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FORSCHUNG PAPIERCHEMIE | Möbius-Aromaten Das Möbius-Band hat, wie Freunde mathematischer Kopfnüsse bereits wissen, nur eine Oberfläche und eine Kante. Man erhält es, indem man einen langen Papierstreifen zu einem Ring biegt, dann aber eines der Enden um 180 Grad dreht, bevor man beide zusammenklebt. Ähnliche Spielereien mit Papierstreifen brachten den Kieler Chemiker Rainer Herges auf die Idee, wie man ein molekulares Möbiusband herstellen und damit ein Jahrzehnte altes Problem lösen kann [1]. Herges wollte eine theoretische Vor- hersage von Edgar Heilbronner in die Praxis umsetzen: Der hatte in den 1960ern berechnet, dass ein Ring-Mo- lekül mit Möbius-Topologie und 4n π- Elektronen aromatisch und stabil sein könnte, im Gegensatz zu den norma- len Aromaten, die nach der Hückel- Regel 4n+2 π-Elektronen aufweisen müssen. Über Jahrzehnte hinweg konnten Möbius-Aromaten nur als ex- trem instabile Zwischenstufen, nicht aber als stabile Moleküle hergestellt werden. Vor rund sechs Jahren ereilte Her- ges der entscheidende Geistesblitz, als er mit Pappstreifen herumprobier- te und in einen aufgeschnittenen fla- chen Ring einen Halbzylinder als Sei- tenwechsler einsetzte (Abbildung 1). Er erhielt ein mit relativ wenig Span- nung belastetes Möbius-Band, während die entsprechende Hückel- Struktur den Pappstreifen deutlich unbequemer war. Zusammen mit seinem Doktoran- den D.Ajami machte er sich dann daran, die Papp-Idee in Chemie um- zusetzen.Als Halbzylinder wählten die Forscher eine Substanz, deren p- Orbitale aus sterischen Gründen radi- al angeordnet sind, die also die 180- Grad-Drehung des Möbius-Bands als festen Struktubaustein mitbringt. Die ursprüngliche Idee war, diesen Bau- stein,Tetradihydrodianthracen (TD- DA), mittels einer Ringöffnungsmeta- these in einen Achtring (Cyclooctate- traen) einzubauen. Doch die Mo- leküle spielten nicht mit – der TDDA- Ring öffnete sich, ohne sich mit dem Achtring zu verschmelzen. Im zweiten Anlauf ersetzten die Forscher das Octatetraen durch ein reaktiveres synthetisches Analogon, das Tricyclooctadien. Dieses Mal er- hielten sie eine Mischung verschiede- ner Produkte, die sie genauestens analysierten. Unter den Hauptproduk- ten der Reaktion fanden sie sowohl einen nach der Hückel-Regel antiaro- matischen, topologisch flachen Ring mit 16 π-Elektronen, als auch den ge- wünschten Möbius-Aromaten. Ob- wohl die letztere Verbindung (rote Kristalle, von denen auch eine Rönt- genstrukturanalyse vorliegt) noch nicht perfekt aromatisch ist, weisen die Bindungslängen und die Stabili- sierungsenergie deutlich auf aromati- sche Eigenschaften hin. Nach dieser erfolgreichen De- monstration des Prinzips will Herges weitere Möbiusverbindungen mit noch ausgeprägteren aromatischen Eigenschaften entwerfen. Ihn treibt die Neugier des Grundlagenfor- schers, doch wer weiß, ein perfekter Möbius-Aromat mag nützliche op- tisch-elektronische Eigenschaften ha- ben, die wir uns jetzt noch nicht vor- stellen können. [1] D. Ajami, R. Herges et al., Nature 2003, 426, 819-821. Michael Groß Chem. Unserer Zeit, 2004, 38, 86 – 89 www.chiuz.de © 2004 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 87 ABB. 1 | MÖBIUS VERSUS HÜCKEL Abb. 1 Aus einem flachen Ring und einem Halbzylin- der lassen sich so- wohl das Möbius- Band als auch die Hückel-Struktur erhalten. DAS MÖBIUS-MOTIV … | … findet sich übrigens auch in der Literatur (z. B. „The no-sided professor“ von M. Gardner) sowie in der Musik. Ein Beispiel ist der Krebs-Kanon für zwei Violinen im musikalischen Opfer von Johann Sebastian Bach (s. oben). Schneidet man die Noten aus und klebt sie hintereinander, so dass sie ein langes Band ergeben – mit der ersten Violine in der oberen Zeile und der zweiten Vio- line unten –, faltet das Band dann in der Mitte, so dass die erste Violine auf der einen und die zweite auf der anderen Seite des nun halb so breiten Bandes zu liegen kommt, verdrillt das Band um 180° in sich und klebt die Enden zusammen, dann können zwei Violinen das Stück spielen, wenn die eine von der ersten und die andere von der anderen Seite abliest. Da das Moebius-Band aber nur eine Seite hat, geht die erste Violine nach einem Umlauf in die zweite und die zweite in die erste über. Eine Web-Seite zum Thema finden Sie unter www.math.ohio-state.edu/~fiedorow/math655/yale/lit.htm

Möbius-Aromaten

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FO R SC H U N G

PA PI E RC H E M I E |Möbius-AromatenDas Möbius-Band hat, wie Freunde mathematischer Kopfnüsse bereitswissen, nur eine Oberfläche und eine Kante. Man erhält es, indem maneinen langen Papierstreifen zu einem Ring biegt, dann aber eines derEnden um 180 Grad dreht, bevor man beide zusammenklebt. ÄhnlicheSpielereien mit Papierstreifen brachten den Kieler Chemiker Rainer Herges auf die Idee, wie man ein molekulares Möbiusband herstellenund damit ein Jahrzehnte altes Problem lösen kann [1].

Herges wollte eine theoretische Vor-hersage von Edgar Heilbronner in diePraxis umsetzen: Der hatte in den1960ern berechnet, dass ein Ring-Mo-lekül mit Möbius-Topologie und 4n π-Elektronen aromatisch und stabil seinkönnte, im Gegensatz zu den norma-len Aromaten, die nach der Hückel-Regel 4n+2 π-Elektronen aufweisenmüssen. Über Jahrzehnte hinwegkonnten Möbius-Aromaten nur als ex-trem instabile Zwischenstufen, nichtaber als stabile Moleküle hergestelltwerden.

Vor rund sechs Jahren ereilte Her-ges der entscheidende Geistesblitz,als er mit Pappstreifen herumprobier-te und in einen aufgeschnittenen fla-chen Ring einen Halbzylinder als Sei-tenwechsler einsetzte (Abbildung 1).Er erhielt ein mit relativ wenig Span-nung belastetes Möbius-Band,während die entsprechende Hückel-Struktur den Pappstreifen deutlichunbequemer war.

Zusammen mit seinem Doktoran-den D.Ajami machte er sich danndaran, die Papp-Idee in Chemie um-zusetzen.Als Halbzylinder wähltendie Forscher eine Substanz, deren p-Orbitale aus sterischen Gründen radi-al angeordnet sind, die also die 180-Grad-Drehung des Möbius-Bands alsfesten Struktubaustein mitbringt. Dieursprüngliche Idee war, diesen Bau-stein,Tetradihydrodianthracen (TD-DA), mittels einer Ringöffnungsmeta-these in einen Achtring (Cyclooctate-traen) einzubauen. Doch die Mo-leküle spielten nicht mit – der TDDA-Ring öffnete sich, ohne sich mit demAchtring zu verschmelzen.

Im zweiten Anlauf ersetzten dieForscher das Octatetraen durch ein

reaktiveres synthetisches Analogon,das Tricyclooctadien. Dieses Mal er-hielten sie eine Mischung verschiede-ner Produkte, die sie genauestensanalysierten. Unter den Hauptproduk-ten der Reaktion fanden sie sowohleinen nach der Hückel-Regel antiaro-matischen, topologisch flachen Ringmit 16 π-Elektronen, als auch den ge-wünschten Möbius-Aromaten. Ob-wohl die letztere Verbindung (roteKristalle, von denen auch eine Rönt-

genstrukturanalyse vorliegt) nochnicht perfekt aromatisch ist, weisendie Bindungslängen und die Stabili-sierungsenergie deutlich auf aromati-sche Eigenschaften hin.

Nach dieser erfolgreichen De-monstration des Prinzips will Hergesweitere Möbiusverbindungen mitnoch ausgeprägteren aromatischenEigenschaften entwerfen. Ihn treibtdie Neugier des Grundlagenfor-schers, doch wer weiß, ein perfekterMöbius-Aromat mag nützliche op-tisch-elektronische Eigenschaften ha-ben, die wir uns jetzt noch nicht vor-stellen können.

[1] D. Ajami, R. Herges et al., Nature 22000033,426, 819-821.

Michael Groß

Chem. Unserer Zeit, 2004, 38, 86 – 89 www.chiuz.de © 2004 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 87

A B B . 1 | M Ö B I U S V E R S U S H Ü C K E L

Abb. 1 Aus einemflachen Ring undeinem Halbzylin-der lassen sich so-wohl das Möbius-Band als auch dieHückel-Strukturerhalten.

DA S M Ö B I U S - M OT I V … |… findet sich übrigens auch in der Literatur (z. B. „The no-sidedprofessor“ von M. Gardner) sowie in der Musik. Ein Beispiel ist der Krebs-Kanon für zwei Violinen im musikalischen Opfer vonJohann Sebastian Bach (s. oben). Schneidet man die Noten ausund klebt sie hintereinander, so dass sie ein langes Band ergeben– mit der ersten Violine in der oberen Zeile und der zweiten Vio-line unten –, faltet das Band dann in der Mitte, so dass die ersteVioline auf der einen und die zweite auf der anderen Seite desnun halb so breiten Bandes zu liegen kommt, verdrillt das Bandum 180° in sich und klebt die Enden zusammen, dann könnenzwei Violinen das Stück spielen, wenn die eine von der ersten unddie andere von der anderen Seite abliest. Da das Moebius-Bandaber nur eine Seite hat, geht die erste Violine nach einem Umlaufin die zweite und die zweite in die erste über.

Eine Web-Seite zum Thema finden Sie unter www.math.ohio-state.edu/~fiedorow/math655/yale/lit.htm