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Betriebs- und Branchenpolitik Zweigbüro Industrie-, Struktur- und Energiepolitik Vorstand Bahnindustrie: Branchenreport 2014 Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten

Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

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Page 1: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

Betriebs- und Branchenpolitik

Zweigbüro

Industrie-, Struktur- undEnergiepolitik

Vorstand

Bahnindustrie: Branchenreport 2014

Mobilitätswende mit Innovationenund Guter Arbeit gestalten

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Page 3: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

InhaltVorwort 2

Die Lage der Branche und die Positionen der IG Metall

BahnindustrieEine Branche im Wandel 3

Bahnindustrie und Gute Arbeit: Positionen der IG MetallAuf sicheren Gleisen 5

Beschäftigung ist der Knotenpunkt für alles

Umfrage unter den Betriebsräten der BahnindustrieStarkes Know-how 8

BeschäftigungNachhaltige Personalpolitik 14

GlobalisierungStandorte in Deutschland 16

WertschöpfungProduktion und Innovation 18

Politik stellt wichtige Weichen

Politik: Welche Bahn braucht die Mobilitätswende?Kein gemeinsames Signal 20

Florian Hacker vom Öko-Institut Freiburg: Klimaschutz im VerkehrBahn und Mobilitätswende 23

Jürgen Kerner, IG Metall Vorstand: Europaweit koordinierte VerkehrspolitikPerspektiven entwickeln 24

PolitikVerkehrspolitik neu denken 26

Dr. Wolfgang Neef, Ingenieur und LehrbeauftragterPleiten, Pech und Pannen 28

Die Rolle des EisenbahnbundesamtsUnterschiedliche Sichtweisen 29

Bahnindustrie und Eisenbahnbundesamt„Schwarzer-Peter-Spiel“? 30

Branchenausschuss Bahnindustrie der IG MetallStimme der Beschäftigten 34

Fotos: Frank Rumpenhorst,

PantherMedia,

Bombardier Trans-

portation GmbH,

Faiveley Transport

Witten GmbH,

Siemens AG,

Windhoff Bahn- und

Anlagentechnik

Gmbh

Impressum:

Herausgeber: Detlef Wetzel, Jörg Hofmann,

Wolfgang Lemb,

IG Metall Vorstand,

Wilhelm-Leuschner-Straße 79,

60329 Frankfurt/Main

Redaktion: Astrid Ziegler, Johannes Hauber,

Bernd Lauenroth

Text & Gestaltung: WAHLE & WOLF

Druck: Setzkasten GmbH

Stand: Januar 2014

Page 4: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

2

Die deutsche Bahnindustrie steht weltweit

gut da. Ihre Produktpalette und Dienstleis-

tungen werden den internationalen Ansprü-

chen in jeder Hinsicht gerecht. Das garantiert

die vorhandene Wertschöpfungstiefe, aber

mehr noch das hervorragende Know-how

und das Engagement der Arbeitnehmer/

-innen.

Vom wirtschaftlichen Erfolg der Branche

profi tieren die Beschäftigten jedoch nicht in

dem Maße, wie es fair wäre. Statt für ausrei-

chende Personalkapazitäten zu sorgen, neh-

men Leistungsdruck und Stress weiter zu. Die

hohen Leiharbeitsquoten erhöhen den Druck

auf die Stammbelegschaften (Siehe Seite

11f), der noch wächst, weil Produktion ins

Ausland verlagert wird – und damit Arbeits-

plätze. Hier sind die Weichen falsch gestellt!

Auch die Politik sorgt nicht für eine (stö-

rungs-)freie Fahrt der Bahnindustrie. Die

Branche ist aber ganz erheblich von den rich-

tigen politischen Weichenstellungen abhän-

gig. Und hieran mangelt es bis heute. Des-

halb muss nun unverzüglich daran gearbeitet

werden, folgende Aufgaben endlich zu lösen:

■ Der Zwist zwischen der deutschen Bahn-

industrie und dem Eisenbahnbundesamt

(EBA) muss konstruktiv gelöst werden. Der

durch politische Entscheidungen begrün-

dete Personalmangel ist zu beenden.

■ Alle beteiligten Akteure müssen daran in-

teressiert sein, den Imageschaden für die

deutsche Bahnindustrie zu beseitigen.

■ Ein integriertes Verkehrskonzept für die

Bundesrepublik Deutschland, das ein fai-

res und gleichberechtigtes Zusammen-

spiel der verschiedenen Verkehrsträger

verankert, ist überfällig und gehört end-

lich auf den Tisch.

Von der neuen Bundesregierung gibt es

bisher keine Signale für den überfälligen

verkehrspolitischen Kurswechsel. Da die

Große Koalition mit Blick auf die verkehrspo-

litischen Herausforderungen beim „Weiter

so“ bleibt, bekräftigt die IG Metall ihre Posi-

tionen, die auf ein sicheres Gleis führen – für

die Bevölkerung und für die Beschäftigten

(siehe Seiten 5-7).

Insofern ist es richtig, dass die Branchenar-

beit für die IG Metall einen immer höheren

Stellenwert bekommt. Für die Bahnindustrie

heißt das, dass

■ die Betriebsräte ihr Engagement für Gute

Arbeit uneingeschränkt fortsetzen werden.

■ der Branchenausschuss Bahnindustrie

der IG Metall unvermindert politischen

Druck macht: für einen zukunftsorientier-

ten Kurswechsel in der Verkehrspolitik

(siehe Seiten 34-36).

Die Bahnindustrie ist eine zentrale Schnitt-

stelle für die gesamte deutsche Wirtschaft.

Für Deutschland – mit seinen gewaltigen Ex-

porten und Importen – ist diese Branche von

herausragender Bedeutung.

Mit diesem Branchenreport liefert die IG Me-

tall Denkanstöße und Positionen, die sie mit

Vertretern/-innen der Arbeitgeber und der

Politik diskutieren wird, damit die Bahnin-

dustrie mit motivierten Beschäftigten in eine

sichere Zukunft fahren kann. Er basiert auf

zahlreichen Debatten der Arbeitnehmerver-

treter/-innen in den Betrieben, im Branchen-

ausschuss Bahnindustrie beim Vorstand der

IG Metall, auf der vom IG Metall Vorstand or-

ganisierten Branchenkonferenz im Septem-

ber 2013 in Frankfurt sowie auf der ersten

Umfrage unter Betriebsräten (siehe Seiten

8-13), die die Arbeitsbedingungen der Be-

schäftigten dieses Industriezweigs in den

Mittelpunkt gestellt hat.

Vorwort

Jörg Hofmann,

Zweiter Vorsitzender

der IG Metall

Wolfgang Lemb,

Geschäftsführendes

Vorstandsmitglied

der IG Metall

Page 5: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

3

* Die VDB-Zahlen weichen

von den Angaben des

Statistischen Bundesam-

tes ab. Das Statistische

Bundesamt weist nur

einen Teil der Bahn-

industrie – nämlich den

Schienenfahrzeugbau –

aus. Die nachstehenden

Angaben beziehen sich

ausschließlich auf die

Statistik des VDB.

Deutsche Bahnindustrie ist breit aufgestelltDie deutsche Bahnindustrie entwickelt und

fertigt Systeme und Komponenten für Schie-

nenfahrzeuge und -infrastruktur. Zu ihr ge-

hören einige große Systemhäuser (Alstom,

Bombardier, Siemens, Stadler), Hersteller

von Fahrzeugen, Leit- und Sicherungstech-

nik, Infrastruktur sowie die mit ihnen ver-

bundenen Zulieferer und Dienstleister. Mit

ihren Produkten und Dienstleistungen ist die

deutsche Bahnindustrie in hohem Maße eu-

ropäisch und international vernetzt und zählt

technologisch und industriell zur Weltspitze.

Bahnindustrie weiter auf WachstumskursNach Angaben des Verbands der Bahnindus-

trie in Deutschland (VDB) wurde hierzulande

im Jahr 2012 mit 50 100 direkt beschäftig-

ten Mitarbeitern/-innen ein Umsatzvolumen

von fast elf Milliarden Euro* erwirtschaftet

(siehe Grafi k unten). Zwar hatte sich 2012

die Nachfrage nach Bahnprodukten etwas

abgekühlt, seit Anfang 2013 setzt sich der

Wachstumskurs der vergangenen Jahre aber

fort. Im ersten Halbjahr 2013 erreichte das

Auftragsvolumen mit 8,7 Milliarden Euro eine

neue Rekordmarke. Gewonnene Ausschrei-

bungen – nationale wie auch internationale –

machten es möglich. So konnte die deutsche

Bahnindustrie zwei Großaufträge für sich

verbuchen: Die Deutsche Bahn vergab einen

Auftrag über 450 Lokomotiven, von denen

130 Fahrzeuge allein für 2013 fest bestellt

wurden. Im Zusammenhang mit dem Tha-

meslink-Projekt orderte das britische Trans-

portministerium 1 149 Regionalzugwagen.

Hoch qualifi zierte Beschäftigte sind die eigentliche TrumpfkarteDer solide Auftragsbestand schlägt sich

positiv in der Arbeitsplatzbilanz nieder. Die

Branche beschäftigt mittlerweile 50 400

Mitarbeiter/-innen (Stand: Mitte 2013) –

und damit so viel wie noch nie (siehe Grafi k

Seite 4). Die deutsche Bahnindustrie zeich-

net sich zudem durch ihr hohes Bildungs-

niveau aus. Der Anteil an Ingenieuren und

Technikern ist überdurchschnittlich hoch –

so ein Ergebnis der Betriebsrätebefragung

der IG Metall (siehe Seiten 8-13). Gleichwohl

gilt es, die Attraktivität der Branche als Ar-

beitgeber zu steigern.

Herausforderungen annehmenDie Strukturen der Bahnindustrie haben sich

in den vergangenen Jahren massiv verän-

dert. In den kommenden Jahren ist mit einem

weiteren markanten Wandel zu rechnen. Die

zukünftigen Herausforderungen sind für die

Bahnindustrie nach wie vor sehr groß und

Bahnindustrie

Eine Branche im WandelDer Wandel gehört zur Branche wie das Gleis zum Zug. Die Branche muss die Herausforderungen

annehmen. Die IG Metall will dies mitgestalten. Die deutsche Bahnindustrie ist technologisch

und industriell führend. Hoch qualifi zierte Beschäftigte sind dabei ihre eigentliche Trumpfkarte.

Beschäftigung sichern und Fachkräfte entwickeln – darauf kommt es deshalb entscheidend an.

Quelle: Verband der Bahnindustrie 2013

9,3

7,7

9,3 10,0

6,7

8,9

10,6 10,7

12,8

10,4

9,99,69,19,0

11,3

14,5

10,5

10,7

10,210,910,39,9

8,4

9,9

Umsatz und Auftragseingang in der Bahnindustrie

2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

Auftragseingang in Milliarden EuroUmsatz in Milliarden Euro

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Quelle: Verband der Bahnindustrie 2013

1 einschließlich Lehrlinge und Teilzeitkräfte2 Beschäftigungszeit 2 Monate oder länger

Die IG Metall will

den Strukturwandel

mitgestalten, um

alle Chancen einer

Wachstumsbranche

wie der Bahnindustrie

zu nutzen.

2008 2009 2010 2011 2012 1. Halbjahr 2013

Beschäftigte in der BahnindustrieAngaben in Tausend

Festangestellte1 Leiharbeitskräfte2

50,5+2,0%

41,0

45,0

4,0

41,1

44,8

3,7

41,9

45,8

3,9

44,8

49,14,3

46,4

50,13,7

können zu vier Themenkomplexen gebündelt

werden.

1. Globalisierung

Die Internationalisierung der Bahnindustrie

wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-

orte und Beschäftigte sowohl Sonnen- als

auch Schattenseiten. Häufi g werden bei

neuen Wettbewerbs- und Konkurrenzsitu-

ationen Beschäftigte, Standorte oder Her-

steller-Zulieferer-Beziehungen unter Druck

gesetzt.

2. Wertschöpfungskette

Die deutsche Bahnindustrie deckt im Mo-

ment noch die gesamte Wertschöpfungsket-

te ab. Dies ist ein Standortvorteil. Allerdings

kommen inzwischen Themen wie Verlage-

rung, Schließung des Schienenwerks TSTG,

Umstrukturierung und Personalabbau immer

wieder auf die Tagesordnung. Nicht nur die

davon betroffenen Beschäftigten sind mit

den daraus resultierenden negativen Konse-

quenzen konfrontiert. Auch die Innovations-

kraft der gesamten Bahnindustrie ist damit

gefährdet.

3. Beschäftigung

Ein entscheidender Erfolgsfaktor für die Zu-

kunftsfähigkeit der deutschen Bahnindustrie

ist die Qualifi kation der Beschäftigten. Be-

schäftigungssicherung und Fachkräfteent-

wicklung sind also zentrale Themen für eine

nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit der ein-

zelnen Unternehmen sowie der gesamten

Branche.

4. Politik

Die Bahnindustrie ist stark von politischen

Entscheidungen abhängig. Verkehrspo-

litische Weichenstellungen nicht nur in

Deutschland, sondern mittlerweile auch in

Europa bestimmen maßgeblich über ihre

Zukunft.

Strukturwandel gemeinsam gestaltenDie Bahnindustrie kann sich nicht auf den

wirtschaftlichen Erfolgen der vergangenen

Jahre ausruhen. Sie muss sich den aktu-

ellen und zukünftigen Herausforderungen

stellen und dabei ihre Vorteile nutzen. Da-

ran sind letztendlich Quantität und Quali-

tät der Arbeitsplätze in der Bahnindustrie

gekoppelt.

Die IG Metall will den Strukturwandel mit-

gestalten, um alle Chancen dieser Wachs-

tumsbranche zu nutzen. Sie verliert aber

auch nicht den Blick auf die Risiken. Die

IG Metall richtet ihre Aktivitäten danach aus,

wie Arbeitsplätze und Beschäftigung sowie

Gute Arbeit gesichert werden können. Nicht

Maschinen und Programme sind entschei-

dend für den nachhaltigen Erfolg der Bahnin-

dustrie, sondern das Wissen und Können der

Beschäftigten.

50,5

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5

Die IG Metall und die Betriebsräte des Bran-

chenausschusses der Bahnindustrie setzen

sich dafür ein,

■ den Bahnindustriestandort Deutschland

zu stärken. Unternehmen müssen in

Standorte, Innovationen und Beschäftig-

te investieren.

■ Standorte mit ihren prägenden Schwer-

punkten zu erhalten.

■ die betriebliche Mitbestimmung auszu-

bauen. Betriebsräte und Beschäftigte

reden bei betrieblichen Veränderungs-

prozessen und Arbeitsbedingungen mit.

■ Leiharbeit und Werkverträge zu begrenzen

und fair zu gestalten.

■ ein hohes Qualifi kationsniveau durch

verstärkte Investitionen in die Aus- und

Weiterbildung zu gewährleisten.

■ mit dem Erfahrungswissen langjähriger

Beschäftigter die demografi schen Heraus-

forderungen mit mittelfristigen Personal-

und Qualifi kationskonzepten offensiv an-

zugehen.

■ gesundheitsförderliche und motivierende

Arbeitsbedingungen zu schaffen sowie

eine bessere Vereinbarkeit von Familie

und Beruf für Frauen und Männer zu errei-

chen.

Eckpunkte eines Zukunftskonzepts für die BahnindustriePolitik und Unternehmen müssen alles dafür

tun, damit die Bahnindustrie am Standort

Deutschland weiterhin eine Zukunft hat und

die vorhandenen Potenziale ausschöpfen

kann. Zu einem Zukunftskonzept gehören

folgende Eckpunkte:

1. Bahnindustrie braucht ein klares industrie-

politisches Konzept

Industriepolitisch muss es heute darum ge-

hen, die Bahnindustrie in ihrer gesamten

Breite und Vielfalt für den Industriestand-

ort Deutschland zu sichern. Die IG Metall

fordert von der Bundesregierung eine ver-

stärkte industriepolitische Initiative zum

Erhalt und Ausbau

■ der industriellen Wertschöpfungsketten,

■ des Innovationspotenzials sowie

■ der Arbeitsplätze am Forschungs-, Ent-

wicklungs- und Produktionsstandort

Deutschland.

Die IG Metall und die Betriebsräte der

Bahnindustrie werden sich aktiv daran be-

teiligen, ein Konzept zu erarbeiten, das die

Zukunft der Bahnindustrie sichert. Sie schla-

gen hierzu einen institutionalisierten indus-

triepolitischen Dialog vor, an dem Wirtschaft

(Bahnindustrie, DB AG, private Bahnbetrei-

ber), Politik (Wirtschafts- und Verkehrsmi-

nisterium), (Fahrgast-)Verbände und Gewerk-

schaften beteiligt werden.

2. Bahnindustrie braucht verlässliche Partner

Ziele des partnerschaftlichen Dialogs müs-

sen sein,

■ das Beschaffungsverhalten der Deutschen

Bahn AG und der privaten Bahnbetreiber

zu verstetigen,

■ Transparenz in der Informations- und

Kommunikationspolitik zu schaffen. Nur

darüber lässt sich eine höhere Planungs-

und Arbeitsplatzsicherheit im gesamten

Bahnsektor gewährleisten.

■ Verkehrsinfrastrukturinvestitionen lang-

fristig zu sichern (unter anderem die

Regionalisierungsmittel verstetigen und

gegebenenfalls dynamisieren) sowie die

GVFG-Mittel (Gemeinde-Verkehrs-Finan-

zierungs-Gesetz) fortzuschreiben.

■ ein transparentes, sicheres und belast-

bares Zulassungsverfahren zu entwickeln

und zu verankern.

3. Bahnindustrie ist ein wichtiger Teil eines

zukünftigen Mobilitätssystems

Angesichts des Klimawandels, des Endes des

billigen Öls und hoher Wachstumsraten beim

Bahnindustrie und Gute Arbeit: Positionen der IG Metall

Auf sicheren Gleisen Die zukünftigen Herausforderungen für die Bahnindustrie sind gewaltig. Ob die Unternehmen in

Deutschland diesen gewachsen sind, hängt von vielen Faktoren ab. Letztendlich entscheidet das

über Quantität und Qualität der Arbeitsplätze.

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Güter- und Personentransport ist ein Umbau

des Verkehrssystems hin zu einem integrier-

ten Mobilitätskonzept unerlässlich. Diese In-

tegration verlangt,

■ die verschiedenen Verkehrsträger umfas-

send zu vernetzen und aufeinander abzu-

stimmen.

■ übergreifende Innovationen, damit alle

Verkehrsträger zukünftig eine gleichbe-

rechtigte Rolle spielen.

Die Politik (Bundesregierung und EU) muss

dafür sorgen, dass Mobilitätsleistungen ver-

schiedener Verkehrsträger (Straße, Schiene,

Luft und Wasser) jeweils optimal genutzt und

integriert angeboten werden können. Die

zentrale Herausforderung aus Sicht eines

erfolgreichen Klimaschutzes bleibt das Ziel,

mehr Verkehr auf die Schiene zu verlagern.

Beim Gütertransport gilt es, den kombinier-

ten Verkehr zu stärken und effi ziente Kno-

tenpunkte zu entwickeln, damit er deutlich

schneller und fl exibler wird.

4. Zukunft der Bahnindustrie in Europa

aktiv fördern und gestalten

Eine Politik, die die technologische Kompe-

tenz, industrielle Systemfähigkeit und die

dazugehörenden Arbeitsplätze sichert, wird

mehr denn je europäisch ausgerichtet sein.

Ansatzpunkte hierfür sind eine engagierte

EU-Verkehrspolitik und eine einheitliche eu-

ropäische Bahnpolitik (siehe Seite 24f). Eine

aktive europäische Industriepolitik muss

sich auf ein funktionierendes Finanzmarkt-

system stützen können, das Transaktionen

mit realwirtschaftlicher Grundlage und Wert-

schöpfung in den Mittelpunkt stellt.

5. „Billiger-Strategien“ sind für die

Bahnindustrie nicht zukunftsweisend

Mit überzogenen EBIT-Zielen und einer Dum-

pingstrategie gegenüber den Beschäftigten

kann die Zukunft der Bahnindustrie nicht

gesichert werden. „Billiger“-Ansätze, die

den Arbeits- und Leistungsdruck erhöhen, zu

Personalabbau führen, auf Leiharbeit oder

Werkverträge setzen, führen aufs Abstell-

gleis. Dadurch werden Arbeitsmotivation

und Vertrauen, Kompetenzen und Arbeits-

plätze aufs Spiel gesetzt.

Dagegen ist es nach Meinung der IG Metall

und der Betriebsräte Erfolg versprechender,

die Innovationsführerschaft in den Hän-

den zu behalten. Dafür braucht die Bahnin-

dustrie zukunftstaugliche Personal-, Wert-

schöpfungs- und Produktionskonzepte.

Ausdrücklich gehört es zu einem solchen

industriepolitischen Ansatz, die in Deutsch-

land bewährten Systeme der Mitbestimmung

und der Tarifverträge zu stärken. Die deut-

sche Bahnindustrie hat in der Vergangenheit

eine hohe Innovationskraft bewiesen, wenn

es darum ging,

■ Prozesse zu beherrschen,

■ Materialien effi zient einzusetzen sowie

■ alternative Antriebstechniken und neue

Werkstoffe zu entwickeln.

Zu ihren Vorteilen gehört außerdem ein ho-

hes Qualitätsniveau bei den Produkten.

Verstärkt haben die Unternehmen in den

vergangenen Jahren auf Grund veränderter

Wettbewerbsbedingungen Produktionen

und Betriebe verlagert, betriebliche Funk-

tionen ausgegliedert und rechtlich ver-

selbstständigt und sich auf Kerngeschäfte

konzentriert. Das ging zu Lasten gewach-

sener Abnehmer-Zulieferer-Beziehungen.

Diese Umstrukturierungsprozesse folgten

reinen Low-Cost-Strategien, die die regio-

nale Standortgebundenheit der Unterneh-

men ausgeblendet haben. Aus volks-, aber

auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht gilt

es, das Wissen und die Wertschöpfungsket-

ten zu erhalten. Vielfach erweist sich eine

überzogene und falsch angelegte Outsour-

cingpolitik als negativ für Qualität und Lie-

ferfähigkeit – und damit am Ende sogar als

teurer.

„Billiger“-Ansätze, die

den Arbeits- und Leis-

tungsdruck erhöhen,

zu Personalabbau

führen, auf Leiharbeit

oder Werkverträge

setzen, führen auf’s

Abstellgleis.

6

Page 9: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

Für den Industriestandort Deutschland reicht

es nicht aus, nur zu forschen. Vielmehr müs-

sen die neuen Produkte und Verfahren auch

produziert beziehungsweise hierzulande an-

gewendet werden. Nur so bleibt Deutschland

Produktions- und Entwicklungsstandort, nicht

allein Technologiestandort.

Die IG Metall fordert deshalb,

■ den an Forschung und Entwicklung ori-

entierten Ansatz bei neuen Fertigungs-

techniken sowie der dazugehörigen

Kompetenzen und Fertigkeiten der Be-

schäftigten, die Kernfähigkeit der Unter-

nehmen, auszubauen, um Chancen für

Beschäftigung in Deutschland langfristig

zu sichern.

■ in ganzen Wertschöpfungsketten zu den-

ken und zu handeln. Verlagerung ins „bil-

ligere“ Ausland und Fremdvergabe sparen

vielleicht kurzfristig Kosten, bedrohen aber

langfristig den Standortvorteil eines engen

Wechselspiels und gegenseitiger Abhän-

gigkeit von Innovation und Produktion.

6. Arbeitsplätze in der Bahnindustrie

langfristig sichern

Der Erfolg der Bahnindustrie basiert auf

technologisch hervorragenden Produkten,

die qualifi zierte Beschäftigte entwickeln und

produzieren. Dieses Know-how müssen die

einzelnen Betriebe bewahren, indem sie in

ihre Beschäftigten investieren und eine In-

novationskultur fördern, die den sozialen

und demografi schen Veränderungen gerecht

wird.

Die IG Metall setzt sich gemeinsam mit den

Betriebsräten dafür ein, die Arbeitsplätze in

der Bahnindustrie langfristig unter dem Pri-

mat „Gute Arbeit“ zu sichern. Betriebliche

Flexibilisierungsstrategien nur zu Lasten der

Beschäftigten lehnen sie ab. Leiharbeit und

Werkverträge sind zu begrenzen und fair zu

gestalten. Die Betriebsräte der Bahnindustrie

sehen die Gefahr, dass durch einen weiteren

Abbau der Stammbelegschaften bei gleich-

zeitiger Verschlechterung der Arbeitsbe-

dingungen die Qualität der Produkte leiden

wird. Dadurch würde die Wettbewerbsfähig-

keit der deutschen Bahnindustrie langfristig

nicht ausgebaut, sondern verringert. Bereits

heute wird die Arbeitszeit in der Branche

überdurchschnittlich fl exibilisiert.

Die IG Metall tritt für eine zukunftsorientierte

Politik der Standortsicherung ein. Sie fordert

dazu mittel- und längerfristig angelegte Kon-

zepte, die gemeinsam mit den betroffenen

Beschäftigten und Belegschaftsvertretungen

erarbeitet werden.

7. Hohes Qualifi kationsniveau sichern,

Fachkräftebedarf offensiv angehen

Das Potenzial an jüngeren Fachkräften wird

demografi sch bedingt in Zukunft abnehmen.

Die Belegschaften werden immer älter. Das

erfordert zum einen neue Arbeitsformen und

zum anderen heute schon Lösungen, um den

zukünftigen Fachkräftebedarf in den Unter-

nehmen decken zu können. Qualifi ziertes

Fachpersonal und Forschungskräfte sind am

Arbeitsmarkt immer schwieriger zu bekom-

men.

Besondere Initiativen der Branche, um auf ei-

nem sicheren Gleis in die Zukunft zu fahren,

sind derzeit nicht zu erkennen. Unternehmen

müssen jedoch heute bereits die Weichen

stellen, um für die Zukunft gut gewappnet zu

sein. Dazu gehört: mehr in Ausbildung und

Qualifi zierung zu investieren, mehr Ausbil-

dungsplätze zu schaffen, eigene Beschäf-

tigte weiterzuqualifi zieren sowie älteren

Fachkräften und Frauen bessere berufl iche

Chancen zu bieten. Deshalb setzt sich die

IG Metall gemeinsam mit den Betriebsräten

der Bahnindustrie dafür ein, belastbare Sze-

narien zur Personal- und Qualifi kationsent-

wicklung und darauf aufbauende Maßnah-

men in den Betrieben zu entwickeln; dazu

gehören auch Bildungsbedarfsanalysen.

Die IG Metall setzt sich

gemeinsam mit den

Betriebsräten dafür

ein, die Arbeitsplätze

in der Bahnindustrie

langfristig unter dem

Primat „Gute Arbeit“ zu

sichern.

7

Page 10: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

8

Knapp die Hälfte aller

Betriebe hat mit der

IG Metall einen Beschäf-

tigungssicherungstarif-

vertrag abgeschlossen.

Die Betriebsräte aus zwei Dritteln aller be-

fragten Betriebe prognostizieren für das

Jahr 2014 eine stabile Beschäftigungs-

entwicklung. Dagegen rechnen rund ein

Fünftel aller Betriebsräte im kommenden

Jahr mit einem Beschäftigungsabbau (sie-

he Grafik). Als nützlich hat sich für die

Arbeitnehmer/-innen erwiesen, dass in

40 Prozent aller Betriebe Beschäftigungs-

sicherungsvereinbarungen gelten. Knapp

die Hälfte aller Betriebe verfügen jedoch

derzeit über keinen derartigen Vertrag mit

der IG Metall.

Umfrage unter den Betriebsräten der Bahnindustrie

Starkes Know-howErstmals gibt es verlässliche Daten über die Arbeits- und Produktionsbedingungen sowie das

Know-how der Beschäftigten in der Bahnindustrie. Die Basis dafür liefert eine Umfrage unter den

Betriebsräten der Branche, die von der Agentur für Struktur- und Personalentwicklung (Bremen)

koordiniert und ausgewertet worden ist. Sie wurde im Auftrag der IG Metall durchgeführt und von

der Hans-Böckler-Stiftung fi nanziert. Bisherige Analysen der Unternehmen und ihres Verbands

sowie statistischer Ämter konzentrieren sich vorwiegend auf die ökonomischen Verhältnisse und

vernachlässigen die beschäftigungspolitische Seite. Insofern schließt die vorliegende Umfrage

„Arbeits- und Produktionsbedingungen in der deutschen Bahnindustrie/Schienenfahrzeugtech-

nik“, deren Autor Thorsten Ludwig ist, eine Lücke. Markante Ergebnisse sind: Die Bahnindustrie

hat einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Ingenieuren/-innen und Technikern/-innen, der

dem in der Luft- und Raumfahrtindustrie vergleichbar ist. Ausbildung und Personalentwicklung

spielen eine Rolle. Nahezu alle Ausgebildeten werden übernommen. Die Beschäftigten sind durch

Tarifverträge geschützt.

An der Umfrage beteiligt hatten sich Betriebsräte aus

35 Betrieben mit zusammen 24 436 Beschäftigten. Die

erfassten Betriebe decken beinahe die gesamte Wert-

schöpfungskette innerhalb der Branche ab. So befi nden

sich darunter Hersteller kompletter Bahnsysteme eben-

so wie auf bahntechnische Komponenten spezialisierte

Zulieferbetriebe. Auch Betriebsräte von Strecken- und

Signaltechnikproduzenten, Instandhaltungsbetrieben

sowie von Ingenieurdienstleistern und Herstellern von

Prüf- und Steuerungssystemen wurden befragt.

Der in den letzten zehn Jahren zu beobachtende Konzen-

trationsprozess innerhalb der Bahnindustrie wird auch in

der Umfrage deutlich: Rund 79 Prozent aller erfassten Be-

schäftigten sind in Konzernstrukturen eingebunden oder

gehören Unternehmensgruppen an. Die Umfrage deckte

ein breites Themenspektrum ab:

■ Beschäftigungssituation und -struktur

■ Ausbildung und Qualifi zierung

■ Leiharbeit und Werkverträge

■ Strategische Personalentwicklung

20

65,7

Abbau

gleichbleibend

14,3Zunahme

Erwartete Beschäftigungsentwicklung (im Jahr 2014) Angaben in Prozent

Umfrage unter den Betriebsräten der Bahnindustrie

Page 11: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

Hoch Qualifi zierte prägen die BahnindustrieBei der Bahnindustrie handelt es sich um eine

Hightech-Branche. Die Produktion komplexer

Bahnsysteme oder von Teilen davon erfordert

von den Beschäftigten ein hohes Qualifi ka-

tionsniveau. So überrascht es nicht, dass im

Durchschnitt der Betriebe rund 35 Prozent

aller Beschäftigten entweder Ingenieure/-innen

oder Techniker/-innen sind (siehe Grafi k). In

vielen Betrieben liegt diese Quote weit über

dem Durchschnitt, was vor allem im Bereich

der Strecken- und Signaltechnik sowie bei

Steuerungs- und Prüfsystemherstellern der

Fall ist. Mit diesem hohen Anteil an Inge-

nieuren/-innen und Technikern/-innen nimmt

die Bahnindustrie einen Spitzenplatz ein und

liegt gleichauf mit der Luft- und Raumfahrt-

industrie.

Bahnindustrie weiterhin eine MännerdomäneFür die Metall- und Elektroindustrie ist der ge-

ringe Anteil der dort beschäftigten Frauen cha-

rakteristisch. Dies gilt auch für die Bahnindus-

trie: Nur rund 16 Prozent aller Beschäftigten

sind weiblich (siehe Grafi k). Damit liegt der

Frauenanteil noch weit unterhalb von dem im

verarbeitenden Gewerbe insgesamt, der rund

25 Prozent im Jahr 2012 betrug.

Ob sich der Anteil von Frauen in der Bahn-

industrie mittelfristig erhöhen wird, bleibt

allerdings fraglich. So sind nur rund 14,5

Prozent aller Auszubildenden weiblich. Die

Bahnindustrie wird demnach auch auf abseh-

bare Zeit weiterhin männlich geprägt blei-

ben, sofern die Weichen der strategischen

Personalentwicklung nicht anders gestellt

werden. Auch unter den Ingenieuren/-innen

und Technikern/-innen sind nur 16 Prozent

Frauen, wobei dieser Wert deutlich über dem

Frauenanteil dieser Berufe liegt.

Demografi scher WandelDer demografi sche Wandel spielt auch für die

Bahnindustrie eine wichtige Rolle. Es kann

jedoch noch nicht davon gesprochen werden,

dass die vielfach beklagte „Überalterung“

der Belegschaften in dieser Branche bereits

Realität ist – wie die derzeitige Altersstruktur

zeigt (siehe Grafi k). Dennoch gilt es bereits

heute, vorausschauend künftige Fachkräfte-

lücken zu schließen.

Rund 87 Prozent aller Beschäftigten, die 60

Jahre und älter sind, arbeiten in Vollzeit. Dies

korrespondiert auch mit der Tatsache, dass

Vereinbarungen zu einem frühzeitigen Aus-

stieg aus dem Erwerbsleben (zum Beispiel

Altersteilzeitregelungen) in nur knapp der

Hälfte aller befragten Betriebe angewendet

werden (siehe Grafi k Seite 10).

9

Anteil von Ingenieuren/-innen und Technikern/-innen an den Beschäftigtenin der Bahnindustrie Angaben in Prozent

mit Ing.- /Techniker- Titel

34,6

ohne Ing.- /Techniker- Titel

65,4

Altersstruktur der Beschäftigten Angaben in Prozent

27

jünger als 30 Jahre

60 Jahre und älter

15,3

5,6

30 bis 39 Jahre19

50 bis 59 Jahre

40 bis 50 Jahre

32

Anteil von Frauen an den Beschäftigten in der Bahnindustrie Angaben in Prozent

Frauen

16,1

83,4

Männer

Page 12: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

Ausbildung, Qualifi zierung und PersonalentwicklungDer vielfach beklagte angebliche Fachkräfte-

mangel erfordert von der Industrie insgesamt

wie von jedem einzelnen Unternehmen inten-

sive Anstrengungen, um durch eigene Initia-

tiven das erforderliche Personal zu gewinnen

beziehungsweise auszubilden.

Viele der befragten Betriebsräte haben an-

gegeben, dass die Unternehmen zum Teil

Probleme haben, offene Stellen zu besetzen.

Als Grund nennen sie unter anderem eine un-

günstige regionale Lage jenseits von Metro-

polen. Aber auch in der direkten Konkurrenz

um qualifi zierte Fachkräfte mit Firmen aus

anderen Technologiebranchen (Automobilin-

dustrie, Luft- und Raumfahrtindustrie usw.)

scheinen einige Betriebe der Bahnindustrie

das Nachsehen zu haben.

Die Branche beschreitet bei der Nachwuchs-

rekrutierung unterschiedliche und vielfältige

Wege, dies gilt sowohl für die Ausbildung als

auch für die Personalentwicklung.

Klassische Ausbildung auf niedrigem NiveauBei der klassischen dualen Ausbildung liegt

die durchschnittliche Ausbildungsquote1 der

Bahnindustrie mit 3,8 Prozent auf einem sehr

niedrigen Niveau (siehe Grafi k unten). Aber

insbesondere kleinere Betriebe verzeichnen

eine überdurchschnittliche Ausbildungsquote

von bis zu sieben Prozent. Die im Vergleich zu

anderen Branchen vergleichsweise niedrige

Ausbildungsquote mag auch damit zusam-

menhängen, dass die Bahnindustrie mit ei-

nem sehr großen Anteil von Ingenieuren/-in-

nen diese Beschäftigten von Universitäten und

Hochschulen ausbilden lässt.

Aufgrund der Umfrageergebnisse muss davon

ausgegangen werden, dass sich die Situation

in der dualen Ausbildung auch mittelfristig

nicht verbessern wird. Denn nur zwei der be-

fragten Betriebsräte geben an, dass ihre Be-

triebe eine höhere Zahl der Ausbildungsplätze

anstreben. Dagegen planen fünf Betriebe, die

Zahl der Auszubildenden zu reduzieren. Hin-

zu kommt, dass Firmen vereinzelt auch damit

konfrontiert sind, die von ihnen angebotenen

Ausbildungsplätze mangels Bewerbern/-in-

nen nicht besetzen zu können.

Erfreulich ist hingegen: Im Jahr 2012 sind

rund 90 Prozent aller Ausgebildeten von den

Betrieben übernommen worden. Die Ursa-

chen für Nicht-Übernahmen lagen zumeist

darin, dass die Absolventen sich nach ihrer

Ausbildung für ein Studium entschlossen

oder eine Stelle in einem anderen Unterneh-

men angetreten hatten.

Die Ausrichtung vieler Betriebe der Bahnin-

dustrie auf akademische Ausbildungen be-

legt auch die Tatsache, dass rund 60 Prozent

aller Betriebe ein duales Studium anbieten.

Zwar liegt die durchschnittliche Quote der

dual Studierenden2 bei 0,7 Prozent. In meh-

reren Betrieben sind jedoch Quoten von über

einem Prozent zu verzeichnen, was auch im

Vergleich zu anderen Branchen ein relativ

hoher Wert ist. Zunehmend versuchen die

Betriebe offensichtlich auch, Studenten be-

reits während des Studiums an den Betrieb

zu binden. So liegt die Quote der Werkstu-

denten/-innen3 im Durchschnitt der Betriebe

bei 1,6 Prozent. Einzelne Betriebe weisen

10

Bahnindustrie (2013)

Luft- und Raumfahrtindustrie (2013)

Verarbeitendes Gewerbe (2011)

M+E-Industrie gesamt (2012)

Wirtschaftszweige gesamt (2012)

Gesundheits- und Sozialwesen (2011)

Maschinenbau (2011)

Werftindustrie (2013)

3,8

4,1

5,3

5,5

5,7

6,0

6,3

7,0

4951

Keine Vereinbarung

Vereinbarung vorhanden

Vereinbarung zum frühzeitigen AusstiegAngaben in Prozent

Ausbildungsquoten im Vergleich Angaben in Prozent

Page 13: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

11

Quoten zwischen drei und sechs Prozent auf

(siehe Grafi k).

Strategische Personalentwicklung Neben der Nachwuchsrekrutierung sind die

Betriebe auch bemüht, ihre Beschäftigten

zu qualifi zieren. In rund 55 Prozent aller Be-

triebe existieren deshalb betriebliche Qua-

lifi zierungsprogramme. Deutlich weniger

verbreitet sind dagegen überbetriebliche

Qualifi zierungsprogramme, die nur in 38 Pro-

zent aller Betriebe angeboten werden (siehe

Grafi k unten). Dabei handelt es sich überwie-

gend um konzerngebundene Betriebe. Die

am weitesten verbreitete Form der Weiterbil-

dungsförderung scheinen Freistellungsrege-

lungen seitens des Arbeitgebers zu sein. Die-

ses Instrument nutzen fast 70 Prozent aller

Betriebe. Darüber hinaus bieten mehr als die

Hälfte aller Unternehmen auch fi nanzielle Zu-

wendungen an. Hier gibt es insgesamt noch

Entwicklungspotenziale.

Atypische BeschäftigungAtypische Arbeitsbedingungen sind in dieser

Branche weit verbreitet – mit allen daraus

resultierenden Folgen für die Beschäftigten

und die Interessenvertretungen. Befristete

Beschäftigungsverhältnisse – die eine Form

atypischer Beschäftigung darstellen – gehö-

ren innerhalb der Branche zur Ausnahme. Ge-

rade einmal 3,8 Prozent aller Beschäftigten

der Bahnindustrie haben einen befristeten

Arbeitsvertrag. Wobei in zwei der erfassten

Betriebe Quoten von zehn beziehungsweise

14,4 Prozent erreicht werden.

Anders sieht die Situation bei Leiharbeit

und Werkverträgen aus. Fast jede/r zehnte

Beschäftigte in der Bahnindustrie ist Leihar-

beiter/-in. Die Leiharbeitsquote beträgt im

Durchschnitt 9,2 Prozent, in mehreren Betrie-

ben liegt sie sogar deutlich höher. So sind

Werte von über 20 Prozent keine Seltenheit.

Ein Unternehmen erreicht den Spitzenwert

von fast 40 Prozent.

Die Leiharbeit ist zudem in nahezu allen Be-

trieben – und in allen Produktionsbereichen

– an der Tagesordnung. Während der über-

wiegende Teil der Leiharbeiter/-innen (78

Prozent) im gewerblichen Bereich beschäf-

tigt wird, sind immerhin weitere 16 Prozent

als Ingenieure/-innen tätig. Die verbleiben-

den sechs Prozent der Leiharbeiter/-innen

sind mit kaufmännischen Aufgaben befasst

(siehe Grafi k). Lediglich sechs der 35 befrag-

ten Betriebsräte gaben an, dass es in ihren

Betrieben keine Leiharbeit gibt.

Betriebliche Qualifi zierungsprogramme

Überbetriebliche Qualifi zierungsprogramme

Förderprogramme für Schulabgänger

Programme zur Personal- und Organisationsentwicklung 1 12 22

13 8 113

22 7 24

20 12 3

■ Ja ■ Nein ■ unbekannt ■ keine Angabe

Einsatzbereiche von Leiharbeitnehmern/-innen Angaben in Prozent

gewerblich kaufmännisch

5,578,1

Ingenieure/-innen

16,3

98,4

1,6

Beschäftigte

Werksstudenten/-innen

Anteil von Werkstudenten/-innenAngaben in Prozent

Qualifi zierungsprogramme in den Betrieben: Noch großes Entwicklungspotenzial

Absolute Zahl der befragten Betriebe

Page 14: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

12

Nur zwölf der befragten Betriebe entlohnen

die Leiharbeiter/-innen nach dem Equal-Pay-

Prinzip. 43 Prozent aller Betriebsräte haben

diese Art der Gleichbehandlung für ihre Be-

triebe ausdrücklich verneint. Die offensicht-

lich nur ansatzweise vorhandene Regulierung

von Leiharbeit auf betrieblicher Ebene wird

auch dadurch bestätigt, dass nur in knapp 23

Prozent aller Betriebe eine Betriebsvereinba-

rung zur Leiharbeit existiert (siehe Grafi k).

Die nur selten vorhandenen Betriebsverein-

barungen zur Leiharbeit stehen in einem

deutlichen Kontrast zu den offensichtlich

damit entstehenden und existierenden Pro-

blemen. So wird an erster Stelle der mit der

Einarbeitung von Leiharbeitern/-innen ver-

bundene Zeitaufwand als belastend für die

Stammbeschäftigten beziehungsweise für

die Arbeitsabläufe beschrieben. Weiterhin

werden als Probleme genannt:

■ Verlust von Kernkompetenzen in den Be-

trieben, wo Leiharbeit insbesondere im

Ingenieursbereich eingesetzt wird;

■ niedrigere Entlohnung der Leiharbei-

ter/-innen führt zu „Missstimmung“ im

gesamten Betrieb;

■ zum Teil mehrjährige Einsatzdauer ver-

hindert Neueinstellungen;

■ unzureichende Unternehmensbindung

der Leiharbeiter/-innen stört Prozesse im

Produktionsablauf.

Werkverträge: schlechte DatenlageIn der Bahnindustrie verdrängen Werkverträ-

ge die tarifvertraglich zunehmend regulierte

Leiharbeit offensichtlich noch nicht so stark.

Nur ein Fünftel aller Betriebsräte konnte in den

letzten Jahren einen deutlichen Trend hin zu

Werkverträgen beobachten (siehe Grafi k).

Während die Betriebsräte bezüglich der Leih-

arbeit über relativ gute Informationen verfü-

gen, sieht die Datenlage bei den Werkverträ-

gen erheblich schlechter aus. Dies liegt auch

daran, dass Werkverträge weitestgehend

ohne Beteiligung der Interessenvertretungen

vergeben werden. So existiert nur in einem

der befragten Betriebe eine Betriebsverein-

barung zu Werkverträgen. Rund ein Fünftel

aller Betriebsräte werden bei der Vergabe

von Werkverträgen im Vorfeld beteiligt. Al-

lerdings erhalten nur in drei der befragten

Unternehmen die Betriebsräte vor der Ver-

gabeentscheidung eine Wirtschaftlichkeits-

rechnung zum jeweiligen Werkvertrag.

Für die befragten Betriebe lässt sich fest-

halten, dass die Werkvertragsquote bei 5,6

Prozent liegt (siehe Grafi k Seite 13). In meh-

reren Unternehmen lassen sich deutlich

überdurchschnittliche Werkvertragsquoten

feststellen. So sind Quoten zwischen 8,5 und

zwölf Prozent keine Seltenheit. Der Spitzen-

wert liegt bei 18,5 Prozent. Wie die Leihar-

beit, so kommen auch Werkverträge in fast

allen Arbeitsbereichen vor. Darunter fallen

unter anderem Logistik, Montage, Gleisbau,

aber auch Entwicklung und Engineering so-

wie IT-Administration.

Die Interessenvertretungen verfolgen beim

Thema Werkverträge unterschiedliche Stra-

tegien. So bietet sich offensichtlich für viele

Betriebsräte die Arbeitssicherheit an, um

mit den von den Werkvertragsunternehmen

eingestellten Beschäftigten ins Gespräch zu

kommen und über die Arbeitsbedingungen

zu sprechen. Grundsätzlich stehen die Be-

triebsräte jedoch vor dem Problem, dass der

Kontakt zu Werkvertragsarbeitern/-innen

deutlich schwieriger ist als beispielsweise zu

Vorhandene Betriebsvereinbarungen über Leiharbeit Angaben in Prozent

22,8

2,9

2,9

71,4

Nicht bekannt

Keine Angabe

Ja

Nein

Zunehmende Umwandlung von Leiharbeit in Werkverträge Angaben in Prozent

20,0

62,9

Ja

Nein

8,6

8,6Nicht bekannt

Keine Angabe

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13

Leiharbeitern/-innen. Außerdem ist es für sie

problematisch, zu erkennen, ob es sich um

einen Werkvertrag, Leiharbeit, Dienstleis-

tungsvertrag oder um Scheinselbständigkeit

handelt.

In mehreren Betriebsräten wurden mittler-

weile Projektgruppen eingesetzt, die sich mit

der Thematik der Werkverträge beschäftigen.

Daraus sind auch gezielte Strategien zur An-

sprache von Werkvertragsarbeitern/-innen

entwickelt worden.

Hohe Bedeutung von Tarifverträgen Der hohe Verbreitungsgrad von Tarifverträ-

gen in der Bahnindustrie wird durch die Um-

frage bestätigt. Sie gelten in allen befragten

Betrieben und garantieren den Beschäftigten

damit tarifl ich abgesicherten Schutz. Gemes-

sen an allen erfassten Betrieben bedeutet

dies, dass rund 86 Prozent aller Beschäf-

tigten zu tarifl ichen Bedingungen arbeiten,

während rund 14 Prozent über- beziehungs-

weise außertarifl ich beschäftigt sind. Bei

Ingenieuren/-innen und Technikern/-innen

sind knapp 27 Prozent außer- oder überta-

rifl ich beschäftigt. Nur rund 14 Prozent aller

Beschäftigten arbeiten auf der Basis von

40-Stunden-Verträgen. Einen solchen Vertrag

besitzt aber rund ein Viertel aller Ingenieu-

re/-innen und Techniker/-innen.

Wege zu einer zukunfts- und wettbewerbsfähigen BahnindustrieDie hohe Beteiligung der Betriebsräte an

dieser Umfrage zeigt, dass das Thema der

Arbeits- und Produktionsbedingungen den

Interessenvertretungen „unter den Nägeln

brennt“. Aus den Ergebnissen und insbe-

sondere aus den Anmerkungen der Betriebs-

räte zu einzelnen Aspekten der Umfrage

lassen sich drei Handlungsfelder ableiten,

deren Ausgestaltung auch entscheidend für

eine weiterhin leistungsfähige Bahnindustrie

ist:

1. Verstärkte Ausbildungsaktivitäten und

Qualifi zierungsinitiativen sind zentral für

die gesamte Branche, um Fachkräfte zu

sichern.

2. Gute Arbeit und eine alter(n)sgerechte

Gestaltung der Arbeit wird zunehmend

wichtiger, wenn der Anteil älterer Be-

schäftigter wächst.

3. Leiharbeit und vor allem Werkverträge

erfordern eine stärkere Mitbestimmung

und Mitwirkung durch die Betriebsräte.

1 Ausbildungsquote = Anteil der Auszubildenden

an allen Beschäftigten2 Duales-Studium-Quote = Anteil der dual Studie-

renden an allen Beschäftigten3 Werkstudent/-innen-Quote = Anteil von Werkstu-

dent/-innen an allen Beschäftigten

Werkvertragsquote Angaben in Prozent

Werkvertrags-arbeitnehmer/

-innen

5,6

Stamm-beschäftigte

94,4

Page 16: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

Die international als Hightech-Branche anerkannte deutsche Bahnindustrie ist auf hoch qualifi -

zierte Fachkräfte angewiesen. Mehr als ein Drittel aller Beschäftigten verfügt über einen Abschluss

als Ingenieur/-in oder Techniker/-in. Für eine nachhaltige Personalpolitik sind fünf Handlungs-

felder bedeutsam.

Fachkräfte und kann offene Stellen schon

heute nicht immer besetzen. Die niedrige

Ausbildungsquote weist darauf hin, dass die

Bahnindustrie nicht vorsorgt. Und nur jeder

zweite Betrieb verfügt über Weiterbildungs-

angebote. Die Grundpfeiler einer zukunftsfä-

higen, nachhaltigen Personalpolitik sind also

ziemlich wackelig.

4. Demografi scher Wandel und Beschäf-

tigungsstruktur: Die Altersstruktur in den

Betrieben der Bahnindustrie erzeugt aktuell

noch keinen Druck. Da fast sechs Prozent der

Beschäftigten über 60 Jahre alt sind und ganz

überwiegend in Vollzeit arbeiten, muss die

Gestaltung alter(n)sgerechter Arbeitsplät-

ze in den Fokus rücken. Schon heute muss

verstärkt an diejenigen gedacht werden, die

bald in die Altersgruppe der über 60-Jährigen

hineinwachsen. Außerdem muss die Branche

auch für weibliche Arbeitskräfte attraktiver

werden.

5. Gute Arbeit: Dieses Thema stellt große He-

rausforderungen, auch weil einige Betriebe zu

über 100 Prozent ausgelastet sind. Arbeitszeit-

konten und ständige Überstunden verweisen

auf den Dauerstress der Beschäftigten. Und

so lange eine nachhaltige Personalpolitik eine

Dauerbaustelle ist, wird das Signal für „Gute

Arbeit“ wohl kaum auf Grün überspringen.

Beschäftigung

Nachhaltige Personalpolitik

14

1. Beschäftigung sichern statt Personal ab-

bauen: Der Bahnverkehr wird in den künftigen

Mobilitätsstrategien eine (zunehmend) wich-

tigere Rolle spielen. Qualifi zierte Fachkräfte

zu erhalten muss für die Branche beziehungs-

weise für jedes Unternehmen in Deutschland

eine Leitlinie sein, um wettbewerbsfähig zu

bleiben. Wer bei Auftragsschwankungen und

dergleichen mit Personalabbau reagiert, lan-

det auf dem falschen Gleis.

2. Atypische Beschäftigung: 80 Prozent aller

Betriebe nutzen Leiharbeit. Und zwar nicht

nur, um Produktionsspitzen abzubauen. Da-

raus ergibt sich eine Vielzahl von Problemen:

■ Die Einarbeitung erfordert einen hohen

Zeitaufwand.

■ Die niedrige Entlohnung führt zur Miss-

stimmung im Betrieb und zu einem er-

höhten Druck auf die Stammbelegschaft.

■ Kernkompetenzen gehen verloren, wenn

Leiharbeiter/-innen sie zum anderen Ar-

beitgeber mitnehmen und neu Festange-

stellte darüber noch nicht verfügen.

Dass Leiharbeit zunehmend durch Werkver-

träge ersetzt wird, ist in der Bahnindustrie

noch nicht erkennbar.

3. Fachkräftesicherung, Ausbildung und

Qualifi zierung: Die Bahnindustrie konkur-

riert mit anderen Branchen um qualifi zierte

Page 17: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

Betriebsräte sagen, was Sache ist

Jürgen Korstian, Bombardier, Netphen: „Für

Auftragsschwankungen und -änderungen

gibt es oft keine Personalreserven, was zu

Qualitätsverlusten führen kann.“

Armin Baumgarten, Siemens, Braunschweig:

„Auch wenn der demografi sche Wandel noch

kein drückendes Problem darstellt, darf kein

Erfahrungswissen verloren gehen. Alters-

gemischte Teams könnten diesem Risiko

pro-aktiv begegnen. Wichtig ist auch eine al-

ter(n)sgerechte Arbeitsplatzgestaltung.“

Carsten Bremer, IG Metall Peine, Salzgit-

ter: „Die Kollegen möchten gern den Quali-

tätsansprüchen nachkommen, was aber bei

dieser hohen Auslastung schwierig ist. Der

Leistungsdruck steigt, eine zunehmende

psychische Belastung stellen wir auch im ge-

werblichen Bereich fest.“

Michael Hummel, Thales, Stuttgart: „Ein

betriebliches Eingliederungsmanagement,

ein Demografi e-Tarifvertrag sowie eine poli-

tische Lobbyarbeit der IG Metall für die Rente

mit 60 sowie gegen Leiharbeit und Werkver-

träge sind angesagt.“

Karl-Heinz Beckers, Windhoff, Rheine: „Al-

ternsgerechtes Arbeiten in der Fertigung ist

bisher bei uns kein Thema. Wir sollten dabei

jedoch auch an die Büros denken. Wenn das

so weitergeht, müssen wir uns über Burnout,

steigende Krankheitsquoten und psychische

Belastungen nicht mehr wundern.“

Franz Böhme, Siemens, Wegberg: „Bei

Leihabeitern und Werkverträglern sollten wir

auf eine Festanstellung hinarbeiten. Bei uns

wurde schon ein Großteil von Leiharbeitern

übernommen. Warum? Weil es schwierig ist,

Leute zu fi nden – und neue Leute müssen

erst eingearbeitet werden.“

Mario Stahn, voerstalpine BWG, Branden-

burg: „Produktionsvolumen und Personal

klaffen auseinander. Es gibt keine vernünfti-

ge Planung. Deshalb werden bei uns zu we-

nig Auszubildende eingestellt.“

Rolf Lindemann, Alstom, Salzgitter: „Schwei-

ßer werden bei uns schon lange nicht mehr

ausgebildet, sondern gesucht. Wir müssen

‚alte Berufe’ wieder ausbilden, auch Elektri-

ker.“

Frank Tromp, Faiveley, Witten: „Um den Wis-

senstransfer von Alt auf Jung ist es schlecht

bestellt. Vor 10 bis 15 Jahren dachte man, das

machen wir künftig alles automatisch, aber

der Mensch ist nicht überall durch Roboter

ersetzbar. Roboter kennen die Spezifi katio-

nen nicht, Menschen handeln intuitiv und mit

ihren Erfahrungen richtiger.“

Lolita Saidy, Bombardier, Braunschweig:

„Know-how in der Bahntechnik ist sehr spezi-

fi sch und damit rar gesät. Bindung der Mitar-

beiter mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung

sollte für jede Firma an erster Stelle stehen.“

15

Page 18: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

16

Die Globalisierung hält den Weltmarkt ständig in Bewegung. Der europäische Raum bleibt der

wichtigste Markt. Chinesische Hersteller, die bisher vor allem die Binnennachfrage befriedigen,

stoßen zunehmend nach Europa und Nordamerika vor. Dies kann hierzulande zu einem starken

Kostendruck führen.

Globaler Bahnmarkt wächst dynamischDie deutsche Bahnindustrie ist international

ausgerichtet. Sie setzt mittlerweile fast die

Hälfte ihrer Produkte außerhalb Deutsch-

lands ab. Seit 2008 wird der außereuropä-

ische Markt immer wichtiger. Der globale

Bahnmarkt wird sich weiter dynamisch ent-

wickeln.

Der attraktivste Markt mit dem höchsten

Marktvolumen bleibt der europäische Raum,

gefolgt von Asien, NAFTA und GUS. Europa ist

für die Bahnindustrie der entscheidende Trei-

ber, wenn es um innovative technologische

Lösungen (wie z. B. das European Rail Traffi c

Management System [ERTMS]) geht. Mit jähr-

lichen Raten von bis zu zehn Prozent ist in

den nächsten Jahren für den afrikanischen

und südamerikanischen Markt zu rechnen

(laut Prognosen des Verbands der Bahn-

industrie).

Wettbewerb nimmt international massiv zuDie Geschäfte der deutschen Bahnindustrie

verschieben sich von Europa zu den Wachs-

tumsmärkten in den Schwellenländern Asi-

ens, Afrikas und Südamerikas. Mittelfristig

wird ihr Engagement dort weiter zunehmen.

Die Bahnindustrie nutzt auf der einen Sei-

te Low-Cost-Standorte in Osteuropa, Asien

und in anderen Ländern als Komponenten-

lieferanten. Auf der anderen Seite zwingen

Local-Content-Vorschriften deutsche Unter-

nehmen, sich in den Wachstumsmärkten

zu engagieren und dort zu produzieren. Sie

bauen neue Werke/Standorte auf und gehen

global strategische Kooperationen ein.

Die aufstrebenden Staaten bauen seit eini-

gen Jahren eine eigene Bahnindustrie auf,

die sie massiv fördern – auch beim Export.

Zwar deckt zum Beispiel die chinesische

Bahnindustrie bisher vorwiegend den Be-

darf des eigenen Landes, aber langfristig will

sie in die europäischen und nordamerikani-

schen Märkte vorstoßen. Versuche, in Europa

aufzutreten, gibt es schon (beispielsweise in

Polen oder Bulgarien). Auch Bahnunterneh-

men anderer Länder – wie beispielsweise

Hitachi aus Japan – sind in Europa präsent

und erfolgreich.

Heute gehören die chinesischen Hersteller

CSR und CNR zu den Umsatzstärksten der

Branche und nehmen auf der weltweiten

Rangliste die Plätze 1 und 3 ein. Die neuen

Machtverhältnisse sind nicht auf eine struk-

turelle Schwäche der etablierten Systemhäu-

ser (Bombardier, Alstom und Siemens) zu-

rückzuführen, sondern darauf, dass CNR und

CSR auf einem politisch gesteuerten Heimat-

markt mit gigantischen Hochgeschwindig-

keits- und Metroprojekten operieren. Die chi-

nesische Bahnindustrie muss aber erst noch

beweisen, ob sie außerhalb des eigenen Lan-

des Fuß fassen kann. Mit der Verschiebung

der Marktanteile in die Schwellenländer wird

die Standortfrage wieder neu gestellt: Wo wird

produziert? Wo wird entwickelt?

Deutsche Unternehmen reagieren unzureichendDie Reaktion der deutschen Unternehmen

auf diese Entwicklung ist unzureichend. Sie

fahren zwar unterschiedliche Strategien:

Beispielsweise im Rohbau fertigt Alstom in

Polen, Stadler und Siemens produzieren in

Deutschland, Bombardier geht in Low-Cost-

Countries. Gemeinsam haben sie allerdings,

dass sich ihre Ausweichstrategien im Lohn-

und Arbeitsdruck auf die Beschäftigten (davon

sind alle Bereiche betroffen – die Produktion

wie auch die Entwicklung) oder teilweise in

Verlagerungen (zum Beispiel einfacher Kons-

truktionsaufgaben nach Indien) widerspie-

Globalisierung

Standorte in Deutschland

Page 19: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

geln, statt die hiesigen Standorte innovativ

weiterzuentwickeln.

Die deutschen Standorte werden sich statt-

dessen immer mehr auf ihre Kernkompeten-

zen zurückziehen. Ihr Wertschöpfungsanteil

konzentriert sich auf komplexere Montagetä-

tigkeiten beziehungsweise Forschungs- und

Entwicklungsaktivitäten, die weniger beschäf-

tigungsintensiv sind. Die Wachstumsmärkte

ziehen perspektivisch auch immer stärker

Anteile an höher qualifi zierten Tätigkeiten

an sich, so dass zunehmend Arbeitsplätze an

heimischen Standorten gefährdet werden. All

dies führt dazu, dass die Standortkonkurrenz

auch innerhalb von Unternehmen und Konzer-

nen zunimmt.

Qualitäts- statt KostenwettbewerbDie deutsche Bahnindustrie kann im rei-

nen Kostenwettbewerb mit aufstrebenden

Schwellenländern nicht bestehen. In der

Massenproduktion werden diese schnell

eine Zuglänge voraus sein. Die Wettbewerbs-

fähigkeit kann die deutsche Bahnindustrie

nur über herausragende Qualität sichern.

Investitionen und Beschäftigung stehen oft-

mals im Konfl ikt mit dem Renditewahn der Ei-

gentümer. Vielfach geht es heute nur noch um

kurzfristige Gewinnziele und um Quartalszah-

len. Solche Geschäftsmodelle greifen zu kurz.

Sie schwächen die eigene Innovationskraft,

statt selbst Innovationstreiber zu sein.

Die Entwicklung in der deutschen Bahnin-

dustrie ist nicht nachhaltig. Sie gefährdet de-

ren bisherige Stärke, mit gut ausgebildeten

Fachkräften qualitativ hochwertige Produkte

herzustellen. Den internationalen Wettbe-

werb kann die Bahnindustrie aber nur mit

hoch motivierten Beschäftigten und ihren

Fähigkeiten, Fertigkeiten und ihrem Fachwis-

sen gewinnen.

Qualität erfordert Innovationen und MitbestimmungEs wird für die heimische Bahnindustrie aus-

schlaggebend sein, ob sie ihre Innovationsfä-

higkeit weiterentwickeln kann. Eine wichtige

Frage dabei ist, wie das Fachwissen der Be-

schäftigten und die betrieblichen Mitbestim-

mungsstrukturen gefördert werden können,

um Beschäftigung zu sichern und die betrieb-

liche Innovationsfähigkeit zu erhöhen. Inno-

vationen lassen sich nur mit qualifi zierten

Beschäftigten erfolgreich gestalten, denen

Gute Arbeit geboten wird. Deren Know-how

gehört in den Mittelpunkt und damit auch die

Frage, wie der Bedarf an gut ausgebildeten

Beschäftigten gedeckt werden kann. Zudem

bestätigen zahlreiche wissenschaftliche Un-

tersuchungen, dass die Innovationsfähigkeit

maßgeblich von einer akzeptierten und geleb-

ten Mitbestimmungspraxis profi tiert.

Betriebsräte können also als Innovationstrei-

ber eine wichtige Rolle spielen. Beschäftigte

liefern als Ideengeber oft die entscheidenden

Impulse. Es geht darum, „Besser statt billi-

ger“-Strategien zu entwickeln und umzusetzen.

Internationaler fairer WettbewerbsrahmenDie internationale Arbeitsteilung braucht

einen fairen Rahmen. Davon kann noch kei-

ne Rede sein. So boomt in den Schwellen-

ländern die Wirtschaft, aber die Schere zwi-

schen Arm und Reich klafft immer weiter aus-

einander. Es rächt sich, dass der internationa-

le Handel bislang kein Instrument ist, das auf

verbesserte Arbeits- und Lebensbedingungen

in den ärmeren Ländern setzt. Die bilatera-

len Freihandelsabkommen, die zum Beispiel

die EU-Kommission derzeit mit Drittländern

abschließt, müssen deshalb zumindest die

Sozialstandards und arbeitsrechtlichen Min-

destnormen der Internationalen Arbeitsorga-

nisation (IAO) verbindlich verankern. Freihan-

delsabkommen sollten Märkte öffnen, aber

nicht das soziale Gefüge zerstören.

17

Betriebsräte sagen, was Sache ist

Volker Wattenberg, Siemens, Krefeld: „Ver-

stärkt fl ießt Know-how ab, das einen hohen

Kunden-Lieferanten-Mehrwert hat. Ebenso

steigen der Preis- und der Termindruck. Für

unsere Arbeitsplätze ist eine Deutschland-

strategie wichtig, die Europa im Blick hat.

Und für uns gilt ‚Mensch vor Marge’.“

Michael Wobst, Bombardier, Henningsdorf:

„Die Branchenbetriebsräte müssen häufi ger

an einen Tisch, um ihre Kooperation zu ver-

stärken; dazu gehört auch ein Netzwerk der

Systemhersteller. Es muss darum gehen, wie

wir uns gemeinsam positionieren und welche

Konfl iktstrategien wir für ‚besser statt billi-

ger’ verfolgen wollen.“

Angelika Carl, Thales, Berlin: „Wir müssen

politisch Einfl uss nehmen, damit es einen

fairen Wettbewerb geben kann. Dazu gehö-

ren einheitliche Ausschreibungskriterien zu

Qualitätsstandards, zur Sicherheit und zu

Sozialstandards.“

Page 20: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

Wer Produktion verlagert und Stand-orte schließt, gefährdet InnovationenDie deutsche Bahnindustrie zeichnet sich auch

dadurch aus, dass große Systemhäuser, Zu-

lieferer, Weichen- und Gleisbauer (noch) die

gesamte Wertschöpfungskette abdecken. Dies

war stets ein Vorteil, um Innovationen zu gene-

rieren. Allerdings werden zurzeit Produktions-

verlagerungen und Standortschließungen voll-

zogen oder angekündigt. Das wirkt sich nicht

nur auf die davon betroffenen Beschäftigten

negativ aus, sondern gefährdet auch die Inno-

vationskraft der gesamten Industrie.

Kerngeschäft oder Diversifi zierung?Innerhalb der Branche lassen sich heutzuta-

ge unterschiedliche Unternehmensstrategien

beobachten, um dem erhöhten Wettbewerbs-

druck zu begegnen: Auf der einen Seite wird

versucht, sich nur noch auf das eigentliche

Kerngeschäft zu konzentrieren. Auf der an-

deren Seite gibt es Tendenzen, das Angebot

an Produkten und Dienstleistungen zu diver-

sifi zieren. So beteiligen sich Siemens und

Bombardier an ÖPNV-Ausschreibungen für

den Betrieb inklusive Service von S-Bahnen

beziehungsweise Regionalbahnen; Alstom hat

ein Ausbesserungswerk der Deutschen Bahn

übernommen. Welcher Weg eingeschlagen

wird, entscheidet jedes Unternehmen für sich.

Die Betriebsräte müssen darauf achten, wel-

che Konsequenzen dadurch für die Beschäftig-

ten zu erwarten sind.

Innovation ohne Produktion?Die Produktion wird in einigen Betrieben zu-

gunsten von Entwicklung und Konstruktion

zurückgefahren. Angesichts von anscheinend

kostengünstigeren Produktionsstandorten

im Ausland werden in Deutschland auch so ge-

nannte Kompetenzzentren aufgebaut – ohne

direkt damit verbundene Produktionskapa-

zitäten. Beschäftigungssicherungsvereinba-

rungen und Standortgarantien sind nur zwei

Instrumente, mit denen Betriebsräte und

IG Metall dieser Arbeitgeberstrategie ent-

gegentreten können.

Ausspielen der Standorte gegeneinanderAbhängigkeiten von großen Konzernen

schränken die Spielräume an den Standorten

ein, auch die der örtlichen Betriebsräte. Insbe-

sondere bei den Betrieben, die zu den großen

Systemanbietern gehören, wird deutlich, dass

eigenständige Entscheidungen und Strategien

an den jeweiligen Standorten zusehends sel-

tener werden. Die wachsende Abhängigkeit

von den Konzernzentralen wirkt sich oftmals

ungünstig auf die Flexibilität und Innovations-

fähigkeit der einzelnen Standorte aus. Die ört-

lichen Betriebsräte müssen sich deshalb noch

intensiver miteinander abstimmen, auch um

nicht gegeneinander ausgespielt zu werden.

Fairer Umgang: Hersteller und ZuliefererDie Abhängigkeit der Zulieferer von den gro-

ßen Endherstellern hat in den letzten Jahren

deren Lage verschlechtert. Entwicklungspro-

zesse und die damit verbundenen Risiken

werden ihnen zunehmend übertragen. Zudem

leiden sie unter wachsendem Kostendruck –

zum Teil in Form von Preisdiktaten. Eine auf ge-

genseitiger Fairness basierende Kooperation

zwischen Systemanbietern/Großkunden und

Zulieferern ist immer seltener anzutreffen. Um

die Wertschöpfungskette in Deutschland in-

takt zu halten und zu stärken, bleibt ein fairer

Umgang zwischen den Unternehmen unerläss-

lich. Ein ausschließlich auf Profi tmaximierung

einzelner Unternehmen ausgerichteter Wett-

bewerb schadet mittel- und langfristig dem

gesamten Industriezweig.

18

Noch deckt die deutsche Bahnindustrie nahezu die gesamte Wertschöpfungskette ab. Um dies

auch für die Zukunft zu gewährleisten, gilt es, gleichermaßen Produktion und Innovation an den

Standorten zu stärken. Die wachsende Abhängigkeit von Konzernzentralen beeinträchtigt oftmals

die Flexibilität und Innovationsfähigkeit vor Ort.

Wertschöpfung

Produktion und Innovation

Page 21: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

19

Betriebsräte sagen, was Sache ist

Roland Schuster, Bombardier, Mannheim:

„Bombardier hat seine Wertschöpfungskette

nicht in Deutschland, anders als Siemens.

Wird an einem Standort nicht mehr produ-

ziert, ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch

Ingenieurtätigkeiten verlagert werden. Damit

beginnt die Strategie, Standorte gegenein-

ander auszuspielen, und zwar nicht nur hier

bei uns im Land, sondern europaweit. Immer

öfter geschieht dies, indem Stundensätze

verglichen werden.“

Bernd Lauenroth, IG Metall, Zweigbüro Düs-

seldorf: „Polen und Brasilien sind nicht so

günstig, wie es immer dargestellt wird: Aus-

geblendet werden Transferkosten und die

Kosten der hohen Fluktuation der Mitarbei-

ter, die nach einer guten Ausbildung oft ei-

nen noch attraktiveren Arbeitsplatz fi nden.

Die tatsächlichen Kosten-Nutzen-Fakten bei

Verlagerungen werden dem Aufsichtsrat nicht

offen auf den Tisch gelegt. Dann gibt es zwar

auf dem Papier den billigeren Zulieferer aus

China. Aber wenn aus Qualitätsgründen Teile

immer wieder zurückgeschickt werden müs-

sen, werden die Nachhaltigkeitskosten nicht

mehr betrachtet.“

Jörg Werner, Fahrzeugtechnik Bahnen, Des-

sau: „Billig, billig ist nicht immer das Wahn-

sinnsthema. Oft steht der Zeitfaktor im Vor-

dergrund. Der große Druck bei der zeitlichen

Planung liefert dann auch die ‚Argumente’ für

Werkverträge und Leiharbeiter.“

Heinz-Georg Mesaros und Ilhan Kenan,

TSTG, Schienentechnik, Duisburg: „Die

Wertschöpfungskette wird oft nur in einzel-

nen Abschnitten und isoliert betrachtet: Da

ordert der Einkauf preisgünstig Teile und

steht bombig da. Aber die Produktion muss

dann Qualitätsmängel ‚ausbügeln’. Wenn die

Rechnung unter dem Strich nicht stimmt, ist

das ein hausgemachtes Problem.“

Gerd Kaczmarek, Bombardier, Bautzen: „Fast

überall fehlen nachhaltige Zukunftskonzepte.

Folgekosten, die entstehen, weil man sich zu-

vor beim Personal zu Tode gespart hat, wer-

den nicht berücksichtigt. Das Stellwerk der

Bahn in Mainz ist nur ein konkretes Beispiel.

Und in der Industrie werden oft die Kosten der

Nacharbeit unter den Teppich gekehrt.“

Bernd Eberle, Alstom, Salzgitter: „Im Bran-

chenausschuss müssen wir unsere Strate-

giediskussionen verstärken. Und wir sollten

die Unternehmensstrategien dann über die

Betriebsräte, den Gesamtbetriebsrat und

unsere Mitglieder im Aufsichtsrat erheblich

stärker beeinfl ussen. Bei guter Auftragslage

ist die Zusammenarbeit der Arbeitnehmer-

seite natürlich immer einfacher. Aber gerade

wenn es nicht so gut läuft, kommt es darauf

an, dass die Betriebsräte in einem Konzern

zusammenhalten und zusammen handeln.“

Josef Kreutz, Talbot Services, Aachen: „Die

Schließung von Standorten dient oft der

Marktbereinigung – wie bei der TSTG. Das

führt dann zu dauerhaftem Know-how-Ver-

lust und zum Arbeitsplatzabbau. Die Politik

fordert zwar immer lautstark Vielfalt und

Wettbewerb, aber sie lässt das Gegenteil

geschehen. Damit verliert die Industrie an

Bedeutung.“

Samuel Pitters, voestalpine BWG, Butzbach:

„Die Politik ist oft der Auftraggeber. Gerade

die Auftragsvergabe der öffentlichen Hand

an den billigsten Anbieter wirkt sich stets ne-

gativ auf die Qualität und die Beschäftigung

aus. Nutzen wir hier unseren Einfl uss genü-

gend?“

Bernd Rosin, Bombardier, Schweiz: „Innova-

tion ohne Produktion ist kein nachhaltiges

Konzept. Wird die Wertschöpfungskette wei-

ter zerrissen, steigen die Qualitätsproble-

me.“

Dietmar Giesen, DB Fahrzeugtechnik, Kre-

feld: „Nicht nur Standorte stehen unter-

einander in Konkurrenz, sondern auch ein-

zelne Abteilungen. Der Blick aufs Ganze fehlt.

Wer Produktion auslagert, reduziert die Ferti-

gungstiefe und erhöht die Kosten.“

Page 22: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

Mobilitätswende mit der Bahn?Alle Parteien sind sich einig, dass die Bahn

bei der Mobilitätswende bedeutsam ist, auch

wenn das Bekenntnis hierzu unterschiedlich

stark ausfällt. „Die Bahn sollte bei der Mobi-

litätswende eine zentrale Rolle spielen. Sie

ist auch – die Energiewende unterstützend

– am leichtesten auf Erneuerbare Energien

umstellbar, und zwar wesentlich einfacher

als Lkw und Schiffe“, betonte Anton Hofreiter

von den „Grünen“. Zur Bahn hätten alle Men-

schen Zugang – zum Auto nur, wer einen Füh-

rerschein und das Geld für die Anschaffung

habe. Für die Bahn sprächen also soziale

wie ökologische Gründe. Darüber hinaus sei

auch der Güterverkehr für ein Land wichtig,

das exportiert und importiert.

„Der Fokus muss jetzt darauf gerichtet wer-

den, die Kapazitäten der Schiene zu steigern

und den Netzgedanken in der Verkehrspolitik

zu stärken“, erklärte Sören Barol (SPD).

Patrick Döring (FDP) verwies darauf, dass

der Bund die Finanzierung des Nah- und

Fernverkehrs sicherstelle. „Der Anteil der

Schiene muss erhöht, um den richtigen Weg

muss gerungen werden.“ Folgende Aufga-

ben müssten in der Zukunft gelöst werden:

Engpässe überwinden, mehr Züge für den

Fernverkehr, Infrastruktur und Lärmschutz

verbessern. „Gleisanschlüsse für Firmen

können wieder aktiviert werden, wenn die

Kapazitätsprobleme behoben sind“, sagte

der FDP-Politiker.

Für Die Linke ist „die Bahn das Rückgrat der

Mobilitätswende. Wir brauchen eine sozi-

al-ökologische Mobilitätswende zugunsten

der Schiene in Europa“, sagte Sabine Leidig.

Man dürfe nicht allein darauf achten, die Pas-

20

Dass die Bahn bei der Mobilitätswende unverzichtbar ist, darin waren sich die Parteienvertreter

einig. Unterschiedlich beurteilten sie die Fragen nach dem Sinn und Nutzen der Privatisierung

und ob die Bahn mehr Geld braucht, um ihre Herausforderungen zu bewältigen. Zur Rolle des

Eisenbahnbundesamtes gab es keine nennenswerte Kontroverse.

Politik: Welche Bahn braucht die Mobilitätswende?

Kein gemeinsames Signal

Welche Bahn braucht die Mobilitätswende? Über diese Frage diskutierten die folgenden Vertre-

ter und eine Vertreterin der Fraktionen des Deutschen Bundestags auf der Bahnkonferenz der

IG Metall Ende September 2013 in Frankfurt/Main (von links):

Sören Bartol, MdB, Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Dr. Anton Hofreiter, MdB, Fraktion Die Grünen, Vorsitzender des Verkehrsausschusses des

Deutschen Bundestags

Patrick Döring, MdB, Generalsekretär der FDP

Sabine Leidig, MdB, verkehrspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke

(Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion war auch eingeladen.)

Moderation: Judith Schulte-Loh, Journalistin und Moderatorin, WDR

Page 23: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

21

sagierzahlen zu steigern. „Wir brauchen eine

Flächenbahn für alle. Genau davon entfernen

wir uns in vielen Regionen des Landes. Der

Anteil der Bahn ist in den letzten Jahren nicht

mehr gestiegen. Aber der Neubau von Stra-

ßen.“

Mehr Geld für die Bahn?Ob die Bahn mehr Geld braucht, um den künf-

tigen Herausforderungen gerecht zu werden,

beurteilten die Parteien unterschiedlich.

Sören Bartol erklärte: „Wir benötigen zusätz-

liches Geld für die Bahn. Deshalb muss auch

die Lkw-Maut ausgedehnt werden. Bisher

werden aber die Prioritäten falsch gesetzt.

Mehr Geld für die Vernetzung und für die

Substanz (Brücken) ist erforderlich. Der Be-

stand muss komplett geprüft werden.“ Der

SPD-Politiker verlangte auch zusätzliche Fi-

nanzmittel für Forschung und Entwicklung

der Bahn. Riesige Summen würden in die

Elektromobilität fl ießen. Vorhandenes Geld

müsse verstärkt in die „Elektro-Schiene“ ge-

steckt werden, die längst funktioniere.

Widerspruch hierzu formulierte Anton Hofrei-

ter: „Man darf nicht immer nach mehr Geld

für die Bahn schreien. Zuerst muss auf der

Basis eines vernünftigen Bundesverkehrs-

wegeplans klar sein, wofür das Geld benötigt

wird. Ist die Unterfi nanzierung der Infrastruk-

tur bei der Bahn wirklich dramatisch? Wird

das Geld für die richtigen Sachen ausgege-

ben? Nein!“

Für Patrick Döring sind „Investitionen für die

Bahn wichtig. Aber sie können aus vorhande-

nen Steuerspielräumen fi nanziert werden.“

Sabine Leidig plädierte dafür, den „schädli-

chen Verkehr“ zu reduzieren. Nötig sei eine

höhere Lkw-Maut, für die Straßen müsse es

weniger öffentliche Subventionen geben. Die

Politikerin der Linken verwies darauf, „dass

Kommunen und Landkreise wegen der Schul-

denbremse beim Verkehr in Schwierigkeiten

geraten, auch beim ÖPNV auf der Schiene.

Die Mittel müssen umverteilt werden.“ Sie

sprach sich generell dagegen aus, dass „bil-

lig“ zum Hauptkriterium bei Ausschreibun-

gen für Bahnprojekte wird.

Ist Privatisierung sinnvoll?Die Notwendigkeit und die Folgen der Bahn-

privatisierung beurteilten die Parteienvertre-

ter auch unterschiedlich. „Die Bahn ist ins-

gesamt deutlich attraktiver geworden, auch

wenn sie unter Mehdorn nicht die besten Jah-

re erlebt hat. Der neue Vorstandschef Grube

ist besser. Er geht Kapazitätsprobleme und

Engpässe im Netz an und will sie beseitigen“,

sagte Sören Bartol. „Wir brauchen mehr Neu-

baustrecken.“

Nach Meinung von Sabine Leidig „ist die

Bahn vor allem auf Privatisierung getrimmt

worden. Alle Ziele, die damit verbunden wa-

ren, sind gescheitert: Weder sind die Investi-

tionen noch ist der Service besser geworden.

Der massive Stellenabbau der letzten Jah-

Riesige Summen fl ießen

in die Elektromobilität.

Vorhandenes Geld muss

verstärkt in die „Elek-

tro-Schiene“ gesteckt

werden, die längst

funktioniert.

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Kein „heißes Eisen“ war

in der Parteien-Diskus-

sion das Zulassungsver-

fahren des Eisenbahn-

bundesamtes.

re hat die Sicherheit beeinträchtigt und zu

Chaos (S-Bahn in Berlin, Stellwerk in Mainz)

geführt. Ein solches Unternehmen, das eine

gesellschaftliche Aufgabe erfüllen muss, zu

privatisieren und am Gewinn zu orientieren,

ist eine grundlegende Frage.“ Um Geld zu

sparen, werde der „Lärmterror“ des Güter-

verkehrs nicht wirksam bekämpft – und der

Verkehr in Europa werde noch wachsen. Die

Linken-Politikerin forderte eine „Abkehr von

unsinnigen Groß-/Prestigeprojekten, die nie-

mand braucht – wie Stuttgart 21“.

Patrick Döring hielt dagegen: „Eine solide Er-

tragskraft der Bahn ist auch für die Bahnindus-

trie wichtig. Eine Sehnsucht (Renaissance)

nach der alten Behörden-Bahn lehnt die FDP

ab.“

Zulassung vereinfachen?Kein „heißes Eisen“ war in der Parteien-Dis-

kussion das Zulassungsverfahren des Eisen-

bahnbundesamtes (EBA). Anton Hofreiter

sah hier nicht die „Hauptbaustelle“. Er fragte

aber, ob das EBA auch künftig alles machen

müsse. Der Grünen-Politiker betonte aller-

dings: „Bei der Zulassung ist eine Stichtags-

regelung notwendig. Es darf nicht ständig

neue Regulierungen geben.“ Rückblickend

sagte er: „Die Bahnindustrie hat sich in den

letzten 20 Jahren schwer getan. Bis dahin lag

alles in den Händen der Bundesbahn. Das

EBA hat die Bahnindustrie erst an die Hand

genommen.“

Patrick Döring stimmte einer Stichtagsre-

gelung zu. Auch müsse das EBA „nicht alles

machen. Für die Luftfahrt- und Autoindus-

trie werden bei der Zulassung auch andere

Wege beschritten.“ Man müsse aber davon

wegkommen, dass nach dem Eschede-Urteil

EBA-Beamte auch persönlich haften.

Schließung des Duisburger Schienenwerks TSTG ist falschDie IG Metall Duisburg-Dinslaken hat

sich bis zuletzt dagegen gewehrt, dass

der österreichische Konzern voestalpi-

ne sein Schienenwerk in Deutschland

(TSTG Schienen Technik) schließt. „Es

hat ernsthafte und seriöse Kaufi nter-

essenten gegeben, die von voestalpine

abgeblockt wurden“, sagt Dieter Lies-

ke, der 1. Bevollmächtigte. Hier gehe

es allein darum, den Schienenmarkt zu

bereinigen und das Angebot künstlich

zu verknappen, damit die Preise wie-

der steigen. „Der Konzern aus Linz will

so vor allem dafür sorgen, dass sein

eigenes Schienenwerk in Leoben-Do-

nawitz dauerhaft und stabil ausgelastet

bleibt.“

Die TSTG in Duisburg war zuletzt mit

knapp 400 Beschäftigten der einzige

Anbieter sämtlicher Schienenprofi le in

Europa, die benötigt werden.

Page 25: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

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Klimaschutz im Verkehr

Bahn und MobilitätswendeDie Bahn gilt schlechthin als das umweltfreundlichste motorisierte Verkehrsmittel. Doch Frage-

zeichen sind erlaubt, meint Florian Hacker vom Öko-Institut, einer Forschungs- und Beratungsein-

richtung in Freiburg. Sie könnte mehr tun für den Klimaschutz.*

Der Umweltvorteil der Bahn verringert sich,

da die Pkw technisch immer effi zienter wer-

den – gezwungen durch die CO2-Regelung

der Europäischen Union. Die Fernreisebusse

– als neue Konkurrenz der Bahn – schnei-

den im CO2-Vergleich noch günstiger ab.

Den Anteil erneuerbarer Energien am Bahn-

strommix zu erhöhen, „ist ein wichtiger Stell-

hebel. Die bisherigen Ziele sind aber wenig

ambitioniert. Die Grünstrom-Angebote der

DB AG sind für die Kunden nicht transpa-

rent. Und aus der Strombereitstellung lässt

sich kein relevanter Umweltnutzen ableiten“,

sagte Florian Hacker. Er plädierte dafür, die

Energieeffi zienz stärker zu beachten, und

zwar geht es darum, den Energieverbrauch

im Fahrzeugbetrieb und der Infrastruktur zu

reduzieren.

Mehr Verkehr auf die SchieneInsgesamt genügen die politischen Weichen-

stellungen im Personen- und Güterverkehr

nicht, „um die Energie- und Klimaziele der

Bundesregierung zu erreichen“. Der Schienen-

verkehr steigt nur im Gütertransport bei der

Verkehrsleistung deutlich an. Um die Ziele zu

erfüllen, kommt der Bahn in den gegenwärti-

gen Klimaschutzszenarien nur eine unterge-

ordnete Rolle zu: „In keinem Szenario des Per-

sonenverkehrs wird derzeit ein wesentlicher

Beitrag durch die Verlagerung von der Straße

beziehungsweise Luft auf die Schiene ange-

nommen.“

Florian Hacker meinte jedoch, dass die Ver-

kehrsverlagerung eine bedeutende Rolle

spielen kann, um die Klimaschutzziele zu

verwirklichen. Die Potenziale zur Verlagerung

des Verkehrs auf die Schiene sind bisher je-

doch wissenschaftlich kaum untersucht wor-

den: „Wie eine solche Verlagerung erreicht

werden kann, muss von der Politik und der

Bahn stärker thematisiert werden.“

Der wissenschaftliche Mitarbeiter des Frei-

burger Öko-Instituts fasste den Beitrag der

Bahn zur Mobilitätswende so zusammen:

■ Veränderungen im Verkehrssektor sind

notwendig, um die Energieziele im Ver-

kehr zu erreichen.

■ Die Mobilitätswende erfordert einen

ganzheitlichen Ansatz – vergleichbar

dem der Energiewende.

■ Ambitionierte Entwicklungen bei den An-

triebstechnologien und beim Kraftstoff,

deren Realisierung unsicher ist, bestim-

men die bisherigen Szenarien.

■ Verkehr zu vermeiden und Verkehr zu ver-

lagern: Das hat in bisherigen Szenarien

und in der Politik einen eher untergeord-

neten Stellenwert.

Florian Hacker betonte als Aufgabe: „Ziel

muss es sein, die Bedeutung der Bahn für

eine Mobilitätswende und die Erreichung der

Klimaschutzziele deutlich zu machen und in

eine neue Gesamtstrategie stärker zu inte-

grieren.“

* Der Text basiert auf

einem Referat, das auf

der Bahnkonferenz der

IG Metall im September

2013 gehalten wurde.

Page 26: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

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„Wie schaffen wir die Mobilitätswende?“ Mit dieser Frage beschäftigt sich Jürgen Kerner, ge-

schäftsführendes Vorstandsmitglied und Hauptkassierer der IG Metall, vor allem unter dem euro-

päischen Blickwinkel. Er formuliert dabei Anforderungen aus Sicht der Gewerkschaft. Dazu gehört

vor allem, die vorhandenen Verkehrsträger optimal zu integrieren sowie die Verkehrs- und Indus-

triepolitik europaweit zu koordinieren.*

Welche Rolle spielt künftig die Mobilität?

■ Mobilität – sowohl von Menschen als

auch der Transport von Rohstoffen und

Gütern – ist eine zentrale Grundlage für

Wohlstand und Beschäftigung.

■ Weltweit wird der Verkehr zunehmen, ins-

besondere in den BRIC-Staaten. Auch in

Deutschland – einem Transitland – wird

das Niveau hoch bleiben.

■ Mobilität hat negative Begleiterscheinun-

gen, insbesondere durch den Kohlendio-

xidausstoß sowie den Verbrauch knapper

und auch endlicher Rohstoffe.

■ Zudem stößt das heutige Verkehrssystem

durch Überlastung an seine Grenzen.

Daher muss heute eine realisierbare Per-

spektive entwickelt werden. Hierbei ist die

Industrie der Schlüssel zu Nachhaltigkeit,

wenn sie Ressourceneffi zienz und Innovati-

onsfähigkeit erhöht und verbindet. Das gilt

für die Energie- ebenso wie für die Mobili-

tätswende.

Die Herausforderung lautet, dem steigenden

Bedürfnis nach Mobilität umweltschonend

gerecht zu werden. Grundlage hierfür ist eine

Verkehrspolitik, die die Mobilitätsleistungen

aller Verkehrsträger – also Straße, Schiene,

Wasser und Luft – optimal integriert.

Die Zukunft liegt also in der Vernetzung der

verschiedenen Verkehrsträger, in intelligen-

teren und abgestimmten Verkehrssystemen

und in einer verkehrsträgerübergreifenden

Kommunikation. Dies stellt auch die Infra-

struktur vor neue Anforderungen.

Für den Güterverkehr etwa müssen effi zien-

te Knotenpunkte entwickelt werden, um den

kombinierten Verkehr zu stärken und ihn

deutlich schneller und fl exibler zu machen.

Das ist eine Herkulesaufgabe für die Politik in

Deutschland und in der Europäischen Union,

zumal es in Europa große Unterschiede gibt.

Frankreich konzentriert sich zum Beispiel auf

den Hochgeschwindigkeitsschienenverkehr,

in Spanien spielt der Fernbusverkehr eine

große Rolle.

Daher ist es lesenswert, was die EU-Kommis-

sion 2011 ins Weißbuch „Verkehr“ geschrie-

ben hat. Ihre Vision, wie wir im Jahr 2050

unsere Güter transportieren und wie wir uns

fortbewegen sollen, umfasst zehn Ziele:

1. Halbierung der mit konventionellem Kraft-

stoff betriebenen Pkw in Städten bis 2030,

vollständiger Verzicht bis 2050;

2. Erreichung eines 40-Prozent-Anteils CO2-

emissionsarmer Flugkraftstoffe bis 2050,

Verringerung der CO2-Emissionen von

Schiffen um mindestens 40 Prozent;

3. Verlagerung von 50 Prozent des Personen-

und Güterverkehrs mit einer Entfernung

über 300 Kilometern auf Bahn und Schiff;

4. Vollendung des europäischen Hochge-

schwindigkeitsschienennetzes bis 2050,

Aufrechterhaltung eines dichten Schie-

nennetzes;

5. Realisierung eines EU-weiten multimoda-

len transeuropäischen Verkehrsnetzes;

6. Anbindung aller Flughäfen an das Schie-

nennetz, vor allem an das Hochgeschwin-

digkeitsschienennetz, und aller Seehäfen

an das Güterschienenverkehrsnetz;

7. Vollendung eines gemeinsamen europäi-

schen Luftverkehrsraumes, Einführung ei-

ner Flugverkehrsmanagement-Infrastruk-

tur, eines Managementsystems für den

Land- und Schiffsverkehr und des Satelli-

tennavigationssystems Galileo;

8. Schaffung eines europäischen multimo-

dalen Verkehrsinformations-, Manage-

ment- und Zahlsystems;

Europaweit koordinierte Verkehrspolitik

Perspektiven entwickeln

Jürgen Kerner,

Hauptkassierer und

geschäftsführendes

Vorstandsmitglied der

IG Metall

* Der Text basiert auf

einem Referat, das auf

der Bahnkonferenz der

IG Metall im September

2013 gehalten wurde.

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9. Senkung der Zahl der Unfalltoten im Stra-

ßenverkehr auf nahe Null, weltweit führen-

de Rolle in technischer Sicherheit und Ge-

fahrenabwehr bei allen Verkehrsträgern;

10. Umsetzung des Verursacher- und Nutzer-

prinzips bei den Kosten, größeres Engage-

ment des Privatsektors im Verkehr.

Die EU-Kommission erntete Lob und Kri-

tik. Die „Allianz Pro Schiene“ wertete die

Vorschläge als „starkes Signal für den Auf-

bruch in eine neue Mobilitätswelt“. Für den

Verband der Automobilindustrie sieht es

nach „planwirtschaftlichen Methoden von

gestern“ aus. Aus Sicht der IG Metall ist der

Umbau des Verkehrssystems in Richtung in-

tegrierter Mobilität angesichts der ökonomi-

schen, sozialen und ökologischen Herausfor-

derungen seit langem überfällig.

Allerdings liest sich das Weißbuch eher wie

ein Wunschkonzert. Nehmen wir die Bahn.

Deutschland überhöht die Liberalisierung des

Bahnmarkts, Frankreich bleibt bei seiner natio-

nalen Spielart der Industriepolitik. Ein Beispiel

ist die ICE-Verbindung Frankfurt am Main – Lon-

don. Im Oktober 2010 ist der erste ICE durch

den Eurotunnel unter dem Ärmelkanal gefah-

ren, eine öffentlichkeitswirksame Testfahrt.

Dann gab es drei Jahre lang Tauziehen. Die

französische Regierung und der Alstom-Kon-

zern versuchten zu verhindern, dass ICE-Zü-

ge von Siemens durch den Tunnel zwischen

Frankreich und Großbritannien fahren. Nun,

im Juni 2013, gab es grünes Licht. ICEs dürfen

fahren.

Ursprünglich wollte die Deutsche Bahn schon

2013 den Betrieb aufnehmen, sogar 2012 zu

den Olympischen Spielen in London hatte

der Bahnchef ins Spiel gebracht. Jetzt ist das

Jahr 2016 ins Auge gefasst.

Damit sind wir mitten in der europäischen

Bahnrealität. Sechs Jahre von der Testfahrt

bis zum Regelbetrieb! Es gibt nicht die eine

Zulassung für eine gesamte Strecke durch

mehrere Länder. In jedem Land muss eine

Einzelzulassung eingeholt werden. 20 ver-

schiedene Zugsicherungssysteme existieren

in der EU nebeneinander, obwohl mit dem Eu-

ropean Rail Traffi c Management System eine

technische Lösung vorhanden ist. Wie sollen

dann erst die großen Wünsche der EU-Kom-

mission verwirklicht werden? Offenbar fehlt

der politische Wille in den Mitgliedsstaaten

– und mittlerweile aufgrund der Sparpolitik

wohl auch das nötige Kleingeld.

Vor diesem Hintergrund erscheint der Ansatz

der EU-Kommission realitätsfremd. Außer-

dem spielen im Weißbuch die Verkehrs-

industrie und ihre Beschäftigten – und damit

die Träger von Wissen und Innovation – keine

Rolle. Es wird nicht erkannt, dass eine starke

Verkehrsindustrie mit sicheren und guten Ar-

beitsplätzen die Basis eines zukunftsfähigen

Verkehrssystems ist.

Wenn die Zahnräder von Forschung, Ent-

wicklung, Produktion und Wartung nicht gut

ineinander greifen, dann dreht sich auch das

große Rad eines Verkehrssystems nicht! Da-

her muss im ersten Schritt geklärt werden,

wo neue Autos, Bahnen, Busse, Flugzeuge,

Hubschrauber und Schiffe gebaut werden.

Kein Buchstabe steht dazu im Weißbuch!

Kaum einen Satz hört man dazu auch in der

deutschen Verkehrspolitik. Von übergreifen-

der Industriepolitik kann noch lange nicht

gesprochen werden.

Heute ist die deutsche Verkehrsindustrie

noch sehr gut aufgestellt, auch ein zukunfts-

fähiges Verkehrssystem mit- und auszuge-

stalten. Heute kann sie die Autos, Bahnen,

Flugzeuge und Schiffe sowie notwendige

Infrastrukturleistungen entwickeln und dann

auch produzieren, die für ein neues Mobili-

tätskonzept notwendig sind.

Dafür müssen wir aber auch heute entschei-

dende Fragen angehen: Wie kann der Tech-

nologievorsprung gehalten und ausgebaut

werden? Wie kann die notwendige Infrastruk-

tur bereitgestellt werden? An Innovations-

ideen mangelt es nicht.

Heute ist die deutsche

Verkehrsindustrie noch

sehr gut aufgestellt,

auch ein zukunftsfähi-

ges Verkehrssystem mit-

und auszugestalten.

Page 28: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

Wie kaum eine andere Branche unterliegt die deutsche Bahnindustrie eigenen Gesetzmäßigkei-

ten. Sie hängt massiv von öffentlichen (Verkehrs-)Etats ab und damit von politischen Entscheidun-

gen. Verkehrspolitische Weichenstellungen in Europa und Deutschland bestimmen das künftige

Wachstum der Bahnindustrie. Für die (Fehl-)Entwicklungen der letzten Jahre waren fünf Punkte

von entscheidender Bedeutung.

1. Die falsche Konzernpolitik der Deutschen

Bahn: Die Entwicklung der Branche war

und ist untrennbar mit der Entwicklung der

Deutschen Bundesbahn beziehungsweise

der Deutschen Bahn AG verbunden. Mit der

Bahnreform von 1994 wurde die Systempart-

nerschaft der Hersteller und der Deutschen

Bahn (DB) aufgekündigt.

Durch die eingeleiteten Privatisierungs- und

Liberalisierungsprozesse auf dem traditio-

nellen Bahnmarkt veränderten sich die Wett-

bewerbsbedingungen für die Bahnindustrie

gravierend. Die Branche hat es seitdem nicht

mehr mit einem reinen Staatsunternehmen

zu tun, sondern mit auf Profi t und Rendite

ausgerichteten Bahnbetreibern. So tritt die

DB AG heute als „Global Player“ auf und kann

wegen der bestehenden Beherrschungsver-

träge zwischen der DB AG Holding und deren

Töchtern Mittel aus DB Station & Service,

DB Netz und DB Energie abziehen (auch Re-

gionalisierungsgelder), um ihre weltweiten

Aktivitäten zu fi nanzieren, anstatt diese für

Investitionen ins deutsche Bahnnetz einzu-

setzen. Zwar ist der Börsengang der DB AG

derzeit kein Thema, er ist aber lange noch

nicht vom Tisch. Die in der Vergangenheit

eingeleiteten Schritte gingen nicht nur zu

Lasten der Beschäftigten, sondern wirkten

sich auch gravierend auf die Beschaffungs-

politik der DB AG aus.

2. Der Investitionsstau bei der Verkehrs-

infrastruktur: Deutschland braucht als star-

ker Industriestandort moderne und leis-

tungsfähige Verkehrswege. Die Haushalts-

mittel des Bundes reichen dafür nicht aus.

Um das vorhandene Streckennetz zu erhalten

und den Nachholbedarf für die in der Vergan-

genheit unterlassene Erhaltung zu decken,

sind in den nächsten 15 Jahren jährlich 7,2

Milliarden Euro erforderlich – davon allein

1,5 Milliarden für die Schienenwege.

3. Zulassungsverfahren schadet Kunden und

der Bahnindustrie: In den letzten Jahren ist

das Zulassungsverfahren sehr komplex gewor-

den. Die Bahnindustrie hat sich auf die Verän-

derungen nicht rechtzeitig eingestellt und bei

der Zulassungsbehörde wurde systematisch

Personal abgebaut. Mit den Auswirkungen

haben zum einen die Bahnindustrie und die

Zulassungsbehörde zu kämpfen, weil Prüfun-

gen zwölf Monate und länger dauern können.

Zum anderen leiden die Kunden darunter, weil

die neuen Züge der DB verspätet ausgeliefert

werden. In das Zulassungsverfahren ist jedoch

Bewegung gekommen. So sollen künftig neben

Politik

Verkehrspolitik neu denken

26

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Betriebsräte sagen, was Sache ist

Angelika Carl, Thales, Berlin: „Die Bahn

hat – anders als die Autoindustrie – nur eine

ganz schwache Lobby. Die Verkehrspolitik,

die aus Steuern fi nanziert wird, ist komplett

verfehlt. Es gibt kein Verkehrskonzept aus

einem Guss.“

Astrid Ziegler, IG Metall Vorstand, Frankfurt:

„Die Deutsche Bahn leidet darunter, dass al-

les dem Gewinn untergeordnet ist. Deshalb

investiert sie zum Beispiel zu wenig in neue

Technik.“

Udo Rauhert, Siemens, Berlin: „Die Konkur-

renz auf der Schiene läuft vor allem über

Personalkosten. Für alle Betreiber im Schie-

nenverkehr müssten gleiche Bedingungen

gelten – auch Tarifverträge. Ganzheitliche

Bedingungen für alle Betreiber – ob Flugzeug

oder Straße – wären ein langfristiges Ziel.“

Berndt Gubatz, Trans Tec, Vetschau: „Die

Politik muss sich mehr um ihr Eigentum

kümmern. Erforderlich ist eine umfassende

demokratische Kontrolle der Bahn, ins-

besondere der DB AG. Unabhängig davon

sind mehr Finanzmittel für den Bahnbetrieb

nötig.“

Johannes Kuipers, EVG, Frankfurt: „Es gibt

keine Defi nition dafür, welche gesamtge-

sellschaftlichen Aufgaben eine Verkehrsin-

frastruktur leisten muss. Wie sieht es aus

mit der erforderlichen Vernetzung der Ver-

kehrsträger? Sind integrierte öffentliche Ver-

kehrssysteme ein Ziel? Soll der Güterverkehr

auf die Straße? Muss es eine Anbindung der

Industriegebiete an das Schienennetz ge-

ben? Brauchen wir Gigaliner?“

dem Eisenbahnbundesamt auch andere Ein-

richtungen (wie der TÜV) Schienenfahrzeuge

zulassen können. Ob dieser Schritt zielführend

ist, muss sich erst noch beweisen.

4. Ein fehlgesteuerter europäischer Bahn-

markt: Im Zuge des europäischen Binnen-

markts nahm der Einfl uss der Europäischen

Kommission auf die Bahnindustrie zu. Ziel

der EU ist ein einheitlicher, liberalisierter

Bahnmarkt in Europa. Sie will so den Rah-

men für den freien Waren- und Personenver-

kehr schaffen. Die Industrie, die die Träger

und Infrastrukturen liefert, spielt dabei keine

Rolle. Bis zur Vollendung des einheitlichen

Eisenbahnraums Europa ist es noch ein lan-

ger Weg. Nationale Politiken dominieren. In

der Praxis existieren in Europa 20 verschie-

dene Zugsicherungssysteme nebeneinander,

obwohl bereits mit dem European Rail Traffi c

Management System (ERTMS) eine einheitli-

che technische Lösung existiert.

5. Heutige Mobilität stößt an Grenzen, nach-

haltige Mobilität braucht verlässliche Bahn:

Anlässlich der großen verkehrspolitischen

Herausforderungen ist eine verlässliche Bahn

zwingend notwendig. Hohe Wachstumszahlen

beim Personen- und Güterverkehr, enorme

Klimaprobleme und steigende Mobilitätskos-

ten gehören zu den Faktoren, die die derzei-

tige, auf den Individualverkehr konzentrierte

Mobilität in Frage stellen und zeigen, dass

das jetzige Verkehrs- und Mobilitätssystem

nicht ohne Weiteres fortgeschrieben werden

kann. Obwohl die Politik (unabhängig von der

Parteizugehörigkeit) seit einiger Zeit betont,

dass die Bahn das umweltfreundlichste Ver-

kehrsmittel ist und einen hohen Stellenwert in

nachhaltigen Mobilitätskonzepten der Zukunft

hat, wird bis heute nicht danach gehandelt. Ein

Umdenken in der Verkehrspolitik – beim Bund

und in der EU –, das der Bahn und damit auch

der Bahnindustrie einen prominenten Platz

einräumt, ist unbedingt erforderlich.

Page 30: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

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Viele Gr0ßprojekte – wie Stuttgart 21 und der Berliner Flughafen – erweisen sich als Fiasko.

Das meint der Ingenieur Dr. Wolfgang Neef, Lehrbeauftragter an der Technischen Universität Ber-

lin und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac. „Pleiten, Pech und Pannen“ sind ein

Resultat des renditegetriebenen „neoliberal radikalisierten Kapitalismus’“.*

Dr. Wolfgang Neef, Ingenieur und Lehrbeauftragter

Pleiten, Pech und Pannen

Wolfgang Neef benennt herrschende Glau-

benssätze (Paradigmen): „Der Kapitalismus

ist das leistungsfähigste System der Organisa-

tion technischer Entwicklung und Innovation“,

„Ohne Wachstum ist alles nichts“, „IT-Systeme

ersetzen die mit Fehlern behafteten Menschen

und sind perfekt“. Die Hauptthese seines Refe-

rats: „Die Epoche des kapitalistisch verfassten

Industrialismus’ stößt heute sozial, ökologisch

und stoffl ich an Grenzen, die mit den alten Pa-

radigmen nicht überwindbar sind.“

Die „neoliberale Radikalisierung“ hat für den

Ingenieur 1985 eingesetzt. Er machte sie an

sechs Punkten fest:

1. Konkurrenz: An die Stelle der Qualitäts-

ist eine Kostenkonkurrenz getreten. Dieser

Wettbewerb existiert innerbetrieblich zwi-

schen Abteilungen, Gruppen und einzelnen

Ingenieuren um „gute“ Projekte. Schon das

verhindert die „informelle“ Kooperation.

2. Kontrollwahn: Für Neef werden Unterneh-

mensziele auf Shareholder Value, Markt-

anteile und Rendite reduziert. Die immer

stärker dominierenden Geschäftsprozesse

überlagern die eigentliche Arbeit. Um das si-

cherzustellen, bekommen Entfremdung und

Kontrollwahn eine größere Bedeutung. Des-

halb beobachtet Neef eine verstärkte „innere

Emigration“ der guten technischen Fachleute.

3. Beschleunigung: Die Planungsperspek-

tiven sind auf maximal zwei bis drei Jahre

verkürzt worden, dann muss Geld zurück-

fl ießen. Technische Planungsstäbe wurden

reduziert oder gänzlich wegrationalisiert. Ein

„Hire and Fire“ gibt es inzwischen auch bei

technischen Fachkräften.

4. Überschätzung des Virtuellen: Die inner-

betriebliche Kommunikation wird heute über

IT-Systeme geführt, statt im direkten, persön-

lichen Dialog. Immer häufi ger fi nden Simula-

tionen statt, um reale Testzeiten zu verkürzen.

5. Outsourcing, Restrukturierung, Zeit- und

Leiharbeit: Qualifi zierte, engagierte Facharbei-

ter und Ingenieure werden zunehmend durch

extern eingekaufte Leiharbeiter ersetzt. Bei

Bombardier in Mannheim waren 60 Prozent

der Ingenieure, die für die Entwicklung elekt-

rischer Ausrüstungen von Lokomotiven einge-

setzt waren, als Werkvertragsnehmer/-innen

tätig. Ältere Ingenieure werden „entsorgt“, Un-

ternehmen durch Investoren „fi letiert“. Interne

Umstrukturierung und Outsourcing sind an der

Tagesordnung.

6. Korruption, kriminelle Geschäftsmetho-

den: Der reine Kostenwettbewerb führt zu

einer „Spirale nach unten“. Der „ehrliche

Kaufmann“ ist am Ende der Dumme.

In diesen „neoliberalen Radikalisierungen“

sieht Wolfgang Neef Gründe, die immer häu-

fi ger zu Pleiten, Pech und Pannen führen. „Es

gibt dauerhaft nichts Richtiges im Falschen“,

zitierte er abschließend Adorno.

* Der Text basiert auf

einem Referat, das auf

der Bahnkonferenz der

IG Metall im September

2013 gehalten wurde.

Page 31: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

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»Der Ruf der deutschen

Bahnindustrie wird ge-

schädigt. Geht Deutsch-

land mit der Sicherheit

zu weit? In jedem Fall

darf es keine neuen tech-

nischen Anforderungen

(Normveränderungen) während eines laufen-

den Zulassungsprozesses geben. Und ein-

zelne Referatsleiter dürfen ihre Erkenntnisse

nicht zu Zulassungsbedingungen erklären

und die Hersteller damit ‚erpressen’.«Michael Clausecker, Präsident des Verbands der Bahnindustrie in Deutschland (VDB), Berlin

»Falsch ist, dass einzel-

ne Referatsleiter „eige-

nes Recht“ setzen. Und

kein EBA-Beamter wird

persönlich in Haftung

genommen; einzige Aus-

nahme ist die grobe Fahr-

lässigkeit. Die TSI (Technische Spezifi kation

für die Interoperabilität) ist nicht neu. Das

sind Anforderungen, die es früher schon in

Deutschland gab und die jetzt in 28 Staaten

gelten. Die Frage ist, ob sich die Industrie

für ihre Entwicklungen nicht zu wenig Zeit

lässt.«Ralf Schweinsberg, Vize-Präsident des Eisenbahn-bundesamts (EBA), Berlin

»Der Zulassungsprozess

ist für den Mittelstand

unkalkulierbar geworden.

Das betrifft sowohl den

Kosten- als auch den Zeit-

aufwand. Beides hängt

zusammen. Der Zeitauf-

wand hat sich vervierfacht. TSI ist ein „Wahn-

sinnsregelwerk“. Wer versteht das? Beim EBA,

das personalmäßig geschrumpft ist, geht

Know-how verloren. Mit den Gutachtern wird

das alles nicht viel besser.«Michael Mohaupt, Betriebsrat bei Windhoff, Rheine

»Wir leiden unter der

schlechten Presse. Das

Vertrauen muss erst wie-

der hergestellt werden.

Für Siemens steht aktu-

ell schon sehr viel Geld

auf dem Spiel. Wir sind

abhängig vom Eisenbahnbundesamt, den

Gutachtern und der DB AG. Sie sind die Ver-

ursacher der Situation. Wir haben den Ein-

druck, dass es manchmal auf rein subjektive

Wahrnehmungen ankommt, zum Beispiel bei

den Bremsfunktionen.«Volker Wattenberg, Betriebsrat bei Siemens, Krefeld

»Das Eisenbahnbundes-

amt gestaltet Prozesse

nicht mehr mit. Für das

Unternehmen hat sich der

Aufwand verzehnfacht.

Meine Erfahrung als Ent-

wicklungsingenieur reicht

bis 1988 zurück. Hatten wir früher einen Sach-

verständigen als permanenten Ansprechpart-

ner, so haben wir es heute mit zwei Gutach-

tern zu tun. Die an die Sicherheit gestellten

Anforderungen müssen rechtzeitig bekannt

sein.«Volkmar Pohl, stellvertretender Betriebsratsvorsit-zender bei Bombardier Transportation, Hennigsdorf

»Wir hatten aktuell bei

Dieseltriebfahrzeugen

für Stellwerkbetriebe und

bei Doppelstockzügen

reichlich Erfahrungen mit

dem Eisenbahnbundes-

amt sammeln können.

Längst nach der Vertragsunterzeichnung –

also während der Herstellung – sind immer

wieder neue Nachweisaufl agen gemacht

worden. Also es gab immer wieder überra-

schende Regeln.«Frank Siewert, Betriebsrat bei Stadler, Pankow

Die Rolle des Eisenbahnbundesamts

Unterschiedliche Sichtweisen

Page 32: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

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Der Streit zwischen dem Eisenbahnbundesamt (EBA), das für die Zulassungen zuständig ist, und

der Bahnindustrie gipfelt in einem „Schwarzer-Peter-Spiel“. Die ständige Medienschelte führt zu

einem Imageschaden der Branche – sogar für die deutsche Industrie. Wer soll im Ausland Pro-

dukte kaufen, die im Herstellerland nicht zugelassen sind?

In den letzten Jahren wurden immer öfter

Fahrzeuge nach ihrer Fertigstellung nicht

zugelassen. Das betraf alle Hersteller. Die

dramatischen Zulassungsprobleme der deut-

schen Bahnindustrie haben für die Unter-

nehmen erhebliche fi nanzielle Folgen. „Ende

vergangenen Jahres [2012] haben rund 140

hochmoderne Züge im Wert von rund 550

Millionen Euro buchstäblich auf dem Abstell-

gleis gestanden.“ (VDB)

Die Bahnindustrie wirft dem EBA vor, dass

■ sich der Zulassungsprozess unnötig in

die Länge zieht,

■ Entscheidungen willkürlich gefällt wür-

den und der Ermessungsspielraum des

einzelnen Beschäftigten des EBA zu groß

sei.

Tatsache ist, dass das EBA seiner Aufsichts-

und Kontrollpfl icht kaum noch nachkommen

kann, weil über viele Jahre hinweg ein ständi-

ger Personalabbau erzwungen wurde. Insbe-

sondere zwischen 2006 und 2008 sank die

Zahl der Beschäftigten rapide.

Das Eisenbahnbundesamt wurde 1994 im

Zuge der Bahnreform gegründet. Dies been-

dete auch die Systempartnerschaft zwischen

den Herstellern und der Deutschen Bahn

(DB). Bis 1994 waren die Bundesbahnzen-

tralämter dafür verantwortlich, Fahrzeuge

zu entwickeln, jahrelang zu testen und zu-

zulassen. Dies geschah gemeinsam mit der

Industrie. Seit der Umwandlung der DB in die

Deutsche Bahn AG und der daraus folgenden

Neuausrichtung werden zugelassene Fahr-

zeuge bei der Industrie eingekauft. Eigenent-

wicklungen wie früher gibt es nicht mehr. Die

Zulassungsverantwortung wurde dem neuge-

schaffenen EBA übertragen.

Sicherheit nachweisenNach der Bahnreform 1994 musste sich die

Bahnindustrie das Know-how aneignen, um

die Verantwortung (Risiko und Haftung) für

die Sicherheit zu übernehmen. Allerdings

wurde erst im Jahr 2012 im 5. Gesetz zur Än-

derung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes

(AEG) unmissverständlich festgeschrieben,

dass die Bahnindustrie für die Sicherheit

der Fahrzeuge entsprechend dem Stand der

Technik verantwortlich ist. „Nach der neuen

Gesetzesformulierung sind die Schienen-

fahrzeughersteller dafür verantwortlich, ein

sicheres Produkt für die Inbetriebnahme dem

Eisenbahnbundesamt vorzustellen“ (Prof.

Dr. Pörner, Hauptgeschäftsführer des VDB).

Anschließend sind die Fahrzeughalter für

die Sicherheit verantwortlich. Dieser Nach-

weis für die Sicherheit und die funktiona-

len Anforderungen erfolgt durch technische

Beschreibungen, Prüfberichte, Gutachten,

Sicherheitsnachweise und -analysen. Das

EBA überprüft bei der Erstinbetriebnahme

Bahnindustrie und Eisenbahnbundesamt

„Schwarzer-Peter-Spiel“?

Moderiert von Johannes

Hauber diskutieren

Ralf Schweinsberg (EBA)

und Michael Clausecker

(VDB) auf der Bahn-

konferenz der IG Metall

im September 2013

Page 33: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

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Das Eisenbahnbundes-

amt selbst legt keine

Anforderungen fest,

sondern überprüft,

ob die technischen

Regelwerke eingehalten

werden. Regeln werden

nicht überraschend neu

festgelegt.

die Sicherheit anhand der vorgelegten Nach-

weisführung entsprechend den aktuellen

Normen.

Diese Normen werden in Normenaus-

schüssen festgelegt, in denen Vertreter der

Bahnindustrie „stark vertreten“ sind, so Ge-

rald Hörster, Präsident des Eisenbahnbun-

desamts. Das bedeutet, alle Normen werden

mit Zustimmung auch der Industrie nach

anerkannten Regeln der Technik entwickelt.

Insofern dürfte es bei der Einführung neuer

Normen keine Überraschungen geben, wenn

sich die Unternehmen rechtzeitig darauf ein-

stellen. Dass dies nicht immer so ist, zeigte

die Sicherheitsrichtlinie Fahrzeug (SIRF), die

über zehn Jahre lang in den Fachausschüs-

sen beraten wurde. Basierend auf dem Be-

schluss im „Lenkungskreis Fahrzeuge“ (EBA/

VDB/DB AG/Verband Deutscher Verkehrsun-

ternehmen [VDV]) wurde die SIRF zum 1. Juni

2011 in Kraft gesetzt.

Trotzdem hat die Bahnindustrie es verschla-

fen, sich darauf vorzubereiten und konnte

die Fahrzeuge dadurch nicht rechtzeitig aus-

liefern.

Mit der SIRF wurde erstmalig die Nachweis-

führung des Bereichs „Funktionale Sicherheit

in Eisenbahnfahrzeugen“ komplett geregelt.

Der Dokumentationsaufwand nahm dadurch

zu. Er wurde allerdings nur dann erheblich

höher, wenn die Sicherheitsanforderungen

durch technische Lösungen nicht eindeutig

erreicht wurden. In diesen Fällen ist meistens

eine aufwändige Argumentation notwendig,

um die Sicherheit durch eine erwartete ange-

messene Kooperation von Mensch und Ma-

schine nachweisen zu können.

Regelwerk benennenDie Hersteller müssen im Antrag auf die In-

betriebnahme das nationale, europäische

oder internationale Regelwerk nennen, nach

dem das Fahrzeug zugelassen werden soll.

Das muss bereits in den Verträgen zwischen

dem Hersteller und dem Betreiber eindeutig

festgeschrieben sein. Wenn das nicht er-

folgt oder wenn sich die Übergabe der Do-

kumente an die Zulassungsbehörde wegen

Unvollständigkeit verzögert, können sich die

Regelwerke im Zulassungsprozess geändert

haben, bis der Zulassungsprozess in Gang

kommt. Dann kann das EBA die Formulierung

„entspricht der Norm“ nicht mehr unterzeich-

nen. Änderungen von Normen erfolgen, weil

sich die Technik laufend entwickelt und die

Normen entsprechend angepasst werden.

Professor Grubisic vom Fraunhofer Institut

für Betriebsfestigkeit und Systemzuver-

lässigkeit in Darmstadt sagte dazu in der

Branchenausschusssitzung Bahnindustrie

der IG Metall im September 2010: „Grund-

sätzlich sollte jeder erfahrene und verant-

wortungsvolle Eisenbahningenieur sich

dessen bewusst sein, dass Normen immer

nur das niedrigste technische Niveau einer

gemeinsamen Vereinbarung der beteiligten

Page 34: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

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‚Fachleute’ darstellen und schnell von der

Entwicklung überholt werden können, zumal

die Eisenbahnnormen oft nicht dem Stand

der Technik entsprechen.“

Das Eisenbahnbundesamt selbst legt kei-

ne Anforderungen fest, sondern überprüft,

ob die technischen Regelwerke eingehalten

werden. Regeln werden nicht überraschend

neu festgelegt. „Es kommt natürlich vor, dass

aus Sicherheitsgründen Veränderungen an

Fahrzeugen notwendig sind. Das gilt für den

bestehenden Fuhrpark wie für die Neuzulas-

sung“, sagt Gerald Hörster.

Der VDB hält dagegen, dass vom EBA Nach-

weisführungen über die Sicherheit in tech-

nischen Bereichen gefordert wurden, in de-

nen keine anerkannten Regeln der Technik

existieren würden (Axel Schuppe, VDB-Ge-

schäftsführer in der Eisenbahntechnische

Rundschau, Januar 2013).

Dritte können prüfenIm Dezember 2012 erhielt die Verordnung

über die Interoperabilität des transeuropä-

ischen Eisenbahnsystems (Transeuropäi-

sche-Eisenbahn-Interoperabilitätsverord-

nung [TEIV]) Gesetzeskraft. Darin ist auch

geregelt, dass die Serienzulassung für einen

Zeitraum von sieben Jahren ab Datum der

Inbetriebnahmegenehmigung des ersten

Fahrzeuges einer Serie gültig ist, längstens

jedoch bis zum Ende der Geltungsdauer der

zugrunde liegenden EG-Zertifi kate.

Um den Zulassungsprozess zu beschleunigen,

eine größere Verlässlichkeit bezüglich der an-

zuwendenden Normen zu erhalten und die

Verantwortlichkeiten noch klarer zu struktu-

rieren, verständigten sich die Sicherheitsbe-

hörde, die Hersteller der Eisenbahnfahrzeuge

und Komponenten sowie die Besteller und

Betreiber der Eisenbahnfahrzeuge (Bundes-

regierung, EBA, VDB, VDV) auf ein „Memoran-

dum of Understanding“. Darin wird den Mit-

gliedsunternehmen der Verbände empfohlen,

diese Vereinbarung anzuwenden.

Kern dieser Vereinbarung ist, dass bereits

existierende Zulassungsstellen – wie TÜV,

DEKRA usw. –, aber auch neu eingerichte-

te Stellen bei den Herstellern, sofern deren

organisatorische Unabhängigkeit gesichert

ist, in einer ersten Stufe die operative Si-

cherheitsüberprüfung übernehmen können.

In einer zweiten Stufe soll diese Beteiligung

Dritter auch gesetzlich verankert werden. Die

neuen Prüfi nstitutionen verpfl ichten sich,

entsprechend den europäischen und den na-

tionalen Prüfverfahren vorzugehen.

Für den Fall, dass nationales Regelwerk ab-

weichende Anforderungen beinhaltet, haben

die europäischen Regeln (TSI) Vorrang. Wenn

die TSI nicht eingehalten werden können,

kann der Hersteller beim EBA einen Antrag

nach TEIV, Paragraf 5, über Ausnahmen der

Anwendung Technischer Spezifi kationen für

das zuzulassende System stellen und diese

über ein mit dem EBA abgestimmtes, natio-

nales Regelwerk nachweisen.

Ermessensfragen bleiben „Die erstellten Prüferklärungen werden

dem EBA im Rahmen des Prüfverfahrens

vorgelegt.“ (Memorandum) „Im Normalfall

werden wir uns künftig darauf beschränken

können, festzustellen, ob die Nachweise,

die Hersteller und Prüfi nstitutionen vorle-

gen, vollständig und eindeutig sind“ (Hörs-

ter). Somit bleibt das EBA die Behörde, die

der Zulassung von Bahntechnik Rechtskraft

verleiht.

Auch nach dieser Verständigung werden

nicht alle strittigen Themen im Zulassungs-

prozess aus dem Wege geräumt sein.

Erste Erfahrungen zeigen, dass eine Be-

schleunigung des Verfahrens durch die Ände-

rung erreicht wird. Das sollte auch den mittel-

ständischen Unternehmen zu Gute kommen,

die auf einen komplexen Zulassungsprozess

nicht vorbereitet sind und diesen aus Kos-

tengründen wegen der kleinen Stückzahlen

kaum fi nanzieren können.

Page 35: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

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Der Konkurrenzdruck

und gesteigerte Gewinn-

erwartungen erhöhen

den Kostendruck.

Deshalb gibt es nicht

genügend Personal.

Zwar ist eine Serienzulassung (Bauartzulas-

sung) bereits heute möglich, aber die Zu-

lassung von Plattformen wird weiterhin ein

Streitpunkt sein, weil bei Veränderungen auf

Modulebene innerhalb einer Plattform immer

eine Kohärenzprüfung erforderlich bleiben

wird. Das heißt, es muss nachgewiesen wer-

den, dass „das zu betrachtende Fahrzeug mit

anderen Teilsystemen über defi nierte Schnitt-

stellen zusammenarbeiten kann“ (Handbuch

Eisenbahnfahrzeuge 2010) und neue Teilsys-

teme störungsfrei integriert wurden.

Ebenso bleibt es eine Ermessensfrage, ob in ei-

nem deterministischen Berechnungsverfahren

oder bei einer empirischen Nachweisführung

in einer Versuchsanordnung alle wichtigen Ein-

fl üsse, die bei der Betriebsbeanspruchung auf-

treten können, berücksichtigt wurden.

Unabhängigkeit des EBAInsbesondere bei nicht eindeutig geführtem

Nachweis, dass die geforderte Ausfallwahr-

scheinlichkeit (Safety Integrity Level [SIL]) un-

terschritten bleibt, kann es zu unterschiedli-

chen Bewertungen zwischen den Herstellern

und der Zulassungsbeörde kommen. Gerade

nach dem schrecklichen Unfall in Eschede

mit über 100 Toten und dem Achsbruch bei

einem ICE in Köln, der glücklicherweise ohne

Personenschaden blieb, ist der Versuch,

mögliche Risiken weitgehend auszuschlie-

ßen, nachvollziehbar.

Die Unabhängigkeit der Zulassungsbehörde

ist unabdingbar, auch weil sie immer wieder

politischem Druck ausgesetzt ist. Dies zeigt

auch die aktuelle Entscheidung des EBA zum

Planfeststellungsverfahren des Stuttgarter

Bahnhofs (S21). Laut des Vizepräsidenten

des EBA, Schweinsberg, wurde bezüglich

der Längsneigung von über 15‰ „kein ge-

sonderter Sicherheitsnachweis erbracht,

weil dieser nicht angefordert war“. Nach der

Eisenbahnordnung soll ein Bahnhof keine

stärkere Neigung als 2,5‰ aufweisen. Das

starke Gefälle birgt die Gefahr des unbeab-

sichtigten Wegrollens des Zuges bei einer

Bremsprobe, stellt daher eine Gefährdung

für die Fahrgäste dar und schließt ein Wen-

den von Zügen aus, weil eine Bremsprobe

nicht sicher möglich ist. Nach offi ziellem

Sprachgebrauch wird aus dem Hauptbahn-

hof ein Haltepunkt werden.

Kollegen der Bahnindustrie, die im Zulas-

sungsprozess arbeiten, sagen immer wieder,

dass viele Probleme hausgemacht seien. Das

betreffe schlecht geordnete Prozesse und

knappe Lieferzeiten. Das Risikomanagement

sei schwach ausgeprägt. Der Konkurrenzdruck

und gesteigerte Gewinnerwartungen erhöh-

ten den Kostendruck. Deshalb gebe es nicht

genügend Personal. Dies wirke sich insbeson-

dere in den Bereichen der Softwareentwick-

lung aus, weil hier die Entwicklungsaufwände

wegen gestiegener Komplexität zunähmen.

Zeitdruck tangiert SicherheitNach Ansicht des Branchenausschusses der

Bahnindustrie der IG Metall sind die Fahr-

zeuge technisch wesentlich anspruchsvoller

geworden. Aber es entsteht der Eindruck,

dass sich die Hersteller zu wenig Zeit für die

Entwicklung nehmen können.

Der Schienenverkehr ist die sicherste mo-

torisierte Art der Fortbewegung. Damit das

so bleibt, muss die Technik laufend auf den

aktuellen Sicherheitsstand gebracht werden.

Dazu sind Innovationen in der Technik und

auch im Denken von Sicherheit notwendig.

Die IG Metall-Betriebsräte der Bahnindustrie

fordern, dass

■ diese Innovationen erfolgen,

■ die Beschäftigten ihre Ideen und ihre Kre-

ativität einbringen können,

■ die notwendigen Personalressourcen be-

reitgestellt werden und

■ die Unternehmen für diese technologisch

anspruchsvollen Projekte mehr (genü-

gend) Zeit einplanen.

Page 36: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

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Im Oktober 2004 wurde der Branchenausschuss Bahnindustrie der IG Metall gegründet. Von An-

fang an hatten die Betriebsräte das Ziel, sich hier über ihre tägliche Arbeit auszutauschen, zu der

die Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten, Beschäftigungsverhältnisse sowie die Aus- und Weiterbil-

dung gehören. Im Mittelpunkt stand aber auch – als zweite Säule – die politische Lobbyarbeit, um

Arbeitsplätze zu sichern. Damit gibt der Branchenausschuss den Beschäftigten in der Bahnindus-

trie eine laute Stimme.

Im Branchenausschuss sind die Betriebs-

räte der großen und mittelständischen Un-

ternehmen der Bahnindustrie – Fahrzeug-,

Leit- und Sicherungstechnik, Schienen- und

Weichenhersteller sowie von Zulieferern,

die für das System Bahn produzieren – ver-

treten. Gegenwärtig arbeiten Betriebsräte

aus 56 Betrieben mit. Sie treffen sich min-

destens zweimal im Jahr, um Informationen

auszutauschen und gemeinsame Positionen

zu formulieren. Seit 2006 veranstaltet der

Branchenausschuss jedes Jahr eine größere

Konferenz der IG Metall, die dem Dialog mit

allen Bahnindustrie-Akteuren dient.

Druck auf PolitikMit dem Branchenausschuss wollen die IG Me-

tall und die Betriebsräte ihre Position gegen-

über der Politik verstärken und Druck aus-

üben, um verkehrspolitische Entscheidungen

zu verändern. Die Metaller/-innen weigern

sich hinzunehmen, dass immer nur über

„Mehr Verkehr auf die Schiene“ geredet wird

– und tatsächlich geschieht das Gegenteil.

Anstelle von Prestigeprojekten wie „Stuttgart

21“ brauchen die Beschäftigten und die Wirt-

schaft sowie die Menschen in Deutschland

einen Ausbau des gesamten Bahnnetzes für

den Personen- und Güterverkehr.

Die Entscheidungen darüber, wie viel Ver-

kehr über die Schiene abgewickelt wird,

fallen nach wie vor auf der politischen

Ebene. Sie dürfen aber nicht allein den

Politikern überlassen werden. Wenn die

IG Metall mit ihren Betriebsräten einen

Kurswechsel für ein Gutes Leben erreichen

will, geht es um Existenz sichernde Ein-

kommen und Gute Arbeit sowie um eine

intakte Umwelt (insbesondere das Welt-

klima) – und damit auch um die Perspektiven

industrieller Entwicklung. Fragen der Mobi-

lität haben dabei eine wichtige Bedeutung.

Mit der kontinuierlichen Zusammenarbeit

gelingt es den Betriebsräten, solidarische

Positionen zu erreichen und gemeinsame

Strategien zu erarbeiten.

Umweltfreundlicher SchienenverkehrDer Schienenverkehr ist das sicherste und

umweltfreundlichste motorisierte Verkehrs-

mittel. Die Eisenbahn fährt seit über 100

Jahren elektrisch. Dezentrale regenerative

Stromversorgung ist möglich, womit sich die

Umweltfreundlichkeit noch steigern ließe.

Branchenausschuss Bahnindustrie der IG Metall

Stimme der Beschäftigten

Die IG Metall fordert von

der Politik ein verkehrs-

politisches Konzept

zur Mobilität, wobei

Beschäftigungsaspekte

und Umweltgesichts-

punkte einen hohen

Stellenwert haben

müssen. So können

Arbeitsplätze erhalten

und neue geschaffen

werden.

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Wegen seiner Antriebs-

technik und der Bau-

weise, mit weitgehender

Recyclingfähigkeit des

Gesamtprodukts,

schont der Schienen-

verkehr auch die Res-

sourcen.

Wegen seiner Antriebstechnik und der Bau-

weise mit weitgehender Recyclingfähigkeit

des Gesamtprodukts schont der Schienen-

verkehr auch die Ressourcen. Er sichert die

Mobilität in der Zukunft. Daher ist sein wei-

terer Ausbau zwingend notwendig. Die Bahn-

industrie erzeugt Hochtechnologie – mit

hoch qualifi zierten Beschäftigten.

Auf breites Bündnis setzenDer Branchenausschuss Bahnindustrie der

IG Metall versteht sich als ein Netzwerk und

strebt daher eine enge Zusammenarbeit mit

allen relevanten Interessenverbänden an.

Eine intensivere Kooperation mit der Eisen-

bahngewerkschaft EVG besteht bereits seit

Jahren. Die IG Metall ist seit 2007 Mitglied im

Bündnis „Bahn für alle“.

Die gemeinsamen Ziele dieser Bündnispart-

ner sind unter anderem, die Kapitalpriva-

tisierung der Bahn zu verhindern und den

Schienenverkehr auszubauen. Die politi-

schen Entscheidungsträger müssen hier ihre

Verantwortung ernstnehmen: „Der direkte

Zugriff der demokratischen Institutionen

auf die Bahn muss erhalten bleiben und ge-

sichert werden“, heißt es in einer Erklärung

des Branchenausschusses aus dem Jahr

2008. Dann könne erreicht werden, dass die

Bahn ihrer Verpfl ichtung zur Daseinsvorsor-

ge in puncto Mobilität nachkommen kann.

Der Branchenausschuss arbeitet themenbe-

zogen mit wissenschaftlichen Institutionen

zusammen. Bei seinen Veranstaltungen sind

regelmäßig hochrangige Vertreter aus Poli-

tik, Wirtschaft und Verbänden vertreten.

In den Sitzungen des Branchenausschusses

und bei den jährlichen Konferenzen kommen

alle Themen auf den Tisch, die die Arbeit der

Betriebsräte betreffen. Dazu gehören

■ aktuelle politische Entscheidungen, zum

Beispiel über Gelder für die Regionali-

sierung, LangLkw/Gigaliner, Bundesver-

kehrswegeplan und Gemeindeverkehrs-

fi nanzierungsgesetz, Entscheidungen der

EU-Kommission und Probleme aus der

Globalisierung der Bahnindustrie;

■ gewerkschafts- und betriebspolitische

Themen der IG Metall (zum Beispiel atypi-

sche Arbeitsverhältnisse [Leiharbeit und

Werkverträge], ganzheitlicher Arbeits-

und Gesundheitsschutz, Gestaltung von

Arbeitsplätzen, Ausbildung und Über-

nahme, demografi scher Wandel) und die

Bahnindustrie als Innovationsmotor.

Betriebliche Solidarität organisierenDer Informationsaustausch im Branchenaus-

schuss ist die Basis, um in Krisensituationen

Solidarität zu organisieren für Beschäftigte

in Betrieben, die besonderen Angriffen – wie

Personalabbau oder gar Betriebsschließun-

gen – ausgesetzt sind.

Im Branchenausschuss und auf der Bahn-

konferenz der IG Metall werden gemeinsame

Stellungnahmen zu aktuellen politischen

Page 38: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl

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Themen und Positionen abgestimmt und di-

rekt an die politischen Entscheidungsträger

gerichtet.

Globalisierung ist Alltag. Die Branchenarbeit

ist international vernetzt. Der Branchenaus-

schuss war daran beteiligt, die gewerkschaft-

liche Zusammenarbeit auf europäischer

Ebene herzustellen. Heute besteht beim Ge-

werkschaftsbund IndustriAll Europe ein Fo-

rum für die Vertreter der Beschäftigten der

Bahnindustrie in Europa. Regelmäßige Treffen

gewährleisten einen Informations- und Mei-

nungsaustausch. So kann eine gewerkschaft-

liche Zusammenarbeit grenzüberschreitend

funktionieren. Den international agierenden

Unternehmen kann und muss eine Interessen-

vertretung der Beschäftigten auf europäischer

Ebene gegenübergestellt werden.

Unterstützt wird der Branchenausschuss

durch die Vorstandsverwaltung der IG Me-

tall mit Informationen und Analysen über die

wirtschaftliche Entwicklung der Bahnindus-

trie, Trends in Forschung und Entwicklung so-

wie über politische Rahmenbedingungen auf

nationaler und internationaler Ebene. Das

trägt dazu bei, den strukturellen Wandel der

Branche und der Regionen aktiv zu begleiten,

um Arbeitsplätze zu sichern.

• ALSTOM Transport Deutschland GmbH, Salzgitter

• Bahntechnik Brand-Erbisdorf GmbH, Brand-Erbisdorf

• Balfour Beatty Rail GmbH, Bochum/Frankfurt

• Bochumer Verein Verkehrstechnik GmbH, Bochum

• Bochumer Verein Verkehrstechnik GmbH, Werk Ilsenburg

• Bombardier Transportation Signal Germany GmbH,

Braunschweig

• Bombardier Transportation GmbH, Mannheim

• Bombardier Transportation GmbH, Bautzen

• Bombardier Transportation GmbH, Siegen-Netphen

• Bombardier Transportation GmbH, Kassel

• Bombardier Transportation GmbH, Hennigsdorf

• Bombardier Transportation GmbH, Frankfurt

• Bombardier Transportation GmbH, Oberwil/Schweiz

• Bombardier Transportation GR, Görlitz

• Bombardier Transportation (Propulsion&Controls)

Germany GmbH, Hennigsdorf

• Cattron-Theimeg Europe GmbH & Co. KG, Mönchen-

gladbach

• DB Waggonbau Niesky GmbH, Niesky

• DB Fahrzeuginstandhaltung

• DB Regio AG, Frankfurt

• FTD Fahrzeugtechnik Bahnen Dessau GmbH, Dessau

• Faiveley Transport Witten GmbH, Witten

• Franz Kaminski Waggonbau GmbH, Hameln

• Gebrüder Bode GmbH & Co. KG, Kassel

• GHH-Radsatz GmbH, Oberhausen

• Gmeinder Lokomotiven GmbH, Mosbach

• Knorr-Bremse Systeme für Schienenfahrzeuge GmbH,

München

• PCS Power Converter Solutions GmbH, Berlin

Betriebsräte aus folgenden Betrieben arbeiten im Branchenausschuss mit

• Westfälische Lokomotiv-Fabrik Reuschling Werk

GmbH & Co. KG, Hattingen

• Schaltbau GmbH, Aldersbach/München

• Schreck-Mieves Balfour Beatty Rail GmbH, Frechen

• Schunk Bahn- und Industrietechnik GmbH, Wettenberg

• Siemens AG, Krefeld

• Siemens AG, Braunschweig

• Siemens AG, Erlangen

• Siemens AG, Berlin

• Siemens AG, Luhe

• Siemens AG, Prüfcenter Wegberg-Wildenrath Trans-

portation Systems

• Siemens AG, München

• Stadler Pankow GmbH, Berlin

• Talbot Services GmbH, Aachen

• Thales Transportation Systems GmbH, Berlin

• Thales Transportation Systems GmbH, Arnstadt

• Thales Transportation Systems GmbH, Stuttgart

• TransTec Vetschau GmbH, Vetschau

• TSTG Schienen Technik GmbH & Co. KG, Duisburg

• voestalpine BWG GmbH, Butzbach

• voestalpine BWG GmbH, Brandenburg

• Voith Turbo Scharfenberg GmbH & Co. KG, Salzgitter

• Voith Turbo GmbH & Co. KG, Heidenheim

• Vossloh AG, Werdohl

• Vossloh Kiepe GmbH, Düsseldorf

• Vossloh Locomotives GmbH, Kiel

• Verkehrsbetriebe Peine-Salzgitter, Peine

• Verkehrsbetriebe Peine-Salzgitter, Salzgitter

• Waggonbau Graaff GmbH, Elze

• Windhoff Bahn- und Anlagentechnik GmbH, Rheine

Astrid Ziegler, Leiterin des

Ressorts Industrie-, Struktur-

und Energiepolitik beim

Vorstand der IG Metall.

IG Metall Vorstand

Wilhelm-Leuschner-Str 79

60329 Frankfurt/Main

E-Mail: astrid.ziegler

@igmetall.de

Telefon: 0 69/66 93-24 42

Bernd Lauenroth

koordiniert die Bran-

chenarbeit.

IG Metall Vorstand-

Zweigbüro

Roßstraße 94

40476 Düsseldorf

E-Mail: bernd.lauenroth

@igmetall.de

Telefon: 02 11/9 65 03-118

Page 39: Mobilitätswende mit Innovationen und Guter Arbeit gestalten · Die Internationalisierung der Bahnindustrie wird weiter fortschreiten. Sie hat für Stand-orte und Beschäftigte sowohl
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