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SCHRIFTEN DER PHILOSOPHISCH-THEOLOGISCHEN HOCHSCHULE ST. PÖLTEN VERLAG FRIEDRICH PUSTET Michael Stickelbroeck Das Heil des Menschen als Gnade

Michael Stickelbroeck als Gnade · 2020. 1. 16. · SCHRIFTEN DER PHILOSOPHISCH-THEOLOGISCHEN HOCHSCHULE ST. PÖLTEN SCHRIFTEN DER PHILOSOPHISCH-THEOLOGISCHEN HOCHSCHULE ST. PÖLTEN.DE

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    Noch bevor der Mensch sich seine Erlösungsbedürftigkeit eingesteht, stößt er auf ein profundes Ungenügen mit sich selbst. Er ist eben das Wesen der Transzendenz und kann seine Erfüllung nicht darin finden, sich immer mehr anzueignen oder ein vollkommenes Humanum zu realisieren. Er braucht vielmehr die Vereinigung mit Gott, dem ganz Anderen, die in Jesus Christus in höchster Weise geschehen ist, um sich von ihm her auf alle Menschen auszudehnen. »Gnade« bedeutet, dass Gott und Mensch wirklich zusammenfinden, ohne die Freiheit und das Eigensein des Menschen zu mindern. Sie ist – den griechischen Vätertheologen folgend – primär das Geschenk der Vergöttlichung.

    Michael Stickelbroeck Dr. theol. ha bil, geboren 1963, ist Professor für Dogmatik und Ökumenische Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten.

    ISBN 978-3-7917-2586-4

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    Michael Stickelbroeck

    Das Heil des Menschen als Gnade

  • Schriften derPhilosophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten

    Herausgegeben vonJosef Kreiml

    und Michael StickelbroeckBand 6

  • Michael Stickelbroeck

    Das Heil des Menschenals Gnade

    Verlag Friedrich PustetRegensburg

  • Gedruckt mit Unterstützung von:

    Verein der „Freunde der

    Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten“

    ***

    Schebesta u. Holzinger & GrünerSteuerberatungsgesellschaft mbH

    A-3040 Neulengbach . Wiener Straße 42 Tel. 02772/52825-0 . [email protected]

    www.scheho.a t

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

    über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    eISBN 978-3-7917-7041-3 (PDF)

    © 2014 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

    Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg

    eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

    Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:

    ISBN 978-3-7917-2586-4

    Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie unter

    www.verlag-pustet.de

    Kontakt und Bestellung: [email protected]

  • Inhalt

    Vorwort .................................................................................... 11

    A. Einleitung ............................................................................ 131. Aufriss des Problem- und Methodenbewusstseins .............. 131.1. Der Schwerpunkt des Anfangs: das Mühen

    um das Absolute ........................................................ 131.2. Der sprachliche Aspekt .............................................. 14

    1.2.1. Bedeutungsvielfalt des Wortes „Gnade“............ 151.2.2. Sprachspiel...................................................... 151.2.3. Erfahrung und Interpretation ............................ 161.2.4. Hermeneutik ................................................... 18

    2. Erfahrung und Gnade ....................................................... 202.1. Die ontologische Voraussetzung ................................. 202.2. Die psychologischen Voraussetzungen........................ 202.3. Die Dialektik der Gnadenerfahrung ............................ 212.4. „Erfahrung“ von Gnade in einer

    säkularisierten Welt ................................................... 212.5. Neuzeitliche Mentalität: Chancen und Ansätze............ 222.6. Warum es bei der Gnade um das Ganze geht ............... 24

    B. Geschichtliche Grundlegung ............................................... 26I. Der biblische Sinn von Gnade............................................... 261. Semantischer Aspekt: Frage nach der Bedeutungvon „Gnade“ .................................................................... 261.1. Semitische Äquivalente im Alten Testament:

    raḥamīm / ḥēn / ḥesed................................................. 271.2. Das griechische χάρις ................................................ 29

    1.2.1. Xάρις im Hellenismus...................................... 291.2.2. Xάρις in der LXX und der frühchristlichen

    Literatur .......................................................... 29

  • 6 Inhalt

    2. Die Sachbedeutung von Gnade ......................................... 312.1. Im Alten Testament ................................................... 312.2. Normative Gnadenerfahrung im Neuen Testament ...... 32

    2.2.1. Allgemein ....................................................... 322.2.2. Die Synoptiker ................................................ 322.2.3. Die Gnade bei Paulus....................................... 332.2.4. Die christologische Grundlegung der Gnade

    bei Johannes.................................................... 372.2.5. Der zweite Petrusbrief ..................................... 38

    II. Die Gnadenauffassung der Kirchenväter .............................. 401. Die Bedeutung der Väter im Allgemeinen:Kanon / regula fidei / liturgisches Leben:in seinen Grundformen / Evangelium und ratio .................. 40

    2. Typik der östlichen und westlichen Gnadenlehre................ 422.1. Augustinus: Freiheit – Sünde – Gnade ........................ 452.2. Der griechischeOsten:Athanasius – Irenäus –Origenes

    und die Aktualität der Theiosis-Lehre ......................... 462.3. Die außerchristlichen Wurzeln der griechischen

    Vergöttlichungslehre .................................................. 472.4. Die Voraussetzung der östlichen Theiosis-Lehre ......... 482.5. Die kosmisch-anthropologischen Voraussetzungen...... 49

    2.5.1. Die Finalität der Schöpfung.............................. 492.5.2. Die seinshafte Verwandtschaft mit Gott: die

    suggeneia ........................................................ 492.6. Die Phasen der Vergöttlichung ................................... 51

    2.6.1. Die Hypostatische Union ................................. 512.6.2. Der Übergriff auf das Menschengeschlecht ....... 512.6.3. Die Apokatastasis ............................................ 52

    2.7. Ansätze zur Gnade als Habitus bei dengriechischen Vätern ................................................... 522.7.1. Irenäus ............................................................ 532.7.2. Basilius der Große ........................................... 552.7.3. Maximus Confessor ......................................... 56

  • Inhalt 7

    C. Systematisch-theologischer Teil ........................................... 62I. Die Dialektik von „dorean“ (gratis):Transzendenz – Immanenz ................................................... 621. Außerkirchliche Schwierigkeiten ...................................... 641.1. Naturwissenschaft ..................................................... 641.2. Philosophie ............................................................... 651.3. Der Drang nach Exklusivität ...................................... 66

    1.3.1. Der Neonaturalismus ....................................... 661.3.2. Der Supranaturalismus..................................... 66

    2. Die natürlichen Möglichkeitsbedingungenfür echte Vergöttlichung ................................................... 672.1. Aussagen der Offenbarung über Gnade....................... 672.2. Die theologische Reflexion ........................................ 682.3. Der Immanenz-Bezug ................................................ 702.4. Die potentia oboedientialis......................................... 70

    II. Zum Verhältnis von Natur und Gnade .................................. 711. Zum Naturbegriff ............................................................. 711.1. Mensch und visio beatifica......................................... 711.2. Die aristotelische Konzeption von Natur .................... 721.3. Die augustinisch-thomanische Sentenz ...................... 721.4. Die Position Henri de Lubacs ..................................... 741.5. Kritik an de Lubac ..................................................... 75

    2. Desiderium und Strebevermögen ...................................... 763. Das Axiom „gratia praesupponit naturam“......................... 77

    III. Gnade und Trinität ............................................................. 811. Trinität als Grund göttlicher Selbstmitteilung..................... 812. Bibeltheologischer Aspekt ................................................ 843. Theologisch-spekulative Reflexion ................................... 863.1. Begriffliche Klärung.................................................. 863.2. Gnade als Ermöglichungsgrund

    der Gott-Mensch-Relation.......................................... 873.3. Trinität und Mysterium der Vergöttlichung ................. 88

    3.3.1. Die Inkarnation des Wortesund das Mysterium des Übernatürlichen ........... 88

    3.3.2. Der actus essendi als Anknüpfungspunkt vonNatur und Übernatur ........................................ 89

  • 8 Inhalt

    3.3.3. Eine neue Kreatur in Christus........................... 913.3.4. Die Präsenz Christi im Christen........................ 91

    3.4. Die hypostatische Gegenwart und der Versuch ihrerspekulativen Erklärung .............................................. 933.4.1. Begriffliche Unterscheidungen......................... 933.4.2. Versuch einer theologischen Erklärung:

    causalitas efficiens – causalitas formalis ........... 943.4.3. Die gnadentheologische Anwendung ................ 963.4.4. Die Bedeutung der Ontologie

    von Beziehungen ............................................. 973.5. Die trinitarische Applikation der thomanischen

    Erkenntnismetaphysik (visio Dei)............................... 983.6. Resultat..................................................................... 100

    IV. Aspekte der Erbsündenlehre ............................................... 1011. Das Mysterium iniquitatis................................................. 1012. Die Sünde in der Welt des Menschen................................. 1032.1. Die Ursünde .............................................................. 1032.2. Die Folgen der Ursünde ............................................. 105

    2.2.1. Die Beeinträchtigung der imago Dei................. 1062.2.2. Der Verlust der heiligmachenden Gnade ........... 1092.2.3. Die Verschlechterung der menschlichen Natur ... 110

    3. Das Dogma von der allgemeinen Bedeutungund Wirksamkeit der Ursünde ........................................... 113

    4. Inwiefern ist die von den Nachkommen Adams ererbteSünde eine wahre und eigentliche Sünde?.......................... 115

    5. Das Wesen der Erbsündeund ihre besonderen Eigenschaften ................................... 117

    6. Die Stellung der Sünde im Heilsplan Gottes ...................... 121V. Die Notwendigkeit der Gnade und die Freiheitdes Menschen ..................................................................... 1231. Die pelagianische Kontroverse.......................................... 1232. Der Semipelagianismus .................................................... 1253. Die Wirksamkeit der Gnade Christi ................................... 1284. Ist die aufhelfende Gnade (gratia elevans)für jeden Heilsakt notwendig?........................................... 1294.1. Der indiculus gratiae.................................................. 129

  • Inhalt 9

    4.2. Die Synode von Orange (Arausicanum II) .................. 1334.3. Die Notwendigkeit der gratia sanans

    für die Wiedergeborenen ............................................ 1374.4. Die Gnade der Beharrlichkeit ..................................... 138

    5. Gnade und Freiheit ........................................................... 1405.1. Der Jansenismus........................................................ 1405.2. Das Problem der Prädestination.................................. 1415.3. Theologische Reflexion über die gratia efficax ........... 142

    5.3.1. Der Bañezianismus .......................................... 1435.3.2. Der Molinismus............................................... 1445.3.3. Antonin-Dalmace Sertillanges.......................... 146

    6. Die Einteilung der Wirkgnade .......................................... 147VI. Warum bedarf es einer geschaffenen Gnade

    (gratia creata)?.................................................................. 1491. Das theologische und metaphysische Verständnisder Tradition in der „Summa Theologiae“des Thomas von Aquin ..................................................... 149

    2. Die Rezeption durch das Lehramt der Kirche .................... 1543. Exkurs: Die gratia creata bei Bernhard Lonergan ............... 1573.1. Die ungeschaffene Gnade ist Gott selbst, sofern er in

    den Sendungen zur Gabe wird .................................... 1573.2. Geschaffene Partizipation an den

    innergöttlichen Relationen ......................................... 1593.3. Zur Theologie der geschaffenen Gnade....................... 1633.4. Zwei andere Erklärungen des Verhältnisses

    zwischen ungeschaffener und geschaffener Gnade ....... 1664. Eine heute wieder zu entdeckende Tradition ..................... 169

    VII. Sünde und Rechtfertigung................................................. 1741. Der Begriff der Rechtfertigung ......................................... 1741.1. Die Frage nach dem Recht-Sein des Menschen ........... 1741.2. Die Unentbehrlichkeit des Begriffs „Rechtfertigung“... 1741.3. Zur Aktualität von Rechtfertigung .............................. 177

    1.3.1. Das Problem der nicht erlangtenRechtfertigung in der Literatur ......................... 177

    1.3.2. Das Auftreten der Sinnfrage ............................. 178

  • 10 Inhalt

    2. Gnade und Rechtfertigung bei Paulus ................................ 1802.1. Thorafrömmigkeit ..................................................... 1802.2. Sünde und Rechtfertigung.......................................... 182

    3. Die Rechtfertigungsgnade bei Martin Luther ..................... 1843.1. Die fremde Gnade (gratia aliena)................................ 1863.2. Die doppelte Gerechtigkeit......................................... 189

    4. Melanchthons Abschwächung........................................... 1945. Die Antwort des Konzils von Trient .................................. 1966. Der forensische Charakter der Rechtfertigungbei den Reformatoren ....................................................... 199

    7. Die katholische Position ................................................... 2007.1. Der Mensch als mittätiger Empfänger der Gnade ........ 2017.2. Die ekklesiale Dimension der Rechtfertigung.............. 202

    VIII. Gnade und Heil: Der allgemeine Heilswille Gottes ........... 2081. Die Prädestination ............................................................ 2081.1. Prädestination und Kontingenz................................... 2081.2. Der exegetische Befund ............................................. 2091.3. Positive Bedeutung .................................................... 2101.4. Motive für die – irrtümliche – doppelte

    Prädestination (praedestinatio gemina) ....................... 2102. Das Heil der Nichtglaubenden .......................................... 2142.1. Jesus Christus – universaler Mittler des Heils.............. 2142.2. Die Lehre des II. Vatikanischen Konzils ..................... 2162.3. Die heilshafte Stellvertretung der Kirche .................... 217

    Bibliographie ............................................................................ 222

    Personenregister ....................................................................... 229

  • Vorwort

    Wer sich von den neuen Studienplänen, die aus der Bologna-Reformhervorgegangen sind, bestimmen lassen wollte, würde wohl kaumeine neue Version der Gnadenlehre anbieten. Es scheint so, als seiGnade für den gegenwärtigen theologischen Diskurs keine entschei-dende Kategorie mehr. Die Gnadenlehre, wiewohl sie das Ganzeder Theologie reflektiert, scheint sich – infolge der Studienreform –zu deren Stiefkind entwickelt zu haben, sind doch viele ihrer Themenin die „Theologische Anthropologie“ oder in die „Pneumatologie“abgewandert. Dies verwundert umso mehr, als ja die Theologie eineReflexion des Glaubens sein will, der es von Anfang an mit der freienZuwendung Gottes zu den Menschen, d. h. mit „Gnade“, zu tun hat.Da das Thema durch alle anderen theologischen Traktate läuft,

    scheint es mir von der Sache her geboten, die Gnadenlehre alseigenen „transzendentalen“ Gegenstand aufzufassen, der eine selb-ständige Behandlung verdient. Aus diesem Grund habe ich michentschlossen, diesen Band zu präsentieren, in dem das mit dem –inzwischen ungeläufigen – Wort „Gnade“ Bezeichnete neu in denFocus der Aufmerksamkeit gestellt werden soll. Da der alte Gnaden-streit abgeschlossen ist, ohne je entschieden worden zu sein, werdenThemen, die damit in Verbindung stehen, nur aus historischem In-teresse kurz gestreift.Inhaltlich wird der Schwerpunkt auf die überragende Bedeutung

    der patristischen Vergöttlichungslehre, das natürliche Verlangennach der Gnade (desiderium naturale), den Primat der ungeschaf-fenen vor der – nicht minder notwendigen – geschaffenen Gnadeund das rechte Zueinander von Natur und Gnade gelegt. Es mussaber auch die freie Antwort des Menschen auf das GnadenangebotGottes bedacht werden. Als unbedingt geboten schien es auch, aufdas von Paulus und Luther nahegelegte Thema „Rechtfertigung“des Menschen einzugehen, und das nicht nur aus ökumenischemInteresse. Die Frage, ob der Mensch sich denn selbst rechtfertigen

  • 12 Vorwort

    könne und wie sich der Mangel an Rechtfertigung als ein zentralesLebensproblem bemerkbar macht, wird heute – auch in der Lite-ratur – mit einiger Sensibilität neu gestellt. Die Behandlung derThemen erfolgt im Gespräch mit der zeitgenössischen Theologie,orientiert sich jedoch oftmals an Grundintuitionen des – authentischgelesenen – Thomas von Aquin (nicht an dessen neuscholastischerVerfremdung), und steht in weiten Strecken unter der systematischen,obwohl nicht expliziten, Inspiration Matthias Joseph Scheebens. DerLeser möge es mir nachsehen, dass manche Passagen durch die be-griffliche Anlehnung an Thomas eine etwas scholastisch anmutendeDiktion aufweisen. Manche Kapitel dienen mehr der Einführung indie Theologie der Gnade, andere der Vertiefung.Großen Dank schulde ich meinen Hörern an der Philosophisch-

    Theologischen Hochschule St. Pölten für die Rückfragen zum Themaund die wertvollen Diskussionen, außerdem Herrn Oliver Schnitz-ler (Chicago), Herrn Prof. Dr. Josef Kreiml und Herrn Dr. RobertFriedrich Schmidt für die kritische Lektüre des Manuskripts. Dievon Herrn Andreas Wagner übernommene Erstellung des Druck-satzes und des Autorenverzeichnisses hat die Fertigstellung derArbeit in nicht geringem Maße beschleunigt. Aufrichtiger Dank giltebenso Herrn Dr. Rudolf Zwank, dem Lektor des Pustet-Verlages,für die bewährt kompetente Zusammenarbeit, auch dem Verein derSt. Pöltener Hochschulfreunde und der SteuerberatungsgesellschaftSchebesta u. Holzinger & Grüner (Neulengbach) für die Gewährungeines erheblichen Druckkostenzuschusses.

    St. Pölten, am Fest des hl. Johannes vom Kreuz,14. Dezember 2013

    Michael Stickelbroeck

  • A. Einleitung

    1. Aufriss des Problem- und Methodenbewusstseins

    Wer Theologie treibt, hat es mit der sich offenbarenden WirklichkeitGottes zu tun. Da diese Offenbarung für den glaubenden Menschenim Medium der Sprache zugänglich wird, geht es auch um Begriffe,die in der Theologie im Lauf der Geschichte geboren worden sind.Somuss eine Lehre über die Gnade darauf bedacht sein, den Begriffs-inhalt von „Gnade“ zu erschließen und zu erhellen. Dabei muss manaber wissen, dass die Theologie nur ein Versuch sein kann, da sie esmit Geheimnissen und Wirklichkeiten zu tun hat, die den Horizontunseres begrifflichen Denkens übersteigen und die wir deshalb nichtmit unserem beschränkten Verstand adäquat erfassen können.

    1.1. Der Schwerpunkt des Anfangs: das Mühenum das Absolute

    In der Theologie nimmt die Reflexion ihrenAnfang bei demGott, dersich in der Geschichte geoffenbart hat. Dieser Gott ist das Absoluteschlechthin. Ihm gegenüber hat die innerweltliche Erfahrungswirk-lichkeit einen nur relativen Status. Der Anspruch der Theologie gehtnun auf die Erkenntnis des Absoluten im Horizont des Seins (nichtdes Seienden). Dabei sind der menschlichen Reflexion Grenzengesetzt: Wir selbst stehen im Sein; wir werden von ihm umgriffen.Das Sein ist sowohl in dem, der sich auf die Wirklichkeit bezieht,als auch über ihm. Es verfügt über ihn. Die Vernunft des Menschenist wesentlich auf das Sein hin offen; sie ist darauf ausgerichtet. Siegeht jedoch über (griech.: meta) das empirisch-positive Sein hinaus;sie ist empfänglich für das gründende, das metaphysische Sein.

  • 14 A. Einleitung

    1.2. Der sprachliche Aspekt

    Ist die Betrachtung des Seins als des letzten Absoluten Aufgabeder Philosophie, so geht es der Theologie um die Reflexion auf dasAbsolute, insofern es sich selbst dem Menschen in der Geschichtepersonal zuwendet. Die Gnadenlehre hat es mit dem Absolutenals Absoluten, insofern es sich offenbart, zu tun. Sie betrachtetGott, wie er sich der menschlichen Erfahrungswelt mitteilt, d. h. alsGnade. Gott selbst ist Gnade, insofern er sich für uns ins Wort fasstund so „verstanden“ werden kann. Gnade ist daher zunächst einElement, ein Mittel der menschlichen Sprache. Gnade ist zunächstein „Wort“. Gnade gibt es, weil es das Wort „Gnade“ gibt, weilMenschen davon sprechen, dass Gott uns nahe kommt, für uns da ist– durch Menschen, die von ihm sprechen, nach ihm leben, von ihmergriffen sind.1 Folglich löst sich Gott in der Welt auf, wenn überihn nicht mehr gesprochen wird. Er entrinnt dann gewissermaßender Erfahrungswelt des Menschen. Heute besteht das große Problemdarin, dass der Mensch in einer Welt und Gesellschaft lebt, in denenGott nicht mehr vorkommt; insofern zeigen sie sich ihm immerauswegloser.Gott ist eine übergreifende Wirklichkeit, die aber nur als Realität

    erfahren wird, sofern sie in der Erfahrung des Menschen gegenwär-tig ist. So hat denn die Literatur vielfach die Abwesenheit Gottesthematisiert.2

    1 Dies ist hier vor allem in erkenntnis-psychologischer Hinsicht zu verste-hen. Damit soll nicht geleugnet werden, dass die Realität der Gnade schonvor dem menschlichen Wort existiert. Begriffe und Worte, die diese be-zeichnen, sind deshalb gebildet worden, um eine Wirklichkeit, die ihnenvorangeht, auszudrücken. Sofern der Mensch aber Mitglied einer Sprach-gemeinschaft ist, wird vieles für ihn zunächst nur über die Worte, die vonetwas reden, indem sie sich auf das Gemeinte beziehen, fassbar.

    2 Vgl. J.-H. Tück, Die Angst zu vergessen, 314–327.

  • 1. Aufriss des Problem- und Methodenbewusstseins 15

    1.2.1. Bedeutungsvielfalt des Wortes „Gnade“

    Das Wort „Gnade“ weist auf das Absolute hin, ohne jedoch dasAbsolute zu sein. Es erweist sich als geschichtlich bedingter undgewachsener Ausdruck für Gottes Heilshandeln am Menschen. Wasversteht man heute unter „Gnade“? Was ist ihre innere Wahrheit?Die Beantwortung dieser Frage führt zu der Einsicht, dass das Wort„Gnade“ eine Pluralität an Bedeutungen hat: Gnade als künstlerischeBegabung, als etwas, woraufman keinenAnspruch hat, Begnadigungals Strafnachlass, heiligmachende Gnade. Für viele Zeitgenossenhat „Gnade“ – im theologischen Sinn – überhaupt keine Bedeutung.Sie sagen, es handle sich dabei um eine Worthülse. Worin liegt derGrund für diese Pluralität?Wenn man die verschiedenen Bedeutungen von „Gnade“ betrach-

    tet, wird man entdecken, dass sie sich auf den jeweiligen Kontextdessen beziehen, der von dieser oder jener Bedeutung des Wortesausgeht: der Richter hat seinen juridischen Kontext, der Katechetspricht bei der Taufe von der heiligmachenden Gnade. Der Bedeu-tungsinhalt von „Gnade“ variiert also mit dem Verstehenshorizontdes jeweiligen Menschen.

    1.2.2. Sprachspiel

    Bekanntlich hat LudwigWittgenstein den engenZusammenhang zwi-schen Sprache und der konkreten Situation des Menschen „Sprach-spiel“ genannt.3 Dabei unterschied er zwei Ebenen: 1) die Einbettungdes Wortlautes in einen Handlungskontext (Zeichenverwendungssi-tuation) und 2) das Wort und Handlungsgeschehen im Kontext derSprachgemeinschaft.Ein Wort wird verwendet in einem Kontext, in einer Situation.

    Diese erst gibt demWort seinen tatsächlichen Sinn.DerGebrauch desWortes wird von der Sprachgemeinschaft festgelegt. Die jeweilige

    3 Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M.2001, § 23.

  • 16 A. Einleitung

    Situation, in der man steht, entscheidet über den Bedeutungsgehalteines Wortes oder Begriffes: Die Theologie etwa verwendet „Gnade“anders als der Dichter. Die Sprachwelten entstehen deshalb, weiles Menschen einer bestimmten Lebenswelt sind, die die Sprachesprechen. Jeder Mensch lebt in einer bestimmten Daseinserfahrung,deren Produkt die Sprachwelt ist. Durch die Wandlung der Daseins-erfahrung verändert sich auch die Sprachwelt. Sprache ist gleichsameine Projektion der inneren Welt des Menschen. Hierin liegt dieWandlung im Gnadenbegriff begründet.Erst ein Wort hebt eine Realität in die Gegenwart, gibt ihr Ge-

    genwartsbedeutung. Doch ein Wort ist nicht selten ohne Bedeutung,weil die notwendige Lebensform fehlt. So verliert das Wort „Ge-horsam“ z. B. kirchlich seine Bedeutung, wenn der Glaube als dieihm gemäße Lebensform verdunstet. So geht es auch Begriffen, diein der katechetischen Mystagogie gebraucht werden, wenn die ent-sprechende Lebensform der Liturgie, das Erleben der Liturgie, fehlt.Wenn das Opfern aus der Mode gekommen ist, dann verschwindetkonsequenterweise auch die Bedeutung von „Opfer“.Wenn in den 70er-Jahren gesagt wurde, Gott sei tot, so war dies

    nicht unbedingt ontologisch zu verstehen. Er kann aber aufhören,für die Menschen eine Rolle zu spielen, weil er für viele nichtin ihrem Erfahrungshorizont anzutreffen ist. Beim Sprechen überGnade bleibt festzuhalten: Begriffe können das Bewusstsein desMenschen verändern und damit auch die Sicht auf die Wirklich-keit.

    1.2.3. Erfahrung und Interpretation

    Man spricht gerne von Erfahrung, wenn es darum geht, etwas durchunmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit zu lernen. Erfahrungist verarbeitete Wahrnehmung. Diese kommt zustande durch dieBegegnung mit den Dingen (phainómena). Erfahrung ist damit einZusammenspiel zwischen dem Menschen und den begegnendenZentren von Wirklichkeit (Dingen und Personen). Doch das je neuErfahrene wird erfasst, indem es in schon Bekanntes eingeordnet

  • 1. Aufriss des Problem- und Methodenbewusstseins 17

    wird. Unsere schon erlangte Erschließung der Wirklichkeit eröff-net die Möglichkeit neuer Erfahrungen. Durch das, was wir alsSubjekte immer schon mitbringen, wird uns das Objekt und seineWahrnehmung eröffnet. Daher vollzieht sich Erfahrung dialektisch,im Austausch zwischen Objekt und Subjekt, das aufgrund seinerrationalen Veranlagung auf das Sein und auf die Wesenheiten dermateriellen Dinge als seinem eigentümlichen Objekt ausgerichtetist. Man könnte hier von der Finalität der menschlichen Ratio spre-chen.Objekterfahrung ist nicht nur die Erfahrung des Objektes in sei-

    nem An-sich-Sein, sondern auch stets interpretierte Erfahrung imRaum des Subjektes. In der Subjekt-Objekt-Begegnung findet dennauch eine Assimilation statt, insofern das Objekt unserem Seins-horizont angeglichen wird. Als Beispiel ließe sich hier anführen,dass der Erwachsene und das Kind beim Hören von Musik objektivdas Gleiche vernehmen; doch vom Standpunkt beider Subjekte aushat die Musikerfahrung eine andere Bedeutung. Jedes der Subjekteempfängt oder erfährt die Musik anders, d. h. im Horizont seinesSeins. Mit anderen Worten: Das Subjekt vermag das Objekt nichtin seiner reinen Faktizität aufzunehmen; immer schon geht es uminterpretierte Aufnahme, um Assimilation. Dieser Anteil der Subjek-tivität im Erkenntnisprozess muss nicht als kantisches „Setzen“ vonRealität aufgefasst werden; vielmehr geht es um ein Rezipieren derWirklichkeit durch die Subjektivität, die durch Erkenntnisprinzipienund bisherige Erfahrungen vorgeprägt ist.Der Glaube könnte dafür als Beispiel dienen. Er ist ein Apriori

    in diesem Sinne. Der religiöse Mensch sieht die Dinge der Wirk-lichkeit und die Ereignisse der Geschichte von Gott her und deutetsie im Horizont des Glaubens. Die Erfahrungen werden in einesprachliche Form gebracht. Dadurch kommt es zu einem Interpre-tament.Mittels der Sprache ist unsere Subjektivität geprägt worden; sie

    verbindet uns mit der Tradition. Dabei verdeckt der subjektive Anteilim Erkenntnisprozess das Objekt nicht, sondern entdeckt es. Wirantizipieren zwar die Wirklichkeit, aber durch unsere Intentionalitätrichten wir uns stets auf das objektiv Wahre.

  • 18 A. Einleitung

    1.2.4. Hermeneutik

    Wo es um die Deutung von geschichtlich Überkommenem geht,spricht man von „Hermeneutik“ (griech.: hermeneúein: deuten, er-klären, auslegen). Die Hermeneutik hat ihren Ort im Vorgang derInterpretation dessen, was objektiv begegnet. Jede gute Hermeneu-tik ist eine Synthese von Tradition und Situation. Dabei verstehtman unter Tradition den breiten Strom der Überlieferung, die dasUrsprüngliche bewahrt, um es bleibend gegenwärtig zu setzen, d. h.in die Gegenwart zu vermitteln oder zu tradieren. Innerhalb dieserSpannung von Tradition und Situation bewegt sich die Dogmatik,die ja die Dogmen der Tradition in das Verstehen von Heute zuübersetzen hat.Schon das Kerygma, die apostolische Verkündigung, ist die Um-

    setzung des objektiv von Jesus Vollbrachten und an ihm Geschehe-nen in das „Für uns“, in dem es immer neu bedeutsam wird. Alledogmatischen Aussagen über Jesus sind nur von Bedeutung in ih-rer soteriologischen Relevanz, in ihrem „pro nobis“ (griech.: hypèrhemōn). Jesus als historische Person an sich, als jemand, der vorzweitausend Jahren gelebt hat, wäre für uns eigentlich unbedeutend,wenn wir ihm nicht im Heute unseres Glaubens begegnen könnten.4Das Wort, das Gott zu uns spricht, wird von der Subjektivität

    des Menschen rezipiert. Dessen Aussagen über Gott aufgrund derOffenbarung sind daher immer schon von subjektiver Interpretationa priori eingefangen. Mit anderen Worten: Gott begegnet uns nichtmit seiner Stimme; er spricht zu uns nur vermittelt, indem er inJesus Christus in unser weltliches Dasein eintritt. Das Wort Gotteserreicht uns durch Jesus, sofern er Mensch ist. Genau das meinenwir ja, wenn wir von „Inkarnation“ reden. Und so bedient sichGott der Geschichte des menschlichen Bewusstseins, das durchvorauslaufende Vorbereitung gewachsen ist – einer von ihm selbstinszenierten Vermittlung durch die Thora und die Propheten –, und

    4 Natürlich ist das objektiveHeilswerk Christi auch in sich bedeutsam, selbstfür jene, die ihn zeit ihres Lebens ignorieren wollten oder der Person Jesunie begegnen konnten, weil sie nie von ihm gehört haben.

  • 1. Aufriss des Problem- und Methodenbewusstseins 19

    schließlich der Verkündigung Jesu. Ferner bedient er sich der Kirche,durch deren Verkündigung das Wort Gottes uns erreicht.Gottes Wort muss so zur Sprache gebracht werden, dass es im

    Horizont des heutigen Menschen verstanden wird. Von daher istdie Hermeneutik ein unentbehrliches Moment in der dogmatischenVermittlung der Heilswahrheit. Aufgabe der Hermeneutik ist es, dieRelevanz der dogmatischen Glaubensaussage zu sichern, ohne damitjedoch ihre Identität preiszugeben. Gerade indem sich OffenbarungGottes im Horizont menschlicher Glaubenserfahrung, menschlichenVerstehens und Bewusstseins vollzieht und Gnade stets erfahrenwird im Apriori unserer Subjektivität, wird die Hermeneutik auf denPlan gerufen.Die Zeitgenossen Jesu – etwa die Jünger und das Volk – erle-

    ben die Wirklichkeit Jesu Christi als historisches Faktum. DieseErfahrung war aber immer schon subjektive, interpretierte Erfah-rung, insofern sie im Kontext der entsprechenden, höchst eigenenHeilserwartungen stand, wie sie in dieser Zeit lebendig waren. Got-tes Offenbarung, sein Wort, ist der geschichtlichen Entwicklungunterworfen, weil es nur vermittelt – in der Schale der menschli-chen Sprache – zu uns kommt. Der eigentliche Inhalt der Botschaftgelangt zu uns nur im Medium einer Schale, durch eine Sprach-form, die wieder abhängig ist von einer bestimmten Denkweise. AlsMenschen, als Geist-Leib-Personen, haben wir Zugang zum Wesen,zum Inhalt durch die Vermittlung einer Form, eines Symbols, derSprache.

  • 20 A. Einleitung

    2. Erfahrung und Gnade

    Wenn Gott in der Sprache eine wirksame Gegenwart in der Weltbesitzt, wenn er der Sinn ist, der unser Dasein erhellt, dann darf esnicht schwer fallen, von „Erfahrung der Gnade“ zu sprechen.

    2.1. Die ontologische Voraussetzung

    Die ontologische Voraussetzung ist die vom Wesen des Menschenher bestimmte grundsätzliche Offenheit (Potentialität) für die Gnade,die sogenannte potentia oboedientialis. Der Mensch ist in seinemWesen für Gott bestimmt; Gott kann in seiner Freiheit zumMenschenhintreten und für diesen Gnade sein. Wenn dem aber so ist, dann sindalle existentiellen Situationen des Menschen grundsätzlich offen fürdie Gnade Gottes, weil sie den Menschen als Menschen erreichensoll – unabhängig von seiner jeweiligen geschichtlichen Verfasstheit.Diese Potentialität des Menschen hängt mit seinem bleibenden, alleexistentiellen Situationen transzendierenden Wesen zusammen.

    2.2. Die psychologischen Voraussetzungen

    Die Gotteserfahrung hängt auch von psychologischen Erlebnissen ab.So ist etwa die Vater-Beziehung des Kindes mit maßgebend für seinGottesbild. Dies soll aber nicht heißen, dass die Vorstellung, die wirals Menschen von Gott haben, durch psychologische Erfahrungendeterminiert ist. Schlechte Erfahrungen mit Menschen, die Repräsen-tanten Gottes sein sollten, wie z. B. der eigene Vater, können durchandere Erfahrungen oder durch eigenes Nachdenken überwundenwerden, weil diese Menschen weder die einzigen RepräsentantenGottes und noch weniger Gott selber sind. Gott bleibt ja immer derje größere. Die Abwesenheit des Vaters in den Familien erschwertzweifellos den Zugang zu einem Gott, der dem Menschen nichtalles durchgehen lässt, sondern Pflichten auferlegt: die Befolgungsittlicher Gebote, das persönliche Gebet, die Teilnahme am Kult etc.

  • 2. Erfahrung und Gnade 21

    2.3. Die Dialektik der Gnadenerfahrung

    In der Befreiungstheologie wurde behauptet, dass Gnade im Kontextsozial-ökonomischer Fakten konkret erfahrbar sein müsse. Gnadewird dabei reduziert auf ein System und Programm. Sie wird iden-tisch mit sozialer Gerechtigkeit und irdischem Wohlergehen. Gnadeist aber bei weitemmehr: Gnadenerfahrung heißt Gott erfahren. HierimDiesseits können sich Glaube und Erfahrung nur zumTeil decken;es gibt keine absolute Identität zwischen beiden. Zu unterscheidenist zwischen dem zu vermittelnden Inhalt und der Art seiner Vermitt-lung. Dabei gilt es, stets die unsagbare Differenz zwischen beidemvor Augen zu haben.

    2.4. „Erfahrung“ von Gnade in einer säkularisierten Welt

    Die Problematik der Befreiungstheologie findet sich wieder beiKarl Rahner und Edward Schillebeeckx. Beide gehen von einemanthropozentrischen Denken aus. Schillebeeckx meint, Gott offen-bare sich selbst, indem er dem Menschen sage, wer der Mensch sei.Gottesoffenbarung sei Offenbarung des Menschen.5 Die Gottesof-fenbarung deckt sich mit der Selbsterfahrung des Menschen, mitseiner irdischen Vollendung. Gotteserfahrung ist für ihn letztendlichReflexion des Menschseins. Für Schillebeeckx wird Gott da erfah-ren, wo der Mensch seine Vollendung als gesellschaftliches Subjekterfährt. Gotteserfahrung, Gnade ist dann die höchste Aktualisierungdes Menschseins. Gott wird bei ihm undifferenziert identifiziert mitder Wirklichkeit des Humanum, mit dem Menschen als Brennpunktaller Wirklichkeit.6 Diese Auffassung steht jedoch in krassem Wi-derspruch zur traditionellen Theologie, für die Gott nicht in seinem

    5 Zur Gnadentheologie Karl Rahners vgl. R. Schenk, Die Gnade vollende-ter Endlichkeit: zur transzendentaltheologischen Auslegung der thomani-schen Anthropologie (FThS 135), Freiburg 1989.

    6 Vgl. E. Schillebeeckx, Erfahrung und Glaube, 76ff.; auch R. J. Schreiter(Hg.), Edward-Schillbeeckx-Lesebuch, Freiburg 1984, 93–107.

  • 22 A. Einleitung

    Selbst in unserer Wirklichkeit erscheint, da er nur causa efficiens(Wirkursache) der Gesamtwirklichkeit ist. Nur in Jesus Christusoffenbart sich Gott ontologisch als er selbst. Für Schillebeeckx wieauch für Rahner ist Jesus Christus der Inbegriff des Menschseins.7In Jesu Menschlichkeit wird zugleich Gott erfahren.Man kann indes Gott – so wie er in sich selbst ist – nicht erkennen,

    indem man den Menschen erkennt.8 Man kann Gott nur durch Gotterkennen; im Glauben wird er zum prägenden Moment in unseremBewusstsein. Gott macht uns fähig, ihn selbst zu erkennen. Gnaden-bzw. Gotteserfahrung ist zwar immer eingebettet in unsere Erfah-rungswelt, aber sie geht nicht darin auf. Die letzte Vollendung desMenschen kann niemals innerweltlich geschehen. Zur „Definition“Gottes wird die Welt erst, wenn er alles in allem sein wird. Bis dahinaber besteht eine nicht hintergehbare Spannung von Gotteserfahrungund Menschenerfahrung. In diese Spannung hinein ist der Glaubegesetzt, der freilich die Erfahrung auf Gott selbst hin transzendiert.

    2.5. Neuzeitliche Mentalität: Chancen und Ansätze

    Die mangelnde Vertrautheit mit dem liturgischen Gebet der Kircheaufgrund der schwindenden Glaubenspraxis führt zu einer Abstrakt-heit der Sprache kirchlicher Verkündigung, deren Inhalte durch diefehlende liturgische Sozialisation nicht mehr verstanden werden.Die Sprache des Glaubens bedarf aber einer „Erdung“ in einer christ-lichen Lebenskultur, zu der auch die regelmäßige Präsenz im Raumdes kirchlichen Betens gehört. Die katechetische Glaubensvermitt-lung kann sich heute weitgehend nicht mehr auf den gelebtenVollzugdes Glaubens stützen. So verlieren die sprachlichen Ausdrucksmit-tel ihre inhaltliche Resonanz, ganz gleich, ob von „Gott“, „Bund“,„Erwählung“, „Heil“, „Erlösung“ oder „Gnade“ gesprochen wird.

    7 Vgl. K. Rahner, Grundkurs, 311–312.8 Die Konstitution des Menschen ist nur Teil der natürlichen Offenbarung

    Gottes, sofern er ja denMenschen nach seinem Bild und Gleichnis erschaf-fen hat.

  • 2. Erfahrung und Gnade 23

    Obwohl das Wort „Gnade“ für viele zu einer Art Worthülse gewor-den zu sein scheint, kann man fragen: Gibt es Daseinsstrukturen,Ansatzpunkte für die Gnadenbotschaft in einer säkularisierten Welt?Aus der Neuzeit überkommen ist für den Zeitgenossen die starke

    Subjektivität, der Zug zur Selbstsetzung, Selbstgestaltung (Selbstin-szenierung) und das Bedürfnis nach Autonomie, und das, obwohldas autonome Subjekt der Moderne bereits viele Brüche erfahrenhat.Dazu kommt noch ein Weiteres: Die Menschen wollen heute

    nicht mehr angewiesen sein auf die Gnade eines anderen. Sie wol-len Rechte haben. Das Wort „Gnade“ lebt darum nur noch in einerironischen Reminiszenz dessen, was einmal gegolten hat. Die Geis-teshaltung der Moderne hatte bereits das Charakteristikum, sich imGegensatz zu dem zu verstehen, was „Gnade“ meint. Der Menschist geneigt, nur sich selbst als Norm und Maßstab für seine Lebens-gestaltung gelten zu lassen. Daneben tritt das Leistungsprinzip: DasSelber-Machen wird ganz hoch angesetzt. Daher rührt es, dass dasWort „Gnade“ im heutigen Bewusstsein negativ besetzt ist.Was der Mensch bei der Durchschreitung der Welt findet, sind

    letztlich immer Spuren seiner selbst oder dessen, was er gemachthat (Technik). Hier stellt sich die Frage, ob der Mensch, der seinemDasein selbst Sinn und Richtung verleiht (Existentialismus) oderverleihen zu können meint, sein Sein selbst gestalten kann. Oder sinddas Sein und das Wesen des Seins ihm vorgegeben? Gehören Sinn,Bedeutung und Wesen zu den Artefakten? Sind sie machbar? DiePhilosophie sagt uns, dass bei der Frage nach dem Sinn der Blickauf das Absolute gerichtet ist.Einen Ansatz für die Gnadenbotschaft gewinnt man dort, wo

    man die Aufmerksamkeit auf das Nicht-Selbstverständliche inmittendes vermeintlich Selbstverständlichen richtet. So macht der Menschin den Augenblicken, wo ihm Freundschaft geschenkt wird, wo ereine absolute Güte erfährt, wo er sich geliebt weiß, Teilerfahrungenvon Gnade.

  • 24 A. Einleitung

    2.6. Warum es bei der Gnade um das Ganze geht

    Auch in der Theologie ist Gnade vieldeutig; so sprechen wir von„habitueller“ Gnade, „aktueller“ Gnade, „heilender“ Gnade etc. Gibtes hier eine gemeinsame Bedeutung, die allen in der Theologieals „Gnade“ bezeichneten Dingen zugrunde liegt – ein analogatumprincipale? Kann man die Pluralität von Bedeutungen auf eineEinheit zurückführen?

    a) Das material-kategoriale Totum des christlichen Glaubens

    Gott will sich als der dreifaltige selbst mitteilen, seine Liebe, die erselbst ist, verschenken. Darauf ist alle welthafte Wirklichkeit, die erins Dasein rief, ausgerichtet. Die Mitteilung dieser Liebe, die dasLeben Gottes ausmacht, ist das Wozu von Welt und Mensch. Undder Mensch ist so geschaffen, dass er auf das Gnadenangebot Gotteseingehen und seine Liebe empfangen kann.Der christlich glaubende Mensch darf sich in und trotz seiner

    Geschöpflichkeit, und obwohl er Sünder ist und als Sünder GottesGnade zum Geschenk erhält, von Gott geliebt wissen als jemand,der mit der göttlichen Selbstmitteilung (K. Rahner) begabt ist. Wennwir dies festhalten, so tritt darin das Spezifische von Gnade in denVordergrund: Trotz der Sündhaftigkeit wird der Mensch unverdientvon Gott (d. h. gratis) geliebt. Gnade ist die unverdiente ZuwendungGottes, der den Menschen in seine Heilsgemeinschaft führt.So ist die Gnadenlehre das material-kategoriale Gesamt der Theo-

    logie; in der Gnadenlehre ist das Gesamt der Theologie impliziert. Inallen anderen theologischen Traktaten werden wesentliche Momenteder Gnadenlehre absorbiert.