Tommy Jaud: Hummeldumm.Scherz. 303 Seiten, Fr. 21.90.

Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 14.9. 2010. Preise laut Angaben von www.buch.ch.

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