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im Rahmen der Ringvorlesung Wintersemester 2008/09 Erika Schulze Migration, Stadt und Jugend

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im Rahmen derRingvorlesung

Wintersemester 2008/09

Erika Schulze

Migration, Stadt undJugend

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� Gesellschaftliche Transformationen... im Spiegel der Familien- und Jugendsoziologie

Gliederung

� Abschlussüberlegungen

� Der hegemoniale Blick auf Migrationsprozesse

� Die soziale Alltagspraxis migrantischerJugendlicher

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Gesellschaftliche Transformationen

Gesellschaftliche Transformationsprozesse haben das Leben nachhaltig verändert

� wachsende funktionale Ausdifferenzierung

� Individualisierung � Pluralisierung der Lebensformen � Globalisierung und Transnationalisierung

Ein Blick in das städtische Leben macht diese Veränderungen im Alltag sichtbar

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Gesellschaftliche Transformationen

„Was die moderne Gesellschaft an Stilen undLebensformen, an Milieus und biographischen

Diskontinuitäten erlaubt, hätte unser Land auchohne Einwanderer zu einer ‚multikulturellen‘

Gesellschaft werden lassen."

(Armin Nassehi 2000)

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... im Spiegel der Familien- und Jugendsoziologie

Diese Transformationsprozesse werden in densoziologischen Disziplinen reflektiert

� Familiensoziologie

Bedeutungsverlust der bürgerlichen KleinfamiliePluralisierung der FamilienformenWandel der Geschlechter- und Generationenbeziehungen

� Jugendsoziologie

Auflösung der Eindeutigkeit der JugendphasePluralisierung und Globalisierung der JugendszenenVirtualisierung jugendlicher Welten

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Wie werden Migrationsprozesse in diesen Diskursenberücksichtigt?

... im Spiegel der Familien- und Jugendsoziologie

� Migration findet im Mainstream der Familien- undJugendsoziologie wenig Berücksichtigung; die Diskurse von Familien-/Jugendsoziologie einerseits undMigrationssoziologie andererseits verlaufen in weiten Teilennebeneinander

� Wenn Migration im Kontext der Transformationsprozessediskutiert wird, dann oftmals in einer defizitorientiertenund klischeehaften Weise;hörbar ist vor allem der ‘Reigen der Problematisierer’(Sökefeld 2004)

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Der hegemoniale Blick auf Migration

Es hat den Anschein, als seien Migrantinnen und Migranten keine Akteure innerhalb des gesellschaftlichen Wandels– oder zumindest nur Akteure, die sich in einem nachholendenModernisierungsprozess befinden.

„Manche Mütter wollen ihre Kinder gerne zu Hausebehalten. Manche Kinder sind lange krank. Manche

sind ganz unregelmäßig da. Manche verbringenzwischendurch lange Zeiten in der Heimat ihrer

Eltern, eine besonders schwierige Sache. Die kleinen Jungs müssen wir dann

erst mal wieder von ihren Pascha-Allüren runterholen. Das bedeutet

erneute Kämpfe ums Abräumen des Frühstückstisches."

(Leiterin einer Kindertagesstätte,

in Kölner StadtAnzeiger November 2005)

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Der hegemoniale Blick auf Migration

1. Vereinheitlichung und Homogenisierung

„Meine Mutter beispielsweise ist Tscherkessin und kommt aus demKaukasus. Ihre Sippe entkam nur knapp der Deportation nach Sibirien; das

geschah in der Zeit, als Stalin mit eisernem Besen fegte und auch das kleineTscherkessenvölkchen seiner Zwangsumsiedlungspolitik zum Opfer fiel.

Nicht vielen gelang die Flucht an die türkische Schwarzmeerküste, und diees doch schafften, wurden über Nacht türkische Staatsbürger. Mein Vater

wiederum gehörte der dritten Generation der Balkanflüchtlinge an, die sichnach der Weltkriegsniederlage und dem Zusammenbruch des Osmanischen

Reiches in das türkische Kernland aufgemacht hatten. Ich bin imanatolischen Bolu geboren, meine achtzehn Monate jüngere Schwester ist

gebürtige Berlinerin. Kann man vor solch immensen Zeitzäsuren undbiographischen Brüchen noch von einer einzigen Identität sprechen, die alle

Altersklassen in der Geschlechterfolge in Haft nimmt? IrreguläreLebensläufe aus Zusammenbruchsszenen sind das wahre Gesicht der

Einwanderung."

(Feridun Zaimoglu 2001, S. 10)

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Der hegemoniale Blick auf Migration

1. Vereinheitlichung und Homogenisierung

2. Einforderung einer eindeutigen Zugehörigkeit

3. Verweigerung der Zugehörigkeit

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Der hegemoniale Blick

“Im Rahmen der Neueinschulungen können interessierte Eltern denUnterricht in einer Kölner Grundschule besuchen. Die "Probestunde"endet mit einem Erzählkreis. Nach einem gemeinsamen Lied stellensich die Kinder nacheinander vor, der Ablauf ist ritualisiert: „Ich heißeAnnette, bin acht Jahre alt, gehe in die zweite Klasse und komme ausKöln", beginnt die erste Schülerin. Es folgt Peter, sieben Jahre, der inder ersten Klasse ist und sich ebenfalls aus Köln stammendbeschreibt. Die SchülerInnen fahren fort: „Ich heiße Paolo, bin achtJahre alt, gehe in die zweite Klasse und komme aus Italien", gefolgtvon Hikmet: „Ich bin sechs Jahre alt, gehe in die erste Klasse undkomme aus der Türkei." In dieser Weise stellen sich auch die anderenSchülerinnen und Schüler vor. Gegen Ende spricht Elvira. Sie stelltsich so vor: „Ich heiße Elvira, bin acht Jahre alt, gehe in die zweiteKlasse und komme aus Schleiden." Erläuternd beugt sich der Lehrerzu mir herüber: „Sie ist nun schon seit zwei Jahren in Köln und sagtimmer noch, sie kommt aus der Eifel."

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Multiple Verortungen

„Okay, also mein Name ist Sacharija. Ich wohne hierin der Gernsheimer Straße in Ostheim und lebe seit17 Jahren in Köln. Bin in Belgien geboren, Brüsselum genau zu sein. Und meine Familie kommt aus derTürkei. Bin aber kein Türke, sondern Aramäer. Undja, seitdem sind wir hier. ((lacht)) Noch was?" (Sacharija P.)

„War noch nie auf dem Fernsehturm, noch nie aufdem Kölner Dom, hab Höhenangst. Da betrachte ich

mir das immer aus der Ferne. Und ich fühl mich alsKölner, also trotz, und also als Kölner, speziell als

Nippeser. Man kennt hier allmählich alle Leute. AlleNationen. Das kommt mit der Zeit"

(Tarik K.)

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Multiple Verortungen

Parvin P. ist 17 Jahre alt. Sie wurde in Teheran geboren, kam mit einemJahr in die BRD und lebt seitdem hier. Nachdem sie die Hauptschule mit

dem Abschluss nach der 9.Klasse verlassen hat, besucht sie gegenwärtigein Berufskolleg, um die Fachoberschulreife nachzuholen.

Auf die Frage hin, ob sie sich einer bestimmten Gruppe oder Szenezugehörig fühle, antwortet sie „der islamischen Gruppe". Daran gefalle ihr,

„dass wir Moslems immer zusammen halten und uns gut verstehen.(Obwohl Mensch ist Mensch.)" Die Herkunft ihrer FreundInnen seien

„iranisch, türkisch, bosnisch, arabisch". Parvin gibt an, dass Religion einewichtige Rolle in ihrem Alltag spielt. Sie schreibt: „Ich bin stolzer Moslem.

Gott kommt an der ersten Stelle. Außerdem bete ich öfters." Neben denAngeboten eines Sportvereins nutzt sie Freizeitangebote von religiösen

Organisationen. Nach den von ihr am häufigsten konsumiertenFernsehsendern gefragt, führt sie ihre Lieblingsfernsehsendungen an: Al

Bundy, Charmed – Zauberhafte Hexen, St.Tropez und Ally McBeal.Parvin fühlt sich in der BRD zu Hause, denn: „Bin in Deutschland

aufgewachsen, ist für mich meine zweite Heimat. Ist doch klar." Einerbestimmten Nation oder Volksgruppe fühlt sie sich nicht zugehörig.

Sie möchte später einmal in Kanada leben.

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Veralltäglichte Transnationalität

Der Begriff der Transnationalität als weiter Begriff bezieht sich auf

"alle Vergemeinschaftungsformen, Solidaritäten, Zusammengehörigkeitsgefühle,Arbeitszusammenhänge, Austausch- und Kommunikationsbeziehungen undLebenspraxen, welche die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten."

(Mau 2007: 39)

Blickt man in den Alltag der Jugendlichen, sosieht man vielfache Momente einer solchen

veralltäglichen Transnationalität.

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Veralltäglichte Transnationalität

“Ja also die meisten Verwandten leben ja hier inDeutschland und da ist das ja gar kein Problem dakann man mit allen deutsch reden .. und sonst dieVerwandten die im Ausland leben, die meisten in

Frankreich, da haben wir noch ziemlich vieleVerwandte und mit denen können wir uns auch auffranzösisch oder englisch unterhalten. Das ist alles

kein Problem. (...) Unsere Familie ist halt ziemlichweit verteilt, ich weiß nicht, man weiß immer allesvon der Familie irgendwie so und dann kann manallen vertrauen und so was. Irgendwie kennt man

auch jeden obwohl man sich vielleicht einmal imJahr sieht oder weniger aber trotzdem kennt man

jeden und man fühlt sich halt dazugehörig."

(Jaqueline R.)

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Veralltäglichte Transnationalität

„Arabesk ist eine Hybridform der urbanenMusik, die in den späten sechziger Jahren

in der Türkei, als Reflektion der erstenErfahrung seitens der Eltern mit der

Auswanderung aufkam. Sie erzählt vonund vertont die beschwerlichen

Erfahrungen der Migration und urbanenRassentrennung in der Disapora. (...) Um

es anders zu sagen, sind Arabesk undHipHop die symbolischen Ausdrücke des

Dialogs zwischen der ‘Vergangenheit' undder ‘Zukunft', zwischen ‘Erinnerung' und

‘Verlangen', zwischen ‘dort' und ‘hier',zwischen dem ‘Lokalen' und dem

‘Globalen'."

(Kaya 2003: 255)

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Veralltäglichte Transnationalität

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Abschließende Überlegungen

„"Der deutschen Soziologie jedenfalls täte es gut, wenn sieden Mut hätte, mehr nach vorne zu schauen und nach

möglichen Pfaden der Zukunft, statt - zum wievielten Mal? -die sogenannten Ausländer nach ihren sogenannten

Traditionen zu fragen."

(Beck-Gernsheim 2004: S. 29)