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REIMAR MÜLLER NATURPHILOSOPHIE UND ETHIK I M A N T I K E N ATOMISMUS* Die Philosophie des Atomismus, die den Höhepunkt und die Vollendung der frühen griechischen Naturphilosophie darstellt, hat auch einen wesentlichen Beitrag zur theoretischen Fundierung der Anthropologie (Gesellschaftstheorie, Kulturtheorie, Ethik) geleistet. In der frühen Naturphilosophie von Anaximander bis zu Heraklit hatte die Sicht auf eine einheitliche Gesetzmäßigkeit, die das kosmische und das menschliche Sein verbindet, dazu geführt, daß Naturphilo- sophie und Wissenschaft vom Menschen undifferenziert blieben. Solange man kosmische Gesetzmäßigkeiten mit Kategorien aus der Sphäre der menschlichen Gesellschaft zu erfassen suchte (Anaximander) und die Gesetze, die das gesell- schaftliche Leben regeln, als Ausfluß der kosmischen Gesetzmäßigkeit begriff (Heraklit), war es unmöglich, feste Grenzen zwischen den beiden Bereichen zu ziehen 1 . Die konsequent immanente Erklärung der Natur im Atomismus, die den Gedanken an eine kosmische Gerechtigkeit oder Weltvernunft ausschloß, bereitete damit zugleich den Boden für eine fundierte Analyse der Lebenssphäre des Menschen: der Gesellschaft und der Kultur. Dabei fand der Mensch im Weltbild des Atomismus einen Platz, der ihn zugleich als Teil der umfassenden Einheit des Kosmos wie auch in seiner spezifischen kulturellen Bestimmtheit begreifen ließ. Der Atomismus stellt das Bindeglied zwischen den beiden großen Aufklärungs- bewegungen in der Geschichte der griechischen Philosophie dar. Indem er die ionische Aufklärung zu Ende führt, ordnet er sich zugleich ein in die Aufklärung des 5. Jh., die die Philosophie des Menschen begründet hat. Für den Bereich der Kulturtheorie waren diese Zusammenhänge seit jeher offenkundig: Demokrits Lehre von der Entstehung der Kultur, die, erwachsen aus der χρεία, dem natür- lichen Sein die Lebenssphäre des Menschen als eine „zweite Natur" entgegen- stellt, ordnet sich organisch ein in den großen Zusammenhang der kultur- theoretischen Konzeptionen von Xenophanes über Anaxagoras bis zur Sophistik 2 . Weniger offenkundig erschienen zunächst die Zusammenhänge auf dem Gebiet der Gesellschaftslehre und der Ethik. Hier bereiteten zwei Faktoren große * Vortrag, gehalten auf der Internationalen Konferenz „Democrito e l'antico materialismo", die vom Istituto di Filosofia der Universität Catania vom 18. bis 21. April 1979 veranstaltet wurde. 1 Vgl. G. Vlastos, Equality and justice in early Greek cosmologies, in: Studies in Presocratic Philosophy, ed. D. J. Furley and R. E. Allen, 1, London 1970, 56ff. a Th. Cole, Democritos and the sources of Greek anthropology, Philological Monographs publ. by the American Philological Association 25, Western Reserve University 1967. 1 Zeitschrift „Philologus", 1 Brought to you by | University of California Authenticated Download Date | 9/14/15 11:21 AM

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Democritus, Ethics

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REIMAR MÜLLER

N A T U R P H I L O S O P H I E U N D E T H I K I M A N T I K E N A T O M I S M U S *

Die Philosophie des Atomismus, die den Höhepunkt und die Vollendung der frühen griechischen Naturphilosophie darstellt, hat auch einen wesentlichen Beitrag zur theoretischen Fundierung der Anthropologie (Gesellschaftstheorie, Kulturtheorie, Ethik) geleistet. In der frühen Naturphilosophie von Anaximander bis zu Heraklit hatte die Sicht auf eine einheitliche Gesetzmäßigkeit, die das kosmische und das menschliche Sein verbindet, dazu geführt, daß Naturphilo-sophie und Wissenschaft vom Menschen undifferenziert blieben. Solange man kosmische Gesetzmäßigkeiten mit Kategorien aus der Sphäre der menschlichen Gesellschaft zu erfassen suchte (Anaximander) und die Gesetze, die das gesell-schaftliche Leben regeln, als Ausfluß der kosmischen Gesetzmäßigkeit begriff (Heraklit), war es unmöglich, feste Grenzen zwischen den beiden Bereichen zu ziehen1. Die konsequent immanente Erklärung der Natur im Atomismus, die den Gedanken an eine kosmische Gerechtigkeit oder Weltvernunft ausschloß, bereitete damit zugleich den Boden für eine fundierte Analyse der Lebenssphäre des Menschen: der Gesellschaft und der Kultur. Dabei fand der Mensch im Weltbild des Atomismus einen Platz, der ihn zugleich als Teil der umfassenden Einheit des Kosmos wie auch in seiner spezifischen kulturellen Bestimmtheit begreifen ließ.

Der Atomismus stellt das Bindeglied zwischen den beiden großen Aufklärungs-bewegungen in der Geschichte der griechischen Philosophie dar. Indem er die ionische Aufklärung zu Ende führt, ordnet er sich zugleich ein in die Aufklärung des 5. Jh., die die Philosophie des Menschen begründet hat. Für den Bereich der Kulturtheorie waren diese Zusammenhänge seit jeher offenkundig: Demokrits Lehre von der Entstehung der Kultur, die, erwachsen aus der χρεία, dem natür-lichen Sein die Lebenssphäre des Menschen als eine „zweite Natur" entgegen-stellt, ordnet sich organisch ein in den großen Zusammenhang der kultur-theoretischen Konzeptionen von Xenophanes über Anaxagoras bis zur Sophistik2. Weniger offenkundig erschienen zunächst die Zusammenhänge auf dem Gebiet der Gesellschaftslehre und der Ethik. Hier bereiteten zwei Faktoren große

* Vortrag, gehalten auf der Internationalen Konferenz „Democrito e l'antico materialismo", die vom Istituto di Filosofia der Universität Catania vom 18. bis 21. April 1979 veranstaltet wurde.

1 Vgl. G. Vlastos, Equality and justice in early Greek cosmologies, in: Studies in Presocratic Philosophy, ed. D. J. Furley and R. E. Allen, 1, London 1970, 56ff.

a Th. Cole, Democritos and the sources of Greek anthropology, Philological Monographs publ. by the American Philological Association 25, Western Reserve University 1967.

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2 RETMAR M Ü L L E R

Schwierigkeiten: der auf den ersten Blick recht konventionelle Charakter der meisten sozialphilosophischen und ethischen Lehren Demokrits, der diesen Philosophen in mancher Hinsicht als einfachen Fortsetzer der Tradition der älteren Popularethik erscheinen ließ, und die scheinbar geringe Kohärenz dieser Lehren, die es sehr schwer machte, auch nur Grundzüge eines Systems zu ent-decken. Beide Merkmale hoben sich in auffälliger Weise von den Prinzipien einer Naturphilosophie ab, die entschieden mit konventionellen Denkmustern, vor allem mit den letzten Resten mythischen Denkens, gebrochen hatte und sich zu einer Theorie von großer systematischer Geschlossenheit abrundete. Dazu kamen erhebliche Schwierigkeiten, die aus einer ζ. T. unsicher bezeugten Über-lieferung erwuchsen. Angesichts des allgemeinen, oft vom Typus der Volks-weisheit geprägten Charakters der Gnomen Demokrits bestand bei vielen Zeug-nissen der Verdacht, daß sich hier an einen berühmten Namen topcshaftes Gedankengut angehängt hatte, wie das für bestimmte Spruchsammlungen der Antike längst erwiesen war3.

Die größte Schwierigkeit, die die Interpretation der Demokritischen Ethik der modernen Forschung aufgab, war jedoch nicht formaler, sondern inhaltlicher Art. Trotz angestrengter Bemühungen von Generationen von Forschern schien es zunächst außerordentlich schwer, einen inneren Zusammenhang zwischen den ethischen Sätzen Demokrits und den übrigen Teilen seiner Lehre, insbesondere der Naturphilosophie herzustellen4. Es ist als eine große Leistung der Demokrit-Forschung zu bewerten, daß der Nachweis einer engen Beziehung zwischen Naturphilosophie und Ethik Demokrits erbracht werden konnte. Diese Leistung ist vor allem das Verdienst von G. Vlastos und S. Luria, die im Anschluß an eine Reihe von Vorgängern, unter denen K. von Fritz hervorzuheben ist, die innere Einheit der Demokritischen Philosophie auch für das Gebiet der Ethik nach-weisen konnten6.

3 Die vieldiskutierte ,,Demokrates"-Sammlung enthält zweifellos in nicht geringem Maß echtes Demokritisches Gedankengut. Die Frage der Authentizität muß in jedem Falle geprüft werden. Freilich stehen nach den bisherigen Ergebnissen der Untersuchung noch nicht genügend tragfähige Kriterien für die Echtheitskritik zur Verfügung. Vgl. W. K. C. Guthrie, A history of Greek philosophy, 2, Cambridge 1965, 489ff.

4 Aus der Reihe der älteren Arbeiten seien hervorgehoben: F. Lortzing, Über die ethischen Fragmente Demokrits, Berlin 1873; P. Natorp, Die Ethika des Demokrit, Marburg 1893; A. Dyroff, Demokritstudien, Leipzig 1899; R. Philippson, Demokrits Sittensprüche, Hermes 59, 1924, 369ff.; H. Langerbeck, Δόξις έπιρυσμίη. Studien zu Demokrits Ethik und Erkenntnislehre, Neue Unter-suchungen 10, Berlin 1935.

5 K. von Fritz, Philosophie und sprachlicher Ausdruck bei Demokrit, Plato und Aristoteles, New York, Leipzig, Paris, London 1938; G. Vlastos, Ethics and Physics in Democritus, Philo-sophical Review 54, 1945, 578ff. (I); 55, 1946, 53ff. (II); S. Luria, Zur Frage der materialistischen Begründung der Ethik bei Demokrit, Deutsche Akadamie der Wissenschaften zu Berlin, Schriften der Sektion für Altertumswissenschaft 44, Berlin 1964; C. Jlypte, Democritea (,Π,βΜΟκρκτ. TeKCTLT, nepeBOH, HccjiejiOBaHHH), JleHHHrpafl 1970. — Von neueren Arbeiten zur Ethik Demokrits sind ferner zu nennen: F. Mesiano, La morale materialistica di Democrito di Abdera, Firenze 1950; S. Zeppi, Significato e posizione storica dell'etica di Democrito, Atti della Accademia delle

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Naturphilosophie und Ethik im antiken Atomismus 3

Bestimmte Grundzüge der Demokritischen Ethik wurden auf diese Weise erfaßt. Wie alle materialistischen Philosophen vor der Begründung des histori-schen Materialismus bezog sich auch Demokrit auf eine als mehr oder minder konstant vorgestellte Natur des Menschen. Solange das menschliche Wesen nicht als ..Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse"6 begriffen war, blieb der Naturalismus, der Bezug auf die „Natur" des Menschen, der einzig gangbare und auch immer wieder beschrittene Weg, eine Anthropologie im Rahmen einer materialistischen Philosophie zu entwickeln. Uber solche allgemeine Charak-teristik hinaus näher zu bestimmen ist nun freilich die konkrete Form, in der Demokrit seine Synthese von Naturphilosophie und Ethik vollzogen hat, d. h. seine Stellung in der Geschichte des antiken Naturalismus. Als eine Möglichkeit, in dieser Richtung voranzukommen, erscheint die Untersuchung der Gemein-samkeiten und Unterschiede, die in dieser Hinsicht zwischen den beiden Haupt-vertretern des antiken Atomismus, Demokrit und Epikur, bestehen. Wie hin-sichtlich der Naturphilosophie sind auch im Hinblick auf die philosophischen Fundamente der Ethik aus der vergleichenden Betrachtung der Positionen Demokrits und Epikurs wesentliche Aufschlüsse für die Entwicklung der atomisti-schen Philosophie zu erwarten7.

Wenn es keine kosmisch oder metaphysisch begründeten Werte gibt, muß die Philosophie einen anderen Weg gehen, um eine Ordnung von Normen zu begründen. Im 5. J h . v. u. Z. zeichnen sich zwei Hauptrichtungen einer nicht-metaphysischen Begründung von Normen und Werten ab: einerseits die von Protagoras entwickelte Methode, die rechtlichen und ethischen Normen aus ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit zu erklären und ihre nach Ort und Zeit differenzierte Relativität nachzuweisen, d. h. die Begründung der Normen auf den Nomos8, andererseits der von anderen Sophisten (besonders Hippias und Antiphon) unternommene Versuch, hinter die Relativität der νόμοι zurück-zugehen und eine sichere Basis in der Natur des Menschen zu finden9. Die

Scienze di Torino, Classe di Scienze morali, storiche e filologiche 105, 1971, 499ff.; F. Jürss, R. Müller, E. G. Schmidt, Griechische Atomisten, Texte und Kommentare zum materialistischen Denken der Antike, 2. Aufl. Leipzig 1977.

6 K. Marx, Thesen über Feuerbach, K. Marx/F. Engels, Werke, 3, Berlin 1969, 534. 7 Nicht zugänglich war mir: F. Wallner, Demokritische und epikureische Ethik, Diss. Wien

1972. 8 Vgl. W. K. C. Guthrie, A history of Greek philosophy, 3, Cambridge 1969, 167ff.; F. Heini-

mann, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jh., Basel 1945, Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft 1, 116ff.; A. Lesky, Recht und Staat bei Protagoras, Antiquitas Graeco-Romana ac tempora nostra, Acta congressus inter -nationalis habiti Brunae diebus 12 — 16 mensis Aprilis 1966, Prag 1968, 67ff.; R. Müller, Das Menschenbild der sophistischen Aufklärung, in: Der Mensch als Maß der Dinge. Studien zum griechischen Menschenbild in der Zeit der Blüte und Krise der Polis, hrsg. von R. Müller, Ver-öffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR 8, Berlin 1976, 250ff.

9 Heinimann, a. 0 . , 133ff.; Guthrie, A history of Greek Philosophy, 3, 107ff.; R. Müller, Das Menschenbild der sophistischen Aufklärung, 253 ff.

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4 REIMAR MÜLLER

Atomisten versuchen, das Verhältnis von Physis und gesellschaftlichen Normen in eigenständiger Weise zu bestimmen. Überwiegt die „naturalistische" Orien-tierung an der Gattungsnatur des Menschen, so wird doch auch der gesellschaft-liche Faktor durch die Berücksichtigung der kulturellen Determiniertheit des Menschen zur Geltung gebracht. Es sind nun vier Aspekte der Demokritischen Ethik, denen wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen, da sie für den Ver-gleich mit Epikur besonders aussagekräftig sind:

1. die Auffassung von der physischen Struktur der Seele; 2. das Verhältnis von Gattungsnatur und Individualnatur; 3. die Kriterien für die Aufstellung ethischer Normen; 4. die Grundelemente der Soziallehre.

I.

Der Mensch wird von Demokrit in seiner leiblich-seelischen Gesamtheit gesehen, die aber von der Dominanz der Seele bestimmt ist. Da die Seele für den ato-mistischen Philosophen ein spezifischer Atomkomplex ist, der die Funktionen des Körpers steuert und die Einheit der Persönlichkeit konstituiert, muß sich das ethische Bemühen darauf konzentrieren, die Seele in einen Zustand zu versetzen, der es ihr gestattet, diese Funktion in optimaler Weise zu erfüllen. Es ist ein Zustand der Stabilität (εύστα&έες, sc. ψυχαί Fr. 191 D.-K.), des „Wohlbefindens" (εύεστώ, Fr . 4; A 167 D.-K.), in dem die Seele durch die Abgewogenheit ihrer Zusammensetzung und die Harmonie der Atombewegungen charakterisiert ist10. Er wird als „Wohlgemutheit" erlebt (εύ&υμίη, Fr. 4. 191; A 167. 169 D.-K.), die die spezifisch Demokritische Form der Eudämonie darstellt. Begriffe wie der der Mäßigung (μετριότης, Fr. 191 D.-K.) und des rechten Maßes (συμμετρίη, Fr. 191; A 167 D.-K.) und die mehrfache Verwendung des Adjektivs μέτριος (Fr. 233. 285. 286 D.-K.) finden ihre Parallele in der Medizin, in der diese Begriffe im 5. Jh. eine zentrale Rolle spielten11. Wenn Demokrit, wie später auch Epikur, die Philo-sophie mit der Medizin vergleicht und ihr eine Funktion analog derjenigen zu-weist, die die Medizin im Hinblick auf den Körper hat (Fr. 31 D.-K.), so ist das angesichts der physiologischen Seelenkonzeption Demokrits mehr als eine Metapher.

Wesentlich ist nun, daß diese Vorstellung von der Struktur der Seele offen bleibt für den Gedanken der individuellen Variation, d. h. daß die in bestimmter

10 Die bei Demokrit zugrunde liegende physiologische Vorstellung von der Seelenstruktur drückt sich in einprägsamen Wendungen aus, die ganz wörtlich zu verstehen sind: „Die in großem Pendelschlag sich bewegenden Seelen sind weder wohlbeständig noch wohlgemut" (Fr. 191 D.-K.). Die extremen Bewegungen erscheinen als Folge von Zuständen des Mangels und des Überflusses, die deshalb zu meiden sind (Fr. 191. 102 D.-K.). Die richtige Ordnung der Seelenstruktur gestaltet das Leben glücklich: „Wem das innere Wesen wohlgeordnet ist, dem ist auch das Leben in Ordnung" (Fr. 61 D.-K.).

11 F. Wehrli, Ethik und Medizin. Zur Vorgeschichte der aristotelischen Mesonlehre, Museum Helveticum 8, 1951, 55ff.

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Hinsicht einheitliche Gattungsnatur des Menschen sich in Individualnaturen aus-prägt, die nicht nur beliebige Varianten in der angeborenen Substanz auf weisen, sondern in hohem Grade auch einer aktiven Einwirkung von außen zugänglich sind. Der Grundgedanke der kulturellen Überformung der angeborenen Physis findet seinen Ausdruck in Fr. 33 D.-K.: „Die Natur und die Erziehung sind etwas Ähnliches. Denn die Erziehung formt den Menschen um (μεταρυσμοΐ), aber durch diese Umformung schafft sie Natur (φυσιοποιεΐ)." Dieser Satz ist bedeutsam einerseits, weil er mit seiner Terminologie in besonders eindrucksvoller Weise die Vorstellung Demokrits von der materiellen Struktur der Seele belegt12: μετα-ρυσμοϋν bedeutet „Umformung" des ρυσμός, der Gestalt, wobei sich dieser Begriff hier nicht wie sonst auf die Form des einzelnen Atoms, sondern auf die Struktur der Atomverbindung bezieht. Darüber hinaus enthält der Satz in knappster Form auch einen Gedanken der Kulturtheorie des 5. Jh . : die Kultur wird zu einer „zweiten Na tur" des Menschen in einer Weise, die Grundsubstanz und Über-formung nicht mehr in eindeutiger Weise zu trennen gestattet, weil zum echten Wesensmerkmal wird, was vorher Produkt sekundärer Einwirkung gewesen war13.

Für Demokrits Anthropologie war diese Auffassung von der Physis von größter Bedeutung. Die zur gesellschaftlichen Passivität und zum Verharren bei der Tradition verleitende Anbetung der Physis, wie sie die alte Adelsethik verfocht, vermochte Demokrit ebensowenig zu teilen wie die zeitgenössischen Sophisten14. So kommt in seine Ethik ein höchst aktives Moment. Umformung der Seelen-struktur kann die Folge mannigfacher Eingriffe sein. Neben der Erziehung (vgl. auch Fr. 183 D.-K.) und Übung (Fr. 242 D.-K.) spielt vor allem der πόνος, Mühe der verschiedensten Art einschließlich der Arbeit, eine fundamentale Rolle (Fr. 179. 182. 240. 241. 243 D.-K.), bisweilen auch in enger Verbindung mit dem Lernen (Fr. 179. 182 D.-K.)15. Richtiges Handeln, richtiges Denken und sogar „richtiges Sprechen" haben einen unmittelbaren Einfluß auf die atomare Struktur der Seele. Deshalb soll man „Niedriges" nicht nur nicht tun, sondern auch nicht davon sprechen (Fr. 190. 244 D.-K.).

Ein Hauptmerkmal des Menschen ist für Demokrit die Fähigkeit, in bestimmtem Maße seine seelisch-geistige Struktur selbst zu bestimmen. Das ist ein Vorzug, aber es bedeutet auch eine hohe Verantwortung. Ihrer wird sich der Mensch

12 K. v. Fritz, a. O., 36. 13 Eine naheliegende, in diesem Zusammenhang immer wieder herangezogene Analogie findet

sich in der Hippokratischen Schrift Περί άέρων υδάτων τόπων (14) in dem Bericht über eine mit künstlichen Mitteln bewirkte Makrokephalie, vgl. Vlastos, Ethics and Physics in Democritus II, 55, Anm. 11; Luria, Zur Frage der materialistischen Begründung der Ethik bei Demokrit, 13f.

14 Vgl. R. Müller, Das Menschenbild der sophistischen Aufklärung, a. O., 163. 267. 15 Die Struktur der Seele, der Charakter oder das Wesen (τρόπος, Fr. 61 D.-K.; ήθος, Fr. 57

D. -K.), ist für Demokrit keine fest vorgegebene Größe, sondern stellt eine Aufgabe für den Menschen dar, der er sich in aktiver Haltung zu widmen hat. In dieser Haltung tritt der Mensch auch dem Zufall entgegen, dem die φύσις (Fr. 176 D.-K.) letztlich ebenso überlegen ist wie die σωφροσύνη (Fr. 210 D.-K.) und die σοφίη (Fr. 197 D.-K.). Vgl. H. Herter, Thukydides und Demokrit über Tyche, Wiener Studien, Neue Folge 10, 1976, 106ff.

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bewußt, wenn er sich mit den Tieren vergleicht : „Das Tier weiß in seinem Be-dürfnis, wieviel es bedarf. Der Mensch dagegen, der etwas bedarf, erkennt das nicht" (Fr. 198D.-K.). Das Wesen des Menschen ist nicht völlig durch die Gat-tungsnatur fixiert wie beim Tier. Freilich ist sie für Demokrit auch nicht beliebig manipulierbar, sondern durch ein inneres Maß bestimmt. Dieses Maß der inneren Harmonie und Symmetrie (A 167; Fr. 191), die jedes zuviel und zuwenig meidet, muß die σοφίη erkennen (Fr. 197 D.-K.). Dank seiner σοφίη, die auf den Grund der Dinge sieht, verbleibt der Mensch in den Grenzen des Möglichen und ver-meidet, über diese Grenzen, die durch die eigene Kraf t und Natur gesetzt sind, hinauszugehen (Fr. 3. 191 D.-K.)16.

Die Aussagen Demokrits über die Individualnatur des Menschen sind wesentlich für das Verständnis einer Anthropologie, in der sich naturphilosophische und kulturtheoretische Erwägungen in bemerkenswerter Weise verbinden. Demokrits physiologische Interpretation der seelischen Prozesse läßt Raum für eine Analyse des Menschen, die neben der biologischen auch die kulturell-gesellschaftliche Bedingtheit einbezieht. Die bewußte, formende Einwirkung auf die „von Natur" vorgegebene Seelenstruktur hat die gleiche Funktion wie die τέχνη in der Aus-einandersetzung mit der Natur, die zur Herausbildung der Kultur führt. In beiden Bereichen wird die „Natur" nicht als unausweichliches Schicksal hin-genommen, sondern so umgeformt, daß sie zur Grundlage einer den menschlichen Zwecken angepaßten Lebensführung werden kann.

Mit dieser Haltung zum Problem der Physis sind gewisse Vorentscheidungen für das Problem der ethischen Normen und ihrer Begründung verbunden. Der naturalistische Grundansatz führt dazu, daß zum generellen Maßstab die Gat-tungsnatur des Menschen wird; die Orientierung auf die Individualnatur hat zur Folge, daß auch ein Moment der Relativierung zum Ausdruck kommt. Freilich weist diese Tendenz nicht so sehr in die Richtung des Protagoras, der die jeweilige Verfassung einer konkreten Polis zum Bezugspunkt seiner Überlegungen gemacht hatte. Demokrit dagegen zielt auf die individuellen Bedürfnisse und Bedingungen des einzelnen, die sich aus dessen innerer Disposition und ihrem Verhältnis zur Umwelt ergeben.

Mit der Frage der Normen gelangen wir ins Zentrum der Demokritischen Lehre, zu einem Punkt, an dem sich naturphilosophische, erkenntnistheoretische und ethische Fragestellungen treffen. In dem für diesen Zusammenhang wichtigsten Fragment heißt es: „Für alle Menschen ist dasselbe gut und wahr (άγαθ-ον καΐ άλη&ές): angenehm (ηδύ) freilich ist dem einen dies, dem anderen das" (Fr. 69 D.-K.). Die Hervorhebung des objektiven Charakters der Erkenntnis und der Relativität der Sinnesempfindung entspricht voll und ganz den erkenntnis-

16 Um die Einhaltung des richtigen Maßes geht es bei Demokrits häufigen Mahnungen, mit dem Vorhandenen oder Erreichbaren zufrieden zu sein und sich am Möglichen zu orientieren (Fr. 191. 234. 283. 284. 286 D.-K.). Neben der Einschränkung der Bedürfnisse, die dann für Epikur besonders wichtig wird, ist für Demokrit die aktive Bewältigung der Probleme bestimmend. Vgl. Vlastos, Ethics and Physics in Democritus II, 58 ff.

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Naturphilosophie und Ethik im antiken Atomismus

theoretischen Prinzipien Demokrits. Auszugehen ist von der Unterscheidung zweier Arten der Erkenntnis, der ,.echten" und der „dunklen", d. h. der ratio-nalen Erkenntnis und der Sinneswahrnehmung (Fr. 11 D.-K.), und zweier Arten von Objekten, der real existierenden Dinge (die Atome und das Leere) und der vom Wahrnehmungsakt abhängigen sekundären Qualitäten (Fr. 125 D.-K.)17. Im Hinblick auf die Analyse der ethischen Normen gelangt Demokrit zu demselben Ergebnis wie bei der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur. Für beide gibt es objektive Kriterien, in beiden Fällen sind allgemeingültige Aussagen möglich: nicht, nur das Wahre ist dasselbe für alle Menschen, sondern auch das Gute. Man hat dieses Fragment als ein Bekenntnis zu absoluten ethischen Werten und als eine Absage an den Gedanken der historisch-gesellschaftlichen Relativität der Normen gedeutet, den Protagoras vertreten hatte18. Das ist in gewissem Sinne richtig. Dennoch bedarf die Frage einer näheren Untersuchung. In Betracht zu ziehen ist ein anderes Fragment, das für die Interpretation der Demokritischen Ethik von grundlegender Bedeutung ist und deshalb zu Recht immer wieder starke Beachtung gefunden hat: „Kriterium für das Zuträgliche und Unzu-trägliche (δρος συμφόρων και ασύμφορων) ist Freude und Mangel an Freude" (Fr. 188 D.-K.). Jedes Wort in diesem Fragment bedürfte einer eingehenden Inter-pretation, die hier nicht geleistet werden kann. Man hat zu Recht dieses Fragment mit dem Satz des Protagoras vom Menschen als Maß aller Dinge in Verbindung gebracht und in ihm eine Auseinandersetzung Demokrits mit dem Homo-men-sura-Satz aus der Sicht der Ethik erblickt19. Aber steht Demokrit hier in einem prinzipiellen Gegensatz zu Protagoras? Unsere Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den Begriff des σύμφορον, des Zuträglichen, einer zentralen Kategorie des philosophischen Denkens im 5. Jh., die vor allem auch unter dem Einfluß der Medizin ihre starke Wirkung ausgeübt hat.

Nach Fr. 69 D.-K. kann nicht die sinnliche Lust (ηδύ) Richtmaß für das ethisch Gute sein, da sie, darin der Sinneswahrnehmung vergleichbar, in die Irre führt. Nach Fr. 188 D.-K. ist objektiver Maßstab für die Beurteilung des σύμφορον und des άσύμφορον, dessen, was für die Seele zuträglich und nicht zuträglich ist, τέρψις, die geistige Lust, die Freude. Sie zeigt an, in welchem Zustand sich die Seele befindet und welche Art der Einwirkung ihre innere Harmonie jeweils

17 Zur Parallelität von Erkenntnistheorie und Ethik in Fr. 69 Vlastos, Ethics and Physics in Democritus I, 589ff.; Μ. M. Sassi, Le teorie della pereezione in Democrito, Firenze 1978, 236ff., widerlegt in überzeugender Weise die Argumente von C. C. W. Taylor (Pleasure, knowledge and sensation in Democritus, Phronesis 12, 1967, 9ff.), der die Ergebnisse von Vlastos in Zweifel gezogen hatte. — Zur Demokritischen Erkenntnistheorie vgl. auch F. Jürss, Zum Erkenntnis-problem bei den frühgriechischen Denkern, Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentral-inetitut für Alte Geschichte und Archäologie, Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike 14, Berlin 1976, 108ff.

18 Vgl. W. Kulimann, Zur Nachwirkung des homo-mensura-Satzes des Protagoras bei Demo-krit und Epikur, Archiv für Geschichte der Philosophie 51, 1969, 128ff.

19 Kulimann, a. 0 . , 133 ff. Zur Rolle des συμφέρον im Denken des 5. Jh., speziell in der Medizin, Vlastos, Ethics and Physics in Democritus I, 587ff.; Kullmann, a. 0 . , 136ff.

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fördert oder stört. Die in Fr. 69 D.-K. konstatierte Objektivität und Allgemein -gültigkeit des Guten liegt also offenbar in seiner Identi tät mit dem σύμφορον. Die konkrete inhaltliche Bestimmung des σύμφορον muß freilich in ihrem Bezug auf die Seelenstruktur des Individuums gesehen werden. Das σύμφορον ist nicht für alle Individualnaturen identisch, wie ζ. B. Fr. 107 D.-K. zeigt: „Freunde sind nicht alle, die miteinander verwandt sind, sondern diejenigen, die miteinander übereinstimmen hinsichtlich dessen, was zuträglich ist." Durch den Bezug auf die Individualnatur des Menschen gelangt also auch Demokrit zu einer Relativierung der ethischen Normen. Allgemeingültig und wie in der Erkenntnistheorie der Begriff der Wahrheit für alle Menschen verbindlich ist die Norm des Zuträglichen, die sich in ihrer allgemeinen Form auf die Bedürfnisse der menschlichen Seele, gewissermaßen auf die Gattungsnatur bezieht. Ihre konkrete inhaltliche Bestim-mung variiert aber in demselben Maße, in dem die Gattungsnatur sich in unter-schiedlichen Individualnaturen ausprägt. Der Begriff des σύμφορον hat hier eine ähnliche Funktion wie das συμφέρον des Protagoras (Piaton, Theaitetos 172 A). Nur ist Bezugspunkt bei Demokrit der einzelne Mensch mit den konkreten Bedingungen seiner Individualität, bei Protagoras die einzelne Polis mit den konkreten Bedingungen ihrer Verfassung.

Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Demokrits Stellung zur sinnlich-körperlichen Lust. Diese wird nicht prinzipiell abgelehnt, hat aber ethisch nur eine bedingte Relevanz. Die Spannung, in der die sinnliche Lust zum Begriff des σύμφορον steht, wird in Fr. 74 D.-K. deutlich: „Keinen Genuß soll man sich gönnen, wenn er nicht zuträglich is t" (vgl. auch Fr. 71. 178. 189. 235 D.-K.). Die Orientierung auf die geistige Lust, die anstelle der sinnlichen Richtmaß sei, zeigen wiederholte Hinweise auf das „Schöne" (καλόν), vgl. Fr . 73. 112. 194. 207 D.-K.

Einen weiteren Aspekt der Beziehung zwischen Naturphilosophie und Anthro-pologie Demokrits erfassen wir mit der „atomistischen" Gesellschaftskonzeption. Dieses Problem tr i t t in den erhaltenen Texten des Philosophen nicht direkt in Erscheinung, berührt aber eine Grundfrage des Demokritischen Weltbildes. Marx ist bei der Analyse der epikureischen Philosophie in seiner Dissertation „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie" davon aus-gegangen, daß Epikur die atomistische Theorie als adäquate Grundlage für sein Menschen- und Gesellschaftsbild gewählt hat. Dieses aber hat die Vorstellung vom „vereinzelten Einzelnen" zur Voraussetzung20. Für Demokrit wie für Epikur ha t sich die menschliche Gesellschaft durch die Vereinigung ursprünglich isoliert lebender Individuen gebildet21. Die Analogie zur Entstehung der Kosmoi aus der

20 K. Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie nebst einem Anhange, K. Marx/F. Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Erste Abteilung, Bd. 1, Berlin 1975, 5 ff.

21 R. Müller, Die epikureische Gesellschaftstheorie, Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie, Schriften zur Geschichte und Kultur der Antike 5, 2. Aufl. Berlin 1974, 29ff., 38ff., 55ff.

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Vereinigung ursprünglich isolierter Atome zu Atomverbänden liegt auf der Hand. Zweifellos wird man nicht so weit gehen, die atomistische Konzeption generell als Projektion eines Gesellschaftsbildes in das Naturgeschehen zu deuten — eine Erklärung, die der problemgeschichtlichen Entwicklung des naturphilosophischen Denkens von Thaies bis zu Demokrit in ihrer Eigengesetzlichkeit nicht gerecht würde. Aber freilich kann man voraussetzen, daß die Strukturanalogie von atomarem und gesellschaftlichem Geschehen für die Atomistik von Anfang an Bedeutung hatte22.

Die „atomistische" Gesellschaftskonzeption ist durch zwei Merkmale gekenn-zeichnet: Einerseits wird die isolierte Einzelexistenz betont, die die Gesellschaft als sekundäres Entwicklungsprodukt erscheinen läßt. Andererseits wird der Bezug der Individuen aufeinander hervorgehoben, durch die sie als Glied der Polis-gemeinschaft erscheinen. Trägt die erste Tendenz individualistische Züge, so betont die zweite die Verpflichtungen gegenüber dem Gemeinwesen. Beide treten in der Polisideologie des 5. Jh. in Erscheinung, beide prägen in charakteristischer Weise die Sozialphilosophie Demokrits, die auf einen Ausgleich zwischen den Interessen des Individuums und denen der Gemeinschaft ausgerichtet ist23. Aus Rücksicht für die Belange des Individuums warnt der Philosoph vor einem zu starken politischen Engagement (Fr. 3 D.-K.), im Hinblick auf das öffentliche Interesse mahnt er, die Verpflichtungen gegenüber dem Gemeinwesen ernst zu nehmen (Fr. 252 D.-K.). Hinweise darauf, daß Demokrit die Strukturanalogie von kosmischem und gesellschaftlichem Sein auch bewußt angewendet hat, bietet Fr. 164 D.-K. Setzt man es in Beziehung zur Darstellung bei Diodor I 8, 2, die im Kern zweifellos Demokritische Gedanken enthält24, dann spricht manches dafür, daß der Philosoph das Prinzip ,,Gleiches zu Gleichem" in Analogie zu den Auswirkungen des Atomwirbels in der Kosmogonie auch bei der Erklärung der Gesellschaftsentwicklung angewendet hat25.

II.

Um die Wandlungen im Verhältnis von Naturphilosophie und Ethik zu ver-stehen, die sich in der Lehre Epikurs vollzogen26, muß man sich die gesellschaft-liche und geistige Situation am Ende des 4. Jh. vergegenwärtigen. Die Hin-

22 R. Müller, Die epikureische Gesellschaftstheorie, 59ff. 23 Vgl. V. E. Alfieri, Atoms idea. L'origine del concetto dell' atomo nel pensiero greco, Firenze

1953, 202ff. Zur Soziallehre Demokrits insgesamt vgl. C. J. D. Aalders, The political faith of Democritus, Mnemosyne, Ser. IV 3, 1950, 302ff.

M Vgl. C. W. Müller, Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens, Klassisch-philologische Studien 31, Wiesbaden 1965, 92, Anm. 218; R.Müller, Die epikureische Gesell-schaftstheorie, 55 ff.

25 C. W. Müller, a. O., 95, Anm. 221. 26 Zur epikureischen Ethik seien von neueren Darstellungen hervorgehoben: W. Schmid, Art.

Epikur, Reallexikon für Antike und Christentum, 5, Stuttgart 1962, 719ff.; A. Krokiewicz, Hedonizm Epikura, Warszawa 1961; B. Farrington, The faith of Epicurus, London 1967, 119ff.;

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10 REIMAB MÜLLER

Wendung der hellenistischen Philosophie zur Tradition der frühen griechischen Naturphilosophie, wie wir sie im Epikureismus und bei der Stoa beobachten, ist ein bemerkenswertes Phänomen. Wir können hier nicht die komplexen Gründe für diese Entwicklung im einzelnen darstellen. Für Epikur war die aufklärerische Tendenz wahrscheinlich von Anfang an ein starker Impuls, die Tradition der älteren Naturphilosophie aufzunehmen. Daß seine Wahl dabei auf den Atomismus fiel, hatte wohl zwei Gründe. Erstens stellte die atomistische Philosophie das höchstentwickelte, in sich geschlossene System einer lückenlosen materialistischen Welterklärung dar. Zweitens bot — wie bereits hervorzuheben war — dieses System (nach entsprechenden Modifikationen) die Möglichkeit, ein einheitliches Weltbild zu konstituieren, in dem naturphilosophische und anthropologisch-ethische Intentionen in glücklicher Weise zur Deckung gebracht werden konnten. Dabei standen für Epikur die anthropologisch-ethischen Interessen zweifellos an erster Stelle27. Die individualistischen Tendenzen, die sich schon im 5. Jh. ent-wickelt hatten, wurden im 4. Jh. v. u. Z. unter dem Eindruck der Poliskrise vor-herrschend. Angesichts der Erfahrungen einer Zeit, in der sich die sozialen Bin-dungen in erheblichem Maße gelockert hatten, erweckte eine Philosophie beson-deres Interesse, die die Möglichkeit bot, „das Prinzip des isolierten Individuums als das Weltprinzip nachzuweisen" (F. Mehring)28. Bei Epikur gewann das Verhältnis von Naturphilosophie und Ethik eine neue Form, die der Ausgangsposition bei Demokrit in gewissem Sinne entgegengesetzt war. Hatte bei Demokrit die Natur-philosophie dominiert und den Rahmen für ein System abgegeben, in dem die Ethik einen Anwendungsbereich der Naturphilosophie darstellte, kehrt sich dieses Verhältnis bei Epikur um. Die Naturphilosophie tritt in den Dienst der Ethik, die das eigentliche Zentrum und die Haupttriebkraft des Philosophierens dar-stellt29.

Ungeachtet ihrer im Prinzip dienenden Funktion hat die Naturphilosophie aber für Epikur durchaus ein Eigengewicht. Gerade darin erweist sich Epikur als Erbe und Fortsetzer der älteren Aufklärung, daß er seine Weltanschauung auf ein breites, auch im Detail ausgearbeitetes naturphilosophisches Fundament zu stellen sucht. Nur so war es ihm möglich, die Auseinandersetzung mit den anderen

H. Stecke], Art. Epikuros, Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Suppl.-Bd. 11, 1968, 619ff.; J. Bollack, La pensee du plaisir, Epicure: textes moraux, commentaires, Paris 1975; F. Jürss, R. Müller, E. G. Schmidt, Griechische Atomisten, 57ff.

27 R. Müller, Die epikureische Gesellschaftstheorie, 31 f. 28 Aus dem literarischen Nachlaß von K. Marx, F. Engels und F. Lassalle, hrsg. von F. Meh-

ring, 4, Stuttgart 1925, 46ff. 29 Epikur hat die dienende Funktion der Naturphilosophie im Hauptlehrsatz 11 hervor-

gehoben: „Wenn wir nicht durch den Verdacht beunruhigt würden, die Himmelserscheinungen und der Tod könnten uns vielleicht doch etwas angehen, ferner durch die Ungewißheit über die Grenzen der Schmerzen und Begierden — dann bedürften wir keiner Naturerkenntnis." Die Philosophie ist eine τέχνη περί τόν βίον (Fr. 219 Us.), ihre Hauptfunktion ist es, Lebenshilfe zu bieten in einer Zeit, die vielen Menschen als chaotisch und von irrationalen Mächten bestimmt erschien.

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Naturphilosophie und Ethik im antiken Atomismus 11

Schulen — seien es die großen Systeme Piatons und Aristoteles' oder die kon-kurrierende stoische Philosophie — von einem sicheren Fundament aus zu führen.

Welches sind nun die spezifischen Aufgaben, die die Naturphilosophie im unmittelbaren Interesse der Ethik zu erfüllen hatte? Epikur hat sich zu dieser Frage mit wünschenswerter Klarheit geäußert. Die φυσιολογία hat vor allem zwei Funktionen zu erfüllen: Sie soll die Menschen über das Wesen der Naturprozesse aufklären, um irrationale Ängste vor den „Himmelserscheinungen" und vor dem Tod zu bannen, und sie soll die Natur des Menschen verständlich machen, um die Seele von falschen und eingebildeten Bedürfnissen zu befreien (Hauptlehrsätze XI—XIII)3 0 . Der innere Zusammenhang zwischen Naturphilosophie und Ethik ist durch diese Bestimmung der φυσιολογία noch enger geworden als bei Demokrit. Gewiß handelt es sich hier um graduelle Unterschiede. An einer bemerkenswerten Stelle in ,,De finibus" versucht Cicero eine Deutung des Verhältnisses, in dem Naturphilosophie und Ethik bei Demokrit zueinander standen. Der Philosoph habe zwar die wissenschaftliche Erkenntnis um ihrer selbst willen erstrebt, aber zugleich durch die Erforschung der Natur auch das ethische Ziel der „Gemüts-ruhe" erreichen wollen (V 87). Für Epikur nun ist die Ethik nicht nur ein selb-ständiger, sondern der wichtigste Teilbereich der Philosophie, für den die Natur-philosophie die weltanschauliche Basis liefert. Philosophie ist nicht θεωρία wie in der platonisch-aristotelischen Tradition31, sondern aktives Tun, eine ενέργεια, die „durch Gedanken und Diskussionen das glückliche Leben schafft" (Fr. 219 Us.)32. Auch der Vergleich von Medizin und Philosophie, der bereits bei Demokrit begegnet ist, erhält nun eine absolute und ausschließende Zuspitzung auf die praktisch-ethische Funktion: „Leer ist die Rede jenes Philosophen, durch die keine menschliche Leidenschaft geheilt wird" (Fr. 221 Us.).

Aber nicht nur im Hinblick auf die Funktion der Philosophie und die Rang-ordnung ihrer Teilgebiete vollzogen sich bestimmte Änderungen. Wichtiger sind die inhaltlichen Neubestimmungen, die sich aus der weiteren Entwicklung der

30 Die beiden Gebiete des Zusammenwirkens von Naturphilosophie und Ethik im System Epikurs werden bei Cicero, de fin. I 63 f., eingehend erörtert. Einerseits führt die Erkenntnis des Wesens der Dinge zur Befreiung von Aberglauben und Todesfurcht. Andererseits klärt die Natur-philosophie den Menschen über seine eigene Natur auf: denique etiarn morati melius erimus, cum didicerimus quid natura desideret (I 63); ...sic e physicis ... sumitur ... moderatio natura cupiditatum generibusque earum explicates (I 64). Daß es aber über diese eng praktizistische Auslegung hinaus Epikur um ein zuverlässiges Wissen über die Natur geht, das sich auch in der Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen bewährt, wird ebenfalls hervorgehoben (I 63).

31 Freilich ist auch für Aristoteles das θ-εωρεϊν eine Form des πράττειν im umfassenden Sinn menschlicher Lebenstätigkeit (Pol. 1325b 14ff.).

32 Interessant für das Verhältnis von Naturphilosophie und Ethik bei Epikur ist auch eine Stelle in der sog. Comparetti-Ethik, an der es heißt, die ethischen Disputationen müßten, um vollkommen zu werden, mindestens zwei fundamentale Grundsätze der φυσιολογία heranziehen: „Nichts geschieht ohne Grund" und „Das Ganze verändert sich nicht" (Kol. XIII) . Zur Inter-pretation vgl. W. Schmid, Ethica Epicurea (Pap. Here. 1251), Studia Herculanensia 1, Leipzig 1939, 67 f.

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12 RETMAR MÜLLER

atomistischen Philosophie ergeben haben. Betrachten wir unter diesem Gesichts-punkt die wichtigsten Aspekte des Verhältnisses von Naturphilosophie und Ethik.

Für Demokrit war, wie wir gesehen hatten, die ethische Beeinflussung des Individuums unmittelbar auf eine Physiologie der Seele gegründet. Richtiges Denken, Sprechen und Handeln hat demgemäß direkte Auswirkungen auf die Atomstruktur der Seele, führt zu Veränderungen in der Atomkomposition, zu einer besseren Konstitution der Seele, die ein entsprechendes sittliches Verhalten zur Folge hat. Auch die philosophische Einsicht in die Natur des Menschen setzt sich in dieser Weise unmittelbar um. Bei Epikur vollziehen sich diese Prozesse in einer vielschichtigeren Weise. Die Beziehung zwischen Erfahrung und Erkenntnis einerseits33, sittlichem Handeln andererseits wird vermittelt durch einen sich im λογικόν μέρος vollziehenden Erkenntnisprozeß, der wiederum zu handlungs-auslösenden Willensentscheidungen führt. Die Quellen dieser Erkenntnis sind sehr ausgedehnt und umfassen im Prinzip die gesamte Naturphilosophie und Ethik. Neben der Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten einer von göttlichen Einwirkungen freien, sich in ewigem Werden und Vergehen reproduzierenden Natur ist es die Erfassung der Grundgegebenheiten der menschlichen Natur: die Rolle der Lust in ihren verschiedenen Erscheinungsformen; die Abwägung von Lust und Unlust; die Unterscheidung von echten und vermeintlichen Bedürfnissen; die Funktion der „Tugenden" als Mittel zur Erlangung des Telos. Während sich Demokrits ethische Unterweisung auf eine offenbar nicht systematisch fundierte Seelen-therapie beschränkte, sehen wir uns bei Epikur einem ausgearbeiteten ethischen System gegenüber, das auf einer breiten Basis naturphilosophischer und anthro-pologischer Erkenntnis beruht und dessen Grundzüge vom Individuum reflektiert werden müssen.

Natürlich muß auch bei Epikur der einzelnen Handlung nicht in jedem Fall eine neue Grundsatzentscheidung vorausgehen. Die ethisch gefestigte Persönlich-keit hat ihr Fundament auch hier in einer inneren Verfassung, in einer seelisch-geistigen Grundstruktur, die wie bei Demokrit teils auf angeborene Faktoren zurückgeht, teils auf der formenden Einwirkung von Erfahrung, Erkenntnis und Belehrung beruht. Von den Vorteilen, die eine angeborene günstige Atomstruktur von Körper und Seele für das Individuum mit sich bringt, ist in epikureischen Texten nicht selten die Rede34. So hat Epikur davon gesprochen, daß man ein Weiser nicht bei jeder Konstitution des Körpers werden könne (Fr. 226 Us.). In der Schule des Philosophen vertrat man die Auffassung, daß Epikurs Mutter bereits jene spezifischen Voraussetzungen der atomaren Komposition besessen habe, die den Weisen hervorzubringen vermochte (Fr. 178 Us.). Veränderungen

33 Ρ. Η. — Ε. A. De Lacy, Philodemus, On methods of inference, La scuola di Epicuro, Collezione di testi ercolanesi diretta da M. Gigante, 1, Napoli 1978.

31 Vgl. auch Diogenes von Oinoanda Fr. 1, Kol. II 14; Fr. 2, Kol. III 3 Chilton: εύσύνκριτοι und dazu J. William, Diogenis Oenoandensis fragmenta, Leipzig 1907, 72. S. auch Epikur, Περί φύσεως, Pap. 1056, Fr. 7, Kol. 111 ή πρώτη σύστασις, Kol. VI 11 ή έξ αρχής σύστα(πς.

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Naturphilosophie und Ethik im antiken Atomismus 13

der angeborenen Natur werden bewirkt durch die Einflüsse der Umwelt (πράγ-ματα, Brief an Herodot 75) und durch zielgerichtete Handlungen (πράξεις, Dio-genes von Oinoanda Fr. 43 Chilton). Das Ergebnis dieser Wechselwirkung von angeborener Substanz und erworbenen Eigenschaften ist eine bestimmte Dispo-sition der Seele (διάθεσις), die mit der Individualnatur Demokrits vergleichbar ist. Wie bei Demokrit t rägt das Individuum für diese Disposition volle Verantwortung: „Das wichtigste bei der Glückseligkeit ist unsere innere Verfassung (διάθ-εσις). Über diese sind wir Herr" (Diogenes von Oinoanda Fr. 41 Chilton)35.

Dabei hat auch der höhere Entwicklungsstand der epikureischen Psychologie Folgen für eine differenziertere Erfassung der Persönlichkeitsstruktur. Epikurs Charaktertypologie, die von den Mischungsverhältnissen der verschiedenen Formen von Seelenatomen ausgeht, verschafft, wohl unter dem Einfluß der Medizin, der Temperamentenlehre Eingang in die Atomistik36. Aber wie bei Demokrit ist nicht die angeborene atomare Struktur der Seele letztlich verantwortlich für das sittliche Handeln, sondern die Disposition, die durch Erfahrung und Erkenntnis gewonnene „Seelenverfassung", die das angeborene Wesen modifiziert und korrigiert, freilich niemals völlig verdrängt (Lukrez III 307ff.). Die διάθεσις bewährt sich darin, daß sie die von der Natur ge-gebenen Grenzen richtig bestimmt (Fr. 548 Us.).

Auch Epikur berücksichtigt die Individualnatur des Menschen. Betrachtet man freilich sein ethisches System als ganzes, so ist eine Verlagerung des Akzentes auf die Gattungsnatur festzustellen, die sich aus den Grundintentionen der ethischen Lehre Epikurs ergibt. Bei Epikur führ t der Versuch, die Ethik auf die materia-listischen Prinzipien der atomistischen Philosophie zu gründen, zu wesentlich anderen Konsequenzen als bei Demokrit. Ha t te jener mit seiner Physiologie der Seele eine eher äußerliche Verbindung zwischen Naturphilosophie und Ethik hergestellt, so versucht nun Epikur den naturalistischen Grundansatz entschieden zu vertiefen. Er t u t dies, indem er die Ethik auf die leiblich-seelische Einheit des Menschen und die Erfüllung seiner physischen Grundbedürfnisse (Erhaltung der körperlichen und seelischen Substanz und ihre Bewahrung vor allen störenden Einflüssen) begründet. Da unter diesem Aspekt die Unterschiede der verschiedenen Individualnaturen nicht erheblich ins Gewicht fallen, t r i t t die Gattungsnatur in den Vordergrund. Die in den Grundzügen als unveränderlich betrachtete Natur des Menschen mit ihren angeborenen und legitimen Grundbedürfnissen wird zum Richtmaß für detailliert ausgearbeitete Regeln des ethisch richtigen Verhaltens. Wir werden noch zu zeigen haben, daß für Epikurs Rechtsphilosophie das Prinzip der gesellschaftlichen Relativität der Normen bestimmend ist, er also in dieser Hinsicht in der Tradition des Nomos-Denkens der Sophistik steht. Dagegen ist seine Individualethik auf dem Fundament einer in den wesentlichen Zügen als konstant betrachteten Physis begründet.

Epikur bezieht sich auf die Natur des Menschen, wenn er die wichtigsten

35 Der Spruch ist mit großer Wahrscheinlichkeit Epikur, nicht Demokrit zuzuweisen. Zu diesem Problem vgl. die Übersicht bei C. W. Chilton, Diogenis Oenoandensis fragmenta, Leipzig 1967, 71.

38 C. Diano, La psicologia d'Epicuro e la teoria delle passioni, Giornale critico della filosofia italiana 20, 1939, 105ff. (Scritti Epicurei, Firenze 1974, 129ff.).

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ethischen Termini mit dem Begriff der φύσις in Verbindung bringt: το της φύσεως τέλος (Brief an Menoikeus 133), το της φύσεως αγαθόν (Hauptlehrsatz 7), το της φύσεως δίκαιον (Hauptlehrsatz 31), ό της φύσεως πλούτος (Hauptlehrsatz 15). Da aber der Philosoph zur Grundlage und zum Hauptbeziehungspunkt aller ethischen Lehren die körperliche Integrität des Menschen mit ihren Folgen für dessen seelisches Wohlbefinden macht, kann auch der Vergleich mit der φύσις der Tiere in einer Weise bedeutsam werden, an die bei Demokrit nicht zu denken war. Demokrit hatte, wie wir sahen, den Unterschied zwischen den instinktgeleiteten Tieren und den der Vernunft bedürftigen Menschen hervorgehoben. Für Epikur werden die unverfälscht „natürlichen", da kulturell nicht überformten Ver-haltensweisen der Tiere neben denen der Kleinkinder zum Richtpunkt für die Lehre von der Lust (Fr. 66 Us.), zu einem ungetrübten „Spiegel der Natur'" (Fr. 398 Us. = Cicero, de fin. I I 32). In einer wiederum ganz physiologisch aus-gerichteten Betrachtungsweise, nun aber auf die Gesamtheit des Körpers, nicht nur wie bei Demokrit auf die Seele bezogen, erscheinen Lust und Schmerz als identisch mit den Kräften, die die menschliche Natur erhalten bzw. zerstören (Gnomologium Vaticanum 37). Anders als bei Demokrit Freude und Schmerz sind bei Epikur Lust und Unlust nicht nur K r i t e r i u m für die zuträglichen und nachteiligen Kräfte, sondern mit diesen identisch37. Hat te Demokrit der körper-lichen Lust nur eine untergeordnete Bedeutung eingeräumt, so wird sie bei Epikur, wenn auch nicht zum einzigen, so doch zu einem entscheidenden Faktor , auf den die anderen Formen des seelisch-geistigen Erlebens und des sittlichen Verhaltens ausgerichtet sind. Die katastematische Lust des Körpers, d. h. dessen Unversehrtheit und durch Mangel nicht beeinträchtigtes Wohlbefinden, wird zu einem Hauptbezugspunkt der katastematischen Lust des Geistes, das Zusammen-wirken beider bildet die Voraussetzung für die Erlangung der Eudämonie.

Die innere Einheit des Naturbegriffs bleibt selbstverständlich auch hier gewahrt. Is t doch die Natur des Menschen nur eine Erscheinungsform der sich in unzähligen Gestalten ausprägenden kosmischen Gesamtnatur, die sich auf die Atome und das Leere gründet. Die Besonderheit des Menschen gegenüber den übrigen Lebewesen besteht darin, daß er dank der Freiheit seines Willens in der Lebensweise auch g e g e n die Natur verstoßen kann. Die Aufgabe der Philosophie ist es, sich die wahren Grundlagen der menschlichen Natur zu vergegenwärtigen, um die Über-einstimmung mit ihr wiederherzustellen. Mit vollem Bewußtsein gilt es so zu leben, wie man „gemäß den Gesetzen der Natur und ohne Belehrung" (φυσικώς και άδιδάκτως, Fr. 398 Us.) leben würde, wenn man nicht durch die falschen Vor-stellungen der δόξα, des bloßen Meinens, irregeleitet wäre.

War bereits Demokrit auf Grund seiner Lehre von διδαχή und τέχνη von der Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung und Selbstformung ausgegangen, so hat Epikur diese Fähigkeit in den Fundamenten seiner Naturphilosophie ver-

87 Vgl. H. Steckel, Epikurs Prinzip der Einheit von Schmerzlosigkeit und Lust, Diss. Göttingen 1960, 21 f., 79ff., über die Bedeutung dieser Sentenz für den Begriff der „objektiven" Lust.

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ankert. Die Lehre von der Deklination, als demjenigen kosmischen Phänomen, auf das sich die Willensfreiheit des Menschen gründet (Fr. 281 Us., Lukrez II 251 ff.), vertieft den Zusammenhang zwischen Naturphilosophie und Ethik. Was bei Demokrit als Produkt der kulturellen Überformung des Menschen und somit als alleiniger Bestandteil der menschlichen Lebensform erschienen war, das Prinzip der Selbstbestimmung, wird nun in den Grundgegebenheiten des kosmischen Seins selbst fundiert: die Freiheit der Selbstbestimmung erscheint als Freiheit von der lückenlosen Determination (Brief an Menoikeus 133). Sie ist es, die den Menschen zu rationeller Bewältigung seines Lebens zwingt, um auf diesem Wege die Übereinstimmung mit der Natur herzustellen38.

Daß Epikur auch auf dem Gebiet der Ethik von Demokrit beeinflußt ist, kann nicht zweifelhaft sein39. Aber ebenso wichtig wie die Übereinstimmung sind die Abweichungen, die aus unterschiedlichen Denkansätzen resultieren. Ein wesent-licher Unterschied erwächst aus Epikurs hedonistischem Grundsatz. Mit dem Prinzip, daß nicht jede Lust zu wählen sei (Demokrit Fr. 207 D.-K.; Epikur, Brief an Menoikeus 129), stimmen die Philosophen nur scheinbar überein. Denn Demokrits abwertende Haltung gegenüber der körperlichen Lust und die scharfe Differenzierung zwischen ihr und der geistigen Lust stehen in Gegensatz zu Epikurs Hedonismus, der die Lust schlechthin zum Gut, erklärt und letztlich auch die geistigen Erscheinungsformen der Lust auf die körperliche zurückführt. Auch die oberflächliche Berührung, die im Prinzip des Messens des „Zuträglichen" zu bestehen scheint, verbirgt einen fundamentalen Unterschied. Während es Demo-krit um ein qualitatives Abwägen des „Zuträglichen" gegen das „Unzuträgliche" geht, zielt Epikurs Lustkalkül auf etwas anderes: ein rein quantitatives Abmessen von Lust und Schmerz gegeneinander, um ein Überwiegen des letzteren zu ver-meiden (Brief an Menoikeus 129f.; Fr. 442 Us.)40. Auch wenn Epikur zwischen geistiger und körperlicher Lust durchaus zu scheiden weiß und der ersteren den Vorrang einräumt, so führt sein Reduktionismus, die letztliche Zurückführung aller Lust auf das körperliche Wohlbefinden, doch zu einer Einengung seines Bildes vom Menschen.

Eine ähnliche Feststellung betrifft Epikurs Quietismus. Hatten wir an Demo-krits Ethik die aktive Haltung hervorzuheben, den Willen, durch geistige und körperliche Anstrengung zum tätigen Gestalter der eigenen Lebensbedingungen

38 Gnomologium Vaticanum 9 : „Die Notwendigkeit ist ein Übel, aber es besteht keine Not-wendigkeit, unter der Notwendigkeit zu leben." Vgl. K . Sallmann, Studien zum philosophischen Naturbegriff der Römer mit besonderer Berücksichtigung des Lukrez, in: Archiv für Begriffs-geschichte 7, 1962, 216f.

38 Zu einseitig und ohne ausreichende Beachtung der Unterschiede werden die Beziehungen dargestellt bei: G. D'Anna, Alcuni aspetti della polemica antiepicurea di Cicerone, I I . L'influsso di Democrito sulla morale epicurea, Quaderni della rivista di cultura classica e medioevale 8, 1965, 23 ff. Das gleiche gilt im Hinblick auf Epikurs Hedonismus auch für M. Pakcinska, De Epicuro in ethicis Democritum secuto, Eos 50, 1959—60, 53 ff.

40 Vgl. Kullmann, a. 0 . , 139f.

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16 Reimab M ü l l e r

zu werden, so steht Epikurs Ethik viel stärker im Zeichen der passiven Abwehr der von außen herandrängenden Störungen41. Zweifellos stellt diese Tendenz zum Quietismus einen Reflex der gesellschaftlichen Situation in der Poliskrise mit allen ihren Unsicherheiten und Bedrohungen dar.

Epikurs Sozialphilosophie verstärkt die bereits bei Demokrit angelegte indivi-dualistische Tendenz. Sie findet ihren Ausdruck vor allem in der Lehre vom „Gesellschaftsvertrag", die im Kern darauf hinausläuft, das gesellschaftliche Wesen des Menschen zu leugnen und die Gesellschaft als ein sekundäres Entwick-lungsprodukt zu betrachten, das zwar für die Erhaltung der menschlichen Gattung wichtig war, aber für das Wesen des Menschen keine konstitutive Bedeutung besitzt. Hier hätte der Gedanke Demokrits von der „zweiten Natur" eine vermittelnde Funktion erhalten können. Aber er wurde von Epikur für diesen Zusammenhang nicht aufgegriffen.

Wir hatten bereits bei Demokrit auf die grundsätzliche Bedeutung zu ver-weisen, die die Strukturanalogie von Kosmos und Gesellschaftsentwicklung für die atomistische Gesellschaftslehre besitzt. Auch Epikur setzt an den Anfang der menschlichen Lebensform einen Zustand von isoliert lebenden Individuen, die sich durch Abmachungen über die wechselseitige Wahrung der Integrität und Vermeidung von Gewalt zu größeren Einheiten zusammenschließen. Die Frage ist, ob die Strukturanalogie zum kosmischen Geschehen sich auch in Einzelzügen auf die Lehre von der Gesellschaftsentstehung ausgewirkt hat. Wir hatten hervor-gehoben, daß bei Demokrit wahrscheinlich das Prinzip „Gleiches zu Gleichem" ein solches Bindeglied zwischen Natur- und Gesellschaftsprozeß darstellt. Marx hat nun in seiner Dissertation die interessante Hypothese aufgestellt, daß das kosmische Prinzip der Deklination auch in Epikurs Theorie der Gesellschafts-bildung eine Rolle gespielt habe42: Wie die Deklination auf dem Wege über die Repulsion zur Bildung eines Kosmos führt, so bei der Herausbildung der Gesell-schaft die ursprüngliche Tendenz des Ausweichens zur „Repulsion" und damit zur Entstehung gesellschaftlicher Ordnungen. In Lukrez' Darstellung des vor-gesellschaftlichen Zustande (V 925ff.) gibt es Anzeichen, die eine solche Analogie als wahrscheinlich erscheinen lassen. Wenn die erste Form des Vertrages auf dem Prinzip beruht, gegenseitige Schädigung und Gewaltausübung zu vermeiden (nec laedere nec violari, V 1019ff.), so deutet das auf einen vorausgegangenen Zustand der „Abstoßung", den man mit der Repulsion der Atome vergleichen kann. Diese Repulsion gibt den Anstoß zur Bildung des gesellschaftlichen „Kosmos"43.

41 Auch die Berührung mit Epikur, die in Demokrits Warnung vor dem πολλά πρήσσειν, auch im Hinblick auf politische Tätigkeit, zu bestehen scheint (Fr. 3 D.-K.), bedeutet doch keine voll-ständige Übereinstimmung. Geht es bei Demokrit um eine Warnung vor Übertreibungen, die über die Kraft des Individuums hinausgehen, so bei Epikur (Fr. 9 Us.) um einen Quietismus, der im Rückzug aus der Politik schlechthin den Hauptweg zur persönlichen Sicherheit sieht.

42 K. Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, K. Marx/ F. Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Erste Abteilung, Bd. 1, Berlin 1975, 40.

43 R. Müller, Die epikureische Gesellschaftetheorie, 33f., 38ff.

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Wir haben bereits angedeutet, daß Epikur bei der philosophischen Begründung der juristischen Normen in seiner Rechtsphilosophie einen grundlegend anderen Weg beschritten hat als in seiner naturalistischen Ethik. Den Denkansätzen des Protagoras folgend, hat Epikur die von den jeweiligen Bedingungen des Ortes, der Zeit und der Umstände abhängige Relativität der rechtlichen Normen ver-treten (Hauptlehrsätze 31—38)44. Wir müssen hinzufügen, daß der Philosoph versucht hat, auch diese Interpretation mit seinem Naturbegriff in Überein-stimmung zu bringen. Auch für ihn gibt es ein „der Natur gemäßes Recht" (Hauptlehrsatz 31), das freilich vom Naturrecht älterer (Hippias, Antiphon) und neuerer (Stoa) Prägung grundlegend unterschieden ist. Sein allgemeingültiger Charakter beruht lediglich auf der formalen Bestimmung des „Zuträglichen". Das Recht ist insofern für alle dasselbe, als es etwas „Nutzbringendes" in der gegenseitigen Gemeinschaft darstellt. Die inhaltliche Bestimmung dieses συμφέρον ist jeweils nach den konkreten Bedingungen des Landes und der Gesellschaft ver-schieden (Hauptlehrsatz 36). Es ist bemerkenswert, daß der für das sophistische Denken konstitutive Begriff des συμφέρον hier die Brücke zwischen natura-listischer und historisch-genetischer Betrachtungsweise darstellt, d. h. das Element der Relativität mit der Orientierung auf die Physis in Übereinstimmung bringen soll.

Die Anwendung des Physis-Begriffs auf die Anthropologie zeigt also bei den Atomisten eine beachtliche Vielfalt der Aspekte, die aus der ständigen Ausein-andersetzung mit den kultur- und gesellschaftstheoretischen Konzeptionen des 5. Jh., insbesondere der Sophistik, herrührt und damit die einseitige Orientierung an einem starren Begriff von der menschlichen Natur immer wieder relativiert. Durch Welten getrennt ist der absolut immanente Naturbegriff der Atomisten von dem der stoischen Anthropologie. Das Streben der Atomisten, die Natur zum Bezugspunkt für ethisches Handeln zu machen, hat nichts gemein mit dem Prinzip des ομολογουμένως τη φύσει ζην, der Lebensführung in Übereinstimmung mit einer teleologisch programmierenden, vernünftigen Allnatur, von der die Vernunftnatur des Menschen ein Teil ist. Für die Atomisten gibt es keine Werte, die aus einer vernünftigen Weltordnung hergeleitet werden könnten. Die ethischen Werte leiten sich vielmehr aus den Besonderheiten der menschlichen Lebensform ab, die eine spezifische Erscheinungsform des kosmischen Seins darstellt46.

Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie 108 Berl in / DDR 44 R. Müller, Die epikureische Gesellschaftstheorie, 104ff. 45 Verfehlt ist also die Auffassung, die Epikureer hätten die ethischen Normen unmittelbar aus

dem kosmischen Sein, aus einer „normativ" aufgefaßten Materie (im Sinne der Natur des Alls) abgeleitet. So H. Ludwig, Materialismus und Metaphysik. Studien zur epikureischen Philosophie bei Titus Lucretius Carus, Köln 1976, 230ff. (Grenzfragen zwischen Theologie und Philosophie 26). Vorausgesetzt wird dabei ein metaphysischer Materiebegriff, der mit den Prinzipien der epi-kureischen Philosophie unvereinbar ist.

2 Zeitschrift „Philologus", 1 Brought to you by | University of California

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