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Peer Review zu Sozialschutz und sozialer Eingliederung Soziales Europa Nachhaltige Konzepte zur Vermeidung von Obdachlosigkeit Dänemark, 22. November 2013 Synthesebericht ISSN 1977-8023

Nachhaltige Konzepte Vermeidung Obdachlosigkeit

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Peer Review zu

Sozialschutz und

sozialer Eingliederung

Soziales Europa

Nachhaltige Konzepte zur Vermeidung von Obdachlosigkeit

Dänemark, 22. November 2013Synthesebericht

ISSN 1977-8023

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Diese Veröffentlichung wird unterstützt durch das Programm der EU für Beschäftigung und Soziale Solidarität – PROGRESS (2007-2013).

Dieses Programm wird von der Europäischen Kommission verwaltet. Es wurde eingerichtet, um die Umsetzung der Zielvorgaben der Europäischen Union in den Bereichen Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit zu unterstützen, und soll dadurch die entsprechenden Ziele der Strategie Europa 2020 verwirklichen helfen.

Dieses auf sieben Jahre angelegte Programm richtet sich an alle maßgeblichen Akteure in den 27 Mitgliedstaaten, der EFTA, dem EWR sowie den Beitritts- und Kandidatenländern, die an der Ges-taltung geeigneter und effektiver Rechtsvorschriften und Strategien im Bereich Beschäftigung und Soziales mitwirken können.

Weitere Informationen unter: http://ec.europa.eu/progress

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Nachhaltige Konzepte zur Vermeidung von Obdachlosigkeit

Synthesebericht

Suzanne FitzpatrickHeriot-Watt University, Vereinigtes Königreich

Europäische Kommission

Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und IntegrationManuskript fertiggestellt im September 2014

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Veröffentlichung erstellt im Auftrag der Europäischen Kommission von

© Umschlagbild: Europäische Union

Weder die Europäische Kommission noch Personen, die in ihrem Namen handeln, sind für die Verwendung der in dieser Veröffentlichung enthaltenen Informationen verantwortlich.

Weitere Informationen zu den Peer Reviews finden Sie unter: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1024&langId=de.

Europe Direct soll Ihnen helfen, Antworten auf Ihre

Fragen zur Europäischen Union zu finden

Gebührenfreie einheitliche Telefonnummer (*):

00 800 6 7 8 9 10 11(*) Sie erhalten die bereitgestellten Informationen kostenlos, und in den meisten Fällen

entstehen auch keine Gesprächsgebühren (außer bei bestimmten Telefonanbietern sowie für

Gespräche aus Telefonzellen oder Hotels).

Zahlreiche weitere Informationen zur Europäischen Union sind verfügbar über Internet, Server Europa (http://europa.eu). Katalogisierungsdaten befinden sich am Ende der Veröffentlichung.

Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, 2014

ISBN 978-92-79-44551-4 ISSN 1977-8023 doi: 10.2767/606083

© Europäische Union, 2014 Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, 2014

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Inhalt

Zusammenfassung 5

A. Politikkontext auf europäischer Ebene 7

B. Politikinstrument des Gastgeberlands – nationale Obdachlosenstrategie Dänemarks 11

C. Politikinstrumente und Erfahrungen in den Peer-Ländern / Beiträge europäischer Interessenvertretungen 17

D. Zentrale Diskussionspunkte des Seminars 22

E. Schlussfolgerungen und Erkenntnisse 26

F. Beitrag der Peer Review zu Europa 2020 und zum Sozialinvestitionspaket 28

Literatur 30

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Zusammenfassung

Am 22. November 2013 wurde in Kopenhagen eine Peer Review abgehalten, bei der nachhaltige Lösungsansätze zur Vermeidung von Obdachlosigkeit – insbesondere unter jungen Menschen – erörtert wurden. Ausgangspunkt war eine Bilanz der 2008 im dänischen Parlament verabschiedeten Nationalen Obdachlosenstrategie des Gastgeberlands. Diese liefert ein Anwendungsbeispiel des „Housing First“-Modells, das einen raschen Zugang zu einer dauerhaften Unterkunft, kombiniert mit intensiver Unterstützung vorsieht. Die Peer Review fand im dänischen Ministerium für Soziales, Kinder und Integration statt. VertreterInnen aus elf Staaten nahmen teil: Bulgarien, Finnland, Frankreich, Irland, Kroatien, Norwegen, Österreich, Rumänien, Schweden, Spanien und das Vereinigte Königreich. Ferner wirkten zwei Interessenvertretungen mit, EUROCITIES und FEANTSA (Europäischer Verband nationaler Organisationen der Wohnungslosenhilfe). Zwei VertreterInnen der Europäischen Kommission (GD Beschäftigung, Soziales und Integration) und die thematische Expertin Suzanne Fitzpatrick von der Heriot-Watt University (Vereinigtes Königreich) ergänzten den TeilnehmerInnenkreis. Diese Peer Review hatte einen engen thematischen Bezug zu sechs früheren Seminaren über Wohnungs- und Obdachlosigkeit.1

Die wichtigsten für andere Staaten relevanten Erkenntnisse und Lernpotentiale, die sich aus dem dänischen „Housing First“-Experiment ableiten lassen, gelten allen voran für Menschen in besonders akuten Bedarfslagen. Sie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

• „Housing First“ ist ein überaus wirksamer Ansatz, um Personen mit komplexem Unterstützungsbedarf zum Ausstieg aus Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu verhelfen: Die bewirkte Wohnstabilität liegt bei über 90 %. Daraus lässt sich ableiten, dass unabhängige Wohnungen in verstreuten Lagen, kombiniert mit intensiver gleitender Unterstützung, für diese Gruppe das adäquateste Interventionsmuster darstellen.

• Andere Unterbringungsvarianten (d. h. gesonderte Wohnanlagen) sollten nur in Fällen gewählt werden, wo es Betroffene (mehrfach) nicht schaffen, auch mit intensiver gleitender Unterstützung selbst zurechtzukommen. Bei dieser kleinen Minderheit ist wichtig, dass andere Optionen wie hochwertiges betreutes Wohnen verfügbar sind; mitunter sind auch radikale Alternativmodelle wie das dänische Pionierkonzept der „skæve huse“ zweckmäßig.

• Das ganzheitliche Konzept der aufsuchenden Intensivbetreuung (mit gleitender Unterstützung) zeigt in den Fällen mit dem schwersten Hilfebedarf offenbar die beste Wirkung. Es sollte möglicherweise auch in anderen gut entwickelten Wohlfahrtssystemen mit soliden allgemeinen Unterstützungsdienstleistungen in Erwägung gezogen werden.

• Die dänische Erfahrung offenbart, dass Modelle auf der Basis von „Housing First“ für jüngere Menschen (18-25 Jahre) und ältere Alterskohorten gleichermaßen geeignet sind, wenn auch für die erste Gruppe einige methodische Feinabstimmungen notwendig sind, um die Wirksamkeit zu optimieren.

• Einen kulturellen Wandel herbeizuführen – weg von Obdachlosenstrategien mit „Behandlungsvoraussetzung“ –, ist ein potentiell langwieriges und herausforderndes Unterfangen, das in einer ganzen Reihe von relevanten Sektoren – Wohnungspolitik,

1 http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1024&langId=de

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Gesundheits- und Sozialpolitik – erhebliche Anstrengungen und einen fortwährenden Fokus auf organisatorische Weiterentwicklung und Implementierung erfordert.

• Es darf nicht übersehen werden, dass „Housing First“ in einer Kombination aus Wohnraumversorgung und Unterstützung zwar überzeugende Erfolge für einen dauerhaften Ausstieg aus Obdachlosigkeit aufzuweisen hat, damit aber im Leben von Menschen mit einer langen Vergangenheit in Obdachlosigkeit und Marginalisierung nicht alle Probleme gelöst sind. In den allermeisten Fällen bedarf es umfassenderer Interventionen und Hilfsmaßnahmen, um die soziale Integration und Lebensqualität der Betroffenen zu fördern.

• Angesichts finanzieller wie auch politischer Hürden bestehen für Staaten in Mittel- und Osteuropa unmittelbar vielleicht keine greifbaren Möglichkeiten für die Umsetzung von „Housing First“. Die Auseinandersetzung mit Erfahrungswerten aus Ländern wie Dänemark trägt aber möglicherweise dazu bei, Irrtümer aus nördlichen und westlichen Staaten Europas zu vermeiden, etwa die Investition in institutionelle Obdachlosenlösungen, die später als wenig zielführend wieder zurückgebaut werden müssen.

• Die Jugendobdachlosigkeit weist in zahlreichen europäischen Staaten einen offenbar besonders kritischen Trend auf, was daraus resultiert, dass junge Menschen die Wirtschaftskrise, den Mangel an leistbarem Wohnraum und Sozialkürzungen am stärksten zu spüren bekommen. Diese Probleme werden selbst in Staaten (z. B. Dänemark) mit einem gut ausgebauten Wohlfahrtswesen und ausgefeilten Interventionsmechanismen im Bereich der Obdachlosigkeit immer akuter. Es herrscht oft ein Defizit an fachgerechten Unterkünften und Unterstützungsangeboten für diese Gruppe. In vielen Fällen bleiben junge Obdachlose mehr oder weniger „unsichtbar“, da sie bei Bekannten und Verwandten „auf der Couch schlafen“ und mit dem Dienstleistungsangebot kaum erreichbar sind. Dies macht Schwerpunktmaßnahmen sowohl auf einzelstaatlicher als auch EU-Ebene erforderlich.

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A. Politikkontext auf europäischer Ebene

Das Programm „Peer Review im Bereich Sozialschutz und soziale Eingliederung“ ist im Rahmen des Gemeinschaftsprogramms für Beschäftigung und soziale Solidarität (PROGRESS) angesiedelt. Die übergeordnete Zielsetzung von PROGRESS liegt darin, die Bestrebungen der Europäischen Union (EU) in den Bereichen Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit finanziell zu untermauern, in Übereinstimmung mit der Sozialagenda. Das Programm PROGRESS fördert in Abschnitt 2 die Umsetzung der offenen Methode der Koordinierung in den Bereichen Sozialschutz und soziale Eingliederung (OKM Soziales), u. a. durch die Anbahnung eines Austausches über Politikkonzepte und bewährte Verfahrensweisen sowie durch die Begünstigung gegenseitigen Lernens im Zusammenhang mit Sozialschutz- und Eingliederungsstrategien. Eines der Ziele betrifft den Kapazitätenaufbau unter sozialen SchlüsselakteurInnen und die Förderung innovativer Herangehensweisen.

Diese in Dänemark veranstaltete Peer Review hatte primär das Ziel, die Ergebnisse der 2008 im dänischen Parlament verabschiedeten Nationalen Obdachlosenstrategie zu analysieren. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei den neuen Herausforderungen im Zusammenhang mit Jugendobdachlosigkeit gelten. Die Relevanz und Aktualität dieser Themenstellung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Obdachlosigkeit in der EU-Agenda heute einen hohen Stellenwert einnimmt. 2008 ersuchte das Europäische Parlament die Union in einer schriftlichen Erklärung, Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit die höchste Dringlichkeit beizumessen und die Mitgliedstaaten bei der Ausarbeitung von Winternotfallplänen zu unterstützen. In einer weiteren schriftlichen Erklärung riefen EU-Abgeordnete die Gemeinschaft auf, die Mitgliedstaaten bei ihren Bemühungen zur Eindämmung und Lösung der Probleme rund um die Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu unterstützen. Im September 2011 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung an, in der die Mitgliedstaaten aufgefordert wurden, Fortschritte auf dem Weg zum Ziel der Beendigung der Obdachlosigkeit bis 2015 zu realisieren. Die Abgeordneten fordern darin weiters die Entwicklung einer ehrgeizigen, integrierten und durch nationale und regionale Strategien untermauerten EU-Strategie mit dem langfristigen Ziel, die Obdachlosigkeit innerhalb des breiteren Rahmens der sozialen Eingliederung zu beenden. In einer Entschließung des Parlaments zum sozialen Wohnungsbau (2013) wurde das Ziel festgehalten, hinsichtlich der Wohnverhältnisse Obdachloser bessere Ergebnisse herbeizuführen.

Im Ausschuss für Sozialschutz arbeiten die Mitgliedstaaten gemeinsam mit der Europäischen Kommission im Rahmen der Offenen Methode der Koordinierung (OKM) an Problemstellungen mit Bezug zur Obdachlosigkeit. Im Arbeitsplan 2009 war Obdachlosigkeit als Jahresschwerpunkt ausgewiesen („homelessness light year“). Sämtliche Mitglieder des Ausschusses für Sozialschutz legten nationale Berichte über ergriffene Maßnahmen gegen Wohnungslosigkeit vor. Im Gemeinsamen Bericht der Kommission und des Rates über Sozialschutz und soziale Eingliederung 2009 ist festgehalten, dass „Obdachlosigkeit als ausgesprochen schwere Form der Ausgrenzung“ ein „besonders dringend“ anzugehendes Problem darstellt. Das Netzwerk unabhängiger ExpertInnen im Bereich soziale Eingliederung hatte die Aufgabe, die „soziale und wirtschaftliche Integration wohnungsloser Menschen“ sowie den „Zugang zu angemessenem Wohnen“ in den jeweiligen Ländern zu untersuchen. Der daraus hervorgegangene Synthesebericht enthielt 15 Lösungsvorschläge für die Bekämpfung von Barrieren zur Verbesserung von Wohnungslosigkeit und prekärer

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Wohnversorgung (WpW) auf nationaler und EU-Ebene. Besonders stark kommen diese Belange im Gemeinsamen Bericht über Sozialschutz und soziale Eingliederung 2010 zur Geltung. Dieser enthält nicht nur die Aufforderung an die Mitgliedstaaten, mit integrierten Politikkonzepten gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit vorzugehen, sondern auch ausführliche Leitlinien für eine entsprechende Verfahrensweise, wobei Prävention, die Wirksamkeit von Governance sowie Monitoring und Evaluierung ein besonderes Gewicht erhalten. Einige spezifische Ziele werden in den Vordergrund gerückt (Europäische Kommission und Rat, 2010).

Der Ausschuss der Regionen verabschiedete ebenfalls 2010 eine Stellungnahme zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss wiederum einigte sich 2011 auf eine einschlägige Stellungnahme. Im Juni 2012 erging vom EU-Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz die Aufforderung an die Mitgliedstaaten und die Kommission, geeignete Sozialregelungen für Obdachlose zu entwickeln bzw. voranzubringen, in Abstimmung auf die jeweiligen Zuständigkeiten und unter Berücksichtigung der spezifischen einzelstaatlichen Verhältnisse.

Im Sozialinvestitionspaket 2013 schließlich wurde ebenfalls die Notwendigkeit unterstrichen, gegen Obdachlosigkeit anzugehen. Eine der Begleitunterlagen mit dem Titel „Confronting Homelessness in the European Union“ (Bekämpfung der Obdachlosigkeit in der EU) beleuchtet aktuelle problembezogene Tendenzen in der Union und streicht die potentielle unterstützende Rolle der EU heraus (Europäische Kommission, 2013). Unter dem irischen Ratsvorsitz fand im März 2013 ein Runder Tisch zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit statt. In der Diskussion wurde die dringende Notwendigkeit einer abgestimmten europaweiten Aktion erneut bekräftigt2.

Eine Reihe weiterer Initiativen auf EU-Ebene ist ebenfalls von Belang für das Problemfeld der Obdachlosigkeit, darunter mehrere Forschungsberichte und Veranstaltungen sowie ältere Peer Reviews. Diese werden unten kurz umrissen.

Sonstige relevante Initiativen auf EU-Ebene 1. ETHOS

Die Europäische Typologie für Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit und prekäre Wohnversorgung (ETHOS) hat sich als Diskussionsgrundlage für die Definition dieses Problemfeldes etabliert und kommt in zahlreichen europäischen Staaten in der Politikgestaltung und für Datenerhebungszwecke zur Anwendung (Edgar / Meert, 2005; Europäische Kommission, 2013)3.

2 http://eu2013.ie/media/eupresidency/content/documents/EU-Ministers-Homelessness-Roundta-ble---Information-note.pdf 3 http://www.feantsa.org/files/freshstart/Toolkits/Ethos/Leaflet/AT.pdf

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2. Studie zur Messung von Obdachlosigkeit in der Europäischen Union (2006-2007)

Diese von der Generaldirektion Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit (GD EMPL) in Auftrag gegebene Studie untersucht die Datenerhebungsmethoden zur Wohnungslosigkeit in Europa (Edgar et al, 2007)4.

3. Projekt „MPHASIS“ (2007-2009)

Dieses im Rahmen von PROGRESS finanzierte Projekt trug den Titel MPHASIS – Mutual Progress on Homelessness Through Advancing and Strengthening Information Systems. Es zielte im Wesentlichen auf den Kapazitätenausbau hinsichtlich der Monitoring-Informationen über Wohnungslosigkeit und Ausgrenzung im Wohnungsbereich ab. Grundlage waren die Empfehlungen der vorangegangenen Studie zur Messung von Obdachlosigkeit (s. o.)5.

4. Studie 2009-2010 „Housing Exclusion: Welfare Policies, Housing Provision and Labour Markets“ („Ausgrenzung im Wohnungsbereich: Wohlfahrtspolitische Maßnahmen, Wohnraumversorgung und Arbeitsmärkte“)

Dieses ebenfalls im Rahmen von PROGRESS finanzierte Projekt untersuchte die Wechselwirkung von Wohlfahrtsregelungen und verschiedenen wohnungspolitischen Ansätzen, vor allem im Hinblick auf die Entstehung und Linderung von Ausgrenzung im Wohnungsbereich, darunter Obdachlosigkeit (Stephens et al., 2010)6.

5. Europäische Konsenskonferenz zum Thema Obdachlosigkeit (2010)

2010 fand in Brüssel im Zuge des belgischen Ratsvorsitzes eine Europäische Konsenskonferenz zum Thema Obdachlosigkeit statt. Die Jury forderte dabei einen Wechsel von Not- oder Übergangsunterkünften als Hauptlösung für das Problem der Obdachlosigkeit hin zu „unterkunftsorientierten“ Ansätzen. Damit ist der zunehmende Zugang zu dauerhaftem Wohnen und die Verbesserung der Kapazitäten in Prävention und bedarfsorientierter Unterstützung von Menschen in ihren Wohnungen gemeint (Europäische Konsenskonferenz, 2010)7.

6. Projekt „Housing First Europe“ (HFE, 2011-2013)

HFE war ein ebenfalls im Rahmen von PROGRESS finanziertes Programm der sozialen Erprobung (Laufzeit 2011-13). Ziel war u. a. der Vergleich von bzw. das gegenseitige Lernen aus Projekten in zehn europäischen Städten, bei denen Obdachlosen in komplexen Bedarfslagen direkt eine dauerhafte und unabhängige Unterkunft vermittelt wurde, ergänzt durch ein umfassendes begleitendes Hilfeangebot (Busch-Geertsema, 2013)8.

4 http://ec.europa.eu/employment_social/spsi/homelessness_de.htm5 http://www.trp.dundee.ac.uk/research/mphasis/6 Der Abschlussbericht steht unter folgender Adresse zum Herunterladen bereit:

https://www.york.ac.uk/media/chp/documents/2010/Study%20on%20Housing%20Exclusion.pdf7 http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=88&langId=de&eventsId=315&moreDocuments=yes&tableName=events 8 http://www.socialstyrelsen.dk/housingfirsteurope

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7. Studie über Mobilität, Migration und Armut (2012-2013)

Diese ebenfalls im Rahmen von PROGRAMM finanzierte Studie sollte die Ursachen von Armut unter MigrantInnen ermitteln und analysieren. Zu berücksichtigen waren die wichtigsten Merkmale von armutsbetroffenen MigrantInnen und mobilen EU-BürgerInnen sowie die sozioökonomischen, politischen und rechtlichen Zusammenhänge.

8. Projekte „Hope in Stations“ (2010-2011) und „Work in Stations“ (2012-2013)

Diese aus PROGRESS finanzierten Projekte verfolgten das Ziel, die Rolle von Eisenbahngesellschaften, Behörden und NROen hinsichtlich der Unterstützung Obdachloser in Bahnhöfen zu festigen.

9. Soziale Innovation im Kampf gegen Obdachlosigkeit: Die Rolle der europäischen Strukturfonds stärken (2011)

Im Mittelpunkt dieser Konferenz standen mögliche Ansätze, im Rahmen der Strukturfonds die soziale Innovation auf dem Gebiet der Wohnungs- und Obdachlosigkeit in den EU-Mitgliedstaaten stärker zur Geltung zu bringen.

Nicht zuletzt stellte die Kommission unlängst Mittel für ein Projekt bereit, das Modelle für bewährte Vorgehensweisen für die Beobachtung, Abschwächung und Vermeidung von Zwangsräumungen in der EU zu Tage fördern soll9.

Obdachlosigkeit ist ein häufig wiederkehrender Schwerpunkt des jährlichen Konvents für die Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Im November dieses Jahres findet im Rahmen des Konvents ein Workshop zu „integrierten Strategien zur Wiederunterbringung obdachloser Menschen“ statt.

Sechs ältere Peer Reviews mit Beteiligung des Ausschusses für Sozialschutz waren der Obdachlosenthematik gewidmet, darunter eine in Dänemark10, die sich speziell mit dem 2002 von der dänischen Regierung aufgelegten Programm „Unsere gemeinsame Verantwortung“ auseinandersetzte. Es zielte auf sozial besonders weit im Abseits stehende Menschen in Dänemark ab, darunter Wohnungslose, Drogen- und Alkoholabhängige, Prostituierte und Menschen mit geistigen Behinderungen. Einen Programmschwerpunkt bildeten Obdachlose, deren Wiedereingliederung in normalen Wohnumgebungen mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist, und ältere Obdachlose, die einer gewissen Wohnfürsorge bedürfen, aufgrund ihrer Erfahrungen mit Wohnungslosigkeit und bestimmter Verhaltensauffälligkeiten aber nicht in einem herkömmlichen Wohnumfeld untergebracht werden können. Die dänische Regierung rief spezielle Wohnheime und darüber hinaus das Modell „skæve huse“ ins Leben, bei dem alternative Kleinwohnungen bereitgestellt wurden, in denen von der „Norm“ abweichende Verhaltensweisen möglich waren, ohne die Gefahr einer ablehnenden Reaktion im Umfeld.

9 http://www.irishtimes.com/news/ireland/irish-news/nuig-law-lecturer-leads-eu-survey-on-hous-ing-evictions-1.1646271 10 http://www.peer-review-social-inclusion.eu/peer-reviews/2005/preventing-and-tackling-home-lessness

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B. Politikinstrument des Gastgeberlands – nationale Obdachlosenstrategie Dänemarks

Die Nationale Obdachlosenstrategie wurde 2008 im dänischen Parlament verabschiedet, anknüpfend an ältere Programme zur Festigung von Sozialdienstleistungen für soziale Randgruppen. Dem Programm ging die erste landesweite Obdachlosenzählung im Februar 2007 voraus. In der Erhebungswoche wurden 5.290 obdachlose BürgerInnen ermittelt, darunter ca. 500 Straßenobdachlose und 2.000 in Notunterkünften lebende Menschen, aber auch über 1.000 Personen, die vorübergehend bei FreundInnen/Verwandten untergekommen waren und kleinere Gruppen in Übergangsunterkünften oder aus dem Gefängnis, Krankenhaus oder ähnlichen Einrichtungen Entlassene ohne Wohnungslösung (Benjaminsen / Christensen, 2007). Die meisten Problembetroffenen wurden in dänischen Städten registriert.

Das Strategieprogramm stützte sich auf vier übergeordnete Ziele:

1. Verringerung der Straßenobdachlosigkeit;

2. Schaffung von Alternativlösungen zu Notunterkünften für junge Obdachlose;

3. Verkürzung der Aufenthaltsdauer in Obdachlosenheimen;

4. Eindämmung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit nach der Entlassung aus einer Einrichtung (Haft, Krankenhaus usw.) ohne Wohnungslösung.

Das Gesamtbudget für das Strategieprogramm bezifferte sich für die Periode 2009-2012 auf 500 Mio. DKK (65 Mio. EUR). Acht dänische Kommunen, auf die 54 % der registrierten Obdachlosenbevölkerung entfielen, wurden zur Teilnahme an der ersten Programmrunde eingeladen, darunter die drei größten Ballungsräume Dänemarks: Kopenhagen, Aarhus und Odense. Das Gros der Mittel wurde diesen acht Kommunen zugeteilt. In einer späteren Finanzierungsrunde erhielten neun weitere Kommunen – überwiegend mittlere Städte – 30 Mio. DKK zur Verfügung gestellt.

Je nach den örtlichen Gegebenheiten hatten die teilnehmenden Kommunen die Möglichkeit, alle oder aber nur einzelne übergeordnete Strategieziele anzupeilen. Ein übergeordnetes Ziel bestand darin, internationale evidenzbasierte Interventionsmechanismen im dänischen Kontext weiterzuentwickeln und zu erproben, wobei als Richtschnur die „Housing First“-Philosophie ausgewählt wurde. Ein wesentliches Kriterium für die Zuteilung von Programmmitteln lautete deshalb, dass die Projekte dem „Housing First“-Konzept entsprechen.

Weiters wurde beschlossen, dass die im Rahmen dieses „Housing First“-Modells vorgesehene gleitende Unterstützung auf eine von drei Methoden zurückgreift:

• Aufsuchende Intensivbetreuung: Eine bereichsübergreifende Form der gleitenden Unterstützung für die Fälle mit dem schwersten Hilfebedarf (u. a. bei schweren Sucht- und Gesundheitsproblemen), für die sich der Zugang zum allgemeinen Unterstützungsangebot schwierig gestaltet. Den einschlägigen Betreuungsteams

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gehören zumeist SozialarbeiterInnen, Krankenpflegepersonal, PsychiaterInnen und SuchtbetreuerInnen an.

• Einzelfallhilfe: Betreuungskonzept, bei dem einE „Case ManagerIn“ zum Einsatz kommt, die/der neben praktischer und sozialer Unterstützung auch die Beanspruchung vorhandener Hilfs- und Behandlungsdienstleistungen koordiniert, solange eine entsprechende Begleitung benötigt wird. Im Vergleich zur aufsuchenden Intensivbetreuung richtet sich die Einzelfallhilfe an Betroffene mit einem weniger akuten, u. U. aber längerfristigen Unterstützungsbedarf.

• Zeitlich begrenzte Interventionen: Im Mittelpunkt steht hier ebenfalls die Betreuung durch eineN „Case ManagerIn“. Die Versorgung ist jedoch auf eine neunmonatige „kritische Übergangszeit“ beim Wechsel aus Obdachlosenheimen in unabhängige Unterkünfte begrenzt. Diese Methode wird eingesetzt, wenn Betroffene der Begutachtung zufolge mit einer kürzeren Übergangsunterstützung bis zum Eintritt in die allgemeine Dienstleistungsversorgung auskommen11.

Die Einzelfallhilfe kam bei der dänischen Strategie am häufigsten zum Einsatz und wurde in nahezu allen beteiligten Kommunen angeboten. Aufsuchende Intensivbetreuung war lediglich in den beiden größten Städten (Kopenhagen und Aarhus) verfügbar.

Weitere Schlüsselaspekte des dänischen Programms betrafen die Ausdehnung der aufsuchenden Betreuung in der Straße und die Umsetzung eines Verfahrens zur Bedarfsbeurteilung in Obdachlosenheimen; ein Teil der Finanzierung für die Strategie wurde außerdem für den Ausbau des Wohnungsangebots für Betroffene vorgesehen. Insgesamt entstanden 457 neue Wohnungen und Unterbringungsplätze, darunter ca. ein Drittel verstreut liegende unabhängige Wohnungen, während sich der Rest auf gesonderte Wohnanlagen, Einrichtungen, Übergangswohnungen und alternative Wohnformen („skæve huse“) verteilte12. Für eine Reihe weiterer lokaler Dienstleistungen und Initiativen wurden ebenfalls Ressourcen bereitgestellt.

Die Instrumente der gleitenden Unterstützung im Rahmen der Nationalen Obdachlosenstrategie Dänemarks kamen insgesamt über 1.000 Obdachlosen zugute. Es handelt sich somit um eines der wenigen großflächigen „Housing First“-Programme Europas.

Anlaufphase und Umsetzungsprozess auf lokaler Ebene dauerten länger als geplant; die meisten der aus der Strategie finanzierten Interventionen gingen erst Anfang 2010 an den Start. Aus diesem Grund wurde die Programmlaufzeit bis September 2013 verlängert. Die zweite Phase der Strategie läuft 2014 an. Sie ist auf 40 Kommunen fokussiert, die

11 Es stellt sich möglicherweise die Frage, ob die Zurechnung der „zeitlich begrenzten Interven-tionen“ zum „Housing First“-Grundsatz zulässig ist, da es zu dessen wesentlichen Merkmalen gehört, dass die Unterstützung solange aufrecht erhalten bleibt, wie Bedarf besteht (Busch-Geertsema, 2013). Diese Methode weicht eindeutig von diesem Grundsatz ab.12 In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass in dänischen Kommunen ein bestimmtes Kontingent an „Verfügungswohnungen“ besteht. Dass heißt, dass unabhängige Unterkünfte in ver-streuten Lagen auch auf diesem Weg vorrangig an gefährdete Gruppen vermittelt werden können (25 % der neuen verfügbaren Sozialwohnungen). Bei diesem Instrument stehen Obdachlose jedoch im „Wettstreit“ mit zahlreichen anderen Gruppen wie Alleinerziehenden, Menschen mit Behinderung oder schutzwürdigen SeniorInnen. Vor allem in größeren Städten übersteigt die Nachfrage das Ange-bot an Verfügungswohnungen, und in den meisten Kommunen gibt es lange Wartezeiten.

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sich in Abkommen zur Umsetzung eines „Housing First“-Konzepts und Übernahme faktengestützter Methoden verpflichten. In dieser zweiten Programmphase wird eine Senkung der Obdachlosenzahlen um 25 % bis 2020 anvisiert.

Beurteilung der dänischen Strategie Die Wirksamkeit der bei der dänischen Strategie eingesetzten Interventionen ist dank eines umfassenden Monitorings ausführlich dokumentiert. Dies gilt sowohl für die beanspruchte Unterstützung als auch die erzielten Ergebnisse (Rambøll / SFI, 2013). Die Aussagekraft der dänischen Evaluierungspraxis ist umso größer, als auf quantitative bzw. qualitative Merkmale abgestellte Methoden komplementär angewendet werden. Diese Evidenzbasis bekräftigt insgesamt die Wirksamkeit der in Dänemark erprobten Modelle.

Zum einen konnte bei allen drei in der dänischen Strategie getesteten Methoden der gleitenden Unterstützung eine überaus hohe Wohnstabilität erzielt werden. Weniger als 10 % der Personen, denen eine Wohnung vermittelt wurde, haben diese im Beobachtungszeitraum wieder verloren. Dieses Ergebnis deckt sich mit den bei zahlreichen anderen (überwiegend kleineren) europäischen „Housing First“-Vorhaben gemeldeten Erfolgsquoten von 90 % (Busch-Geertsema, 2013). In der dänischen Strategie offenbarten sich jedoch Unterschiede im Zusammenhang mit den eingesetzten Methoden: Unter den Personen, die Einzelfallhilfe erhielten, blieb ein größerer Anteil (15 %) während des gesamten Beobachtungszeitraums ohne Wohnlösung. Qualitative Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass dies z. T. auf ein vor Ort unzureichendes Angebot an leistbarem Wohnraum zurückzuführen war. In manchen Fällen wurde indes auch eine „kulturelle“ Barriere geortet, insofern als Wohnungsversorgungsinstanzen noch Mühe haben, sich vom Modell der „Wohnfähigkeit“ zu lösen. Diese Erkenntnisse deuten ferner auf ein potentielles Missverhältnis zwischen dem Umfang der Einzelfallhilfe und dem tatsächlichen Bedarf einzelner KlientInnen hin, für die eine aufsuchende Intensivbetreuung u. U. besser geeignet gewesen wäre.

Zweitens stellte sich beim dänischen Programm eindeutig heraus, dass im Normalwohnraumbestand verstreute Unterkünfte für die meisten Obdachlosen besser geeignet sind als Wohnanlagen, und dass eine intensive gleitende Unterstützung selbst Personen mit komplexem Hilfebedarf in die Lage versetzt, in einer eigenen Wohnung zurecht zu kommen. Die dänischen Erfahrungswerte fügen sich zudem in die immer umfangreichere internationale Wissensbasis zu den „Institutionalisierungstendenzen“ bei Modellen mit Wohnanlagen ein. Dort werden auf engem Raum verhältnismäßig viele gefährdete Menschen untergebracht, was vielfach unerwünschte Negativfolgen nach sich zieht, etwa Nachbarschaftskonflikte oder einen erschwerten Drogenausstieg (Busch-Geertsema / Sahlin, 2007; Hansen-Löfstrand 2010; Pleace, 2012; Parsell et al, 2013). Die 2010 in Finnland veranstaltete Peer Review zog ein ähnliches Fazit (Busch-Geertsema, 2010). Jüngere Erkenntnisse aus Finnland erhärten zudem die Feststellung, dass in kommunalen „Housing First“-Unterkünften lebende Betreute sich unverändert als institutionell untergebrachte Obdachlose wahrnehmen (Kettunen, 2013). Angesichts dieser Überlegungen ist daran zu erinnern, dass das ursprünglich aus New York stammende „Pathways Housing First“-Modell auf verstreuten Wohneinheiten ohne Vor-Ort-Betreuung basierte. Ein wesentlicher Grundsatz lautete, dass höchstens 20 % der Wohnungen in einem Gebäude an „Housing First“-KlientInnen vermittelt werden sollen (Tsemberis, 2010; Johnsen / Teixeira, 2010; Johnson et al., 2012).

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Drittens: Was andere, vom Wohnaspekt unabhängige Ergebnisse anbelangt – vom Drogenkonsum über die körperliche und geistige Gesundheit bis hin zum finanziellen Wohlergehen, zu sozialen Unterstützungsnetzen und den alltäglichen Verrichtungen –, sind die Ergebnisse für die in der dänischen Obdachlosenstrategie betreuten Personen eher ambivalent. Bei einer Mehrzahl dieser Aspekte stellte sich bei den meisten Dienstleistungsnutzenden im Beobachtungszeitraum keine Veränderung ein. Die Fälle, in denen am Ende der Periode eine Verbesserung bzw. eine Verschlechterung gemeldet wurde, hielten sich die Waage. Diese Erkenntnisse stimmen weitgehend mit Evaluierungsergebnissen aus anderen „Housing First“-Strategien in Europa überein (Busch-Geertsema, 2013). Im Zuge der dänischen Evaluierung unternommene Qualitätsuntersuchungen ergaben, dass die KlientInnen im Alltag zwar infolge der langjährigen Obdachlosenerfahrung und Marginalisierung weiterhin mit großen Herausforderungen konfrontiert waren, aber große Erleichterung über die vermittelte Wohnung äußerten und meinten, dass sie ohne Unterstützung ihre Unterkunft wieder verlieren würden.

Die vierte Erkenntnis resultiert aus den Erfahrungen mit der aufsuchenden Intensivbetreuung in Kopenhagen und Aarhus. Wie sich zeigte, bewährt sich diese Methode für die Unterstützung Obdachloser in sehr komplexen Bedarfssituationen, da sie eine ganzheitliche und hochgradig fokussierte Hilfestellung ermöglicht. Dieses Modell wurde nur in den zwei größten Städten des Landes angeboten, und es gibt Hinweise darauf, dass es auch anderswo in Fällen, in denen die Einzelfallhilfe zu kurz griff, zweckmäßig gewesen wäre.

Fünftens: Die dänische Erfahrung fördert erstmals Erkenntnisse zum Einsatz von „Housing First“ mit jungen Menschen zu Tage. Ein bedeutender Anteil (ca. 1/4) der Betreuten war im Alter von 18-24 Jahren (überwiegend Unterstützung in Form von Einzelfallhilfe und zeitlich begrenzter Intervention, während aufsuchende Intensivbetreuung fast ausschließlich bei Über-25jährigen zum Zug kam). Ganze zwei Drittel (66 %) dieser jungen KlientInnen bekamen eine Wohnung vermittelt und konnten diese im Monitoringzeitraum aufrecht erhalten, wenngleich über 25 Jahre alte KlientInnen eine noch höhere Verbleiberate verbuchten (89 %). Allerdings wurde einem hohen Anteil der Unter-25jährigen (23 %) im gesamten Studienzeitraum keine Wohnung vermittelt, obwohl sie im Programm angemeldet waren. In der KlientInnengruppe über 25 traf dies nur auf 6 % zu. 11 % schafften es nicht, die Wohnung zu halten (nur 5 % der Über-25jährigen). Nach Ansicht der befragten DienstleistungsanbieterInnen hängt diese etwas höhere (aber noch immer relativ geringe) Ausfallrate unter jüngeren KlientInnen nicht nur mit unerfüllten Unterstützungsbedürfnissen zusammen, sondern auch damit, dass sie im Vergleich zu älteren Erwachsenen über weniger Einkommen verfügen, um für die Miete aufzukommen.

Was allfällige Schwachpunkte der dänischen Strategie betrifft, liefert die Evaluierung Anhaltspunkte dafür, dass die Methode der „aufsuchenden Intensivbetreuung“ in allen beteiligten Kommunen hätte angeboten werden müssen. Da das evidenzorientierte Vorgehen Dänemarks aber darauf abzielte, die Wirksamkeit verschiedener Unterstützungsvarianten im Rahmen der übergeordneten „Housing First“-Prämissen zu erproben, konnte diesbezüglich nicht schon von vornherein Gewissheit bestehen. Ebenso bestätigte sich erst im Programmverlauf, dass verstreut liegende Unterkünfte zweckmäßiger sind als größere Wohnanlagen, sodass der Vermittlungsfokus nachträglich entsprechend verschoben wurde. Es mag sein, dass in der dänischen „Housing First“-Strategie das Kernmodell durch andere Interventionen ergänzt werden könnte, etwa was den Zugang zu sinnvoller sozialer Betätigung anbelangt, um zwischenmenschliche Kontakte zu fördern und gegen

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Einsamkeit vorzugehen. Diese Aussage ließe sich aber auch für alle anderen „Housing First“-Programme treffen, die in Europa untersucht worden sind (Busch-Geertsema, 2013). Es darf nicht vergessen werden, dass das dänische Programm als großflächiges soziales Experiment angelegt war, das faktengestützte und wirksame Methoden für die Unterstützung Obdachloser mit komplexem Hilfebedarf freilegen sollte. In diesem Sinne sind dem Programm große Erfolge und wertvolle Resultate zu attestieren.

Doch obwohl die im Rahmen der nationalen Obdachlosenstrategie Dänemarks durchgeführten Interventionen durchaus erfolgreich erscheinen, was die einzelnen KlientInnen betrifft, konnte das übergeordnete Ziel der Verringerung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit nicht verwirklicht werden. Tatsächlich kam es im Zeitraum 2009-2013 zu einem Anstieg von 16 %; besonders gravierend verlief die Entwicklung bei 18- bis 24jährigen (+80 %; vgl. die Ausführungen weiter unten). Von positiven Ergebnissen in einzelnen Gebieten abgesehen und trotz lokaler Schwankungen sind die vier strategischen Ziele des Programms (Verringerung der Straßenobdachlosigkeit; Abbau des Bedarfs an betreutem Wohnen für junge Menschen; Verkürzung der Aufenthaltsdauer in Asylen und Eindämmung von Obdachlosigkeit nach dem Austritt aus einer Institution) insgesamt unerreicht geblieben.

Die Evaluierung legt den Schluss nahe, dass diese widersprüchliche Bilanz an einer Reihe von Barrieren auf der Mikro- wie auch der Makroebene festzumachen ist. Ein zentrales Problem liegt offenbar im knapper werdenden Angebot an preiswerten Wohnungen in den beiden größten Städten Dänemarks (Kopenhagen und Aarhus) infolge der Bevölkerungszunahme. Demgegenüber ist in Odense die Bevölkerungszahl in den letzten Jahren kaum gestiegen, und die Kommunalverwaltung berichtet von einem angemessenen Angebot an leistbarem Wohnraum und gut entwickelten Methoden für die Zuteilung von Unterkünften an marginalisierte Gruppen, sodass es während der Laufzeit der Obdachlosenstrategie möglich war, die Zahl der Betroffenen um die Hälfte zu senken. Ein weiterer Faktor, der nicht zuletzt aufgrund der zumeist komplexen Bedarfssituation dänischer Obdachloser eine Rolle spielt, hängt möglicherweise mit Koordinationsproblemen zwischen psychiatrischen und Suchthilfediensten zusammen. Ferner wurde von organisatorischen und kulturellen Herausforderungen hinsichtlich der Umsetzung der „Housing First“-Strategie in manchen Kommunen berichtet, wo teilweise in den Suchthilfestellen, bei der Wohnungszuteilung und in der Verwaltung der Heimplätze noch das „Stufenmodell“ mit Therapiezwang vorherrscht.

Ein weiteres, möglicherweise grundsätzlicheres Problem besteht darin, dass die dänische Strategie de facto nicht nachdrücklich auf die Vermeidung von Obdachlosigkeit ausgerichtet war, sondern auf die Bereitstellung dauerhafter Lösungen für bereits Betroffene (s. u. die Stellungnahme von EUROCITIES). Zwar ist die Verringerung des bestehenden „Aufkommens“ an Wohnungs- und Obdachlosigkeit von Belang für die allgemeine Eindämmung des Problems, doch müsste eine ganzheitliche Strategie auch danach trachten, den „Neuzustrom“ zu drosseln. In dieser Hinsicht ist ein gewisses Versagen der dänischen Strategie nicht zu leugnen.

Gleichzeitig ist bei der Beurteilung dieser möglichen Defizite des dänischen Konzepts zu bedenken, dass die „Kontrafaktuale“ fehlt – d. h., es kann nur vermutet werden, ob die Obdachlosigkeit in Dänemark ohne die Anstrengungen im Rahmen der nationalen Strategie nicht noch deutlich stärker gestiegen wäre. Tatsächlich deutet der Umstand, dass die

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Zunahme in den an der Strategie beteiligten Kommunen gegenüber dem Ausgangsjahr 2009 deutlich schwächer ausgefallen ist, darauf hin.

Jugendobdachlosigkeit Wie weiter oben erwähnt, ist die Zahl junger Obdachloser während der Laufzeit der dänischen Strategie auffällig stark angewachsen, weshalb in der Peer Review dieser Punkt besonders intensiv behandelt wurde. Als Begründung für diese Verschärfung der Jugendobdachlosigkeit wurde u. a. angeführt, dass die Jugendarbeitslosigkeit drastisch zugenommen hat und Unter-25jährige im Allgemeinen weniger Geldleistungen erhalten als Angehörige älterer Kohorten. Die fortschreitende Wohnungsnot in größeren Städten trifft junge Menschen, die den Einstieg in den engen Wohnungsmarkt schaffen müssen, ebenfalls unverhältnismäßig stark.

Was die Zunahme der Jungendobdachlosigkeit in den letzten Jahren anbelangt, steht Dänemark keineswegs alleine da. Eine ganze Reihe weiterer europäischer Staaten musste eine ähnliche Entwicklung hinnehmen13. In zahlreichen EU-Mitgliedstaaten sind jüngere Menschen besonders stark von hohen Arbeitslosenquoten, einem Mangel an preiswerten Wohnungen und teilweise auch drastischen Sozialleistungskürzungen betroffen. Eigene Fachstellen für junge Wohnungslose sind in vielen Ländern offenbar unterentwickelt, sodass die Betroffenen häufig in für sie unangebrachten Heimen für ältere Erwachsene unterkommen (Stephens et al, 2010; Fitzpatrick / Stephens, 2013). Wie sich außerdem herausstellt, besteht in einigen Staaten bei Erreichen des 18. Lebensjahres – beim Übergang von den Fürsorgemechanismen für Minderjährige zu den Unterstützungssystemen für Erwachsene – eine besonders große Gefahr, „zwischen allen Stühlen“ zu landen (Benjaminsen / Busch-Geertsema, 2009).

FEANTSA äußerte jüngst Besorgnis über den Anstieg der Jugendobdachlosigkeit in zahlreichen Staaten14 und veranstaltete auch eine Konferenz zu diesem Thema15. Die letzte einschlägige Untersuchung der Europäischen Beobachtungsstelle für Obdachlosigkeit geht indes auf 1998 (Avramov, 1998) zurück, und in vielen europäischen Ländern besteht ein Manko an aktuellem Fakten- und Datenmaterial (Quilgars, 2010). Es gibt nur eine nennenswerte Vergleichsstudie (Smith et al, 2009). Die Schwerpunktsetzung dieser Peer Review auf Maßnahmen gegen Jugendobdachlosigkeit in den EU-Mitgliedstaaten und den Austausch bewährter Verfahrensweisen auf diesem Gebiet erlangt vor diesem Hintergrund eine umso größere Bedeutung.

13 http://www.feantsa.org/spip.php?article705&lang=en 14 http://www.feantsa.org/spip.php?article705&lang=en 15 http://www.feantsa.org/spip.php?article1596&lang=en

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C. Politikinstrumente und Erfahrungen in den Peer-Ländern / Beiträge europäischer Interessenvertretungen

Diese in Dänemark veranstaltete Peer Review widmete sich den Ergebnissen der 2008 im dänischen Parlament verabschiedeten Nationalen Obdachlosenstrategie. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei den neuen Herausforderungen im Zusammenhang mit Jugendobdachlosigkeit gelten. Folglich wurden die Peer-Länder und Interessenvertretungen ersucht, ihren Standpunkt zur Ausarbeitung und zu den Inhalten der dänischen Strategie darzulegen, unter Bezugnahme auf eigene Politik- und Strategierahmen und Erfahrungswerte16.

Erwartungsgemäß war das Echo auf die dänischen Erfahrungswerte aus den nordischen Staaten besonders groß. So wurde festgestellt, dass Finnland mit sehr ähnlichen Herausforderungen auf dem Gebiet der Wohnungs- und Obdachlosigkeit konfrontiert ist. Es gibt Pläne für eine weitere Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten im Hinblick auf die Anwendung des „Housing First“-Modells in einem nordischen Kontext. Anknüpfend an die Erfahrungen in Dänemark beabsichtigt nun auch Finnland Investitionen in Teams für die aufsuchende Intensivbetreuung zugunsten jener mit den größten Schwierigkeiten. Die dänischen Erkenntnisse bzgl. der Zweckmäßigkeit verstreut liegender Wohnungslösungen sind für die Feinabstimmung des finnischen Modells ebenfalls wertvoll. Die Abwendung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit unter jungen Menschen, etwa durch Wohnungsberatungsstellen, ist ein Schlüsselziel der National Obdachlosenstrategie Finnlands (2012-2015). Dessen ungeachtet ist die Zahl junger Betroffener im Steigen begriffen, allen voran in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Es steht fest, dass umfassende Lösungen erforderlich sind, um auf die strukturellen Probleme einzugehen, mit denen sie konfrontiert sind – nicht zuletzt den gravierenden Mangel an preiswertem Wohnraum.

In Schweden wurde eine nationale Koordinationsstelle für Obdachlosenfragen ins Leben gerufen. Zu ihren Aufgaben gehört insbesondere die Abwendung von Zwangsräumungen, allen voran unter Familien mit Kindern. „Housing First“-Angebote sind in Schweden bislang kaum gediehen. Abgesehen von einigen einschlägigen Initiativen auf lokaler Ebene ist das „Treatment first“-Prinzip weiterhin vorherrschend. Die Erkenntnisse Dänemarks untermauern nicht nur die eher begrenzten schwedischen Erfahrungswerte mit „Housing First“-Diensten, die auf eine höhere Wohnstabilität hindeuten, sondern auch die Vorteile von Wohnungen in verstreuten Lagen (im Unterschied zu großen Wohnanlagen). Die Problematik der Jugendobdachlosigkeit hängt in Schweden nicht so sehr mit der akuten Wohnungslosigkeit als mit Schwierigkeiten beim Einstieg in den Wohnungsmarkt zusammen. Die schwedische Regierung hat eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht, um bessere Wohnmöglichkeiten für junge Menschen zu schaffen, z. B. ein neues Finanzinstrument zur Förderung des Wohnraumangebots für diese Gruppe.

16 Diese Beiträge stehen unter folgender Adresse zum Herunterladen bereit: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1024&langId=de&newsId=1884&furtherNews=yes

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In Norwegen wurde in früheren nationalen Initiativen bereits ein Übergang von „Stufenmodellen“ zu Konzepten angestoßen, bei denen die Wohnraumversorgung im Vordergrund steht. Dies schuf die Grundlage dafür, dass ein „Housing First“-Programm in die neue 2014 angelaufene nationale Strategie aufgenommen wurde. Die Vorgaben für den bei dieser Strategie angewendeten „Housing First“-Ansatz sahen ausdrücklich vor, von der Unterbringung ehemals Obdachloser mit Mehrfachproblemen in großen Wohnblöcken Abstand zu nehmen. Es wurde empfohlen, mit entsprechenden Teams die aufsuchende Intensivbetreuung zu forcieren, wenngleich die dänischen Erfahrungen auch den Nutzen von Einzelfallhilfe und zeitlich begrenzter Intervention deutlich gemacht haben. Die zentrale Herausforderung in der Bekämpfung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Norwegen resultiert aus dem Mangel an leistbaren Mietwohnungen für gefährdete Gruppen (beinahe 80 % Eigentumswohnungen). Jüngste Studien haben ergeben, dass die allgemeinen Obdachlosenstellen Norwegens auf die Bedürfnisse junger Obdachloser nicht angemessen eingehen.

Die Gegebenheiten in Österreich weisen einige überaus positive Facetten auf, allen voran das beträchtliche Angebot an Gemeindewohnungen in Wien und die umfangreichen Sozialdienstleistungen. Nichtsdestotrotz suchen immer mehr wohnungslose Menschen Hilfe bei einschlägigen Fachstellen. Es handelt sich um eine Folge der Wirtschaftskrise, der gestiegenen Mieten und des Mangels an leistbarem Wohnraum. Die oberste Notwendigkeit besteht vor diesem Hintergrund darin, Räumungsklagen abzuwenden. Die österreichischen Peer Review-TeilnehmerInnen äußersten sich beeindruckt von der Umsetzung einer landesweiten Obdachlosenstrategie in Dänemark. Im österreichischen Kontext wäre dies aufgrund der starken Dezentralisierung kaum möglich.

Ähnliche Beobachtungen gelten für Spanien, wo die dezentralen Zuständigkeiten ein nationales Vorgehen erschweren würden. An positiven Entwicklungen wurde festgehalten, dass Obdachlosigkeit seit einigen Jahren bedeutend besser berücksichtigt wird, was sich der auf EU-Ebene angestoßenen politischen Dynamik verdankt. Andererseits spielt bei einschlägigen Strategien die Sozialbetreuung nach wie vor die Hauptrolle, und nicht die Wohnraumvermittlung. Einschlägige Facheinrichtungen halten in Spanien zumeist unverändert an Stufenmodellen fest, während „Housing First“ noch relativ unbekannt ist. Durch den Kontakt mit europäischen Netzwerken wie FEANTSA dürfte sich dies allmählich ändern. Die Armutsrate ist in Spanien seit Einbruch der Krise derart stark angestiegen, dass der Zusammenhalt der spanischen Gesellschaft insgesamt gefährdet ist. Obdachlosigkeit ist in hohem Maße mit den gravierenden Strukturproblemen und dem schwachen Sozialschutz verbunden. Unter jüngeren Menschen ist Arbeitslosigkeit ein weitaus gravierenderes Problem als Obdachlosigkeit, zumal die meisten Menschen bis über 30 bei den Eltern wohnen. Junge obdachlose MigrantInnen sind indes mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert.

In Frankreich wurde in vier Großstädten (Paris, Lille, Marseille und Toulouse) ein dreijähriges „Housing First“-Forschungsprogramm auf den Weg gebracht („Un chez soi d‘abord“). Es handelt sich um ein Versuchsprogramm in großem Maßstab, bei dem zufällig ausgewählte Obdachlose, denen ohne Umwege eine Sozial- oder private Untermietwohnung in verstreuter Lage vermittelt wird und die eine maßgeschneiderte gleitende Unterstützung erhalten, mit einer Kontrollgruppe verglichen werden, deren Mitglieder in herkömmlicher Form (Heim bzw. Übergangsunterkunft) betreut werden. Die Ergebnisse zur Studienhalbzeit sind mit jenen in Dänemark vergleichbar: Die Verbleiberaten sind sehr hoch (86 %), und es gibt deutliche Hinweise darauf, dass die meisten Obdachlosen in einer unabhängigen Unterkunft

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gut zurechtkommen, wenn sie die richtige Unterstützung bekommen. Im 2009 aufgelegten nationalen Obdachlosenprogramm Frankreichs wird auf junge Obdachlose nicht spezifisch Bezug genommen. Ihre Zahl ist indes im Steigen begriffen, verschärft durch den Umstand, dass Unter-25jährige in Frankreich keinen Anspruch auf Mindestsicherung haben.

In der Obdachlosenpolitik Irlands gelten Wohnungsbaumaßnahmen als ein vorrangiges Instrument. Es ist das erklärte Ziel, Langzeitobdachlosigkeit bis 2016 zu beenden (mit besonderer Rücksichtnahme auf jüngere Zielgruppen). Ähnlich wie in Dänemark weist die Obdachlosenbevölkerung einen hohen Anteil an Menschen mit relativ umfangreichem Hilfebedarf auf, und die zentrale Herausforderung bei der Umsetzung eines auf die Wohnraumversorgung ausgerichteten Konzepts besteht darin, ein ausreichendes Wohnungsangebot herzustellen. Dies gilt insbesondere für Dublin und größere Städte. Die Monitoring- und Evaluierungspraxis ist nicht so weit gediehen wie in Dänemark, und eine Feststellung lautete, dass in dieser Hinsicht Lernpotential aus dem dänischen Modell gegeben ist. Eine Überprüfung der irischen Strategie gegen Jugendobdachlosigkeit förderte positive Fortschritte zutage, machte aber auch Schwierigkeiten sichtbar, die sich bei Erreichen der Volljährigkeit (Wechsel zu Dienstleistungen für Erwachsene) einstellen. Junge Menschen, die aus einer Betreuung entlassen werden, haben per Gesetz bis zum 21. Lebensjahr Anspruch auf staatliche Hilfe.

Die Verhütung von Jugendobdachlosigkeit ist in England ein vorrangiges Politikanliegen. Ein besonderes Augenmerk gilt den Vermittlungsdiensten, die jungen Menschen ermöglichen sollen, in der Familie zu bleiben bzw. dorthin zurückzukehren, sofern sichere Rahmenbedingungen gegeben sind. Daneben gibt es ein Netzwerk fachlich betreuter Unterkünfte, darunter betreute Wohnungen für gefährdete Jugendliche, die dort in einem „normalen“ familiären Rahmen leben können, als Alternative zu institutionellen Vorkehrungen. Diesen Interventionen zum Trotz hat die Zahl junger Obdachloser seit 2010 – ebenso wie die allgemeine Wohnungs- und Obdachlosigkeit – zugenommen. Die lokalen Gebietskörperschaften Englands sind angehalten, Unterkünfte für anspruchsberechtigte Familien bereitzustellen, die unverschuldet in Wohnungslosigkeit geraten sind und einer Notfallhilfe bedürfen. Bei Betroffenen in jüngerem Alter wird dieser Anspruch allerdings mehrheitlich nicht anerkannt (es sei denn, sie haben eine Vergangenheit in Erziehungseinrichtungen). Die Regierung hat eine Reihe von Initiativen eingeleitet, um der zunehmenden Jugendobdachlosigkeit entgegenzuwirken. So wird etwa mit den lokalen Gebietskörperschaften ein eigenes Heranführungsprogramm gefördert („youth accommodation pathway“).

In Schottland hat die allgemeine Obdachlosigkeit in den letzten drei Jahren abgenommen. Der Anteil junger Menschen an der betroffenen Bevölkerung ist unterdessen gleich geblieben, und dies trotz erheblicher Präventivbemühungen. Für junge Menschen besteht in Schottland ab dem 16. Lebensjahr Anspruch auf eine Sozialwohnung. Aktuell gibt es Vorschläge zum Ausbau der einschlägigen Unterkünfte mit Fachbetreuung. Fremdbetreute Sechzehnjährige haben bis zum Erreichen des 21. Lebensjahres Anspruch auf Nachbegleitung. Im Zuge einer Novelle ist geplant, die Betreuung bis zu diesem Alter auszudehnen und die Nachbegleitung bis zum Alter von 26 Jahren zu verlängern. Unverschuldet in Wohnungslosigkeit geratene Familien haben in Schottland Anspruch auf Vermittlung einer Wohnung durch die lokalen Gebietskörperschaften. 2010 wurde ein neues Modell der „Wohnoptionen“ ins Leben gerufen, das die Abwehr von Obdachlosigkeit stärker in den Mittelpunkt rückt. Gemeinsam mit den lokalen Gebietskörperschaften wurden intensive Anstrengungen unternommen, den

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kulturellen Wandel herbeizuführen, den diese neue „ergebnisfokussierte“ Vorgehensweise voraussetzt.

Die Staaten Zentral- und Osteuropas waren mit überaus schwierigen Strukturverhältnissen konfrontiert, deretwegen „Housing First“-Konzepte nach dänischem Vorbild zumindest auf kurze Sicht undurchführbar sind. In Rumänien beispielsweise wurde unterstrichen, dass die Verringerung der Armut eine anhaltende grundlegende Herausforderung darstellt. Ganze 29 % der Bevölkerung leiden unter erheblicher materieller Deprivation (EU-Durchschnitt: 8 %). Die Wirtschaftskrise schlägt sich in Negativtrends bei Armut, Verschuldung und Räumungsklagen nieder. Es gibt in Rumänien eine gesetzliche Definition für Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Jedoch werden erst seit kurzer Zeit einschlägige Studien durchgeführt, sodass nur spärliches Datenmaterial vorhanden ist. Hauptsächlich von NROen (tlw. in Partnerschaft mit lokalen Behörden) geleitete Nachtasyle sind nach wie vor die primäre Maßnahme gegen Obdachlosigkeit. Eine zentrale Priorität ist die Erhebung verlässlicher Obdachlosenstatistiken mit europaweit gültigen Methoden. Ebenfalls dringend ist die Sensibilisierung rumänischer Fachkräfte für bewährte Verfahrensweisen aus anderen Teilen Europas. Damit könnte sich das Land das nötige Rüstzeug aneignen, um das Paradigma des „Therapiezwangs“ schlichtweg zu „überspringen“.

Ähnlich der Befund für Kroatien. Die Hauptsorge gilt dort den hohen Raten bei Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung. Es gibt keine eigene nationale Obdachlosenstrategie. Die Zahl der Familien, denen eine Zwangsräumung droht, ist hoch. Parallel dazu ist das Angebot im Sozialwohnungsbereich überaus schwach entwickelt, da die Mehrheit der Bevölkerung im Eigenheim lebt. Wie in Rumänien ist Wohnungs- und Obdachlosigkeit gesetzlich definiert, das Statistikmaterial jedoch dürftig; einschlägige Strategien zielen überwiegend auf den Ausbau der Notschlafplätze und der Lebensmittelausgabe ab. Eine 2012 durchgeführte Umfrage in Asylen ergab, dass diese mehrheitlich von Männern mit einem Durchschnittsalter von 50 Jahren aufgesucht werden; die meisten unter ihnen weisen offenbar keinen komplexen Unterstützungsbedarf auf (insofern ein großer Unterschied zur dänischen Situation). Auf lokaler Ebene finden sich einige gute Verfahrensbeispiele im Umgang mit Obdachlosigkeit, und es gibt Pläne für ein „Housing First“-Pilotmodell in Rijeka und Split. Der Aufbau eines starken politischen Bekenntnisses zum „Housing First“-Konzept ist eine zentrale Herausforderung. Der Zugang zu EU-Strukturfonds wird eine maßgebliche Rolle spielen, insofern als die derzeitige Wirtschaftslage Kroatiens keinen Spielraum für umfangreiche neue Sozialausgaben lässt.

Der Aufbau einer Statistikdatenbank zur Obdachlosigkeit sowie eines nationalen Strategierahmens steht heute auf der Politikagenda Bulgariens. Das bulgarische Politikinstrumentarium auf dem Gebiet der Obdachlosigkeit zielt vorrangig auf die Versorgung mit Sozialdienstleistungen ab. So wurde das Sozialwesen in den letzten Jahren infolge von Maßnahmen zum Abbau der institutionellen Betreuung beträchtlich aufgestockt. Verschiedene gemeindenahe Sozialeinrichtungen bieten wohnungslosen Menschen, Jugendlichen und Kindern Schlafplätze und Unterstützung. Die lokalen Gebietskörperschaften sind zu Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit verpflichtet, etwa in Form von Wohnungsnotfallhilfe oder „Volksküchen“. Im Gefolge der Wirtschaftskrise hat sich das Risiko von Obdachlosigkeit verschärft. Immer mehr Menschen fehlt es an den nötigen finanziellen Mitteln für den Zugang zum Wohnungsmarkt. Die Lehren aus der dänischen Erfahrung betreffen u. a. die Erkenntnis, dass an der Wohnungsversorgung orientierte Konzepte besser geeignet sind als Stufenmodelle – Bezug nehmend auf den

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„Heim“-Schwerpunkt in der bulgarischen Bevölkerung – und dass für die Vermeidung von Obdachlosigkeit eine frühzeitige Intervention wichtig ist.

Der Europäische Verband nationaler Organisationen der Wohnungslosenhilfe (FEANTSA) betonte im Hinblick auf die Erkenntnisse aus der dänischen Erfahrung, dass es eines starken politischen Bekenntnisses bedarf, um die Entwicklung in der Obdachlosenpolitik voranzutreiben, und wirksamer Governance- und Monitoringvorkehrungen. FEANTSA hielt vor allem drei wichtige Lehren fest: Die meisten Obdachlosen kommen in verstreut liegenden Wohnungen besser zurecht; gleitende Unterstützung muss gut konzipiert und operationell auf verschiedene Unterstützungsprofile abgestimmt werden; Ausbildung und Kapazitätenaufbau sind wesentliche Voraussetzungen für die Ausweitung von „Housing First“. Nach Ansicht von FEANTSA spielen EU-Strukturfonds potentiell eine wichtige Rolle für diesen Entwicklungsprozess (s. u.).

EUROCITIES beglückwünschte die Regierung und Kommunen Dänemarks für ihren Mut zur Abkehr vom „Treatment First“- Paradigma zugunsten von „Housing First“. Die Organisation merkte an, dass die Sorgfalt der Evaluierung die Notwendigkeit und Wirksamkeit dieses Schrittes überzeugend veranschaulicht. Die Bedachtnahme auf die Lebensqualität der Personen, denen eine Wohnung vermittelt wird, sei ein wichtiger Aspekt. Nennenswert seien v. a. Programme und Aktivitäten, die sozialer Isolation vorbeugen und den Betroffenen eine optimale Teilhabe an ihrem neuen Wohnumfeld ermöglichen. Eine der Problemstellungen bei der Wohnungsvermittlung an Obdachlose resultierte daraus, dass die verfügbaren Wohnungen häufig in Gegenden mit akuten sozialen Missständen liegen – sobald Kommunen aber andere Wohnviertel ins Auge fassen wollen, regt sich der Widerstand der dortigen Wohnbevölkerung, frei nach dem Sankt-Florians-Prinzip. Andererseits stellt EUROCITIES fest, dass das dänische Programm daran gescheitert ist, das Gesamtaufkommen an Obdachlosigkeit zu verringern. Die Organisation vermutet eine Ursache darin, dass Präventivmaßnahmen nicht gebührend berücksichtigt wurden, allen voran die Abwendung von Räumungsklagen.

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D. Zentrale Diskussionspunkte des Seminars

Im Verlauf der Diskussionen, die während der Peer Review stattfanden, kristallisierten sich einige Kernthemen heraus. Hier eine Zusammenfassung.

„Housing First“ / WohnraumvermittlungZu Anfang wurde diskutiert, inwieweit bei Obdachlosenstrategien „Housing First“ von allgemein „wohnungsorientierten“ Ansätzen zu unterscheiden ist. Es wurde klargestellt, dass es sich bei ersterem um ein spezifisches Modell für einen möglichst schnellen Zugang zu dauerhaftem Wohnen handelt, ergänzt durch eine Rundumbetreuung für Personen in komplexeren Bedarfslagen. Der zweite Begriff ist demgegenüber allgemeiner zu verstehen und umfasst generell obdachlosenpolitische Konzepte, bei denen die Vermittlung von Standardunterkünften im Vordergrund steht.

Verstreute Wohnungen / große WohneinheitenBestärkt durch die neuen Erkenntnisse aus Dänemark stimmten die Peer Review-TeilnehmerInnen allgemein darin überein, dass Modelle mit verstreuten Wohnstandorten zweckmäßiger sind als solche mit hoher räumlicher Wohnkonzentration. Was genau unter „verstreut liegenden Wohnungen“ zu verstehen ist, war indes Anlass zu Diskussion. In Norwegen etwa kann es sich mitunter sehr wohl um Wohnungen in ein und demselben Gebäude handeln. In Dänemark ist hingegen eine Streuung der Unterkünfte innerhalb des gesamten Sozialwohnungsbestands gemeint.

Politischer Kontext und UnterstützungDie Unterstützung seitens der Politik war ein maßgeblicher Erfolgsfaktor der dänischen „Housing First“-Initiative. Dies bezieht sich insbesondere auf die hergestellte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Abteilungen in den Kommunalverwaltungen (Wohnungswesen, Sozialarbeit, Kinderfürsorge). Ein Lenkungsausschuss aus den ersten acht an der Strategie beteiligten Kommunen arbeitete eng mit dem Sozialministerium zusammen. Außerdem gehörten der ministeriellen Lenkungsgruppe die/der LeiterIn des Sozialamts der jeweiligen Kommune an. Als besonders wertvoll erwies sich der politische Rückhalt, wenn Budgetmittel zum „Housing First“-Programm umgeleitet werden sollten. Die neun Kommunen, die sich dem Programm erst in der zweiten Phase anschlossen, genossen nicht dieselbe hochrangige Politikunterstützung für ihre „Housing First“-Initiativen. Sie stießen folglich auf größere Schwierigkeiten beim Zugang zu den benötigten Diensten.

Kultureller WandelEin Diskussionsschwerpunkt betraf das notwendige Umdenken unter den Fachkräften, die mit obdachlosen Menschen arbeiten. Damit sie ihren Fokus auf die Selbstbemächtigung Obdachloser und die Achtung deren Selbständigkeit richten, bedarf es Weiterbildungs- und Qualifikationsmaßnahmen. Im „Housing First“-Modell kommt ein ganz anderes Verhältnis zwischen KlientInnen und DienstleisterInnen zum Tragen, als es im institutionellen Betreuungsrahmen der Fall ist, wo HeimbewohnerInnen über keine für das Personal

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unzugängliche Privatsphäre verfügen. Aus diesem Grund ist im Herangehen eine völlig neue Denkweise vonnöten.

Schulung/InformationsarbeitEng verbunden mit der Frage des kulturellen Wandels sind Weiterbildungsmaßnahmen, denen in der dänischen Strategie eine große Aufmerksamkeit zuteil wurde. Es wurde angeregt, dass die Abhaltung von Schulungen auf EU-Basis mit Rückgriff auf Strukturfonds – etwa den Europäischen Sozialfonds oder das ERASMUS-Programm – die entsprechenden einzelstaatlichen Bemühungen auf wertvolle Weise untermauern würden.

Anreiz- und Finanzierungsmodelle reformierenNach Ansicht mehrerer Peer Review-TeilnehmerInnen ist es wichtig, dass in der Obdachlosenpolitik ein stärkerer KlientInnenfokus die AnbieterInnen-Orientierung ablöst. Es kann dabei durchaus zu Widerstand einzelner Dienstleistungsinstanzen kommen, die sowohl finanziell als auch weltanschaulich mit den bisherigen Modellen verhaftet sind. Deshalb lautete eine weitere Schlussfolgerung, dass es zusätzlich zur Förderung eines positiven kulturellen Wandels auf personeller Ebene (s. o.) einer systematischen Umgestaltung in Bezug auf die Finanzanreize für DienstleisterInnen bedarf. Sie müssen beim Umbau ihres Geschäftsmodells unterstützt werden, damit sie Energien und Ressourcen auf die wirksamsten Vorgehensweisen lenken.

NROenWie festgehalten wurde, haben an der Ausgestaltung und Umsetzung der dänischen Strategie sowohl NROen als auch KlientInnenverbände mitgewirkt. Sie waren in allen beteiligten Kommunen in den Lenkungsausschüssen vertreten. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass im dänischen Sozialwesen die Kommunen selbst die meisten Dienstleistungen erbringen und NROen deshalb in der Strategie nicht in dem Maße zum Zug kamen, wie es in vielen anderen Mitgliedstaaten der Fall wäre, wo die Obdachlosenhilfe mehrheitlich vom gemeinnützigen Sektor wahrgenommen wird.

AsyleEs wurde ausführlich diskutiert, welche Rolle Notschlafstellen noch spielen sollen, wenn sich „Housing First“ europaweit durchsetzt. Einige TeilnehmerInnen führten ins Treffen, dass Obdachlosenasyle die wichtige Funktion von vorübergehenden Unterkünften in Fällen plötzlicher Wohnungslosigkeit erfüllen. Es ist ferner einzuräumen, dass es auch in Zukunft einen „Zustrom“ an neuen Obdachlosen geben wird, die auf Notschlafplätze in der einen oder anderen Form angewiesen sind (wobei fraglich bleibt, ob Asyle die beste Variante darstellen). Eine zentrale Schwierigkeit liegt darin, dass es in vielen Ländern seit geraumer Zeit so ist, dass Obdachlose jahrelang von einem Heim zum nächsten wechseln und darin praktisch eine Langzeitunterkunft finden. Eine weitere Anmerkung lautete, dass Obdachlosenheime von Land zu Land unterschiedlich sind. So würden etwa in Dänemark ein höherer Standard und eine bessere Unterstützung geboten als in manch anderen

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europäischen Staaten. Ungeachtet dieser Debatte wurde bekräftigt, dass die Bereitstellung einer geeigneten permanenten Wohnung die einzige Langzeitlösung ist.

Geschlechtsspezifische Aspekte Wie aus den Berichten hervorgeht, sind nur ca. 20 % aller Obdachlosen in Dänemark Frauen (diese Zahl deckt sich mit Obdachlosenerhebungen aus anderen europäischen Staaten; vgl. Busch-Geertsema, 2013). Es wurde die Beobachtung gemacht, dass alleinstehende Frauen im Vergleich zu alleinstehenden Männern vielfach bessere Aussichten auf eine Wohnungsvermittlung durch die dänischen Kommunen haben, weil sie möglicherweise als „stärker gefährdet“ gelten.

PräventionWie bereits ausgeführt, lautete ein Fazit, dass in der dänischen Strategie de facto kein großes Augenmerk auf Prävention gelegt wurde. Im Mittelpunkt standen vielmehr nachhaltige Lösungen für bereits Obdachlose. In diesem Zusammenhang wurde auf den Nutzen der drei Stufen der Präventivarbeit aufmerksam gemacht, die u. a. von der europäischen Beobachtungsstelle entwickelt wurden:– Primärprävention: Zum Beispiel Sozialunterstützungsmaßnahmen, die allgemeine gesellschaftliche Risikofaktoren der Obdachlosigkeit abfedern; – Sekundärprävention: Zielgruppenspezifische Maßnahmen bei besonderen Risikofaktoren (z. B. institutionelle Vergangenheit); – Tertiärprävention: Vorbeugung von wiederkehrender Obdachlosigkeit. Vgl. dazu auch Busch-Geertsema / Fitzpatrick, 2008.

JugendobdachlosigkeitAuf Ersuchen des Gastgeberlandes sollte das immer besorgniserregendere Ausmaß der Jugendobdachlosigkeit einen besonderen Peer Review-Schwerpunkt bilden. Dementsprechend intensiv wurde dieses Thema debattiert.

Wie festgestellt wurde, sind familiäre Konflikte ein zentraler Auslöser dafür, dass junge Menschen in Obdachlosigkeit geraten. Häufig übernachten sie jahrelang bei verschiedenen Bekannten „auf der Couch“, bis sie schließlich mit dem formalen Obdachlosensystem in Berührung kommen. Dies bedeutet wiederum, dass junge Wohnungslose mehr oder weniger „unsichtbar“ und für Betreuungsstellen nur schwer erreichbar sind. Im Falle Dänemarks gibt es eine landesweite Obdachlosenzählung, gestützt auf Zahlen der Sozialämter, psychiatrischen Fachstellen und lokalen Gebietskörperschaften, die mit den Betroffenen in Kontakt sind. Viel schwieriger ist es jedoch, junge Menschen im Blick zu behalten, die bei Verwandten und Bekannten unterkommen und sich selbst nicht unbedingt für „obdachlos“ halten. Ein Befund lautete, dass sich die Lage bei der dänischen Jugendobdachlosigkeit trotz zielgerichteter Präventivmaßnahmen aufgrund von strukturellen Barrieren (u. a. Wohnungsengpässen) und Sozialleistungskürzungen weiter verschlimmert.

Die Verfügbarkeit von leistbarem Wohnraum und von Wohnungsbeihilfen ist ein Eckpfeiler in der Vermeidung und Beseitigung von Jugendobdachlosigkeit. Deshalb wurden die diesbezüglichen Vorkehrungen in verschiedenen Staaten beleuchtet. Im Vereinigten Königreich wurde das Wohngeld für junge Menschen in privat vermieteten Wohnungen merklich gekürzt. In Deutschland hat die Regierungskoalition angekündigt, im Falle ihrer

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Wiederwahl das Wohngeld für Unter-25jährige zu streichen. In Finnland gelten keine Altersgrenzen für den Bezug von Wohngeld, das bis zu 80 % einer Konventionalmiete decken kann. In den größten Städten gibt es insgesamt 6.000-7.000 von eigenen Wohnungsverbänden verwaltete Wohnungen für junge Menschen bis 29 Jahren.

In Spanien mit seinem vergleichsweise kleinen Mietsektor wurde der Basissatz der Mietkostenbeihilfe von der Regierung abgeschafft, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die VermieterInnen die Miete um die Höhe der Beihilfe anpassten. Auch in Norwegen, wo der Sozialwohnungs- und private Mietsektor ebenfalls kaum entwickelt ist, wurde der Verdacht laut, dass private Mieten mit Blick auf die Höhe des Wohngelds festgesetzt werden. Einkommensschwache junge Menschen können geförderte Darlehen beanspruchen, um den Einstieg in den Eigenheimmarkt zu bewältigen.

FEANTSA unterstrich die Notwendigkeit wirksamer Begleitinterventionen beim Übergang zum Erwachsenenalter. Besonders gelte dies für junge Menschen, die aus der Jugendfürsorge austreten. Zielgerichtete Vorbeugung und Frühintervention spielen eine wichtige Rolle, lassen sich aber nur schwer so umsetzen, dass keine Stigmatisierung stattfindet und die Kostenwirksamkeit gewahrt bleibt. Auf EU-Ebene gibt es relativ wenig – und einen immer dringenderen Bedarf an – Faktenmaterial zur Wirksamkeit von Interventionen gegen Jugendobdachlosigkeit.

Bei der Diskussion um „Jugend“-Obdachlosigkeit ist auf die Begriffsbestimmung zu achten: In einigen Staaten ist die Altersklasse von 18-22, in anderen bis 29 Jahren gemeint; in manchen Fällen bezieht sich Jugendobdachlosigkeit vorrangig auf Unter-18jährige. Diese Frage ist insofern von Belang, als je nach tatsächlicher Altersgruppe unterschiedliche Ansätze zielführend sind. Die vor kurzem abgehaltene FEANTSA-Konferenz förderte beispielsweise die unbestrittene Erkenntnis zu Tage, dass Heime und ähnliche Modelle (Kombination aus Unterkunft und allgemeiner/beruflicher Bildung) eher für sehr junge Wohnungslose geeignet sind, während „Housing First“ bei Über-18jährigen zweckmäßiger erscheint.

Obdachlosigkeit unter MigrantInnen und ethnischen Minderheiten Wohnungslose MigrantInnen – darunter auch Jugendliche – aus anderen EU-Staaten oder auch aus Drittländern sind in vielen Staaten ein schwerwiegendes Problem. In London beispielsweise entfällt Berichten zufolge über die Hälfte aller Straßenobdachlosen auf MigrantInnen. Ähnlich ist die Situation in Frankreich. In Schweden gilt Migrantinnen aus Osteuropa immer mehr Sorge. Sie laufen besonders große Gefahr, in Prostitution und Straßenobdachlosigkeit zu geraten. In Dänemark entfällt ungefähr ein Fünftel aller Obdachlosen auf Zuwanderinnen und Zuwanderer der zweiten Generation. Die Verschlechterung der strukturellen Rahmenbedingungen wirkt sich auf diese Gruppe besonders stark aus. Eine allgemeine Schlussfolgerung ging dahin, dass der Problemkreis aus Obdachlosigkeit und Migration insgesamt eine intensivere politische Entwicklungs- und Nachdenkarbeit erfordert. Dies gilt auch für die EU-Ebene.

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E. Schlussfolgerungen und Erkenntnisse

Die nationale Obdachlosenstrategie Dänemarks liefert ein wichtiges bewährtes Praxisbeispiel aus Europa, was die Bekämpfung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit anbelangt. Die dänische Strategie ist für andere Mitgliedstaaten und die EU-Ebene nicht nur aufgrund des Erfolgs der eingesetzten spezifischen Interventionen von Belang, sondern auch im Hinblick auf die systematische Überwachung und Evaluierung der Ergebnisse, die die behaupteten Erfolge umso überzeugender erscheinen lassen.

Es muss beachtet werden, dass sich Obdachlosigkeit in Dänemark in hohem Maße auf Personen in komplexen Bedarfslagen konzentriert. Wie die Evaluierung von Rambøll und SFI (2013) offenbart, leiden vier Fünftel der Betroffenen an einer geistigen Erkrankung und/oder einer Suchtmittelabhängigkeit. Die zentralen, für andere Staaten relevanten Erkenntnisse und Lernpotentiale, die sich aus dem dänischen Experiment ableiten lassen, haben deshalb in erster Linie für Menschen in besonders akuten Bedarfslagen Geltung, und nicht so sehr für die allgemeine Obdachlosenbevölkerung, die in manchen Staaten mitunter viel mehr Menschen umfasst, die „nur“ mit einem Leistbarkeitsproblem konfrontiert sind (Shinn, 2007; Stephens / Fitzpatrick, 2007).

Unter Rücksichtnahme auf diesen Vorbehalt ergeben sich aus der dänischen Obdachlosenstrategie folgende zentrale Erkenntnisse für andere europäische Staaten:

• „Housing First“ in Kombination mit gleitender Unterstützung ist ein überaus wirksamer Ansatz, um Personen mit komplexem Unterstützungsbedarf zum Ausstieg aus Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu verhelfen. Es wird nachweislich eine Wohnstabilität von über 90 % erreicht. Daraus lässt sich ableiten, dass „Housing First“ für diese Gruppe das adäquateste Interventionsmuster darstellt. Unabhängige Wohnungen in verstreuten Lagen, kombiniert mit intensiver gleitender Unterstützung, sollten als vorrangiges Interventionsmodell für die Wohnungsintegration Obdachloser – darunter jener mit dem komplexesten Unterstützungsbedarf – herangezogen werden.

• Andere Unterbringungsvarianten (d. h. gesonderte Wohnanlagen) sollten nur in Fällen gewählt werden, wo es Betroffene (mehrfach) nicht schaffen, auch mit intensiver gleitender Unterstützung selbst zurechtzukommen. Bei dieser kleinen Minderheit der Obdachlosenbevölkerung ist wichtig, dass andere Optionen wie hochwertiges betreutes Wohnen verfügbar sind; mitunter sind auch radikale Alternativmodelle wie das dänische Pionierkonzept der „skæve huse“ zweckmäßig.

• Das ganzheitliche Konzept der aufsuchenden Intensivbetreuung zeigt im dänischen Kontext in den Fällen mit dem schwersten Hilfebedarf offenbar die beste Wirkung. Es sollte möglicherweise auch in anderen gut entwickelten Wohlfahrtssystemen mit soliden allgemeinen Unterstützungsdienstleistungen in Erwägung gezogen werden. Die Bedeutung einer eindeutigen Zielgruppenabgrenzung, bei der Art und Intensität des Unterstützungsangebots auf den Bedarf abgestimmt werden, war eine weitere wichtige Lehre aus der dänischen Erfahrung.

• Eine neue und sehr wichtige Erkenntnis aus dem dänischen Programm lautet, dass Modelle auf der Basis von „Housing First“ für jüngere Menschen (unter 25) und ältere Alterskohorten gleichermaßen geeignet sind.17 Gleitende Unterstützung in Form

17 Vgl. aber auch eine aktuelle Veröffentlichung aus Kanada, die andere Argumente ins Treffen führt:

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von zeitlich begrenzten Interventionen und Einzelfallhilfe bewährt sich für jüngere Wohnungslose. Für dieses KlientInnenspektrum sind indes einige methodische Feinabstimmungen notwendig, um die Wirksamkeit zu optimieren.

• Einen kulturellen Wandel (ein „Umdenken“) herbeizuführen – weg von Obdachlosenstrategien, bei denen eine Therapie und die Wohnfähigkeit als Voraussetzung gelten –, ist ein potentiell langwieriges und herausforderndes Unterfangen, das in einer ganzen Reihe von relevanten Sektoren – Wohnungspolitik, Obdachlosenhilfe, Gesundheits- und Sozialpolitik – erhebliche Anstrengungen und einen fortwährenden Fokus auf organisatorische Weiterentwicklung und Implementierung erfordert.

• Der Erfolg von „Housing First“ ist auch davon abhängig, dass dauerhafte Wohnungen in ausreichender Zahl und einem für die Zielgruppe leistbaren Preisrahmen verfügbar sind.

• Es darf niemals übersehen werden, dass „Housing First“ in einer Kombination aus Wohnraumversorgung und Unterstützung zwar überzeugende Erfolge für einen dauerhaften Ausstieg aus Obdachlosigkeit aufzuweisen hat, damit aber im Leben von Menschen mit einer langen Vergangenheit in Obdachlosigkeit und Marginalisierung nicht alle Probleme gelöst sind. In den allermeisten Fällen bedarf es umfassenderer Interventionen und Hilfsmaßnahmen, um die soziale Integration und Lebensqualität der Betroffenen zu fördern.18

• Angesichts finanzieller wie auch politischer Hürden bestehen für einige Staaten in Mittel- und Osteuropa unmittelbar keine greifbaren Möglichkeiten für die Umsetzung von „Housing First“. Es erweist sich als überaus schwierig, eine ausreichende politische Bereitschaft zur Durchsetzung von Maßnahmen zu erreichen, die lediglich einen kleinen Teil der Bevölkerung betreffen. Die Auseinandersetzung mit Erfahrungswerten aus Ländern wie Dänemark trägt aber möglicherweise dazu bei, Irrtümer aus nördlichen und westlichen Staaten Europas zu vermeiden, etwa die Investition in institutionelle Obdachlosenlösungen, die später als wenig zielführend wieder zurückgebaut werden müssen.

• Die Jugendobdachlosigkeit weist in zahlreichen europäischen Staaten einen offenbar besonders kritischen Trend auf, was daraus resultiert, dass junge Menschen die Wirtschaftskrise, den Mangel an leistbarem Wohnraum und Sozialkürzungen am stärksten zu spüren bekommen. Diese Probleme werden selbst in Staaten (z. B. Dänemark) mit einem gut ausgebauten Wohlfahrtswesen und ausgefeilten Interventionsmechanismen im Bereich der Obdachlosigkeit immer akuter. Es herrscht oft ein Defizit an fachgerechten Unterkünften und Unterstützungsangeboten für diese Gruppe. In vielen Fällen bleiben junge Obdachlose mehr oder weniger „unsichtbar“, da sie bei Bekannten und Verwandten „auf der Couch schlafen“ und mit dem Dienstleistungsangebot kaum erreichbar sind. Dies macht Schwerpunktmaßnahmen sowohl auf einzelstaatlicher als auch EU-Ebene erforderlich.

Housing First in Canada: Supporting Communities to End Homelessness. http://www.homelesshub.ca/Library/View.aspx?id=56275. Es soll auch darauf hingewiesen werden, dass im Rahmen des ESF eine erste Ausschreibung für „Housing First“-Projekte für junge Menschen (18-21 Jahre), die aus Pflege/Betreuung entlassen werden, herausgegeben wurde. 18 Diese Schlussfolgerungen decken sich mit den Ergebnissen des ersten europäischen sozialen Experiments mit „Housing First“ (vgl. Busch-Geertsema, 2013).

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F. Beitrag der Peer Review zu Europa 2020 und zum Sozialinvestitionspaket

Die Erkenntnisse aus Dänemarks Erfolgen bei der Eindämmung von Obdachlosigkeit unter Personen mit äußerst komplexem Hilfebedarf besitzen höchste Relevanz für die Strategie Europa 2020. Diese verankert die soziale Dimension in einem übergeordneten europäischen Strategierahmen und enthält das explizite soziale Eingliederungsziel, bis 2020 20 Millionen Menschen aus der Armutsgefährdung herauszuführen. Alle europäischen Struktur- und Investitionsfonds werden die Verwirklichung der Prioritäten und Zielvorgaben von Europa 2020 untermauern, allen voran der Europäische Sozialfonds, der als Schlüsselinstrument für die Bewältigung der sozialen Folgen der Wirtschaftskrise fungieren wird. Wie bereits dargelegt, nimmt das im Februar 2013 veröffentlichte Sozialinvestitionspaket, das die Mitgliedstaaten bei der Realisierung notwendiger nationaler Reformen unterstützen soll,19 ausdrücklich auf Wohnungs- und Obdachlosigkeit Bezug. Eine der insgesamt acht begleitenden Arbeitsunterlagen der Kommissionsdienststellen ist dieser Problematik gewidmet (Europäische Kommission, 2013). Besonders erwähnenswert: Das SIP unterstreicht die Bedeutung von Investitionen in frühzeitige Intervention, um die Auswirkungen und Kosten von Obdachlosigkeit vermeiden zu können.

Dies eröffnet einen besonders günstigen Kontext, um Maßnahmen zur Vermeidung und Bekämpfung von Obdachlosigkeit in Europa voranzubringen, insbesondere in den Mitgliedstaaten, die europäischen Politikschwerpunkten ein besonderes Gewicht beimessen. Diese Resultate aus Dänemark untermauern die immer eindeutigere Erkenntnis, dass in der Strategie Europa 2020 und bei einschlägigen Maßnahmen im Zusammenhang mit dem SIP die „Housing First“-Philosophie und allgemein an Wohnungsbaumaßnahmen orientierte Konzepte ausdrücklich berücksichtigt werden müssen – in Abkehr von traditionelleren Stufenkonzepten mit gesonderten Wohnanlagen und Behandlungserfordernissen.

Ein verbesserter Einsatz von EU-Mitteln im Kampf gegen Obdachlosigkeit ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Der Europäische Sozialfonds könnte für die Finanzierung eines besseren Sozialdienstleistungszugangs und der Einrichtung von „Housing First“-Modellen herangezogen werden. Der Europäische Fonds für regionale Entwicklung wiederum könnte dem Ausbau des Wohnungsbestandes in den Mitgliedstaaten zugute kommen. Diese Gelder sind ein mögliches Instrument, um „Housing First“ auf ein paneuropäisches Niveau anzuheben; das Gerüst des Europäischen Semesters könnte dabei für das Monitoring der einzelstaatlichen Politikmaßnahmen zum Tragen kommen. Die Mitgliedstaaten planen derzeit ihr operationelles Programm für den Europäischen Sozialfonds 2014-2020; dabei wäre es zielführend, mithilfe der dänischen Erfahrungswerte den Programmen eine nachdrückliche soziale Eingliederungsdimension zu verleihen. Auch andere EU-Fonds wie der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums stehen zur Verfügung, um Maßnahmen für eine bessere soziale Integration Obdachloser – u. a. eine verbesserte Versorgung mit hochwertigen Dienstleistungen und Sozialwohnungen – zu finanzieren. Noch ein europäisches Finanzinstrument bietet sich an, um nationale Obdachlosenstrategien auszudehnen: Der Europäische Hilfsfonds für die am stärksten von Armut betroffenen Personen. Einem Kommissionsvorschlag zufolge sollen im nächsten

19 http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1044&langId=de

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mehrjährigen Finanzrahmen die Mittel zur Förderung der sozialen Eingliederung bzw. zur Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung weiter erhöht werden. Es gibt auch eine Reihe von EU-Programmen mit sachlicher Relevanz, darunter den jährlichen Konvent für die Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung, der einen Workshop zur Wohnraumversorgung umfasst, und die Wissensbank der Europäischen Kommission. Letztere ist als Werkzeug für den Gedanken- und Erfahrungsaustausch geplant und wird auch Erkenntnisse aus dieser Peer Review aufnehmen.

Angesichts der zunehmend kritischen Obdachlosenproblematik (insbesondere unter jungen Menschen) lautet die oberste Priorität, gegen Beschränkungen im Zugang zu Sozial- und Dienstleistungen für junge Menschen einzutreten. Der aktuelle EU-Fokus ist hauptsächlich auf Jugendarbeitslosigkeit und nicht auf die Wohnraumversorgung gerichtet. Das SIP legt Investitionen in Kinder und integrative Bildung nahe, von Belang sind aber auch weitere Politikfelder wie Gesundheit und inklusive Entwicklung. Bei der Kommission ist unterdessen ein Dokument zur Eingliederung junger Menschen in Vorbereitung, in dem auf die Wohnungslage Bezug genommen wird. Die EU-Jugendgarantie, mit der sich die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet haben, jungen Menschen unter 25 im Falle von Arbeitslosigkeit binnen vier Monaten ein hochwertiges Angebot für einen Arbeitsplatz, eine Lehrstelle oder ein Praktikum zu vermitteln, könnte auf die Bedürfnisse marginalisierter und obdachloser Menschen ausgeweitet werden. Nicht zuletzt könnte über eine EU-Nachbetreuungsgarantie nachgedacht werden.

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Europäische Kommission

Nachhaltige Konzepte zur Vermeidung von Obdachlosigkeit

Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union2014 — 32 S. — 17,6×25 cm

ISBN 978-92-79-44551-4ISSN 1977-8023 doi: 10.2767/606083

Die elektronische Ausgabe dieser Veröffentlichung ist in Englisch, Französisch, Deutsch und Dänisch erhältlich.

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für Gespräche aus Telefonzellen oder Hotels).

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Nachhaltige Konzepte zur Vermeidung von Obdachlosigkeit

Gastgeberland: Dänemark

Peer-Länder: Bulgarien ‑ Finnland ‑ Frankreich ‑ Irland ‑ Kroatien ‑ Norwegen ‑ Österreich ‑ Rumänien ‑ Schweden ‑ Spanien ‑ Vereinigtes Königreich

Interessenvertretungen: Eurocities und FEANTSA

Wohnungs- und Obdachlosigkeit haben in Europa ein bislang unerreichtes Ausmaß angenommen, allen voran unter jungen Menschen. Am 22. November 2013 fand in Kopenhagen eine Peer Review statt, die sich mit Dänemarks ganzheitlicher „Housing First“-Strategie gegen Obdachlosigkeit beschäftigte.

Das Sozialinvestitionspaket der EU enthält die Aufforderung an die Mitgliedstaaten, Obdachlosigkeit mittels umfassender Strategien zu bekämpfen, „basierend auf Präventions- und Wohnungsbaumaßnahmen sowie der Überprüfung von Räumungsvorschriften und -praktiken“. Dänemarks Nationale Strategie gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit (2009-2013) ist ein anschauliches Beispiel für eine kostenwirksame Umsetzung der „Housing First“-Philosophie, bei der der betreute Zugang zu einer dauerhaften Unterkunft – noch vor anderen Interventionen – im Mittelpunkt steht.

KE-BF-14-007-DE-N