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MITTEILUNGEN 1/2007 44 ist, nämlich im Advis pour dresser une bibliothèque (1627) und in der Bibliographia politica (1633). Die Fülle der Enzyklopädie widerspricht tendenziell dem Anspruch einer vernünftigen neuen Anordnung des Wissens, doch soll bei Naudé eine „cognoissance superficielle de tous les arts & sciences“ uns von bestimmten Meinungen und Vorurteilen befreien. In Deutschland, wo sich Peter Lambeck, Hermann Conring oder Valentin Heinrich Vogler um die Historia literaria bemühen, war dieser Versuch besonders wichtig. Nicolas Piqué (Lyon) stellte die Akten und die Auswirkungen des Streits zwischen Richard Simon und Jean Le Clerc über die Auffassung der Bibel dar. Wo Simon sich mit der Geschichtlichkeit und Zweideutigkeit der Urkunden abfinden konnte, da er über einen starken Traditionsbegriff verfügte, nach welchem die Wahrheit nicht an den Ursprung gebunden war, musste Le Clerc die Tradition und sogar den Buch- staben angreifen, um die Botschaft von ihrem historisier- ten Medium zu lösen. Die wissenschaftliche Kritik wird also von beiden auf unterschiedliche Weise eingesetzt: Sie konzentriert sich bei Simon auf die Textüberliefe- rung, bei Le Clerc auf die sprachliche Form und den historischen Zusammenhang, ohne jeweils den Wahr- heitsanspruch der Bibel in Frage zu stellen. In seinem Beitrag Mikrogramme des Orients stellte Martin Mulsow (Rutgers University, NJ) die Exzerpte von Johann Christoph Wolf (1683–1739) aus Cudworth dar und kommentierte sie. Bei den Exzerpten handelt es sich um zumeist in winziger Schrift verfasste Notizbücher, die nach Lemmata geordnet waren und die die Art seines Wissenserwerbs dokumentierten. Die späteren Bücher, darunter sein Manichaeismus ante Manichaeos, et in christianismo redivivus (1707), griffen auf sie zurück, wie überhaupt alle seine Arbeiten zur Kirchengeschichte und Religionsgeschichte. Wenn das Exzerpieren bei Casau- bon dessen Kommentare bereicherte, was waren dann aber – kann man mit Friedrich Vollhardt fragen – Wolfs Absichten? Der Herausgeber der Casauboniana (1710) hatte sicherlich noch andere Ziele, die der Tradition der Kontroverstheologie verpflichtet waren. Der gelehrte Habitus der Zitatsammlungen galt hier keiner wissen- schaftlichen Absicht, sondern der Fortführung der Theologie mit anderen Mitteln. Vielfalt und Reichtum der einzelnen Tagungsbeiträ- ge erwiesen die Bedeutung der Fragestellung und die Relevanz der ars critica für andere Gebiete des Wissens und Denkens. Sei es bei der Verfertigung bestimmter Korrekturverfahren oder bei der grundsätzlichen Re- flexion über die Klassifizierung eines sich rasch anhäu- fenden Wissensbestands: Die Philologie förderte die Ausbildung einer autonomen Urteilskraft, die den Umgang mit der Überlieferung als einen nicht nur rezi- pierenden, sondern auch rekonstruierenden Prozess ver- stand. Ein Modell für die Wissenschaft der Neuzeit war die Philologie sicher nicht; sie hat aber auf die Neu- formung der Wissensauffassung bis in die Philosophie und die Naturwissenschaft hinein erheblich eingewirkt. Nach dem Basler Konzil. Die Neuordnung der Kirche zwischen Konziliarismus und monarchischem Papat (ca. 1450 –1475) JÜRGEN DENDORFER JULIA KNÖDLER Das Teilprojekt C 11 ‘Autorität und politische Kontingenz an der Kurie des 15. Jahrhunderts’ unter der Leitung von Claudia Märtl veranstaltete vom 12. bis 14. Oktober 2006 im Historischen Kolleg München eine internationale Tagung, deren Ergebnisse im Folgenden zusammengefasst werden. Die Forschung thematisierte die Frage nach der Kir- chenreform des 15. Jahrhunderts und die damit eng verbundene Diskussion um die Verfasstheit der Kirche bisher vor allem im Zusammenhang mit den Konzilien von Konstanz und Basel. Weniger beachtet und kaum erforscht, wurde diese Debatte nach dem Basler Konzil an der römischen Kurie fortgesetzt. Gerade in den ersten beiden Jahrzehnten nach Konzilsende beschäftig- ten sich in Rom zahlreiche Theologen und Kanonisten mit Problemen der kirchlichen Ordnung unter und neben dem Papst. Die Tagung des Teilprojekts C 11 sollte, wie von Jürgen Dendorfer in seiner Einführung dargelegt, einen Beitrag zur Erschließung dieser For- schungslücke leisten, indem sie bewusst diese nachkon- ziliaren Anstrengungen in den Blick nahm. Zu fragen war nach den Erscheinungsformen und der Funktion der ekklesiologischen Literatur zwischen den Nach- wirkungen ‘konziliarer’ Texte und ihrer Ordnungs- konzepte sowie neuen Entwürfen eines monarchischen Papats im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts. Die mit Träger der Diskussion betitelte erste Sektion setzte mit zwei Beiträgen ein, die verdeutlichten, dass Hans Holbein: Doppelporträt Sir Thomas Godsalves und seines Sohns John (1528). Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden (Ausschnitt).

Nach dem Basler Konzil. Die Neuordnung der Kirche ......M ITTEILUNGEN 1/2007 45 die ekklesiologische Diskussion ‘postkonziliar’ nicht nur in Rom fortgeführt wurde. Thomas Wünsch

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ist, nämlich im Advis pour dresser une bibliothèque (1627)und in der Bibliographia politica (1633). Die Fülle derEnzyklopädie widerspricht tendenziell dem Ansprucheiner vernünftigen neuen Anordnung des Wissens, dochsoll bei Naudé eine „cognoissance superficielle de tousles arts & sciences“ uns von bestimmten Meinungen undVorurteilen befreien. In Deutschland, wo sich PeterLambeck, Hermann Conring oder Valentin HeinrichVogler um die Historia literaria bemühen, war dieserVersuch besonders wichtig. Nicolas Piqué (Lyon) stelltedie Akten und die Auswirkungen des Streits zwischenRichard Simon und Jean Le Clerc über die Auffassungder Bibel dar. Wo Simon sich mit der Geschichtlichkeitund Zweideutigkeit der Urkunden abfinden konnte, daer über einen starken Traditionsbegriff verfügte, nachwelchem die Wahrheit nicht an den Ursprung gebundenwar, musste Le Clerc die Tradition und sogar den Buch-staben angreifen, um die Botschaft von ihrem historisier-ten Medium zu lösen. Die wissenschaftliche Kritik wirdalso von beiden auf unterschiedliche Weise eingesetzt:Sie konzentriert sich bei Simon auf die Textüberliefe-rung, bei Le Clerc auf die sprachliche Form und denhistorischen Zusammenhang, ohne jeweils den Wahr-heitsanspruch der Bibel in Frage zu stellen. In seinemBeitrag Mikrogramme des Orients stellte Martin Mulsow(Rutgers University, NJ) die Exzerpte von JohannChristoph Wolf (1683–1739) aus Cudworth dar undkommentierte sie. Bei den Exzerpten handelt es sich umzumeist in winziger Schrift verfasste Notizbücher, dienach Lemmata geordnet waren und die die Art seinesWissenserwerbs dokumentierten. Die späteren Bücher,darunter sein Manichaeismus ante Manichaeos, et inchristianismo redivivus (1707), griffen auf sie zurück, wieüberhaupt alle seine Arbeiten zur Kirchengeschichte undReligionsgeschichte. Wenn das Exzerpieren bei Casau-bon dessen Kommentare bereicherte, was waren dannaber – kann man mit Friedrich Vollhardt fragen – WolfsAbsichten? Der Herausgeber der Casauboniana (1710)hatte sicherlich noch andere Ziele, die der Tradition derKontroverstheologie verpflichtet waren. Der gelehrteHabitus der Zitatsammlungen galt hier keiner wissen-schaftlichen Absicht, sondern der Fortführung derTheologie mit anderen Mitteln.

Vielfalt und Reichtum der einzelnen Tagungsbeiträ-ge erwiesen die Bedeutung der Fragestellung und dieRelevanz der ars critica für andere Gebiete des Wissensund Denkens. Sei es bei der Verfertigung bestimmterKorrekturverfahren oder bei der grundsätzlichen Re-flexion über die Klassifizierung eines sich rasch anhäu-fenden Wissensbestands: Die Philologie förderte dieAusbildung einer autonomen Urteilskraft, die denUmgang mit der Überlieferung als einen nicht nur rezi-pierenden, sondern auch rekonstruierenden Prozess ver-stand. Ein Modell für die Wissenschaft der Neuzeit wardie Philologie sicher nicht; sie hat aber auf die Neu-formung der Wissensauffassung bis in die Philosophieund die Naturwissenschaft hinein erheblich eingewirkt.

Nach dem Basler Konzil. Die Neuordnung der Kirche zwischen Konziliarismus und monarchischem Papat (ca. 1450–1475)

JÜRGEN DENDORFERJULIA KNÖDLER

Das Teilprojekt C 11 ‘Autorität und politische Kontingenzan der Kurie des 15. Jahrhunderts’ unter der Leitung vonClaudia Märtl veranstaltete vom 12. bis 14. Oktober2006 im Historischen Kolleg München eine internationaleTagung, deren Ergebnisse im Folgenden zusammengefasstwerden.

Die Forschung thematisierte die Frage nach der Kir-chenreform des 15. Jahrhunderts und die damit engverbundene Diskussion um die Verfasstheit der Kirchebisher vor allem im Zusammenhang mit den Konzilienvon Konstanz und Basel. Weniger beachtet und kaumerforscht, wurde diese Debatte nach dem Basler Konzilan der römischen Kurie fortgesetzt. Gerade in denersten beiden Jahrzehnten nach Konzilsende beschäftig-ten sich in Rom zahlreiche Theologen und Kanonistenmit Problemen der kirchlichen Ordnung unter undneben dem Papst. Die Tagung des Teilprojekts C 11sollte, wie von Jürgen Dendorfer in seiner Einführungdargelegt, einen Beitrag zur Erschließung dieser For-schungslücke leisten, indem sie bewusst diese nachkon-ziliaren Anstrengungen in den Blick nahm. Zu fragenwar nach den Erscheinungsformen und der Funktionder ekklesiologischen Literatur zwischen den Nach-wirkungen ‘konziliarer’ Texte und ihrer Ordnungs-konzepte sowie neuen Entwürfen eines monarchischenPapats im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts.

Die mit Träger der Diskussion betitelte erste Sektionsetzte mit zwei Beiträgen ein, die verdeutlichten, dass

Hans Holbein: Doppelporträt Sir Thomas Godsalves und seines Sohns John (1528).

Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden (Ausschnitt).

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die ekklesiologische Diskussion ‘postkonziliar’ nichtnur in Rom fortgeführt wurde. Thomas Wünsch(Passau) eröffnete die Tagung mit dem Vortrag EinDritter Weg? Institutionenkritik und Geistkirche in denpostkonziliaristischen Traktaten des böhmischen Laien-theologen Peter Chelčický und des KartäusertheologenBartholomäus von Maastricht um 1440. Den Postkon-ziliarismus wollte er dabei nicht nur als eine rein zeitlichdefinierte Phase nach den Konzilien verstanden wissen,sondern als Ausdruck einer geistigen Haltung, die eineSynthese zwischen Konziliarismus und Papalismus ver-tritt, wie sie in den von ihm untersuchten Texten zumAusdruck kommt. Beide Traktate sind in der Zeit desKonzils entstanden, setzen aber weniger auf die institu-tionelle Umgestaltung der Kirche als auf eine Ekklesio-logie, die verstärkt auf die Eigenverantwortung deseinzelnen Gläubigen baut.

Im Anschluss daran sprach Rolf de Kegel (Engel-berg) über Johannes von Segovia und die konstitutionelleVerträglichkeit von Konzil und Kirche. Er skizzierte dieEntwicklung Segovias konziliaristischen Denkens vondessen Basler Zeit bis hin zum Alterswerk De substantiaecclesiae. 1434 beschreibt Segovia das als aristokratischdefinierte Konzil als notwendiges Korrekturinstrumentfür den monarchischen Papst. Der nach dem Konzilentstandene Liber de magna auctoritate episcoporum siehtdie Möglichkeit einer Mehrzahl höherer kirchlicherGewalten, die sich je nach Situation als päpstliche oderkonziliare Erscheinungsformen aktualisieren können.Unter der Voraussetzung eines dienenden Grundcha-rakters des päpstlichen Amts sei aber die monarchischeKirchenverfassung anderen Strukturen überlegen. DasGeneralkonzil hat hierbei einen festen Platz im System;es steht nicht im Gegensatz zum monarchischen Prinzipder Kirchenverfassung, die eine constitutio permixta imaristotelischen Sinne darstelle. Im Liber de substantiaecclesiae (1453) beschäftigt sich Segovia schließlich mitder Verfassungsfrage auf der Ebene ante creationem.

Nach diesen Referaten, die zwei ganz spezifischeReaktionen auf die konziliaren Debatten sowie auf diekonkreten Erfahrungen mit dem Basler Konzilsalltagvorstellten, wandte sich die Tagung der römischen Dis-kussion im engeren Sinne zu. Auch sie wurde im wesent-lichen von vormaligen Teilnehmern des Basiliense ge-führt, auch an der Kurie kursierten die auf den Konzilienentworfenen Texte als Diskussionsgrundlage, und nichtzuletzt hatten in Rom nach 1450 alle (post-)konziliarenEntwürfe eines korporativen Beschränkungen unterwor-fenen Papsttums ihren Realitätstest zu bestehen.

Welche Kreise beschäftigten sich in Rom über-haupt mit Fragen der kirchlichen Verfasstheit? ClaudiaMärtl (München) richtete hierzu gleichsam exempla-risch für das kuriale Milieu der Rechtsgelehrsamkeit denBlick auf die Konsistorialadvokaten. Ausgehend vonEnea Silvio Piccolominis Beschreibung der Kurie imdritten Buch des Brieftraktats an Martin Mayr (Germa-

nia) entwarf sie in ihrem Vortrag Von Ludovico Pontanozu Domenico Jacovacci. Der Beitrag der Konsistorialad-vokaten zur ekklesiologischen Diskussion Grundlinieneiner Amtsgeschichte der Konsistorialadvokaten. IhreStellung als enge Berater und alltägliche Mitarbeiter desPapstes beruhte auf ihrer fachlichen Kompetenz, nichtauf ihrem Rang in der kirchlichen Hierarchie, denn siegehörten in der Regel nicht dem geistlichen Stand an.Dass sie sogar dem Papst seine eigenen Verfehlungenvorhalten konnten, wie von Piccolomini behauptet, seinicht zu beweisen. Eine tragende Rolle in der ekklesio-logischen Diskussion im Umfeld des Papsttums kannden Konsistorialadvokaten insofern nicht zugeschriebenwerden, da die von ihnen überlieferten Schriften ehermit ihrer Tätigkeit als Rechtslehrer und Gutachter inanderem Umfeld zusammenhängen.

Einen Höhe-, vielleicht sogar Wendepunkt dernachkonziliaren Diskussion markiert der PontifikatPius’ II. Simona Iaria (Mailand), Enea Silvio Piccolominie Pio II: un confronto sul conciliarismo con uno sguardoalla Riforma, schilderte anhand einer Analyse einschlä-giger Texte Piccolominis (Libellus dialogorum [1440];Traktat De ortu et auctoritate romani imperii [1446];Germania [1458]; Bulle In minoribus agentes [1463])dessen Entwicklung vom Anhänger des Konziliarismushin zum Verfechter der papalen Monarchie. Bemer-kenswert sei in diesem Zusammenhang, dass trotz diesesWandels auch die frühen, konziliaristischen Werkeimmer wieder abgeschrieben, gedruckt und rezipiertwurden.

Überlegungen zur Kirchenreform unter Pius II.beleuchtete Jürgen Miethke (Heidelberg) in seinemReferat zur Reform des Hauptes im Schatten des Türken-kreuzzugs. Die Vorschläge eines Domenico de’ Domenichiund Nikolaus von Kues an Pius II. (1459). Ausgehendvom Inhalt der Wahlkapitulation von 1458, die nebendem Türkenkreuzzug vor allem die Forderung nach derKurienreform und allgemein eine Stärkung des Kardi-nalkollegiums enthält, analysierte Miethke die aus einervon Pius II. eingesetzten Expertenkommission hervor-gegangenen Reformvorschläge de’ Domenichis undNikolaus Cusanus’. Beide Reformtexte setzen auf einemoralische Erneuerung durch eine ‘Reform von oben’.Die kurz vor Pius’ II. Tod entstandene, aber nicht mehrerlassene Bulle Pastor aeternus kann als Antwort auf dieVorschläge der Reformkommission verstanden werden.Es bleibe festzuhalten, dass die Reformvorschläge unterPius II. immer nur auf die Abschaffung von Miss-ständen, nicht jedoch auf eine grundsätzliche, struktu-relle Veränderung zielten.

Einer für Fragen der Kirchenreform bisher kaumbeachteten Textgattung wandte sich Martin Ederer(Buffalo/N.Y.) mit den Reden und Predigten Dome-nico de’ Domenichis zu: The Properly Ordered Church.Agents, Objects and Methods of Reform in the Preaching ofDomenico de’ Domenichi. Im Zentrum von de’ Domenichis

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Überlegungen stehe auch hier die Forderung nach einermoralischen Erneuerung des Klerus’. Der Papst ist dazuaufgerufen, kraft seiner Autorität die nötigen Reform-schritte einzuleiten, um die rechte Ordnung innerhalbder Kirche wiederherzustellen. Wichtig ist ihm dabeineben der moralischen Erneuerung auch die Rück-besinnung auf die zentrale Rolle des Bischofsamts. Aus-druck sollte dies in der Einschränkung der Macht derProtonotare und deren rangmäßiger Unterordnungunter die Bischöfe finden.

Dieses Problem war zugleich Ausgangspunkt fürJürgen Dendorfers (München) Ausführungen zu Ambi-valenzen der Reformdiskussion in Domenico de’ Domeni-chis ‘De episcopali dignitate’. Domenichi beschäftigtesich in einem ganzen Ensemble von Texten (vom Re-formentwurf über die Reden und Predigten bis hin zumgroßen Traktat De episcopali dignitate) mit der Stellungder Bischöfe in der Kirche. An Brisanz gewann dieseDiskussion dadurch, dass er versuchte, in seinem Trak-tat De episcopali dignitate von 1461 auch die Rechte derBischöfe gegenüber den Kardinälen zu bestimmen. InReaktion auf die zeitgenössische Diskussion und imUnterschied zu eigenen, kurz zuvor geäußerten Posi-tionen, betont Domenichi hier einen wenn auch nurmaßvollen Vorrang der Kardinäle vor den Bischöfenund deren nicht aufzuhebende Position als Berater desPapstes. Die Mehrdeutigkeit der ekklesiologischenTraditionen lässt ihn nur wenig später, im Nachvollzugder zeitgenössischen Diskussion, wiederum zu einementgegengesetzten Ergebnis kommen.

Der Vortrag von Thomas Prügl (Notre Dame)Konzil und Kardinäle in der Kritik. Das Kirchenbild inden polemischen Schriften des Teodoro de’ Lelli beendetedie erste Sektion der Tagung. Neben der Replik gegenGregor Heimburgs Appellationen an ein künftigesKonzil, in der de’ Lelli die monarchische Kirchenverfas-sung verteidigt, stand de’ Lellis Hauptwerk Contrasupercilium [...] im Zentrum der Überlegungen. Auchhier wird der Ansicht widersprochen, der Papst, der alsAmtsträger der göttlichen Providenz unterstehe, sei inwichtigen Fragen an die Zustimmung der Kardinälegebunden. Zudem relativiert de’ Lelli die Apostelnach-folge der Kardinäle, indem er die Bischöfe als die eigent-lichen Nachfolger der Apostel beschreibt und den Kar-dinälen die den Bischöfen zugesprochene Fundierungim ius divinum nicht zugesteht. So entspricht auch er inseinen Überlegungen dem Trend der neuen Ekklesio-logie nach Basel, in der den Bischöfen gegenüber denKardinälen, aber auch den gelehrten Theologen einhöheres Gewicht beigemessen wird.

Der zweite Teil der Tagung widmete sich Wechsel-wirkungen und Rezeption der Reformdiskussion. Inihrem Vortrag Tradizione delle opere ecclesiologiche nellebiblioteche romane della seconda metà del Quattrocentosichtete Concetta Bianca (Florenz) die Überlieferungekklesiologischer Literatur in den römischen Bibliothe-

ken nach 1450. Sie konnte beobachten, dass die zur Ver-teidigung des päpstlichen Primats von Seiten des Papstesinitiierte Textproduktion hier weitaus besser greifbar ist.Dies wirkte sich offenbar auch auf die Überlieferung derKonzilstexte aus, die nur selten aufscheinen.

Eine willkommene Erweiterung des Quellen-spektrums bot Anna Modigliani (Rom) mit ihremReferat zu Manifestazioni ideologiche e simboliche delpotere papale in ambiente pontificio da Niccolò V a Paolo II.So sei Pietro Godis Dialog De coniuratione Porcarianicht nur als Rechtfertigungsschrift des gewaltsamenVorgehens gegen Stefano Porcari und seine Anhänger,sondern auch als Verteidigung der weltlichen Vorrechtedes Papstes zu verstehen. Der Primat des Papstes werdeebenso in Manettis Vita Nicolai Quinti hervorgehoben.Die Miniaturen des für Nikolaus V. angefertigtenPrachtkodex’ (Vat. lat. 985) der Vita transportierendurch die bildliche Darstellung der von Christus über-tragenen Binde- und Lösegewalt eine papalistische‘Ideologie’. Von den Werken Enea Silvio Piccolominiswurden frühe Briefe, De ortu et auctoritate Romaniimperii und die Commentarii sowie Bullen aus derPapstzeit herangezogen, um die einzelnen Stufen seinerEntwicklung vom Konziliaristen zum Verfechter derpäpstlichen Monarchie zu beleuchten. Schon unter demPiccolominipapst gipfelte diese in der zeremoniellenPräsentation des Papstes als dominus mundi. Paul II.schließlich habe seine weltliche Gewalt – im Gegensatzzu Nikolaus V. und Pius II. – u.a. historisch durch dieKonstantinische Schenkung begründet und dies reprä-sentativ zur Schau gestellt.

An diese Beobachtung konnte Duane Henderson(München) anknüpfen: ‘Si non est vera donatio...’ DasPapsttum und die Konstantinische Schenkung nach demFälschungsnachweis. Er analysierte die verschiedenenDiskurse, in denen die Konstantinische Schenkung Ar-gument war. Schon bevor Nikolaus von Kues, LorenzoValla und Reginald Pecock sie endgültig als Fälschungentlarvten, wurde ihre Echtheit immer wieder in Fragegestellt. Und obwohl der Fälschungsnachweis währenddes Basler Konzils rezipiert und als Argument imZusammenhang mit der Frage nach Rechtmäßigkeitund Form des Kirchenstaats verwendet wurde, ignorier-ten die kirchenreformerischen Schriften diesen nachdem Basiliense häufig. Entscheidend war der jeweiligeDiskurszusammenhang, in dem der Fälschungsnach-weis entweder rezipiert oder vernachlässigt wurde.

Hans-Jürgen Becker (Regensburg) untersuchte dieAnsätze zur Kirchenreform in den päpstlichen Wahlkapi-tulationen der Jahre 1458 (Pius II.), 1464 (Paul II.) und1471 (Sixtus IV.) und kam zu dem Ergebnis, dass dieReformansätze von Konstanz und Basel v.a. in Hinblickauf die Stellung des Kardinalkollegiums in den Wahl-kapitulationen ihren Niederschlag gefunden hätten.Am Beispiel Pius’ II. konnte Becker Reflexe ihrerBestimmungen in der päpstlichen Politik nachweisen,

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während sich Paul II. vielfach mittels Gutachten vonseinen Zusagen befreite. Die Wahlkapitulation von1471 ist zum ersten Mal zweigeteilt in capitula publica(‘allgemeine Kirchenfragen’) und capitula privata (‘An-gelegenheiten der Kardinäle und des Kirchenstaats’).Auffällig bei allen Wahlkapitulationen ist die ab 1464immer wiederkehrende und nie verwirklichte Forde-rung nach der Einberufung eines allgemeinen Konzilsund die damit einhergehende Betonung einer ecclesiasemper reformanda.

Helmut G. Walther (Je-na) suchte nach Ekklesiologi-schen Argumentationen in denPapstbullen der Frührenais-sance, musste aber sein Vor-tragsthema relativieren, inso-fern er einen weitgehendenVerzicht auf ekklesiologischeArgumentation konstatierte.Selbst die Bulle Execrabilishat zwar einen ekklesiologi-schen Hintergrund, verzich-tete aber darauf, diese Dis-kussion aufzugreifen. Ekkle-siologische Fragen seien eherdas Thema der Wahlkapi-tulationen. In öffentlichenBullen sollten Provokatio-nen vermieden und keinzusätzliches ‘Öl ins Feuergegossen’ werden.

Thomas Krüger (Augs-burg) untersuchte in seinemBeitrag Kontinuität undWandel päpstlicher Herr-schaftspraxis nach dem BaslerKonzil den Quellentypus derKonsistorialurkunde. Die ursprünglich als Garant fürdie konsensuale Mitbestimmung der Kardinäle gedachteUrkundenform entwickelte sich bereits unter Kalixt III.zu einem Instrument der Legitimation brisanter päpst-licher Entscheidungen, v.a. im Zusammenhang mit derEinsetzung von Nepoten in hohe Kirchenämter.

Als letzter Referent sprach Nikolaus Staubach(Münster) zum Thema Zwischen Basel und Trient. DasPapstzeremoniell als Reformprojekt. Dabei konnte erzeigen, dass Pius II. unter dem Einfluss der in Basel pro-pagierten Forderung nach einem der Tugendrepräsen-tation verpflichteten Zeremoniell stand. Eine echteZeremonialreform kommt erst unter Innozenz VIII.zustande. Mit ihr setzte die Verwissenschaftlichung derZeremonialliteratur ein, deren letzte Konsequenz darinbestand, Zeremonien wieder als Repräsentationsinstru-ment eines hierarchischen Differenzierungssystems zuverstehen. Tugendrepräsentation werde im 16. Jahr-hundert wieder durch Majestasrepräsentation ersetzt.

An Ergebnissen der ertragreichen Tagung bleiben fest-zuhalten:

1. Immer wieder deutete sich im Verlauf des Kollo-quiums an, dass im Pontifikat Pius’ II. ein entscheiden-der Schritt von den Nachwirkungen des ‘Konziliaris-mus’ hin zum ‘monarchischen Papat’ greifbar wird. Dienie verwirklichten Ansätze zur Kirchenreform, derAbbau der Rechte des Kardinalskollegs gegenüber demPapst in der theoretischen Diskussion, ebenso wie die

schon am Ende seiner Regie-rungszeit greifbaren Ent-würfe eines von korporati-ven Beschränkungen freiagierenden päpstlichen Mo-narchen verweisen auf einenEinschnitt in der nachkonzi-liaren Entwicklung unterdem Piccolominipapst. DerBlick auf den PontifikatPauls II. verstärkt diesenEindruck.

2. Zur besseren Kon-turierung dieses Ergebnissesdurch künftige Forschungenwäre sowohl eine Berück-sichtigung weiterer, im Rah-men der Tagung nicht be-handelter Texte, als aucheine zeitliche Ergänzungder im Wesentlichen aufdie Pontifikate Pius’ II.und Pauls II. konzentrier-ten Tagungsbeiträge wün-schenswert. Auch in den ers-ten Pontifikaten nach demBasler Konzil – unter Niko-laus V. und Kalixt III. –

wurden Fragen kirchlicher Verfasstheit erörtert, und dieBeschäftigung mit ihnen sollte auch im letzten Vierteldes 15. Jahrhunderts nicht abreißen. Hier eröffnet sichder Forschung eine weite, schon von Hubert Jedinkonstatierte terra incognita.

3. Dass sich die Beschäftigung mit diesen nachkon-ziliaren Texten lohnt, zeigten die Vorträge der Tagung.Sichtbar wurde eine im engsten Umfeld der Päpstegeführte Diskussion um die Kirchenreform und dieStellung der Päpste, Kardinäle und Bischöfe in derKirche, die ganz offenkundig in enger Wechselwirkungzur Neuetablierung des Papsttums nach dem Ende derKonzilien stand.

Die Kongressakten werden 2007 in der Publika-tionsreihe Pluralisierung und Autorität (P & A) des SFB573 erscheinen.

Pinturicchio: Enea Silvio Piccolomini erklärt im öffentlichen Konsistorium vor Eugen IV. seine Unterwerfung (Anfang des 16. Jahrhunderts).Fresko in der Libreria Piccolomini am Dom zu Siena (Ausschnitt).