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Tel.: 030 300 65-200 Fax: 030 300 65-390 www.familienunternehmer.eu E-Mail: [email protected] KOMMENTAR AUS BERLIN Berlin, 30. August 2010 DIE FAMILIENUNTERNEHMER – ASU e.V. Prof. Dr. Gerd Habermann Tuteur Haus I Charlottenstraße 24 10117 Berlin Nach 20 Jahren ... DIE FAMILIENUNTERNEHMER – ASU waren vor 20 Jahren scharfe Kritiker der Modalitäten der ökonomischen Wiedervereinigung. Wie sieht die Bilanz heute aus? Einige Zahlen und Fakten, die nicht jeder kennt. Beginnen wir mit dem Positiven: Bruttoinlandsprodukt pro Kopf Ost: 73 Prozent West (1991: 33 Prozent). Produktivität: 81 Prozent von West (vorher: 27 Prozent). Netto- Haushaltsein- kommen: 76 Prozent West (vorher: 54). Kapitalstock je Beschäftigten: 82 Prozent (vorher: 40). Eine neue Schicht kleiner und mittlerer Unternehmen ist entstanden, die die Mehrzahl der Arbeitnehmer beschäftigt (63 Prozent gegenüber 41 Prozent im Westen). Der Anteil der Selb- ständigen hat westdeutsches Niveau erreicht. Besonders positiv: die Annäherung der Le- benserwartung (bis 1990 lebte man in der DDR drei Jahre weniger). Hinzu kommt der über- proportionale Rückgang der Suizidrate: unwiderlegbarer Ausdruck größerer Lebensfreude! Die alte DDR ist im Übrigen nicht wiederzuerkennen, was Stadtbilder, Häuser, Straßen, Schie- nen, Gesundheitswesen, Telekommunikationswesen, Kirchen, Kulturdenkmäler und den Zu- stand der Gewässer und der Luft betrifft. Es ist eine Freude, durch die renovierten Städte und Gemeinden Ostdeutschlands zu reisen. All dies macht in der Tat zusammengenommen einen „blühenden“ Eindruck. Nun die Negativliste: All dies wurde zu einem großen Teil „auf Pump“ finanziert. Eine explodie- rende Staatsverschuldung seit 1990 (war vorher schon hoch). Ostdeutschland droht in eine „Transferfalle“ zu geraten. Noch abgesehen von den Mitteln des bis 2020 begrenzten „Solidar- pakts“, beträgt auch der zukünftige Transferbedarf 80 Mrd. Euro jährlich. Der Anteil der Sozi- alleistungen am Bruttosozialprodukt umfasst sage und schreibe 50 Prozent. Dies ist welt- geschichtlich einzigartig! Die Arbeitslosenquote ist anhaltend doppelt so hoch wie im Westen (auch wegen der traditionell höheren Erwerbsbeteiligung der Frauen!) Die Finanzierung der Einheit hat die Sozialbeiträge je Arbeitnehmer im Westen um etwa 6 Pro- zentpunkte erhöht (sonst lägen die Sozialabzüge im Osten bei 50 Prozent). Es ist bisher nicht gelungen, einen selbsttragenden dynamischen Entwicklungspfad zu erreichen und, besonders schwerwiegend: die Abwanderung geht weiter. Es sind vor allem jüngere, qualifizierte Perso- nen, namentlich jüngere Frauen: Insgesamt liegt der Saldo bei 1,6 Millionen seit 1990. Ein Extrembeispiel (Hoyerswerda): Bevölkerungsverlust 50 Prozent, demographisch älteste Stadt Deutschlands (war einmal die jüngste!) mit einem Durchschnittsalter von 50 Jahren, planmäßi- ger Abriss (schon 1/3 des Wohnungsbestandes), weiter schrumpfend. Nur etwa 10 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung sehnen sich zurück nach der DDR, aber weite Teile sind skeptisch gegen Demokratie und Marktwirtschaft geworden. Nur jeder Vierte glaubt im Osten, dass die Demokratie fähig ist, die anstehenden Probleme zu meistern. Nur etwas mehr als ein Drittel im Osten hält unsere Gesellschaftsordnung für „verteidi- genswert“ (im Westen 68 Prozent). Im Westen sind übrigens mehr als 50 Prozent der Mei- nung, die Zeit vor 1989 sei besser gewesen als danach („Westalgie“). Fazit: Das Bild ist zwiespältig. Die „Auferstehung aus Ruinen“ ist mit hohen Hypotheken be- lastet. Kein Grund, sich nicht trotzdem über das Errungene zu freuen. Als wahrscheinliches Zukunftsszenario droht gegenwärtig freilich: ein großer ostdeutscher Nationalpark mit eini- gen verbliebenen Bevölkerungs- und Industrie-Zentren. (Daten nach Klaus Schröder / Michael C. Burda / Felix Ringel / IW) 11/2010

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KOMMENTAR AUS BERLIN

Berlin, 30. August 2010

DIE FAMILIENUNTERNEHMER – ASU e.V. Prof. Dr. Gerd Habermann Tuteur Haus I Charlottenstraße 24 10117 Berlin

Nach 20 Jahren ...

DIE FAMILIENUNTERNEHMER – ASU waren vor 20 Jahren scharfe Kritiker der Modalitäten der ökonomischen Wiedervereinigung. Wie sieht die Bilanz heute aus? Einige Zahlen und Fakten, die nicht jeder kennt. Beginnen wir mit dem Positiven: Bruttoinlandsprodukt pro Kopf Ost: 73 Prozent West (1991: 33 Prozent). Produktivität: 81 Prozent von West (vorher: 27 Prozent). Netto- Haushaltsein-kommen: 76 Prozent West (vorher: 54). Kapitalstock je Beschäftigten: 82 Prozent (vorher: 40). Eine neue Schicht kleiner und mittlerer Unternehmen ist entstanden, die die Mehrzahl der Arbeitnehmer beschäftigt (63 Prozent gegenüber 41 Prozent im Westen). Der Anteil der Selb-ständigen hat westdeutsches Niveau erreicht. Besonders positiv: die Annäherung der Le-benserwartung (bis 1990 lebte man in der DDR drei Jahre weniger). Hinzu kommt der über-proportionale Rückgang der Suizidrate: unwiderlegbarer Ausdruck größerer Lebensfreude! Die alte DDR ist im Übrigen nicht wiederzuerkennen, was Stadtbilder, Häuser, Straßen, Schie-nen, Gesundheitswesen, Telekommunikationswesen, Kirchen, Kulturdenkmäler und den Zu-stand der Gewässer und der Luft betrifft. Es ist eine Freude, durch die renovierten Städte und Gemeinden Ostdeutschlands zu reisen. All dies macht in der Tat zusammengenommen einen „blühenden“ Eindruck. Nun die Negativliste: All dies wurde zu einem großen Teil „auf Pump“ finanziert. Eine explodie-rende Staatsverschuldung seit 1990 (war vorher schon hoch). Ostdeutschland droht in eine „Transferfalle“ zu geraten. Noch abgesehen von den Mitteln des bis 2020 begrenzten „Solidar-pakts“, beträgt auch der zukünftige Transferbedarf 80 Mrd. Euro jährlich. Der Anteil der Sozi-alleistungen am Bruttosozialprodukt umfasst sage und schreibe 50 Prozent. Dies ist welt-geschichtlich einzigartig! Die Arbeitslosenquote ist anhaltend doppelt so hoch wie im Westen (auch wegen der traditionell höheren Erwerbsbeteiligung der Frauen!) Die Finanzierung der Einheit hat die Sozialbeiträge je Arbeitnehmer im Westen um etwa 6 Pro-zentpunkte erhöht (sonst lägen die Sozialabzüge im Osten bei 50 Prozent). Es ist bisher nicht gelungen, einen selbsttragenden dynamischen Entwicklungspfad zu erreichen und, besonders schwerwiegend: die Abwanderung geht weiter. Es sind vor allem jüngere, qualifizierte Perso-nen, namentlich jüngere Frauen: Insgesamt liegt der Saldo bei 1,6 Millionen seit 1990. Ein Extrembeispiel (Hoyerswerda): Bevölkerungsverlust 50 Prozent, demographisch älteste Stadt Deutschlands (war einmal die jüngste!) mit einem Durchschnittsalter von 50 Jahren, planmäßi-ger Abriss (schon 1/3 des Wohnungsbestandes), weiter schrumpfend. Nur etwa 10 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung sehnen sich zurück nach der DDR, aber weite Teile sind skeptisch gegen Demokratie und Marktwirtschaft geworden. Nur jeder Vierte glaubt im Osten, dass die Demokratie fähig ist, die anstehenden Probleme zu meistern. Nur etwas mehr als ein Drittel im Osten hält unsere Gesellschaftsordnung für „verteidi-genswert“ (im Westen 68 Prozent). Im Westen sind übrigens mehr als 50 Prozent der Mei-nung, die Zeit vor 1989 sei besser gewesen als danach („Westalgie“). Fazit: Das Bild ist zwiespältig. Die „Auferstehung aus Ruinen“ ist mit hohen Hypotheken be-lastet. Kein Grund, sich nicht trotzdem über das Errungene zu freuen. Als wahrscheinliches Zukunftsszenario droht gegenwärtig freilich: ein großer ostdeutscher Nationalpark mit eini-gen verbliebenen Bevölkerungs- und Industrie-Zentren. (Daten nach Klaus Schröder / Michael C. Burda / Felix Ringel / IW)

11/2010