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Magazin für Kultur und Bildung in Prenzlauer Berg
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Kulturverein Prenzlauer Berg e.V. | November – Januar 2015/16 | kostenlose Ausgabe
Magazin für Kultur und Bildung in Prenzlauer Bergmittendrin
Ich will doch nur spielen!
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INHALT
THEMA
Ich will doch nur spielen! 3
Spiel ist keine Spielerei 5Einen Platz in der Welt fi nden
Die Angst vor dem Nichts überwinden 6Improtheater: Spiel ohne doppelten Boden
SHORTSTORIES
Achtzehn Raubtiere 8Eine Kurzgeschichte von Astrid Düerkop
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel 10Das waren die Pankower Theatertage
Bewegte Kunst bewegt die Herzen 11Mit dem Krachlichtermobil auf Tour
WORT UND BUCH
Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren. 12Juli Zeh: Spieltrieb
Entschuldigung, sammeln Sie Flaschen? 14Überleben in der Stadt
Erlesenes für Kinder 15Viele Bücher machen klücher
KIEZ & KULTUR
Der Bauch Berlins 16Schlachthof
Höchstens siebeneinhalb 18Die Lesebühne Crazy Words
Stadtnatur-Filmfestival 20Dokureihe im Museum Pankow am Wasserturm
Made in Zvizzchi 22Yad Chanah unterstützt internationalen Kulturaustausch
Kolumne: Der Springende Punkt 23... geht spielen
DAS LETZTE
Wat? Wo steht denn ditte? 24Bilderrätsel
Impressum 24
EDITORIAL
»Wir spielen alle,
wer es weiß, ist klug«
(Arthur Schnitzler)
Schluss mit Effi zienz, Zielorientiertheit und Produk-
tivität: Wir wollen spielen! Beim Spielen gönnen wir
uns eine Auszeit vom unserem ach so rationalen
Alltag. Wir können uns nach Herzenslust austoben,
Zeit vorsätzlich verschwenden, virtuelles oder echtes
Geld verjubeln, in andere Rollen schlüpfen, kurzum:
so richtig über die Stränge schlagen. Mit Gefühlen
zu spielen, ist wiederum Wahnsinn, schenkt man
Wolle Petry Glauben. Trotzdem tun wir es immer wie-
der. Mal vorsätzlich, mal unbewußt spielen wir mit
Menschen, ihren Ängsten und Träumen. Was macht
eigentlich den Reiz des Spiels und des Spielens aus,
fragen wir uns in dieser Ausgabe.
Auch bei Juli Zeh, der wir diesmal unseren Buchtipp
(S. 12) widmen, steht das Spiel, genauer der „Spiel-
trieb“, im Fokus ihres lesenswerten Romans. Und was
noch? Wir laden Sie herzlich ein ins Museum Pankow
zum Stadtnatur-Filmfestival (S. 20), das nicht nur mit
interessanten Beiträgen sondern auch mit freiem
Eintritt lockt. Außerdem machen wir eine Reise in
die Vergangenheit und erwecken den alten Bauch
Berlins zu neuem Leben (S. 18), sind dabei, wenn das
per Defi ntionem lautstarke Krachlichtermobil Fahrt
auff nimmt (S. 11) und folgen der Fährte des Sprin-
genden Punkts (S. 23).
Viel Spaß beim Lesen!
Barbara Schwarz und Frauke Niemann
(Redaktion MITTENDRIN – ein Magazin des Kulturverein Prenzlauer Berg)
Inhalt
| 3 Thema
Alle Menschen sind Spieler, könnte man demnach zu-gespitzt formulieren, oder
andersherum: der Spieltrieb ist eine menschliche Konstante. Schon Götterbote Hermes konnte seinen
Der moderne Mensch (Homo sapiens) ist vernunft begabt, lernen wir im Biologieunter-richt. Dass er seine Fähigkeit zu denken auch gerne mal vernachlässigt, steht auf einem anderen Blatt. Das Denkenkönnen ist aber nicht die einzige Zuschreibung, die die Wis-senschaft für unsere Spezies bereithält. Auch das Vermögen, seine Umwelt aktiv zu ver-ändern, macht den Menschen aus, sagen Anthropologen und sprechen daher vom Homo faber, dem tätigen Menschen, dem Handwerker. Das treff e es noch nicht, lies Mitte des 20. Jahrhunderts der Kulturphilosoph Johan Huizinga verlauten und prägte den Begriff Homo ludens, übersetzt: der spielende Mensch. Huizinga defi niert das Spiel als Grund-kategorie menschlichen Verhaltens, sieht gar den Ursprung der Kultur im Spiel.
Ich will doch nur spielen!
Drang zu spielen nicht bezwingen. Er gilt als Erfinder des Würfelspiels und der Weissagung durch Wür-fel. Wer glaubt der Ausruf „Bingo!“ halle nur durch Altersheime der Neuzeit, hat damit zwar recht, die
Chinesen führten allerdings bereits vor zweitausend Jahren ein Spiel mit sehr ähnlichem Regelwerk ein, das Zahlenlotto „Keno“. Vermutlich die erste staatliche Lotterie überhaupt – sie finanzierte nichts Geringeres
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4 | Thema
als den Bau der Chinesischen Mau-er. Manche Spiele sind eben zeitlos. Bestimmte Mechanismen leider auch: Das Prinzip „Brot und Spie-le“ funktioniert im alten Rom ge-nauso gut wie heute, nur sind die Gladiatoren des Hier und Jetzt weniger glamourös: Massenunter-haltung à la Schlag den Raab erfüllt heute wie damals den Zweck, das Volk zu zerstreuen, damit es sich nicht mit elementaren gesellschaft-lichen Missständen auseinander-setzt.
Natürlich tun wir dem Spiel mehr als Unrecht, stempeln wir es kurzer-hand als nichtsnutzige, ziellose Zer-streuung ab. Ohne die Lust am Spiel hätten sich Gesellschaftsbereiche wie Kunst, Philosophie, Recht und Religion überhaupt nicht entwi-ckelt, sagt Huizinga in seinem Buch „Homo Ludens – Vom Ursprung
der Kultur im Spiel“. Spielend entwi-ckelt der Mensch seine Fähigkeiten, lernt soziales Verhalten, erkundet seine Umwelt und bildet kulturelle Techniken aus. Der Mensch wird erst durch das Spiel zum Menschen. Oder wie es der Literat und Phi-losoph Friedrich Schiller formu-liert: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Aber, was reizt uns so am Spiel? Es eröffnet uns einen neuen Raum. Wir können uns ausprobieren, neu erfinden, so tun als ob, uns abgren-zen vom gewöhnlichen Leben, von Alltagszwängen und Routinen. Im Spiel sind wir frei, das zu tun, was wir wollen, nähern uns unse-ren Wünschen ebenso wie unseren Ängsten. Der Zweck des Spiels liegt nur im Spiel selbst, es unterliegt
Mal verliert man, mal gewinnen die anderen.
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genau wie der Spieler selbst, nicht dem Zwang produktiv zu sein. Im Gegenteil, beim Spielen können wir verschwenderisch sein oder (ha!)mutwillig unvernünftig, ohne uns vor den Konsequenzen fürchten zu müssen. Und noch etwas hält das Spiel bereit: Einen Nervenkitzel, nämlich den des ungewissen Aus-gangs, des offenen Endes.
Und doch bleibt das Gefühl, dem Phänomen Spiel in seiner Viel-schichtigkeit nicht richtig beikom-men zu können. Worüber sprechen wir eigentlich, wenn wir von Spielen sprechen? Roger Caillois, ein fran-zösischer Soziologe, hat sich daran gemacht, die Grundkategorien des Spiels zu definieren. Er macht vier Elemente aus: den Wettkampf, das Glückspiel (gekennzeichnet durch das Zufallsmoment), das Verstel-lungsspiel (das es uns ermöglicht in andere Rollen zu schlüpfen) und das rauschhafte Spiel (das uns die Reali-tät vergessen lässt). Jedes Spiel ist laut Caillois eine Mischform eben dieser vier Elemente. Lernspielen hat er keine eigene Kategorie zugedacht. Denn das Schöne am Spielen ist ja gerade seine Selbstgenügsamkeit. Lerneffekte entstehen ganz neben-bei. Sie sind quasi Nebenprodukte des Spielens. Kinder und Erwach-sene lernen beim Spielen en passant sich zu konzentrieren, vorausschau-end zu handeln, strategisch zu agie-ren oder auch ganz schlicht, sich mit der Tatsache zu arrangieren, dass man nicht immer Erster sein kann.
Und, wer sich trotzdem nicht da-gegen wehren kann, verlieren doof zu finden, dem hilft vielleicht Sepp Herberger weiter: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel!“
» Der Mensch spielt nur, wo er in voller
Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er
ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Text: Frauke Niemann
| 5 Thema
Auch wenn es nicht immer so aussieht: Spielen ist Arbeit!
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Spiel ist keine SpielereiEinen Platz in der Welt fi nden
Immer nur spielen. Ob das gut geht? Und ob! Spielen bedeu-tet für Kinder Arbeit, ganz
unbewusste, aber alle Sinne fordern-de Arbeit. Spielen ist die bedeut-samste und wirkungsvollste Art des Lernens, schenkt man dem Berli-ner Bildungsprogramm glauben. Viele schlaue Köpfe haben sich mit dem Spiel und seiner Bedeutung für den einzelnen und die Gesell-schaft auseinandergesetzt: Päda-gogen von Fröbel bis Piaget, Phi-losophen von Kant bis Freud und unzählige andere verschiedener Fachrichtungen. Kinder haben ein „Recht auf Spiel“, festgehal-ten in Artikel 31 der UN-Kinder-rechtskonventionen. Immerhin sind Kinder unsere Zukunft und „der Lärm spielender Kinder ist Zukunftsmusik“, so Horst Köhler, Bundespräsident a.D.
Wir befragten die Fachleute in der KUBI Kitagruppe*, wie sie das Spiel
in der Kita einordnen, und was sie erfahren, wenn sie die Kinder beim Spielen – mit oder ohne Spielzeug – beobachten:
Das Spiel füllt den größten Teil des Kita-Tagesablaufs aus. Impulse sind wichtig, Neugier sollte erkannt bzw. geweckt, Alltagsgegenstände ins Spiel miteinbezogen werden. Durch das Spielen finden Kinder ihren Platz in der Welt. Alle Sinne sind be-teiligt, die Kinder setzen all ihre kör-perlichen und geistigen Fähigkeiten ein. Die Aufgabe der Erwachsenen ist es, passende Dinge bereitzustel-len, oder auch bewusst auf diese zu verzichten, die richtige Waagschale zu finden zwischen „Laufen lassen“ und dem Erkennen und Aufgrei-fen der Spielabsichten der Kinder. Interessant ist, dass Kinder im Säuglingsalter kaum Spielmaterial
benötigen, sie beschäftigen sich mit allem, was sich in der unmittelbaren Umgebung befindet, also sie selbst und das Gegenüber. Später beginnt das Miteinanderspielen, wächst die sprachliche Kompetenz, kommen die Rollenspiele hinzu. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget ordnet das Spiel des Kindes als einen permanenten Versuch ein, sein Umfeld in das eigene Denken, Handeln und Gestalten einzubezie-hen, um Erlebtes zu verstehen und aktiv mitbestimmen zu können. Spiel ist also nicht gleich Spielerei!
TEXT: BARBARA SCHWARZ
Fragen Eltern nach
dem Kitabesuch ihre
Kinder, was sie gemacht
haben, kommt oft gar
nichts, oder ein Schulter-
zucken. Vielleicht, weil es
Kindern als seltsame Frage
erscheint. Na, was soll ich
schon gemacht haben?
Ich war da – und ich hab
gespielt.
* Zur KUBI KITA GRUPPE der
KVPB Kindertagesstätten gGmbH
gehören sechs Kindertagesstätten
mit kulturellem Profi l in den Bezirken
Pankow und Mitte.
6 | Thema
Die Angst vor dem Nichts überwinden
MITTENDRIN: Was macht Impro-theater aus?
FREI.WILD: Improtheater heißt spielen von Moment zu Moment. Premiere und Derniere sind eins. Nichts kann wiederholt werden. Al-les wird im Moment neu erfunden und erlebt. Die Inspirationen kom-
men aus den Zuschauern, die Vor-gaben machen dürfen und sollen, um die Spieler herauszufordern. Sie entscheiden darüber, was sie sehen möchten. Improvisationstheater kann schnell sein: Theatersport, zwei Teams treten gegeneinander an und spielen kurze knackige Forma-te. Oder langsam: Über eine ganze
Spielhälfte wird nur an einer Ge-schichte gestrickt.
DIE TUMORISTEN: Wir machen Playback-Theater. Das ist eine spe-zielle Form des Improvisations-theaters. Die Schauspieler bringen Geschichten aus dem Alltag, die ein Bühnenleiter vom Publikum er-fragt, auf die Bühne. Jede Geschich-te wird mit ihren wesentlichen Aus-sagen zurück gespielt, deswegen
„Improtheater ist wie
Sporttraining: Man trai-
niert Schnelligkeit und
Flexibilität im Denken,
muss den Druck der
Perfektion überwinden
und einfach machen.“
frei.wild verwandelt die Inspiration der Zuschauer in aufregende Bühnengeschichten.
Improtheater: Spiel ohne doppelten Boden
FREI.WILD
frei.wild – das heißt frei im Kopf und
wild auf der Bühne! Seit 2006 steht
frei.wild auf den Brettern, die die
Welt des Improvisations-Theaters
bedeuten. Ob daheim in Berlin oder
auf Festivals j.w.d. – 9 Spieler, drei
Pianisten und ein Techniker improvi-
sieren vom klassischen Theatersport
über Langformen, Musikshows und
Impro-Märchen für Kinder bis hin
zum Auftritt auf Bestellung bei Jubi-
läen und Tagungen. Dabei sind die
Berliner stets darauf bedacht, nie das
Küken im Bären zu vergessen…
www.frei-wild-berlin.de
Improtheater ist Spielfreude pur, immer unverfälscht, im-mer überraschend, oft urkomisch, manchmal tieft raurig. Davon, was es sonst noch sein kann, erzählen die Berliner Improgruppen FREI.WILD und DIE TUMORISTEN.
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| 7 Thema
das Unerwartete – denn nichts von dem, was auf der Bühne passiert, ist vorhersehbar. Jeder Mensch, der sich auf andere einlassen und auf-merksam zuhören kann, wird wie wir den Spaß am Spiel empfinden – das haben zahlreiche Workshops gezeigt, die wir für Interessenten durchgeführt haben.
FREI.WILD: Wir stellen fest, dass bei den Gruppen, die wir unterrich-ten die Motivation oft recht unter-schiedlich ist: Einige wollen Impro-theater für ihren Beruf nutzen, um z.B. schlagfertiger zu werden, an-dere wollen einfach nur abschalten nach einem Tag im Büro und viel und herzlich lachen!
„play back“. unser Anspruch ist es, die Essenz des Erlebens in ei-ner künstlerisch-ästhetische Form darzustellen. MITTENDRIN: Was ist für euch „Spielen“ im Allgemeinen und im Speziellen das Spiel auf der Büh-ne?
DIE TUMORISTEN: Das Spiele-rische geht den meisten Menschen im Laufe des Erwachsenwerdens verloren, gehört aber doch ele-mentar zum Leben. Menschen, die in der Lage sind, zu spielen, bereichern ihr Leben. Denn Spiel bringt Freude, Kommunikation und regt die Fantasie an. Das Spiel auf der Bühne bereichert, erwei-tert unseren Horizont und fördert den Mut, sich in der Öffentlich-keit zu zeigen.
FREI.WILD: Spielen ist Lebens-freude und Lebenslust. Die Angst vor dem Nichts, vor dem Blackout zu überwinden und zu spüren, dass da immer etwas ist. Irgendwo
Ein Schwerpunkt der Tumoristen ist die Krankheitsbewältigung und die Enttabuisie-
rung des Themas Krebs in der Gesellschaft.
ist ein Impuls, eine Idee. Spielen ist die Kommunikation mit den Publi-kum. Spielen heißt auch, ganz ein-fach den Moment zu erleben. Wir haben nicht die Zeit, wochenlang an einer Figur zu arbeiten. Wir sprin-gen einfach rein. Magie passiert und man sagt Sachen und tut Dinge, auf die man vorher nie gekommen wäre, weil die Figur sofort lebt. Sie ist da.
MITTENDRIN: Braucht man be-stimmte Voraussetzungen fürs Improtheater? Ins kalte Wasser zu springen, liegt bestimmt nicht je-dem.
FREI.WILD: Improtheater ist wie Sporttraining: Man trainiert Schnel-ligkeit und Flexibilität im Denken, muss den Druck der Perfektion überwinden und einfach machen. Je mehr man trainiert umso freier und schneller wird man.
DIE TUMORISTEN: Die Grund-voraussetzung ist der Mut, sich zu präsentieren, sich einzulassen auf
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DIE TUMORISTEN
In Berlin gibt es ein Theaterensemble
ganz besonderer Art: Die Akteure
sind Menschen mit Krebserfahrun-
gen und spielen Playbacktheater und
Improvisationstheater. Dabei kombi-
nieren sie das Improvisationstheater
des Engländers Keith Johnstone mit
dem Playbacktheater des Amerika-
ners Jonathan Fox - zwei verschie-
dene Formate, die in kombinierter
Form so noch nicht auf der Bühne zu
sehen waren.
www.tumoristen.de
„Das Spielerische geht
den meisten Menschen
im Laufe des Erwach-
senwerdens verloren,
gehört aber doch ele-
mentar zum Leben.“
Interview: Barbara Schwarz, Frauke Niemann
8 | Shortstories
Angefangen hat das Ganze an einem heißen Sommer-tag. Wir tranken Eli-Lilly-
Löwenbrause, dazu aßen wir Kin-derriegel, verpackt in Folien mit Löwenmotiv. Zum Nachtisch gab es Schoko- und Vanille-Eis. Die Verpackungen waren erst achtlos auf den Tisch geflogen, bis Frau Krüger plötzlich fragte: „Wieso sind eigentlich Löwen auf Eiscremever-packungen?“
„Warum keine Eisbären oder Eisvö-gel?“, dachte sie laut als Frau San-nemann den Wunsch nach einem weiteren Eis äußerte. Aber es gab kein zweites Eis am Stiel, weder für sie, noch für irgendwen anders. Die Verpackungen lagen noch auf dem Tisch. Jetzt war es Frau Steinbiel, die fragte: „Wieso sind eigentlich Löwen auf Eisverpackungen?“ Ach! Ich nehme die leeren Plaste-Hüllen einfach mit, ihr werdet es sehen,
Im Angesicht des Löwen
zum Kaffee ist die Frage beantwor-tet! Zu allen Mahlzeiten traf sich die Tischrunde im Speiseraum wie-der. In meinem Zimmer angekom-men hieß es jetzt: Ausschneiden. Die kleinen Löwenfiguren wurden sauber und exakt extrahiert. Dann klebte ich die Löwen-Torsos auf, aber blank auf weißem Notizkar-ton sah das Ganze irgendwie dürftig aus. Also malte ich um die Löwen herum eine Geschichte, und schrieb auf die Rückseite einen passenden Text.
Ich nenne dies meine Roma-Tech-nik. Vor einiger Zeit war ich in einer sehr beeindruckenden Austellung im Instituto Cervantes in der Ro-senstraße: „An die Grenze gehen“, Malerei, Fotos, Installationen, Bild-hauerei und Videos von Roma-Künstlern aus ganz Europa. Auch Textbänder waren zu lesen:
Achtzehn RaubtiereEine Kurzgeschichte von Astrid Düerkop
„Out of time – In der
gewöhnlichen Zeit, der
auf der Uhr, gibt es ei-
nige bestimmte Dinge,
die man versteht. Wenn
man die Zeit loslässt,
versteht man einige
Andere. - En el tiempo,
el del reloj, hay unas
cuantas cosas que se
entienden. Cuando se
suelta el tiempo, se en-
tienden algunas otras.“
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| 9Shortstories
„Und irgendwo gehn Löwen noch und wissen, solang sie herrlich sind, von keiner
Ohnmacht.“ (Rainer Maria Rilke)
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Eine der Künstlerinnen hatte eine große Wandfläche mit streichholz- oder briefmarkengroßen Miniatur-bildern bekleidet. Produktbildchen aus ganz Europa waren der Colla-gen-Grund kleiner Kunstwerke, die kalligraphisch, oft mit schwarzem Scriptol um die ausgeschnittenen Elemente herum, verziert waren.
Beim nachmittäglichen Kaffeetrin-ken waren die ersten zwei Löwen-Karten mit dabei. Der grüne Apfel-löwe und die blaue Flaschenlöwin. Das Gelächter und die Zuschrei-bungen begannnen. Nr.1: Der grüne Apfellöwe ist ein ganzer Kerl, mit dem an deiner Seite haut dich nichts um, der haut nämlich alles weg, was dir in die Quere kommt. Nr. 2: Die blaue Flaschenlöwin ist eine Tänze-rin, mit der an deiner Seite, kannst du jeden bezaubern. Alle liegen dir zu Füßen.
So fing es an, unser Spiel. Nach den ersten drei Flaschen Kinderlimo-nade und mehreren klebrig-süßen Schokoladenriegeln, hatten wir 14 Tiere im Kartenspiel. Zum Herbst-anfang kam dann die Flaute. Einer nach dem anderen musste ins Kran-kenhaus. Endlich, zu Weihnachten, waren es 18 Karten. Auf der Rück-seite aller Bilder waren die Texte geschrieben und mit schwarzem Textmarker hatte ich zum Schluß vorsichtig alle Bilder umrahmt. Das Löwen-Spiel, es hatte den Namen „Arche Noah“ bekommen.
Als ich meine Tischrunde endlich wieder traf, war es still und leise. Ein Sitzplatz blieb leer. Frau Krüger war
von ihrem letzten Krankenhausauf-enthalt nicht mehr zurückgekehrt, sie war an einem der Feiertage ver-storben.
Manchmal spiele ich jetzt mit ande-ren dieses Spiel. Es macht mich im-mer ein wenig melancholisch. Fast jedesmal wenn ich eine Karte in der Hand halte, muß ich an Straß-furt denken. „Straßfurt. Der Ort, an dem die Fernseher zu DDR-Zeiten produziert wurden“, pflegte Frau Krüger immer zu sagen, wenn sie gefragt wurde, woher sie kommt.
Von dort war sie als alte Dame nach Berlin geholt worden, und verspür-te ein dauerndes Heimweh. Auch ihre Fantasie und unsere häufigen Albernheiten, konnten dieses Ge-fühl nicht vertreiben. Es ist vielen Menschen, die sich auf einem lan-gen Weg in die Ungewissheit be-
wegen, zu eigen. Dies Gefühl der Entwurzelung.
Die Karte des heutigen Tages ist Karte Nr. 3: der Zwerg-Flug-Löwe. Dieser Löwe mit seinem fliegenden Teppich bringt alle und alles zum Schaukeln. Er fliegt dicht über dem Boden entlang. Neben ihm sind schon die Blitze eines nahenden Unwetters sichtbar. Er selbst schaut den Betrachter gelassen an.
ÜBER DIE AUTORIN:
Während der letzten Berufsjahre ist
aus Schreiben und Gedankensam-
meln nur noch Zuhören und Lesen
geworden. Erst mit dem langsa-
meren Lebenstempo seit 2001 und
dem Genuss an kleinen Wegen und
Begebenheiten fand Astrid Düerkop
zurück zum Geschichtenerzählen.
10 | Shortstories
Das waren die Pankower Theatertage | ptt 2015
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel
Die Pankower Theatertage 2015 liegen nunmehr zwei Monate hinter uns und es ist Zeit, einen Blick zurückzuwerfen. An vier Ta-gen Ende September fanden über 60 Theaterveranstaltungen an 20 Spielorten statt. Kein Wunsch blieb unerfüllt: Puppen-, Kinder- und Sprechtheater, Tanzaufführungen und Musikperformances – auf den ersten ptt hatten die Zuschauer die Qual der Wahl. Für jeden gab es Neues zu erleben und die Möglich-keit, die Theaterkunst im Bezirk Pankow zu entdecken. Spielorte und freie Gruppen konnten zeigen, wer sie sind und gewannen zusätzliche Aufmerksamkeit.
Ein ganz hinreißendes Beispiel da-für gab es in der Brotfabrik am letz-ten Tag der ptt-2015. Dort fand eine Vorstellung der Schauspiel-Grup-pe „Kolonastix“ statt mit ihrem sehr empfehlenswerten Kinder-stück „Das kleine Gespenst“. Sehr
viele aufgeregte Kinder und Fa-milien konnte man schon vor dem Eingang sehen. Die kleine Brotfabrik platzte im wahrsten Sin-ne des Wortes aus allen Nähten. An der Kasse wurde gesagt, dies sei ganz ungewöhnlich und unverhofft. Was kann man sich mehr wünschen für dieses Projekt!
Ein Ziel der Pankower Theatertage war und ist es, die teilnehmenden
Das kleine Gespenst von Kolonastix treibt sein Unwesen: Eine von vielen tollen Acts
auf den Pankower Theatertagen | ptt 2015
Künstler und Spielorte miteinander zu vernetzen und auf diese Weise eine besondere Ebene finden, zu-sammen zu agieren und Neues zu kreieren. Über unsere Facebook-Seite facebook.com/pankower-theatertage gibt es unter anderem die Möglichkeit dazu. Dort sehen wir fast täglich Neues über unse-re Teilnehmer, wann sie wo spie-len, welche neuen Projekte geplant sind oder welche Veranstaltungen und interessante Theaterstücke uns demnächst erwarten. Ein Blick darauf lohnt sich also immer!
Wir, das Team der ptt, möchten allen Sponsoren, Partnern, Un-terstützern, Besuchern, allen Mit-streitern und natürlich unserem Schirmherrn, Bezirksbürgermeister Matthias Köhne, nochmal herzlich danken - ohne ihr Engagement und Mitwirken wären die ptt nicht mög-lich gewesen!
Der Blick in die Zukunft verheißt viel Spannendes. Eins ist klar: Die Pankower Theatertage sollen keine Eintagsfliege bleiben.
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Kol
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Schee war´s! Die ersten
Pankower Theatertage
sind Geschichte. Was
bleibt? Die Vorfreude
auf eine mögliche
Fortsetzung in 2016,
neue spannende Ge-
schichten, Orte, Men-
schen und Aktionen!Text: ptt-Team
Das ptt-Team v.l.n.r.: Barbara Schwarz,
Thilo Schwarz-Schlüßler, Beatrice-Fea
Schirmacher, Frauke Niemann
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| 11 Shortstories
Bewegte Kunst bewegt die HerzenMit dem Krachlichtermobil auf Tour
Jedenfalls, wenn es nach Jean Tinguely geht. Diesen bewegten Künstler nahmen sich die Kin-
der, Eltern und Erzieher des Famili-enbereich „überbrücken“ zum Vor-bild, und schufen ein lärmendes, bewegtes Kunstwerk: Das Krach-lichtermobil. Mit diesem zogen sie pünktlich zur Langen Nacht der Familien von der Kita Kiezeulen, dem Weddinger Standort des Fami-lienbereichs zum zweiten Standort in Prenzlauer Berg, der Kita Gleim-strolche (HAUS 2).Während der Arbeit am bunten Gefährt war eines schnell klar, es macht Spaß, ein Geräuschobjekt zu bestaunen, aber vor allem auch,
Schrott macht Spaß! Das Krachlichtermobil nimmt Form an.
selbst eins herzustellen. An vier Tagen trafen sich Kinder und El-tern, um am „Krachlichtermobil“ zu werkeln. Die Kinder entdeck-ten die Materialien und testeten die unterschiedlichen Lautstärken, Töne und Frequenzen der Gegen-stände aus, bevor sich kleine Grup-pen aus Kindern und Erwachsenen zusammenfanden, um die Einzeltei-
le zusammenzufügen. Hier begann der Prozess des Ausprobierens, Pla-nens und Verwerfen der Ideen. Wie lässt sich aus einem bunten Sam-melsurium an Dingen eine Skulptur formen, eine bewegliche noch dazu? Kabelbinder, Paketband, Schnur, Knete, Schrauben und Nägel kamen zum Einsatz und nach und nach nahm das Krachlichtermobil Form an. Beim großen Showdown zur-Langen Nacht der Familien machte es seinem Namen alle Ehre.
Eine Radauveranstaltung, die Jean Tinguely wahrscheinlich gefallen hätte!
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Fahrradschlauch und Lampenschirm, Nudelsieb und Gießkanne, Badeschlauch und
Armatur, Blumenkette und Teesieb, Kronkorken und Puppenbuggy: Auf den ersten Blick
eine Ansammlung von Haushaltsschrott, auf den zweiten Blick das perfekte Material für
ein Kunstspektakel!
»„Wenn ich
Schrott berüh-
re, entsteht
Magie.“
(Jean Tinguely)
KINETISCHE KUNST In der Bildenden Kunst gibt es
verschiedene Künstler, die sehr
technikaffi n sind und kinetische
Objekten erschaff en haben. Der
Schweizer Maler und Bildhauer Jean
Tinguely (1925-1991) gilt als einer
der Hauptvertreter der kinetischen
Kunst. Er wurde vor allem durch
seine beweglichen Maschinens-
kulpturen bekannt, die häufi g auch
Töne erzeugen konnten. Gemeinsam
mit seiner Frau Niki de Saint Phalle
und anderen Objektkünstlern wie
z.B. Daniel Spoerri erschuf er wahre
Kunstspektakel, die als ebenso ver-
spielte wie ironische Kommentierung
des technischen Zeitalters gelten
können.
Text: Barbara Schwarz
12 | Wort und Buch
Es ist nicht Bösartigkeit, die das ungleiche Zweiergespann antreibt. Es ist vielmehr die
Abwesenheit von Sinn, Werten und Glauben, die Ada und Alev zu Spie-lern in einem moralfreien Raum macht. „Wissen Sie, was übrig bleibt, wenn man dem Menschen alle Wertvorstellungen nimmt? Sagen Sie nichts, ich sehe Ihnen an, dass Sie es wissen. Der Spieltrieb bleibt.“
Das Spiel ist ihnen Selbstzweck und letztmögliche Seinsform. Sein Regelwerk tritt an die Stelle von Grundgesetz oder Bibel, weltlichen oder überweltlichen Instanzen. Mit Alevs Worten: „Der Spieltrieb er-setzt die Religiosität, beherrscht die Börse, die Politik, die Gerichts-säle, die Pressewelt, und er ist es, der uns seit Gottes Tod mental am
tek fortan jeden Freitag zur Wie-derholung des Aktes zu zwingen. Smutek ist Idealist und Menschen-freund und gerade daher das per-fekte Opfer. Er soll lernen, dass Ideale und Überzeugungen wertlos sind, nicht mehr und nicht weni-ger. Sprachgewaltig und unerschro-cken stellt Juli Zeh die Tradition der Schülertragödien des 20. Jahrhun-derts auf den Kopf. Hier drangsalie-ren nicht Lehrer ihre Schüler, hier treiben Schüler ein Machtspiel mit ihrem Lehrer.
Smuteks Lieblingsbuch, der Mann ohne Eigenschaft en, ist nur eine von vielen gezielten literarischen Anleihen in „Spieltrieb“. Nicht umsonst heißt die hochgebilde-te, kettenrauchende, mit Apho-rismen nur so um sich schleu-
Leben hält.“ Ada und Alev spielen, weil sie es können. Anything goes! Die Rolle der Spielfi gur fällt dem Deutsch- und Sportlehrer Smu-tek – auf polnisch der Ausdruck
Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren.Wenn nicht, erst recht.
Buchtipp
Das Prinzip Hoff nung regiert nicht am Ernst-Bloch-Gymnasium in Bonn, Schauplatz des
Romans „Spieltrieb“ von Juli Zeh. Das lassen Ada und Alev, zwei ebenso intelligente wie
skrupellose Zehntklässler, nicht zu. Ihren philosophisch geschulten Verstand nutzen sie
für ein perfi des Spiel: Ihre Antwort auf die Leerstellen der Gegenwart.
Juli Zeh: Spieltrieb
für Traurigkeit – zu. Ada verführt ihn in der Turnhalle, was Alev mit der Kamera festhält, um Smu-
Nihilisten
glaubten im-
merhin, dass
es etwas gebe,
an das sie
nicht glauben
konnten.
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| 13
dernde Hauptfi gur Ada. Die Assoziation mit Nabokovs gleich-namiger Romanheldin drängt sich förmlich auf. Nicht minder scharf-sinnig als scharfzüngig, verachtet Ada all die „Miniaturprinzessin-nen“, die das Ernst-Bloch-Gymna-sium bevölkern, diese „samt- und seidenweichen Mädchen, deren Ge-burt durch langsam anschwellende Musik begleitet worden war wie das hochfahrende Windowsbetriebssys-tem von seiner Begrüßungsouvertü-re“. Adas Beine sind ebenso schnell wie ihr Kopf, geschult in der „Kunst des Davonlaufens“, die Ada pfl egt, wann immer es Anlass dazu gibt, also täglich.
Neben Ada nimmt sich Alev trotz weltmännischem Gehabe und ein-deutig diabolischer Züge („Seine
Unterm Strich:
Juli Zehs Roman „Spiel-
trieb“ hat schon ein
paar Jährchen auf dem
Buckel. Das sollte aber
niemanden davon
abhalten ihn zu lesen,
denn das Thema, das
hier verhandelt wird, ist
zeitlos. Zeh hat keine
Angst vor großen Fra-
gen. Die Antworten die
sie ihren Protagonisten
in den Mund legt, ha-
ben es verdient, Gehör
zu fi nden. Dass sich
nicht nur Zehs Figuren
dem Spieltrieb hinge-
ben, sondern auch die
Autorin selbst, wird
bei der Lektüre schnell
deutlich: virtuos (und
an der einen oder an-
deren Stelle auch etwas
überambitioniert) jong-
liert sie mit literarischen
Zitaten, Metaphern und
Denkmodellen.
Juli Zeh
Spieltrieb
Verlag btb
Taschenbuch, 576 Seiten,
10,99 Euro
Cove
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Ver
lag
btb
Wort und Buch
Text: Frauke Niemann
Augen, die wie bei einer Sphinx auf die Schläfe zielten, waren leicht geschlitzt. Die Brauen bildeten breite, schwarze, seitlich auffwärts strebende Striche [...].“) eher blass aus. Zwar füllt der Diplomaten-sohn, der nie längere Zeit an einer Schule, geschweige denn in einem Land verbracht hat, seine Rolle als teuflischer Verführer durchaus aus, doch ist Ada ihm intellektuell weit überlegen. Am deutlichsten zeigt sich das in ihrem ausufernden Plä-doyer im fulminanten Finale des Romans, in dem sich alle Spielbe-teiligten vor Gericht wiederfinden. Die Richterin, die dem Leser nur als kalte Sophie vorgestellt wird, muss vor Ada kapitulieren. Ihr Urteil erhält die Aufforderung, das Versa-gen des Rechts offiziell zur Kenntnis zu nehmen.
14 | Wort und Buch
Entschuldigung, sammeln Sie
Flaschen?
Überleben in der Stadt
Flaschensammler sind aus Großstädten nicht wegzu-denken, sie gehören zu unse-
rem Stadtbild. Und doch wissen wir nichts über sie.
Philipp Catterfeld und Alban Knecht, Sozialforscher aus Mün-chen, wollten dies ändern und starteten ein unorthodoxes For-schungsprojekt. Im Mittelpunkt stand die Frage „Warum sammeln Menschen Flaschen?“ Catterfeld und Knecht schickten zwei Semes-ter lang 35 Studenten Hochschule München „ins Feld“ um Antwor-ten darauf zu finden. Die Flaschen-sammlerinnen und -sammler, die die Studenten ansprachen, erwiesen
sich als überaus auskunftsfreudig. Das Ergebnis der Feldforschung findet sich im 180 Seiten starken Sammelband „Flaschensammeln. Überleben in der der Stadt.“ mit 22 Beiträgen, die einen bewegen-den Einblick in die Seelenlage und Motivation der Befragten geben. Transkribierte Interviews stehen neben protokollierten Selbstversu-chen und eigenen Beobachtungen. Renter, die sich ein Zubrot verdie-nen wollen, kommen ebenso zu Wort wie Migranten ohne Papiere, für die das Sammeln von Pfand-
flaschen die einzige Möglichkeit ist, überhaupt Geld zu verdienen und ihre Existenz zu sichern oder Akademiker, die nach dem Verlust ihres Jobs keine neue Stelle mehr finden.
Für viele ist Flaschensammeln eine absolute Notlösung in Ermangelung von Alternativen. Flaschensammeln sei dreckig ekelig, abwertend, ver-abscheuungswürdig und Menschen verachtend, sagt Herr M., ehemals Diplomingeneur. „Ich sammle, weil ich das Geld brauche! Wenn ich am Tag meine drei bis vier Euro nicht bekomme, dann habe ich am Abend auch nichts zu essen.“ Es finden sich auch positive Sichtweisen: Manche sehen Flaschensammeln als Zeit-vertreib an der frischen Luft oder als Möglichkeit, den Tag zu struk-turieren. Doch weitaus häufiger handeln die Gespräche von Scham, vom Ausgestoßensein, vom Leben am Rand der Gesellschaft.
Das Kompendium lenkt die Auf-merksamkeit auf die „Klasse der Unterversorgten“, die die „Reste des in der Öffentichkeit feiernden und trinkenden Mittelstands“ abräumt. Die Äußerungen der Sammler sind ebenso differenziert und vielfältig wie ihre Strategien zum Überleben in der Stadt.
Philipp Catterfeld, Alban Knecht (Hg.): Flaschensammeln. Überleben in der Stadt.
UVK Verlag, Konstanz 2015, 184 Seiten, 24,99 Euro
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Text: Barbara Schwarz, Frauke Niemann
Das Geld liegt auf der Straße, sagt eine Redensart. Für
Menschen, die Flaschen sammeln, ist der geldwerte Abfall,
den sie in Parks, U-Bahnhöfen oder Mülleimern fi nden, oft
überlebenswichtig.
| 15Wort und Buch
Diese Bücher wurden auf die Probe gestellt, haben einen zweifachen Kinder-TÜV pas-
siert. Seit einiger Zeit gibt es im Familienbereich der Kita Kiezeulen und Gleimstrolche
das „Lesen für Kinder“. Wir stellen Ihnen ausgewählte Schätze dieser Vorlesestunden vor.
Kasimir hat einen Vogelvon Wolfdieterich Schnurre
Kasimir Grünspan ist Schneider. Er schneidert Kostüme, näht Hosen und fl ickt Westen. Manche Men-schen sagen, bei ihm piept‘s wohl. Er habe einen Vogel, so hört man. Eines Tages bekommt Kasimir tat-sächlich Vogelbesuch. Dieser fühlt sich so wohl bei ihm, dass er nicht mehr weggeht. Am liebsten sitzt er auf Kasimir Grünspans Kopf, den jetzt Tag und Nacht ein Hut ziert wegen der scharfen Krallen seines neuen, ein wenig menschenscheu-en Freundes. Der Vogel kann es gar nicht leiden, wenn Kasimir an seinen Kunden Maß nimmt. Und auch die Leute beschweren sich bei Kasimir: Wer einen Vogel hat, kann doch kein Schneider sein! Das macht Kasimir traurig. Er liebt sei-nen Beruf und inzwischen auch den Vogel. Was soll Kasimir jetzt bloß tun?
Aufbau Verlag
gebunden, 32 Seiten
Altersempfehlung: 4-6 Jahre
Ein Haus für den Bärenvon Barbara Ortelli
Im Land Baobab leben alle fried-lich zusammen – in einem einzi-gen Baum, jeder in seinem Haus. Der Biber sammelt Holz und macht Feuer. Maus und Wildschwein pfl ü-cken Beeren, aus denen der Fasan Marmelade herstellt. Das Chamä-leon wechselt die Farbe, wenn den Bewohnern Baobabs Gefahr droht. Als es eines Tages lila wird, ma-chen sich die anderen Sorgen, dass es vielleicht krank ist. Doch was ist das? Am Baumstamm lehnt plötz-lich ein riesiges fremdes Tier. „Ich bin ein Bär. Und ich weiß nicht, wo ich bleiben soll“, brummt es. Auf Baobab ist er nicht erwünscht: zu groß, kein Platz. Der Frosch wirft ein, dass der Bär bestimmt auch et-was gut kann. „Fische fangen“, sagt der Bär und alle sind begeistert. Am nächsten Tag beginnen sie, ein Haus für den Bären zu bauen.
Verlag MINEDITION
gebunden, 32 Seiten
Altersempfehlung: 3-6 Jahre
Doddlmoddlvon Wolfdieterich Schnurre
Doktor Doddlmoddl kümmert sich um Tiere, die alle das gleiche Krank-heitsbild aufweisen: Sie leiden an Menschen. Doddlmoddls unortho-doxe Heilmethoden verfolgen vor allem ein Ziel: „Das Wichtigste ist, dass die Tiere wieder begreifen ler-nen, sie haben einen eigenen Wil-len.“ So verabschieden sich seine geheilten Wellensittiche postwen-dend von der Käfi gstange und ma-chen sich auf in den Urwald. Tiere die noch nicht ganz soweit sind, können u.a. beim Ausfl ug in die Stammkneipe des Tierarztes ihre neue Freiheit beim Selbstbestellen erproben. Nach und nach besinnen auch sie sich auf ihre ungezähm-te Natur, da ist sich Doddlemoddl sicher. So wie sein ambitionierter Vorzeigepatient, der ihm 23 Tage Gefängnis einbrockt. Ein ausgezei-chetes Ergebnis, fi ndet der Tierarzt.
Aufbau Verlag
gebunden, 32 Seiten
Altersempfehlung: 4-6 Jahre
Erlesenes für Kinder
© Aufbau Verlag© Verlag MINEDITION© Aufbau Verlag
16 | Kiez & Kultur
Auf den Spuren eines Industriedenkmals
Auft rieb auf dem Schlacht-hof: Schweine 11.543, Rin-der 2016, Kälber 920, Ham-
mel 14.450. Ein Schlag, hatz, sie liegen.“ In Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz spiegelt der Mikrokosmos Zentralschlachthof die Härte und Roheit der Großstadt wider. Ohne Zweifel war es ein blu-tiges Geschäft , das auf dem 50 Hek-tar großen Gelände um die heutige Th aerstraße betrieben wurde. Seit seiner Eröff nung im Jahre 1881 wurden täglich Tausende Rinder, Kälber, Hammel und Schweine aus
Der Bauch Berlins
grassierende Cholera- und Th ypus-epidemien eindämmen sollte – die Folge gedankenloser Entsorgung von Schlachtabfällen und mangeln-der Hygiene bei der Schlachtung selbst. Nach und nach entwickelte sich eine ganze Industrie zur Ver-arbeitung der Fleisch und Neben-produkte auf dem Gelände. Alles wurde verwertet, die Häute zu Le-der gegerbt, Knochen in der Kno-chenmühle zu Seife verarbeitet, aus Talk in der Talkschmelze künstliche Butter hergestellt und das Tier-blut in der Albuminfabrik für die
dem Berliner Umland lebend auf dem Viehhof angeliefert. Mit dem Zug wurden sie aus den östlichen Provinzen des Reiches nach Berlin transportiert, um an einem der zwei wöchentlichen Markttagen verkauft zu werden. Ihr letzter Weg führte sie zum Schlachthof, dort wurden die Tiere getötet, zerlegt und später in der Markthalle auf dem Alexan-derplatz an die Berliner Fleischer verkauft . Hygienisch kontrollier-tes Schlachten war ein Novum, das den schmutzigen Hinterhof-metzgereien ein Ende machen und
Geführte Touren über das Gelände des Zentralvieh- und Schlachthof Berlin bietet das Museum Pankow an.
Die zweistündigen Touren – zu Fuß oder mit dem Rad – kosten 120 Euro pro Gruppe.
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| 17 Kiez & Kultur
pharmazeutische Industrie aufb e-reitet. Die Größe und Modernität der Anlage – es gab eine funktio-nierende Kanalisation, gepfl asterte, beleuchtete Wege und Warmwas-ser, keine Selbstverständlichkeit um 1900 – waren für diese Zeit beachtlich: der Zentrale Vieh- und Schlachthof war einer der größ-ten Europas. Noch vor Beginn des zweiten Weltkrieg hatte er sich zu einer regelrechten Touristenattrak-tion entwickelt, was ein gedruckter Führer bezeugt, der 1910 bereits in sechster Aufl age erschien.
Auf immerhin 110 Jahre sollte es der Zentrale Vieh- und Schlachthof Berlin letztlich bringen. Zu DDR-Zeiten in Fleischkombinat umbe-nannt, stellte er nach dem Fall der Mauer 1991 seinen Betrieb ein. Viele der alten Hallen mussten seit-
Zu Füßen des
Wasserturms,
Garant für
ausreichenden
Wasserdruck für
die vielen Was-
seranschlüsse
auf dem Gelän-
de, wird eine
Gruppe Rinder
zum Schlacht-
haus geführt.
Im Fleischschauamt wurde das Schlachtfl eisch auf Unbedenklichkeit getestet. Nur Fleisch,
das einen Qualitätsstempel erhielt, durfte das Gelände verlassen.
dem einer neuen Bebauung weichen. Einige steinerne Zeugen Berliner Industriegeschichte sind aber noch erhalten. Damit der sogenannte „Bauch Berlins“ nicht in Vergessen-heit gerät, haben sich das Museum Pankow, die Steremat AFS GmbH und das Geschichtsbüro Müller zusammengetan und laden auf www.schlachthof-berlin.de zu ei-nem virtuellen Rundgang über das geschichtsträchtige Gelände ein: Mithilfe einer interaktiven Karte mit zwölf Stationen (s. Bild links unten) kann man sich ausfürlich über die ältere und jüngere Vergan-genheit des Komplexes informieren. Natürlich kann die dort beschrie-bene Tour auch live vor Ort nach-vollzogen werden. Das Museum Pankow bietet auch geführte Touren über das Gelände an.
KONTAKTTelefon: 0178.8384038
E-Mail: [email protected]
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Text: Frauke Niemann
18 | Kiez & Kultur
Höchstens siebeneinhalbDie Lesebühne „Crazy Words“
Höchstens sieneneinhalb Minuten! So lang darf ein Textbeitrag für die Lesebühne „Crazy Words“ sein.
An jedem 4. Sonntag im Monat trifft sich ein klei-ner Kreis von Stamm-
autoren in Speiches Rock- und Blueskneipe in der Raumerstra-ße, um eigene Texte vorzutra-gen. Natürlich können auch Gäste Selbstverfasstes zu Besten zu ge-ben, oder einfach nur zuzuhören. Jede Veranstaltung wird live auf rockradio.de übertragen.
Rolf Gänsrich hat „Crazy Words“ ins Leben gerufen, er erzählt von den Anfängen der Lesebühne, der Motivation und den Autoren. Eine der Stammautoren von Crazy
kam als Redakteur der Prenzlberger Ansichten, weil ich einen klei-nen Veranstaltungsartikel schrei-ben wollte. Die Truppe und die Atmosphäre waren so anregend, dass ich von da an jede Woche wie-derkam und schließlich ein Dauer-lesegast der Künstlergruppe wurde.
Irgenwann teilte sich die Truppe. Ein Teil blieb „Diesseits im Jenseits“, ein anderer Teil wurde zu den „Be-Ton-Werkern“, die in der Schachkneipe En Passent in der Schönhauser Allee weitermachten. Eine Zeitlang hielt ich „Diesseits im Jenseits“ noch die Stange, dann gründete ich Crazy
Words ist Juliane Beer von rockra-dio, seit 2013 im Boot. Sie spricht sich für mehr Frauenpower auf Berlins Lesebühnen im Allgemei-nen und der Crazy-Word-Bühne im Besonderen aus.
MITTENDRIN: Wie kam es zu Crazy Words?
ROLF GÄNSRICH: Da muss ich etwas ausholen! Ab 2003 veranstal-tete die Künstlergruppe „Diesseits im Jenseits“ immer donnerstags Autorenlesungen mit Livemusik in einer Kneipe in der Raumerstraße, die es heute nicht mehr gibt. Ich
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CRAZY WORDS
Die halboff ene Kleinkunstbühne
Crazy Words fi ndet jeden 4. Sonntag
im Monat statt.
Wo?
Speiches Rock- und Blueskneipe
Raumerstraße 39
10437 Berlin
Wann?
ab 16 Uhr: Stammautoren
ab 17 Uhr: Gastautoren
Kiez & Kultur
Words. Zunächst trafen wir uns in Kreuzberg. 2010 ging es dann in den Prenzlauer Berg in eine Näh-stube in der Schliemannstraße, die leider im Sommer 2013 schließen musste. Auf der Suche nach einem neuen Ort wurden wir dank Thilo Schwarz-Schlüßler im ZENTRUM danziger50 fündig. 2015 wechselten wir dann in Speiches Blueskneipe.
MITTENDRIN: Was motiviert dich weiterzumachen, immer wie-der auf die Bühne zu gehen?
ROLF GÄNSRICH: Erstmal: Dieses Gefühl, auf der Bühne live und qua-si nackt zu stehen, ist unglaublich schön. Genauso wie der Applaus. Zum anderen hole ich mir auf der Bühne die Lockerheit, die ich für meine Hörfunksendung OKbeat bei alex-radio brauche. Und es gibt mir Sicherheit, das Gefühl, alles mode-rieren zu können, selbst wenn Un-vorhersehbares passiert. Außerdem ist meine Triebfeder, jungen Künst-lern, die ich z.B. auch schon in mei-ner Sendung zu Gast hatte, eine Bühne zu bieten, auf der sie auftre-ten können. Oder andersherum: ich lade auch immer wieder neue Leute, die bei Crazy Words auftauchen zu OKbeat, so dass sich beides immer gegenseitig befruchtet.
MITTENDRIN: Bei euch mischen sich alte und neue Hasen auf der Bühne?
ROLF GÄNSRICH: Ja, unsere Stammautoren sind Juliane Beer, Dave, der von Beginn an mit dabei war, Wolfgang Endler und Wolf-gang Weber und icke natürlich. Es
kann jeder vorbeikommen und im zweiten, offenen Teil von Crazy Words, seine Beiträge darbieten, ganz egal, ob Musik, Text oder ar-tistische Vorführung. Wir verste-hen uns nicht als reine Lesebühne, sondern als Kleinkunstbühne. Da Crazy Words ja auch live bei rock-radio ausgestrahlt wird, müssen wir uns alle an gewisse Hörfunkregeln halten.
Die wichtigste Regel sagt: kein ein-zelner Wortbeitrag sollte länger sein als maximal siebeneinhalb Minuten. Um das hinzubekom-men, muss man ein bisschen üben.1. Tipp: Stellt euch Zuhause vor einen Spiegel und lest laut mit Stoppuhr den eigenen Text 2. Tipp: Siebeneinhalb Minuten ent-sprechen ungefähr einer Textlänge von anderthalb Seiten „Times New Roman“ bei Schriftgröße 12.
MITTENDRIN: Juliane, du bist momentan die einzige Frau im Stammautorenkreis. Hast du eine Idee, warum dass so ist?
JULIANE BEER: Grundsätzlich sind Männer bei Berliner Lese-bühnen überrepräsentiert. Woran das liegt? Vielleicht daran: Männer sind in der Regel selbstbewusster als Frauen. Also trauen sie sich auch eher als Frauen mit einem selbstver-fassten Text auf eine Bühne zu stei-gen. Also, Ladies: Nicht zögern, ihr seid bei uns herzlich willkommen!
Entweder man kommt regelmäßig zur Lesung der Stamm-Autoren ab 16 Uhr, oder man kommt einmalig als Gast-LeserIn zur offenen Bühne
ab 17 Uhr. Wir sind aber gar nicht so streng, wie es jetzt vielleicht aus-sieht – Gast-Leser dürfen auch mal ab 16 Uhr auf die Bühne und um-gekehrt springen wir ab 17 Uhr ein, wenn niemand aus dem Publikum will.
MITTENDRIN: Was wünscht ihr euch für die Zukunft?
JULIANE BEER: Wir hoffen, dass wir noch lange in Speiches Blues- und Rockkneipe bleiben können und im Rahmen dieser kurzweili-gen Sonntagnachmittage noch viele nachdenkliche, amüsante, traurige, alberne und todernste Texte zu hö-ren bekommen!Interview: Barbara Schwarz, Frauke Niemann
20 |
transportiert werden, oder nach China, wo in gewissen Regionen die Blüten bereits von Hand bestäubt werden müssen. Er trifft in Arizona Fred Terry, der sich auf Killerbie-nen spezialisiert hat, in Österreich die Familie Singer, die Königinnen züchtet und in die ganze Welt ver-schickt. Schlussendlich sind wir in Australien, wo das Bienensterben noch nicht angekommen ist und wo die junge Familie Baer-Imhoof ihre Forschung betreibt.
Nach dem Film im Gespräch: Die Berliner
Imkerin Angelika Sust und Museumsleiter
Bernt Roder
Mehr als ein Drittel unserer Nah-rungsmittel ist abhängig von der Bestäubung durch Bienen. Der Physiker Albert Einstein soll gesagt haben: Wenn die Bienen ausster-ben, sterben vier Jahre später auch die Menschen aus. Beginnend bei einem Imker in den Schweizer Ber-gen ist Markus Imhoof rund um die Welt gereist. In die USA, wo die Bienen in industriellem Maßstab von Monokultur zu Monokultur
Kiez & Kultur
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More Than Honey
12. November 2015, 19 Uhr
Stadtnatur-FilmfestDokureihe im Museum Pankow am Wasserturm – Eintritt frei!
Das Museum Pankow lädt zum Doku-Filmfest zum Thema „Stadtnatur“ im
Rahmen der Ausstellung NATUR ENTDECKEN IN BERLIN-PANKOW, PRENZLAUER BERG
UND WEIßENSEE ins Kultur- und Bildungszentrum Sebastian Haff ner. Alle Filmabende
sind kostenlos. Los geht es im November mit „More than Honey“, einer Dokumentation
über das weltweite Bienensterben und seine Ursachen.
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DIE BERLINER URBAN GARDENING BERWEGUNG
Überall sind sie zu finden, verwil-derte und geordnete, kleine und große Gärten, an Straßenecken, auf alten Brachflächen und nun auch auf den Berliner Dächern. Mit neu-em Bewusstsein setzen sich die Bür-ger für den Wandel ihrer Stadt ein. Sie wollen es grüner haben, ihr eige-nes Obst und Gemüse anbauen und verstärkt in der Gemeinschaft aktiv ihre Stadt mitgestalten. Neben dem sozialen Aspekt spielt oft auch ein politisches Engagement eine Rolle. Diese aktuelle Entwicklung wird im Dokumentarfilm „Sprechende Gär-ten – Die Berliner Urban Gardening Bewegung“ exemplarisch an sieben verschiedenen Gartenprojekten des Berliner Stadtraums gezeigt, ihre Besonderheit und Vielfältigkeit herausgestellt.
Nach dem Film im Gespräch: Die Filme-
macher Teresa Beck und René Reichelt mit
Museumsleiter Bernt Roder
AUSSTELLUNG
NATUR ENTDECKEN
IN BERLIN-PANKOW,
PRENZLAUER BERG
UND WEIßENSEE
Der Bezirk Pankow gilt zu Recht als einer der grünen Bezirke Berlins. Wie viel-fältig und unterschiedlich die Grünflächen und deren Fauna und Flora ausgestat-tet sind und welche Nut-zungsmöglichkeiten für die Berliner und deren Gäste bestehen, zeigt und präsen-tiert mit allen Sinnen ein übergreifendes Ausstellungs-projekt im Museum Pankow. Außerdem widmet sich die Schau den aktuellen Trends und Entwicklungen der ak-tiven Initiative zur Schaf-fung, Pflege und Erhalt des Grüns in der Stadt (Urban Gardening).
Die Ausstellung „Natur ent-decken in Berlin-Pankow, Prenzlauer Berg und Weis-sensee“ wird noch bis zum 7. Februar 2016 dienstags bis sonntags 10-18 Uhr gezeigt.
Kiez & Kultur
DER JÜDISCHE FRIEDHOF BERLIN WEISSENSEE
Im Norden der Stadt, versteckt in einem Wohngebiet, umgeben von Mauern und bedeckt von einem Ur-wald aus Bäumen, Rhododendron und Efeu liegt der Jüdische Friedhof Berlin-Weißensee. Er wurde 1880 angelegt, ist 42 Hektar groß, hat der-zeit 115.000 Grabstellen und immer noch wird auf ihm bestattet. Weder der Friedhof noch sein Archiv sind je zerstört worden – ein Paradies für Geschichten-Sammler. Britta Wauer und ihr Kameramann Kaspar Köp-ke waren immer wieder auf dem Jüdischen Friedhof und haben einen höchst lebendigen Ort vorgefunden. Menschen aus aller Welt kommen dort hin und können von jüdischer, Berliner und zugleich deutscher Geschichte erzählen, von der dieser Ort erfüllt ist.
Nach dem Film im Gespräch: Filmemache-
rin Britta Wauer und Museumsleiter Bernt
Roder
Sprechende Gärten
03. Dezember 2015, 19 Uhr
Im Himmel, unter der Erde
14. Januar 2016, 19 Uhr
MUSEUM PANKOW
AM WASSERTURM
Prenzlauer Allee 227/228
10405 Berlin
www.j.mp/stadtnaturfi lmfest
Plakat: © Amélie Losier/Britzka FilmPlakat: © Teresa Beck
22 | Kiez & Kultur
Antje Schiff ers
und Wapke
Feenstra von der
internationalen
Künstlergruppe
Myvillages.org
Made in ZvizzchiMyvillages: Die Keramikwerkstatt Yad Chanah
unterstützt internationalen Kulturaustausch
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Mit Unterstützung des Berliner Keramik-meisters Chajim Ha-
rald Grosser entstanden daraus in mehreren Workshops vor Ort Be-hälter für Heilkräuter, Teller und anderes Schönes und Nützliches. Hierfür wurde eigens ein Holz-brandofen gebaut. Die extrem ho-hen Temperaturen beim Brennen, Rauch und Feuer verleihen den Stücken aus Zvizzchi eine ganz eigene Färbung und Oberfläche.
Bis zum 25. Oktober waren die Ke-ramiken zusammen mit anderen Erzeugnissen „Made in Zvizzchi“
im Rahmen der Ausstellung „Na-türlicher Tausch. Internationaler Dorfladen“ in der Moskauer Galerie Bogorodskoje zu sehen. Im März nächsten Jahres soll der „Interna-tionale Dorfladen“ nach Leipzig kommen.
Die Ausstellung ist Teil des Projek-tes „Myvillages“, das die Künstle-rinnen Wapke Feenstra und Antje Schiffers ins Leben gerufen haben. Es geht darum, lokale Geschichten, sprich Dorfgeschichten, zu erzäh-len und in partizipativen Kunst-projekten erlebbar zu machen, das Wechselverhältnis von Land und
Stadt zu beleuchten und Impulsive-für weitere kreative Aktivitäten zu geben.
Im russischen Dorf Zvizzchi, gelegen im malerischen Ugratal, hat ein Fund für Aufregung
unter den Dorfbewohnern gesorgt: Tonerde direkt vor der Haustür!
Text: Frauke Niemann
| 23
nur Zeitvertreib is, oder? Natür-lich nich!!! Viele wissenschaft liche Untersuchungen haben längst den Stellenwert des Spiels für die Ent-wicklung von Mensch und Tier nachgewiesen. Spielen ermöglicht gemeinsame Erlebnisse. Kinder ler-nen bei Wettspielen, dass sie nich nur immer Gewinner sein können. Verlierer zu sein, ist zwar nich un-bedingt schön, aber wer rechtzeitig lernt, solche Situationen zu akzep-tieren, der wird im Leben besser zu-rechtkommen. Beim Spiel in Grup-pen lässt sich prima lernen, anderen Gruppenmitgliedern zu helfen, um gemeinsam zum Ziel zu gelangen.
Darauf baut ja auch ein Großteil der Sportarten auf: Ballspiele, Staff el-läufe und andere Wettbewerbe. Gut für die kindliche Entwicklung sind auch viele unterschiedliche Lern-spiele. Besonders wichtig ist das Freispiel, hier können die Kleinen zum Beispiel in Rollenspielen wie „Vater, Mutter, Kind“ Erlebtes nach-spielen und verarbeiten.
Auf Schritt und Tritt begegnen wir dem und den Spielen. Nun gibt es natürlich auch Spiele, die einer al-lein spielt, z.B. eine Patience legen - schweres französisches Wort. Es be-deutet: Geduld, also etwa: geduldig Spielkarten in eine ganz bestimmte Reihenfolge oder Anordnung zu
Kolumne:
ich bin noch ganz außer Atem! Na, ich hab gestern vielleicht eine Ge-schichte erlebt. Da ich lange nich in unseren Kitas war, wollte ich das mal nachholen. Spring ich also los. Auf der Straße hab ich noch ein bisschen in die Schaufenster der Lä-den gekuckt. So hab ich auch nich rechtzeitig bemerkt, dass ein Hund auf mich zukam. Kein allzu großer, aber seine Geschwindigkeit war beachtlich. Frauchen hatte so eine Leine, die immer länger wird, wenn der neugierige Hund es möchte. Glücklicherweise war das Ende der Leine kurz vor mir erreicht! Er bellte mich an, und ich hatte Angst, dass er mich mit einem Schnaufer einatmen würde – so klein, wie ich bin, hi, hi, hi. Und obendrein hör ich doch Frauchen sagen: „Keine Angst, der will doch nur spielen!“ Hä, spielen? Der Hund?? Mit mir???
Aber nachdenklich bin ich doch geworden. Spielen? Der Hund? Na klar, Tiere spielen auch, genauso wie die Kinder in den Kitas. War-um aber spielen Tiere, Kinder und sogar Erwachsene? Das frage ich mich, weil doch heutzutage alles auf Resultate ausgerichtet ist. Spie-len is doch unnütz, weil das doch
Der Springende Punkt
Hallöle,alle mal herhören… da bin ich wieder,
legen. Solche Spiele stärken das geistige Vermögen. Hm, ungedul-dig werde ich, wenn ich die vielen Menschen sehe, die auf der Straße spielen. Die haben so einen kleinen Kasten in der Hand, auf dem sie mit ihren Daumen herumtrommeln.
Liebe Leute, lasst euch sagen: Das is nich gut! Wenn ihr zusätzlich noch Kopfh örer aufh abt, dann kriegt ihr doch von dem ganzen Verkehr nix mehr mit und gefährdet euch und die anderen Passanten und Fahr-zeuge! Aber, da rede ich wohl gegen die sprichwörtliche Wand, wa?
Genug der Belehrung! Ich war ja dann noch in der Kita. Und da er-wartete mich eine Überraschung. Ich hatte gedacht, viele Spielsachen vorzufi nden. Aber denkste! Nix da-von war zu sehen. Die Kinder spiel-ten im Freien mit Ästchen, Sand, Blättern und verschiedenen Sachen, die sie in der Umgebung fanden, be-obachteten Käfer … Ich ging sporn-streichs zur Leiterin, um mich zu beschweren, dass die Kinder kein Spielzeug haben. Doch erfuhr ich von ihr, dass dies ein pädagogisches Konzept is, um die Kreativität der Kinder zu wecken und zu fördern. Sie nennen das „spielzeugfreie Zeit“. Super, kannte ich nich. Is ja so: wenn nix da is, muss ich mir was einfallen lassen. Und den Kindern fällt jede Menge ein, das wissen wir alle.
Und, meine hochgeschätzte Le-serschar, heut am Abend mal die Fernsehberieselung zugunsten eines familiären Würfel- oder Karten-spiels zurückstellen? Wär das nich was? Schreibt mir doch einfach mal, wenn ihr es getan habt, denn
„Das Spiel ist uns wichtig seit eh
und je“, meint der Springende
Punkt vom KVPB. (pad)
... .. Kiez & Kultur
24 | Das Letzte
Wat? Wo steht denn ditte?
MitTENDRINmachen Impressum
Wer bei dem Kürzel JR nur an Dallas denkt, dem sei geraten, offe-nen Auges durch Berlin zu gehen. Vielleicht sichtet der eine oder an-dere ja dabei den überlebensgroß-en alten Herren, den der französi-sche Street-Art-Künstler JR an eine prominente Hauswand, irgendwo zwischen Mitte und Prenzlauer Berg, tapeziert hat.
„Wrinkles of the city“, heißt sein weltweites Pasting-Projekt, das JR – sein richtiger Name ist nicht be-kannt – u.a. schon nach Cartagena, Shanghai, Los Angeles, Havanna und Istanbul geführt hat.
Die Idee ist ebenso einfach wie be-stechend: JR fertigt überdimensi-onale Schwarzweiß-Portraits von ältern Bewohnern der jeweiligen Städte an und klebt seine großfor-matigen Arbeiten an ausgewählte
Die MITTENDRIN ist das kostenlose Kiezmagazin des
Kulturverein Prenzlauer Berg e.V. Es erscheint alle zwei
Monate in einer Aufl age von 2.000 Stück. Wir freuen uns über
jede Wortmeldung – ob Alltägliches oder Kurioses, kleine
oder größere Aufreger, Lob oder Kritik.
Ganze Artikel sind genauso willkommen wie Themenvor-
schläge, Leserbriefe, Hinweise auf inspirierende Lektüre oder
spannende Veranstaltungen in Prenzlauer Berg. Aktuelle und
vergangene Ausgaben fi nden Sie hier:
www.kvpb.de/mittendrin.
Herausgeber: Kulturverein Prenzlauer Berg e.V.,
Danziger Str. 50, 10435 Berlin | Redaktion: Barbara
Schwarz, Frauke Niemann | ViSdP: Der Vorstand | Layout:
Henriette Anders | Satz und Bildredaktion: Frauke Niemann
Redaktion MITTENDRIN
Barbara Schwarz | Frauke Niemann
Danziger Straße 50 - 10435 Berlin
Tel: 030/346 235 39 | 030/490 852 37
Mail: [email protected]
Gebäuden. Er installiert auf die-se Weise Zeitzeugen der urbanen Transformationen: die Falten der Stadt. Ursprünglich waren es 13 Werke, die die Berliner Straßen schmückten, viele sind der Witte-rung zum Opfer gefallen, wurden abgerissen oder verbaut. Unser Mann hält aber noch die Stellung!
Wenn sie wissen, wo er sich be-findet, senden Sie Ihre Lösung
bitte bis zum 20. Januar 2016 an [email protected]. Unter allen Mitratern verlosen wir ein Neu-jahrsüberraschungpaket.
Des Rätsels Lösung: In der letzten MITTENDRIN-Ausgabe haben wir Karsten E.W. Kunerts Windskulptur gesucht, zu finden auf dem Helmholtzplatz.
Bilderrätsel
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Der Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe ist der 15.01.2016. Ihre Beiträge senden Sie bitte an: [email protected].
Text: Frauke Niemann