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Natur, Absurdität und Revolte. Die Stufen des Bewußtseins und die Dialektik von Individuum und Gesellschaft bei Albert CamusREBECCA PAIMANN Institut für Philosophie Ruhr-Universität Bochum Email: [email protected] Abstract Im Denken von Albert Camus spielen moralische und ethische Überlegungen eine entscheidende Rolle, da von einer gelingenden Humanität der Wert und der Sinn des gesamten Lebens abhängen. Die Handlungsethik Camusumgreift den indivi- duellen ebenso wie den gesellschaftlichen Bereich, indem sie auf allen Stufen des Menschseins ihre Bedeutung entfaltet vom Zustand der Natürlichkeit über den der Absurdität bis hin zur Revolte. Unter Zuhilfenahme des Modells dreier Bewußt- seinsstufen sollen der Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft bei Camus einerseits sowie seine teleologische Maßethik andererseits analysiert werden. In Camusthought moral and ethical reflections are of great importance as they are the necessary conditions for giving the life worth and sense by the means of a suc- cessful humanity. Camusethics of acting include the individual as well as the whole society, because no stage of human life could work without them; the corresponding rules are valid for the state of naturalness, the state of absurdity, and also the state of revolt. By using the model of three levels of consciousness the correlation between individual and society will be analyzed to understand Camusethics of measure. Keywords: Camus, Moral, Handlungsethik, Humanität, Maßethik, Gesellschaft, In- dividuum Vorüberlegungen CamusDenken kreist beständig um eine ganze Reihe von Grundbegriffen und Phänomenen von fundamentaler Bedeutung oder existentieller Rele- vanz; zu ihnen zählen Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit sowie insbesonde- re das Begriffspaar von Leben und Tod. Trotz ihrer Zentralstellung, ihrer ständigen Wiederkehr in allen Phasen des Camusschen Schaffens und trotz ihres unbestreitbaren Einflusses auf jede Erkenntnisleistung und auch als Grundbedingungen eines vielleicht gelingenden Handelns kann nicht SATS, vol. 11, pp. 16 32 © Walter de Gruyter 2010 DOI 10.1515/sats.2010.004 Brought to you by | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Authenticated | 130.60.206.43 Download Date | 7/31/13 2:59 PM

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„Natur, Absurdität und Revolte.Die Stufen des Bewußtseins und die Dialektik

von Individuum und Gesellschaft bei Albert Camus“

REBECCA PAIMANN

Institut für PhilosophieRuhr-Universität Bochum

Email: [email protected]

Abstract

Im Denken von Albert Camus spielen moralische und ethische Überlegungen eineentscheidende Rolle, da von einer gelingenden Humanität der Wert und der Sinndes gesamten Lebens abhängen. Die Handlungsethik Camus’ umgreift den indivi-duellen ebenso wie den gesellschaftlichen Bereich, indem sie auf allen Stufen desMenschseins ihre Bedeutung entfaltet – vom Zustand der Natürlichkeit über dender Absurdität bis hin zur Revolte. Unter Zuhilfenahme des Modells dreier Bewußt-seinsstufen sollen der Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft bei Camuseinerseits sowie seine teleologische Maßethik andererseits analysiert werden.

In Camus’ thought moral and ethical reflections are of great importance as they arethe necessary conditions for giving the life worth and sense by the means of a suc-cessful humanity. Camus’ ethics of acting include the individual as well as the wholesociety, because no stage of human life could work without them; the correspondingrules are valid for the state of naturalness, the state of absurdity, and also the state ofrevolt. By using the model of three levels of consciousness the correlation betweenindividual and society will be analyzed to understand Camus’ ethics of measure.

Keywords: Camus, Moral, Handlungsethik, Humanität, Maßethik, Gesellschaft, In-dividuum

Vorüberlegungen

Camus’ Denken kreist beständig um eine ganze Reihe von Grundbegriffenund Phänomenen von fundamentaler Bedeutung oder existentieller Rele-vanz; zu ihnen zählen Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit sowie insbesonde-re das Begriffspaar von Leben und Tod. Trotz ihrer Zentralstellung, ihrerständigen Wiederkehr in allen Phasen des Camusschen Schaffens undtrotz ihres unbestreitbaren Einflusses auf jede Erkenntnisleistung und auchals Grundbedingungen eines vielleicht gelingenden Handelns kann nicht

SATS, vol. 11, pp. 16–32©Walter de Gruyter 2010 DOI 10.1515/sats.2010.004Brought to you by | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich

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davon gesprochen werden, Camus habe ein System dieser Begriffe aufge-stellt. Von einem erkenntnistheoretischen Standpunkt aus, der ein Prinzi-piensystem in Gestalt einer einheitlichen terminologischen Ganzheit for-dern müßte, besaß Camus also weder eine vollständige Wahrheitstheorienoch eine Ethik oder eine Staatslehre, wenn darunter philosophische Ex-plikationen von Subjektivität, Intersubjektivität und Objektivität, aberauch kulturell-geschichtliche Traditionen sowie eine umfassende Aufstel-lung von möglichen und notwendigen Handlungsmaximen eingeschlossensein sollen.1 Erschwerend kommt noch hinzu, daß er zwar Methodenan-sprüche für sein Vorgehen geltend macht, indem die anzustellenden Refle-xionen als vorurteilsfreie Untersuchungen ohne Endabsicht der Beweisfüh-rung begriffen werden, daß er allerdings weiter generell davon ausgeht,eine solch deskriptive, geradezu phänomenologische Methode könne nichtüber den Zustand der Analyse und einiger Schlußfolgerungen bestenfallsvon der Art intuitiv-unmittelbarer Evidenz hinausgelangen. Camus bestrei-tet damit nicht die Faktizität der Ausbildung und Ausübung, wohl aberdie Richtigkeit einer Methode der Erkenntnis, da ihm jede wirkliche Er-kenntnis unmöglich erscheint: „Wir können immer nur Erscheinungsfor-men aufzählen und das Klima spürbar machen.“2

1 Sogar Camus’ Zugehörigkeit zur Philosophie – die durch sein breites literarischesSchaffen schon nach außen hin sichtbar aufgebrochen wird – scheint durch seine eige-nen Aussagen, wie etwa seinen Brief an die Zeitung Libertaire vom Mai 1952 („Ich binkein Philosoph; ich glaube nicht genug an die Vernunft, um an ein System zu glauben;und ich kann nur von dem sprechen, was ich gelebt habe.“), zweifelhaft zu werden.Allerdings sollte hier der Unterschied zwischen der Ablehnung einer allumfassendenSystemphilosophie und dem Anspruch, auf methodische und genuin philosophischeWeise zur Klärung der Grundfragen der Welt und des menschlichen Lebens beizutra-gen, nicht vernachlässigt und übersehen werden, denn insbesondere in letzterer Hin-sicht vermag Camus durchaus seinen Platz in der Philosophie des 20. Jahrhunderts zubeanspruchen (ob er ihm auch zuzubilligen ist, wird von durch zeitlichen Abstand zugewinnende Objektivität, von persönlichen Entscheidungen und wohl auch von einernur schwer vorherzusehenden Meinungsbildung abhängen). Darüber hinaus weist auchdas Werk Camus’ eine innere Stringenz und Geschlossenheit auf, die es gestatten, da-von zu sprechen, wenigstens Teilfragen und Partialaspekte dessen, was zu einem philo-sophischen Wissen gehört, seien hier geklärt und in eine Ordnung gebracht, die zumin-dest eine Entscheidung über ihre Wahrheit oder Falschheit über einen bestimmten,historisch zufälligen Moment hinaus zulassen. Da die Analysen und Reflexionen Ca-mus’ einer internen Logik sowie dem Wahrheitsanspruch des folgerichtigen Denkensgenügen, sind sie auch nach logischen Kriterien zu befragen und zu prüfen, so daß eineEntscheidung über ihre Geltung möglich wird. Einsichten, die einer überzeitlichenWahrheit und formallogischen Beweisbarkeit zuzurechnen sind, können aber philoso-phisch nicht irrelevant sein, wenn zu konzedieren ist, daß es der Philosophie immer umwahre Erkenntnis und (auch) die Erkenntnis der Wahrheit zu tun ist.

2 A. Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Hamburg 1997,S. 19.

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Wenn Camus auch keine endgültige Einsicht in das Wesen der vonihm verwendeten Schlüsselbegriffe verspricht, wenn er auf eine systemati-sche Deduktion derselben verzichtet, so bedeutet dies doch keineswegs,daß sich in seinem Werk keine ethischen oder moralischen Explikationenfänden3, die obendrein einer gewissen Ordnung folgen. Diese Ordnungresultiert zum einen aus der Reihung seines zyklisch angelegten bzw. pro-jektierten Werks, das auf verschiedenen Textblöcken – bestehend aus un-terschiedlichen literarischen Gattungen – basiert. Sie beruht zum anderenauf einer aufsteigenden, auf Logik4 rekurrierenden Stufenfolge, die sich anden Verbindungen zwischen den einzelnen Schriften mit ihren phänomeno-logischen Resultaten ebenso ablesen läßt wie an bestimmten Motiv- undThemenvorkommen. Entsprechend dieser Ordnung können Aussagen Ca-mus’ zum Einzelnen sowie zum Verhältnis zwischen Individuum und Ge-sellschaft in all seinen Werkabschnitten ausgemacht werden. Denn sowohldie Ausführungen zum natürlichen Menschen, wie sie sich vor allem inCamus’ literarischen Essays5 (Hochzeit des Lichts (1936), Licht und Schat-ten (1937) und Heimkehr nach Tipasa (1954)) finden, als auch zum ab-surden Menschen, wie sie in den drei hierfür relevanten Haupttexten(dem Fremden (1942), dem Mythos von Sisyphos (1942) und Caligula(1944)) vorliegen, und schließlich zum revoltierenden Menschen, die inder Trilogie der Revolte (mit der Pest (1947), dem Menschen in der Re-volte (1951) und den Gerechten (1950)) vereint sind, thematisieren denEinzelnen, seine tatsächlichen und von ihm zu erwartenden Handlungen,deren moralische Wichtigkeit und ihre gesellschaftlichen Implikationen.

Daher müssen diese drei Stufen des Menschseins in ihrer Aufstiegsbe-wegung betrachtet werden, da sie – nach Camus’ Ansicht – in eine Hand-lungsbasis, eine Moralitätsweise und eine Ethik münden, die dem Einzel-nen ebenso gerecht werden wie der Gesellschaft und ihrem positivenFunktionieren, und zwar in eine Ethik des Maßes. Sie muß von einemeigenen Modus des Denkens begleitet sein, dem sogenannten mittelmeeri-schen Denken, der ‚pensée midi‘6, die zu einer die Geschichte einbeziehen-den, aber nie absolut setzenden Gerechtigkeit führen wird, die wegen ihrer

3 Einen allgemeinen Überblick über die Bedeutung ethischer Überlegungen im WerkCamus’ bieten B. East: Albert Camus ou l’homme à la recherche d’une morale. Paris1984; W. Neuwöhner: Ethik im Widerspruch. Zur Entfaltung der Sittlichkeit unterdem Vorzeichen des Unglaubens, dargetan an den Essays ‚Le Mythe de Sisyphe‘ und‚L’homme révolté‘ von Albert Camus. Frankfurt am Main/Bern/New York 1985.

4 Zum Begriff der Logik bei Camus – mit seinen nicht zuletzt auf Kant zurückweisen-den Implikationen – vgl. A. Pieper: „Absurde Logik. Albert Camus’ Grundlegungeiner Philosophie des Lebens“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 28 (1974),S. 424–433.

5 Vgl. A. Camus: Literarische Essays. Hamburg 1959.6 Vgl. M.-L. Wieacker-Wolff: Albert Camus. München 2003, S. 171.

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Entstehung aus dem Relativen für Camus Gegensätze überwindet und dar-in das Leben verwirklicht und als gelungenes ermöglicht. (Der Maßgedan-ke hätte im Mittelpunkt der dritten von Camus geplanten Trilogie nachder des Absurden und der Revolte stehen sollen, die er jedoch nicht mehrvollenden konnte, von der nur Der erste Mensch (1994) als posthum her-ausgegebenes Manuskript existiert. Die abschließenden Abschnitte desMenschen in der Revolte geben dennoch ausreichende Anhaltspunkte, umAussagen über Camus’ moralische Grundnorm machen zu können.) Nichtalle genannten Stufen – von der Natur über das Absurde bis hin zur Re-volte mit ihrem Auslaufen in eine eigene Ethik – werden von jedem Men-schen und mit Notwendigkeit durchschritten; Camus baut sonach nichtgewissermaßen heimlich an einem nach starren Erkenntnisregeln und un-verrückbaren Abfolgen sich entwickelnden System, und er arbeitet auchkeine versteckte teleologische Geschichtstheorie aus, obwohl er historischeGrund-Folge-Beziehungen keineswegs verneint. Trotzdem markieren dieseStufen bestimmte, sich der analysierenden Beschreibung erschließende Ty-pen menschlicher Einstellungen, Verhaltensweisen und Denkmodi. In ih-nen liegen in Reinheit genommene Reaktionen und resultative Abläufehinsichtlich dessen vor, was Camus als die Grundzumutung und dasHauptproblem allen bewußten Lebens begreift, d.h. des Todes.

Um den Camusschen Analysegang im einzelnen zu verstehen, sollendaher diese drei Weisen des Menschseins, diese drei Lebenseinstellungenund Bewußtseinsebenen je für sich und in ihrem Aufeinanderfolgen be-trachtet werden. Bei einem solchen Vorgehen findet die Methode Camus’,das voraussetzungslose Phänomenologisieren, Anwendung, die in sicheinen Zugang zur Wahrheit trägt, die sich – Camus zufolge – mit derKraft der Evidenz zeigt, wenn sie gewissen Entstehungs- und Vermitt-lungsansprüchen, wie der Gerechtigkeit, dem Dialog und der Relativität,Genüge tut.

Der natürliche Mensch

Der natürliche Mensch, dem noch nicht das Gefühl des Absurden eignetund der sich darum auch noch nicht im Zustand der Empörung befindenkann, ist durch eine ganze Reihe von Bestimmungen zu charakterisieren,die fast alle seinem ursprünglichen Weltverhältnis, nicht aber der Selbst-reflexion entstammen, obwohl sie ihm freilich nur aus einer reflexiven Ein-stellung heraus, die dennoch anfänglich sein soll, zugeschrieben werdenkönnen: Es ist der Mensch, der – wie sein Name zu verstehen gibt – inder Natur lebt, mit ihr lebt, aus der er sein Glück gewinnt, um sich nachseinem Tod wieder mit ihr zu vereinen; er wird zur Natur zurückkehren,wird sich mit ihrer Materie wieder zusammenschließen. Er wird, um esmit einem von Camus bevorzugten Bild auszudrücken, erneut Stein wer-

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den7, ohne Unsterblichkeit, Seele und die Hoffnung auf Auferstehung,d.h., er findet sich vor als Element eines lebendigen Organismus, in demer ausschließlich gegenwärtig und augenblickshaft existieren kann. Der na-türliche Mensch ist darum der geschichtslose Mensch ohne Vergangenheitund Zukunft8, der Mensch ohne Mythen, denn er lebt in dem jeweils ein-zigen Moment zwischen Licht und Tod, die seine alleinigen Grenzen mar-kieren. Solcherart ist er in seinem nicht schaffenden, handelnden, sondernhinnehmenden Hier und Heute der Mensch, in dessen Leben kein Platzist „für eine Mythologie, eine Literatur, eine Ethik oder eine Religion, son-dern nur für Steine, Leiber und Sterne und für Wahrheiten, die sich mitHänden greifen lassen“.9 Dieser Mensch ist der in seine Landschaft einge-bundene10, der Schönheit der Welt hingegebene und ohne Hoffnung aufeine Zukunft zur Gegenwart Ja sagende Einzelne, der seine Individualitätin seinen – letztlich archaischen – Gefühlen, seinem endlichen Maß undseiner Körperlichkeit findet. Besonders seine konkrete und doch vergäng-liche Körperlichkeit gewährt ihm Freude, denn sie ist real, ist das Leben,und sie gibt ihm seinen Ort in der ihn umgebenden, ihn prägenden Natur,in der er seine Sterblichkeit zu akzeptieren lernt, ohne deswegen seine Lie-be zum Leben jemals aufzugeben.11 In seiner reinen Natürlichkeit, derenWahrheit ganz an den Körper gebunden ist, mit dem sie steht und fällt,erweist sich dieser Mensch als derjenige, der ohne Tugend (wenn auchnicht ohne gewisse Grundsätze12) zwischen Leben und Tod steht, zwi-schen Mittag und Mitternacht, so daß er sein eigenes Maß bereits vor allerRevolte immer schon verwirklicht hat. Für ihn haben seine eigenen Gren-zen nur eine natürliche Funktion, um seine zeitweise, körperlich manife-

7 Vgl. zu diesem Motiv auch A. Camus: Der glückliche Tod. Reinbek bei Hamburg1972, S. 136: „Und Stein zwischen Steinen, ging er in der Freude seines Herzenswieder in die Wahrheit der unbeweglichen Welten ein.“

8 Schon hier kommt also, wenn auch noch nicht ausgearbeitet und begründet, Camus’Bedenklichkeit gegenüber einer als allgültig und wertvoll eingeschätzten Geschichtezum Ausdruck oder Anklang: Weder kann die Geschichte den Sinn des Lebens ge-ben, noch ist sie als Zielpunkt der Verantwortlichkeit des Menschen richtig bewertet.

9 A. Camus: „Sommer in Algier“ (aus: Hochzeit des Lichts). In: Literarische Essays,S. 103–104. – Siehe hierzu auch Der erste Mensch. Reinbek bei Hamburg 1995,S. 218: „Söhne und Enkel waren […] auf diesem Boden dagewesen, […] ohne Ver-gangenheit, ohne Moral, ohne Vorschrift, ohne Religion, aber glücklich, da zu seinund im Licht zu sein, voller Angst vor der Nacht und dem Tod.“

10 In diesem Zusammenhang werden Parallelen zu Heideggers Betonung der den Men-schen prägenden Faktoren von landschaftlicher Herkunft und Heimat offenkundig,wie sie sich etwa im Feldweg finden.

11 Vgl. A. Pieper: „Die Pflicht, zu lieben. Camus’ moralische Grundnorm“. In: H. R.Schlette und M. Herzog (Hrsg.): ‚Mein Reich ist von dieser Welt‘. Das MenschenbildAlbert Camus’. Reihe: Irseer Dialoge, Band 4. Stuttgart/Berlin/Köln 2000, S. 31.

12 Vgl. A. Camus: „Sommer in Algier“, S. 100.

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stierte Besonderung als Individuum einzuschließen; doch sie provozierennoch keine ihn zur Empörung, ja sogar nur bedingt zur Frage nach demZweck treibende Kraft, insofern er im passiven Akzeptieren aufgeht undvor dem bewußten Denken stehenbleibt.

Der absurde Mensch

Auf dieser vorreflexiven, unbedachten Stufe verharrt der Mensch indes fastnie vollständig, denn er spürt zwischen seinen natürlichen Grenzen eineZerrissenheit, die erklärt werden will. Mit dem Denken, mit dem bewuß-ten Eingeständnis seiner Grenzen beginnt der Mensch, nach dem Sinn zusuchen und die Dauerhaftigkeit seines Daseins wider alle Offenkundigkeitihres Gegenteils zu verlangen. Mit dem Menschen, der aus dem Jetzt her-austritt und das ungewollte, notwendige Ende des glücklichen Augenblickserkennt, der wissen will, ob es sich im Angesicht des Todes zu leben lohntund wie ein solches Leben ohne Hoffnung vielleicht doch erfüllt seinkönnte, tritt der absurde13 Mensch auf bzw. tritt der Mensch in das Ge-fühl des Absurden14 ein. Es wird der Mensch sein, der allein für sich, inseiner Einsamkeit gegenüber einer gleichgültigen Natur eine Entscheidungzwischen dem Ja des Lebens und dem Nein des Todes herbeiführen will15,der ganz im Mittag oder ganz in der Mitternacht aufgehen möchte, sichalso nicht mit dem Zwischen begnügt, und der deshalb, weil er Bewußt-sein entwickelt, die Ausgangssituation für die Erkenntnis der Wahrheitschafft. Hier wird das absurde Grundgefühl als Spannung zwischen mehre-ren Realitätspolen erlebt: Der Mensch lebt, dies ist ein natürliches Fak-tum; im Leben ist der Tod die eine große Realität; zwischen Leben undTod stellt sich die Frage nach dem Sinn der notwendig endenden Existenz– eine Frage, auf die der Einzelne für sich, nur in sich die Antwort suchenkann, da die Natur hierzu nur gleichgültig schweigt in ihrer übergeschicht-

13 Zum Begriff des Absurden und seiner Herkunft im allgemeinen vgl. D. Galloway:„Absurde Kunst, absurder Mensch, absurde Helden“. In: Propyläen Geschichte der Li-teratur und Gesellschaft der westlichen Welt. Band 6: Die moderne Welt – 1914 bisheute. Berlin 1981–1984, S. 468.

14 Zum Begriff des Absurden speziell bei Camus vgl. etwa H. Wernicke: „Camus’ Ent-wurf vom brüderlichen Menschen“. In: H. R. Schlette und M. Herzog (Hrsg.): ‚MeinReich ist von dieser Welt‘. Das Menschenbild Albert Camus’. Reihe: Irseer Dialoge,Band 4. Stuttgart/Berlin/Köln 2000, S. 112–113; I. Fuchs: „Albert Camus oder dasAbenteuer, ein Mensch zu sein“. In: G. Danzer (Hrsg.): Dichtung ist ein Akt derRevolte. Literaturpsychologische Essays über Heine, Ibsen, Shaw, Brecht und Camus.Würzburg 1996, S. 238–239.

15 Vgl. A. Camus: „Kleiner Führer durch Städte ohne Vergangenheit“ (aus: Heimkehrnach Tipasa). In: Literarische Essays, S. 164.

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lichen Zeit. Schon in diesem Stadium kommt also dem Individuum undseinen Möglichkeiten der Primat gegenüber der Gesellschaft zu; der Ein-zelne ist ursprünglicher, ihm kommt die Verantwortung – zunächst fürdas Absurde, später für das Gelingen der gerechten Revolte – zu.

Wenn die natürlichen Lebensbedingungen der geistigen Suche nichtmehr genügen, weil im weitesten Verständnis religiöse und moralische Fra-gen im denkenden Bewußtsein hervorbrechen, wenn die körperliche Hin-gabe an die Natur nicht mehr ausreicht, um dem Menschen Glück zubringen, wenn die drängenden Fragen nach dem Warum des eigenen Ich,des Seins des Individuums, und der ganzen Menschheit mit ihren vorwie-gend von Staat und Religion erhobenen Gesetzes- und Moralansprüchengestellt werden, dann wandelt sich der Mensch zum absurden Menschen,der im Übergang vom bloßen Sein zum verstehenden Denken das Grund-problem allen Lebens und aller Philosophie aufwirft: das des Selbst-mords.16 Die Frage nach dem Sinn des Lebens, danach, ob es sich ange-sichts von Endlichkeit und Tod überhaupt lohnt, dieses Leben zu führen,stellt sich für den Einzelnen; es ist eine individuelle Frage, die nach einerindividuellen Antwort und unter Umständen nach einer entsprechendenTat verlangt. Demgemäß spielt die Gesellschaft hier keine Rolle, da sie mitden jeweils erforderlichen Denkleistungen nichts zu tun hat.17 Jeder mußfür sich antworten, allein – Absurditätsempfinden und Einsamkeit gehenmiteinander einher, denn der Zwiespalt zwischen dem hoffenden Men-schen und seinem als sinnlos erfahrenen Leben mit seiner unüberschauba-ren Menge an nutzlosen Verrichtungen, der Zwiespalt zwischen dem aufseinen Sinn hin befragten Leben und der Notwendigkeit des Todes, dieauch die stets schweigende Natur nicht weiter erklärt, geht immer denEinzelnen an. Er muß aufgrund seines Gefühls von Nutz- und Sinnlosig-keit eine Entscheidung darüber treffen, ob die Hoffnung auf ein anderesLeben, das erst nach dem eigenen Tod kommen kann, oder aber derSelbstmord adäquate und insbesondere vernünftige Reaktionen sind. Dasindividuelle Denken muß mit seinen eigenen Mitteln – angemessener, un-voreingenommener, vorurteilsloser Beschreibung und Logik – seine exi-stentiellen Fragen beantworten; es muß seine Logik bis zum Tod weiter-verfolgen, um zu wissen, ob es, warum es und wie es leben soll angesichtsder Endlichkeit, die sich spiegelt in den Grenzen der Vernunft.18

Der absurde Mensch ist daher primär der einzelne, der vereinzelteMensch, der in seiner unverschuldeten Auseinandersetzung mit der Uner-bittlichkeit der Zeit, der unmöglichen Zukunft, dem Tod, der Feindselig-

16 Vgl. A. Camus: Der Mythos von Sisyphos, S. 10. – Vgl. zu diesem Text Camus’ allge-mein M.-L. Wieacker-Wolff: Albert Camus, S. 97.

17 Vgl. A. Camus: Der Mythos von Sisyphos, S. 11.18 Vgl. A. Camus: Der Mythos von Sisyphos, S. 16.

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keit und Gleichgültigkeit der Welt sowie der Unmenschlichkeit des Men-schen ein aus dem Widerspruch hervorgehendes Bewußtsein seiner selbstwie auch der Welt erlangt. Das Heimweh nach Einheit, das Verlangennach dem Absoluten, der Wunsch nach einer Wahrheit, die über die Bild-lichkeit hinaus zur Wirklichkeit gelangt, prallen im Denken auf die Un-vernünftigkeit der Welt, die infolgedessen als sinnlos empfunden wird.Das Individuum bleibt zwischen seinem Wunsch nach Einheit und seineneigenen Grenzen befangen, die sich vor allem als Grenzen seiner Dauer,seines Verstehenkönnens und seiner Handlungsmächtigkeit erweisen, folg-lich zugleich als die Grenzen der verschiedenen Stadien des Menschseinsinsgesamt, von der natürlichen bis hin zur revoltierenden Einstellung odervon Leben über Denken zum Handeln.19 In der Erfahrung von Begrenzt-heit, Widerspruch, Vernunftlosigkeit und geschlußfolgerter Sinnlosigkeitdes eigenen Lebens verfällt der Mensch jedoch nicht nur dem Negativen,dem Nihilismus, sondern er gewinnt darüber hinaus ein erstes Positivum,eine uranfängliche Wahrheit: den Begriff des Absurden. Das Absurde istdas, was der menschliche Geist an der Welt ablehnt. Diese Ablehnung,dieses Nichthinnehmenwollen der Unvernünftigkeit und Ungerechtigkeit,bietet dem Menschen einen Standpunkt, mit dessen Hilfe er sein eigenesendliches Universum ordnen kann; es gibt daher für jeden Einzelnen eineEvidenz, auch wenn sich keiner mit dem, was sie bedeutet, einverstandenerklären kann.20 Auf diese Weise steht der absurde Mensch immer in ei-nem Zwischen21 – er wünscht die Einheit und erhält keine Antwort, erhat eine Wahrheit und ist doch Nihilist, er sagt Nein zur Beschaffenheitder Welt und Ja zu seinem immer nur gegenwärtigen Leben in ihr ohneHoffnung, ohne Gott und unter Anerkennung der unüberwindlichenGrenzen seiner eigenen Vernunft. An der Kluft zwischen Welt und Geistentwickelt der absurde Mensch sein Bewußtsein – ein Bewußtsein, das sichin seinem Handeln gegen das Absurde auflehnt, um es gerade darin alswahr anzuerkennen. Aus der Auflehnung des Bewußtseins gewinnt derGeist seine Freiheit, denn er kann im Nein sein Leben in seiner Wirklich-keit erkennen, kann es zu seinem Leben machen, in dem er trotz der Rea-lität des Todes und trotz der fehlenden Aussicht auf ein Morgen han-delt.22

Der Mensch handelt – er handelt nach außen mit der Absicht, dieWirklichkeit zu verändern, etwas Besseres an die Stelle der unnatürlichen

19 Vgl. A. Camus: Der Mythos von Sisyphos, S. 21–35.20 Vgl. A. Camus: Der Mythos von Sisyphos, S. 38–42.21 Hier ergeben sich Vergleichsbeziehungen sowohl zu Platon (der besonders im Phai-

dros den Menschen als Wesen zwischen Natur und Göttlichem begreift) als auch zuNietzsche (der im Menschen die Brücke zwischen Tier und Übermensch sieht).

22 Vgl. A. Camus: Der Mythos von Sisyphos, S. 57–70.

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Geschichte (eines erfundenen Gottesbezugs) zu setzen, wenn er sich aufdie Ebene des revoltierenden Menschen erhebt; aber er handelt auch alsabsurder Mensch, obwohl sein Tun auf dieser Stufe noch auf sein eigenesSelbst, sein Inneres in seiner Spiegelung am Äußeren, auf sein Bewußtseinals das Wissen um das Absurde eingeschränkt bleibt und sich nicht amTreiben einer vom Anderen auf ihn zurückstrahlenden und dadurch erstin seinen Besitz übergehenden Welt orientiert. Das Handeln des absurdenMenschen ist eines, das erst auf sein Erkennen folgt, das sogar mit diesemErkennen eins ist, insofern das verstehende Tun die absurde Situationgleichzeitig begreift, reflektiert und im Erfassen der Absurdität allererst alsunannehmbare Realität schafft. So wird das Bewußtsein des Menschenzum Ort des Absurden in seiner – ebenfalls erst geschaffenen, nämlich zuerkennenden – Differenz zur Natur. D.h., das Absurde ist nur im Bewußt-sein23, ist nur da, wo es in der Weise denkend gesetzt wird, daß es eines-teils als Grund, anderenteils auch als Wirkung dieses konstituierend-reflek-tierenden, aus Aktivität und Passivität gemischten (und damit schon eineMitte, ein Maß andeutenden) Lebens einzusehen ist. Das Absurde ist imBewußtsein als das, was dieses Bewußtsein ganz erfüllt, um es doch zu-gleich gegen die aus ihm resultierende Leere und Sinnlosigkeit aufbegehrenzu lassen. Deshalb ist das Absurde derjenige primäre Inhalt des Bewußt-seins, den dieses nicht als sein Wesen, seine Bedingung oder als das Wahreund Gute akzeptieren kann und darf, wenn es nicht an etwas Fremdemseinen Untergang in Form des Stillstands und der Verzweiflung findenwill oder soll. Dem Menschen, der wissen will, der einen Sinn und mitdiesem Sinn das Glück seines Lebens sucht, zeigt sich das Absurde nichtals etwas von ihm Verschiedenes, eine leicht zu überwindende Äußerlich-keit, sondern als der Inhalt seiner ureigensten Form, die dadurch ausge-zeichnet ist, daß sie die verschiedenen Stufen seines Menschseins – Hin-nahme, Reflexion (mit der Ablehnung des Nein), Tat und Überwindung(in der Gerechtigkeit des Ja) – in Gestalt des Wissens von der Welt, vonsich selbst und von seinen Möglichkeiten in der Unmöglichkeit in sichträgt bzw. in den verschiedenen Bewußtseinstätigkeiten vom Phänomeno-logisieren über das Reflektieren bis hin zum grenzziehenden und sich da-mit selbst bestimmenden, aber auch selbstbestimmten, ausgleichenden undeine mögliche, erträgliche Lebenssituation schaffenden Handlungswissen,das dem Tod das (eigene) Leben als Anklage und Sieg entgegensetzt. Be-reits diese Aufteilung in Inhalt und Form in ihrem mehrstufigen Rela-tionsgeflecht ist ein Resultat der Reflexionsarbeit des sich erklären wollen-den, denkenden Bewußtseins. Ebenso wie dieses Bewußtsein Inhalt und

23 Zur Relation zwischen Bewußtsein und Absurdem vgl. A. Pieper: „Albert Camus.Die Frage nach dem Sinn in einer absurden Zeit“. In: M. Fleischer (Hrsg.): Philoso-phen des 20. Jahrhunderts. Eine Einführung. Darmstadt ³1992, S. 145–147.

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Form an ihm selbst und als zentrale Reflexionsbestimmungen nicht zutrennen vermag, kann es auch sich nicht vom Absurden abziehen: Das Ab-surde ist als Inhalt im Bewußtsein, das Bewußtsein ist die sich selbst undes erkennende Form des Absurden. So stehen und bestehen beide inWechselwirkung und sind nur durch das jeweils andere. Das andere ist imeigenen Ich und muß nach einer ganzen Reihe von revoltierenden Schrit-ten erst den Blick auf das andere Ich, das fremde Bewußtsein, den Mit-menschen, freigeben; denn die Andersheit im eigenen Bewußtsein und alsdieses wird sich zum Sein des das Bewußtsein erst garantierenden Anderentransformieren, durch den das Wechselwirkungsbewußtsein sein Sein be-gründen und auf die Stufe des (zeitweiligen) gerechten Miteinanders em-porheben wird, um sich darin als das zu erweisen, was stärker ist als einsinnloses Dasein. Dank der Reflexion auf die Wechselwirkung zwischenBewußtsein und Absurdem in ihrer sich immerzu selbst aufhebendenForm-Inhalts-Beziehung, innerhalb derer die Pole keineswegs feststehend,sondern vielmehr übergängig sind, kann das absurde Bewußtsein als An-fang des gelingenden Lebens bezeichnet werden. Das Erkennen ist bis zueinem Punkt emporgehoben, an dem Beschränkung und Negation mehrals nur entsprechende und aus ihnen abzuleitende negative Folgen haben– das Selbstverstehen des Menschen, sein Durchschauen des Absurdenkönnen dieses zwar nicht überwinden, können sein Leben an sich nochnicht sinnvoll machen, aber sie können eine Richtung weisen hin zumGlück und zum richtigen Handeln, einem Handeln, das von innen nachaußen treten wird.

Obwohl der Mensch angesichts des Absurden zum Handeln getriebenwird, gelingt es ihm doch nicht, aus der Absurdität des Lebens einen dau-erhaften Wert zu schöpfen; denn da alles der Vergänglichkeit angehört,hat nichts Bedeutung über seine Zeit hinaus – ein Wert scheint so gut zusein wie der andere.24 „An den tiefen Sinn der Dinge nicht glauben – dasist die Eigentümlichkeit des absurden Menschen.“25 Diesen Zustand ver-sucht Camus in Caligula und Der Fremde einzufangen in Bildern, die im-mer wieder eines zeigen: In Anbetracht des Absurden kann die Freiheitdes einzelnen Menschen nur in seinem persönlichen Nein verwirklichtwerden. Allerdings stellt sich schon hier die Frage, ob nicht dieser nihilisti-schen Freiheit ein positiver Wert zur Seite gestellt werden muß, damit dasLeben als Ort des Absurden erhalten werden kann. So stößt die kaiserlicheFreiheit Caligulas an ihre Grenze am Anderen, dessen Existenz entschei-dend sein wird bei dem, was auf die Erkenntnis des Absurden folgt: beider Revolte, die dem geistigen Nein ein Nein der Tat beifügen wird, und

24 An dieser Stelle fällt die analoge Wertsetzungsstruktur des Menschen bei Camus undNietzsche (vgl. bei diesem besonders seine Genealogie der Moral) auf.

25 A. Camus: Der Mythos von Sisyphos, S. 77.

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zwar ein Nein, das im gelingenden Fall der Revolte nie sein kann ohne einkorrespondierendes Ja. Damit die Freiheit wie in der Pest einen Wert ge-winnen kann jenseits von Willkür und erneuter vernunftloser Belanglosig-keit, muß der Mensch bereits zu etwas gefunden haben, was als erstes Auf-treten des Maßgedankens bei Camus zu werten ist; denn er muß seinWissen um die Absurdität seines Daseins umzuwandeln verstehen in seinnur ihm gehörendes Glück, d.h., er muß seine Freude daraus schöpfen,daß sein Schicksal seines ist, daß er allein der Herr seiner Zeit ist. Dadurchwerden die Grenzen nicht niedergerissen, aber sie bestimmen den Men-schen nicht mehr völlig; der Totalitätsanspruch, den die Begrenztheit anden Menschen richtet, wird auf sein Maß gebracht, wird zurückgedrängtdurch das freie Ja des absurden Menschen, das die Implikation in sichträgt, alles sei gut. Das eigene Leben als Wert dem Tod entgegenzustellen,macht zwar den Tod nicht weniger sinnlos, macht hingegen das Leben zueinem glücklichen. Das Leben selbst wird für den Einzelnen zu seinemureigenen Wert, so daß uns Camus auch Sisyphos in seinem absurdenKampf gegen Gipfel als erfüllten, glücklichen26 Menschen vorstellenkann.27

Der revoltierende Mensch

Selbst das Glück des absurden Menschen tendiert also zum Handeln.Handelt der Mensch aber, so ist nicht nur er allein von den Folgen betrof-fen, sondern ebenso der Andere. Wenn sonach das Verstehen der Unver-nünftigkeit der Welt mitsamt der Auflehnung gegen Tod und Ungerech-tigkeit zur Tat hinleitet, dann muß nach den Konsequenzen dieser Tatauch bezüglich des Lebens des Mitmenschen gefragt werden. Wer Neinsagt zu den bestehenden Verhältnissen und zugleich Ja zum Leben insge-samt, indem er Selbstmord und Hoffnung als Auswege aus der absurdenSituation ablehnt, der muß in einem wissen, wie weit er bei der versuchtenVerwirklichung der wünschenswerten Teilveränderungen der Lebensum-stände – nicht von Leben und Welt insgesamt – zu gehen bereit seinmuß. Anders ausgedrückt: Der von der Absurdität zur Revolte28, von der

26 In seinem Verständnis des Wesens des Glücks setzt Camus die antike Eudämonieleh-re fort, geht also nicht auf die Ebene einer Prinzipien- und Formalethik wie etwaKant über. Wie schon bei Platon und Aristoteles gilt auch bei ihm, daß derjenige, derdas Maß verfehlt, notwendig auch das Glück verfehlen muß. Inhalts- und Formden-ken gehen bei Camus demnach stets Hand in Hand, eine reine Maximenbestimmt-heit wäre aufgrund ihres Unendlichkeits- und Allgültigkeitsstrebens abzulehnen.

27 Vgl. A. Camus: Der Mythos von Sisyphos, S. 128.28 Vgl. B. Sändig: Albert Camus. Autonomie und Solidarität. Würzburg 2004, S. 194.

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Einsicht zur Tat voranschreitende Mensch muß wissen, ob es trotz desniemals endgültig zu besiegenden Leidens und des nicht zu überwinden-den Todes Werte und Moralgrundsätze gibt, die sein Handeln leiten müs-sen. Camus kleidet diesen Gedanken angesichts des Nihilismus als der ei-nen Reaktion auf das Absurde in die Frage danach, ob der Mord erlaubtsein kann, um das Ziel der Empörung zu erreichen, ob mithin das Lebendes Anderen dem Umformungswillen des Revoltierenden geopfert werdendarf, falls dadurch im Lauf der Geschichte der intendierte Aufstieg zumBesseren realisiert werden kann. Von der den Sisyphos leitenden Grundfra-ge nach der Vernünftigkeit des Selbstmords geht Camus somit über zurFrage nach der Unvermeidbarkeit des Mordes in der Situation des bewuß-ten Tuns; der Tod ist erneut das Zentrum und der Ausgangspunkt derAnalyse. Der revoltierende Mensch hat deshalb, weil sein Handeln das Le-ben betreffende und nicht mehr rückgängig zu machende Folgen habenwird, die Aufgabe, in der Reflexion auf Geschichte und Natur eine Regelfür dieses Handeln zu finden.29

Eine solche Regel kann nur gefunden werden, wenn der sich Empö-rende sich zunächst seines eigenen Wesens versichert, das aufgrund seinesHervorgehens aus der Verfaßtheit des absurden Menschen eines sein muß,das sich weiterhin in einem Zwischen bewegt, nämlich dem zwischen Ni-hilismus und Glück, zwischen dem Nein zum Tod und dem Ja zum Le-ben, zwischen der Erkenntnis der eigenen Grenzen und der Forderungnach Veränderung in Gestalt der Gewißheit eines Rechts auf Glück, zu-mindest auf Gerechtigkeit.30 Hält sich die Revolte an das Zwischen, anihren sich aus ihm ergebenden Ort der Mitte, dann zeigt sich, daß es ihrum mehr geht als die bloße Verbesserung einer einzelnen Situation, da sieabzielen muß auf die Allgemeinheit des Lebens hin zu einer über das In-dividuum hinausgehenden Gerechtigkeit. Die Revolte kann daher nichtegoistisch sein, ihr Wert ist nicht der Einzelne an sich, obwohl sie vomEinzelnen erstrebt werden muß, d.h., ihr Wertgehalt kann nur einer fürdas Individuum sein, nicht dieses selbst. Gefunden werden kann dieserWert dann, wenn der Einzelne seinen Boden erkennt: die Gemeinschaftmit den anderen Menschen. Aus der Einsicht in die eigene Empörungund ihre Handlungsanforderung gelingt die Übersteigung des Menschenim Anderen, gelingt die Folgeeinsicht in die Notwendigkeit, der Revolteihre aus dem Zwischen resultierenden Grenzen zu bewahren, und gelingtschließlich das Verstehen der kollektiven Natur des Menschen, was Camuszu der an Descartes angelehnten Formulierung veranlaßt: ‚Ich empöre

29 Vgl. A. Camus: Der Mensch in der Revolte. Essays. Reinbek bei Hamburg, S. 9–13. –Vgl. zu diesem Text Camus’ z.B. M. Lebesque: Albert Camus. Reinbek bei Hamburg1960, S. 94–109; B. Sändig: Albert Camus. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 81–83.

30 Vgl. A. Camus: Der Mensch in der Revolte, S. 15.

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mich, also sind wir‘.31 Individuum und Gesellschaft stehen somit in einerWechselbeziehung, einem stets den Fortgang vom einen zum anderen for-dernden, geradezu dialektischen Verhältnis, das den Einzelnen mittels derGemeinschaft zu bestimmen sucht, um dabei die Abhängigkeit des Wirvom Ich zu betonen. Um wertgemäß leben zu können, bedarf das Indivi-duum der Menschengemeinschaft, die jedoch aus sich das freie, gerechteund Gerechtigkeit erfahrende Einzelwesen zu entlassen hat. Beide Pole ge-hen nie ineinander auf oder gar unter, sondern bestehen durch eine sichgegenseitig und gegenwärtig erhaltende Spannung.

Wie aber kann aus dem je individuellen Wissen um die Bedeutungund die letztlich metaphysische Verbundenheit mit der Gemeinschaft eineHandlungsregel abgeleitet werden, die dem zu fordernden Prinzip der Ge-rechtigkeit entspricht? Sie kann dann gefunden werden, wenn für die Um-setzung der Revolte ein Maß leitend bleibt, das ein Gleichgewicht zwi-schen Ja und Nein garantiert – ein Maß32, das weder in der Geschichte

31 Vgl. A. Camus: Der Mensch in der Revolte, S. 21.32 Der von Camus vertretene Maßgedanke, der eine letzte Fluchtlinie für eine auf Ab-

surdität und Revolte basierende Ethik oder wenigstens Moral eröffnet, somit auch dieRegel für die gelingende Relationsbestimmung von Individuum und Gemeinschaftanzeigt, schließt – philosophiehistorisch gesehen – in mehreren Aspekten an den an-tiken Maßgedanken an. So wird, insbesondere in der Figur der Nemesis, von Camusder von Homer herausgehobene Zusammenhang zwischen Maßlosigkeit und Strafeweitergeführt – allerdings einer Strafe, die z.T. freiwillig gewählt bzw. als Folge eineszu bevorzugenden Gutes in Kauf genommen wird, wenn etwa Achill eine bewußteEntscheidung für Ruhm und Tod, aber gegen das Leben trifft, welches Motiv sichmit einer weniger ichbezogenen Perspektive auch bei Prometheus ausmachen läßt. –Ebenso greift Camus auf den Gedanken Heraklits, Extreme könnten nur durch Ge-genextreme korrigiert werden, so daß es in dem von Wirkkräften bestimmten Wer-den zu Stabilität und Ausgleich komme, zurück. Nur das maßvolle Ausbalancierenaller extremen Gegenstücke vermag ein gelungenes Leben zu garantieren, d.h. bei Ca-mus: Nur die wollend umgesetzte Einschränkung der eigenen Freiheit zugunsten derdes Anderen bei gleichzeitigem Stattfinden desselben Prozesses bei letzterem, wo-durch in einem der maßvolle Ausgleich zwischen Freiheit und Notwendigkeit strek-kenweise realisiert werden kann, weiß das Glück des menschlichen Daseins herbeizu-führen. Diese Übereinstimmung zwischen Camus und Heraklit deutet sich reinäußerlich und doch zudem bildlich in der auffallenden Parallelität jeweils zentralerSätze an: „Der Name des Bogens (toxos) ist Leben, seine Tat der Tod.“ (Heraklit:DK 22 B 48) – „Der Bogen krümmt sich, das Holz stöhnt. Ist die höchste Spannungerreicht, wird ein durchdringender Pfeil abschnellen, das härteste und freieste Ge-schoß.“ (A. Camus: Der Mensch in der Revolte, S. 248). – Ähnliche Übereinstimmun-gen finden sich darüber hinaus im Vergleich zu Platon und dessen Ideal des ‚mesosbios’. Was nach Platon in Übertragung der Seelenanlage mit ihren Vermögen auchfür den Staatsaufbau gelten soll, nämlich das Gelingen einer maßbestimmten Propor-tionsordnung durch den vernunftgemäß zu schaffenden Ausgleich der Einzelglieder,findet bei Camus gleichfalls Anwendung auf ethische und erkenntnistheoretischeGrundkonstellationen. Das menschliche Leben kann allein durch das Maß im Han-

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des Geistes noch in der der Welt ausreichend Beachtung fand, wie Camusausführlich darlegt. Die reine Macht des Nihilismus muß die als Revolu-tion tätig werdende Revolte zum Scheitern verurteilen, da in ihr folgerich-tig auch der Wert des Lebens geleugnet, das Töten als Preis zur Erlangungder Freiheit in Kauf genommen wird. Vergißt die Revolution ihren Ur-sprung aus der Revolte, so verliert sie ihre Prinzipien, so leugnet sie denWert des menschlichen Lebens und stellt sich auf einen Standpunkt, derdie Aufhebung aller Grenzen fordert – demnach auch derjenigen Grenze,die das Ich am Wir und umgekehrt das Wir am Ich findet. Der Menschwird dem Menschen in diesem Moment der absoluten Revolution zumverfügbaren Ding, über dessen Existenz den revolutionären Gegebenheitenentsprechend entschieden, die im Bedarfsfall auch ausgelöscht werdendarf.33 Ist die Verneinung in dieser Weise absolut geworden, ist der Wech-selbezug zwischen Individuum und Gesellschaft derart in Vergessenheit ge-raten, daß die Grenzen des Tuns geleugnet werden und der reine unschöp-ferische Nihilismus siegt, dann wird das Leben selbst in seiner Bedeutungin Frage gestellt. Dies hat weitreichende Folgen: Der absurde Menschselbst wird dadurch negiert – doch er ist in seiner Zweiseitigkeit die Be-dingung gelingenden, revoltierenden Menschseins. Die eigene Identität desRevolutionärs wird aufgehoben, die sich nur aus der Anerkennung derÄhnlichkeit mit dem Anderen und der Einsicht in seine Identität speist –verliert der Revoltierende aber so das Recht, von der Gemeinschaft derMenschen zu sprechen, besitzt er keine Rechtfertigung seines Handelnsmehr. Werte und Sein gehen in dieser nihilistischen Situation gleicherma-ßen verloren, denn es gilt: ‚Wenn wir nicht sind, bin ich nicht‘.34

Soll die Revolte gelingen, muß sie dem Wert des Lebens allgemein,dem eines jeden Anderen und dem der zu akzeptierenden Grenzen zurWirklichkeit verhelfen; die gewollte Verbundenheit aller Menschen ist dieGrundlage für die wahre Revolte, die den Nihilismus ablehnt und das be-grenzende, relativierende Maß anerkennt.35 Falls die Revolte dabei auch ineine Philosophie umgesetzt werden kann, muß diese eine Philosophie derGrenzen sein, die auf das Maß, auf das Relative und die Mitte zwischenExtremen – seien es nun Wirklichkeit und Moral oder Geschichte undNatur – gebaut ist, um so „in einem unausgesetzten Kampf zur Wahrheit

deln und die dadurch in ihrem Funktionieren ermöglichte Gemeinschaft als Solidari-tätskonnex gelingen. Das Maß muß als Gut erkannt werden und deshalb sein. – Vgl.weiterführend zu Camus’ Verhältnis zum Griechentum M. Rath: Albert Camus: Ab-surdität und Revolte. Eine Einführung in sein Werk und die deutsche Rezeption. Frank-furt am Main 1984, S. 8–10.

33 Vgl. A. Camus: Der Mensch in der Revolte, S. 203.34 Vgl. A. Camus: Der Mensch in der Revolte, S. 228.35 Vgl. A. Camus: Der Mensch in der Revolte, S. 229–231.

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zu gelangen“.36 Insofern sie selbst das Maß ist, wird die Revolte nach Ca-mus zur Bewegung des Lebens, denn sie gibt dann die (wiederum nur rela-tive) Garantie dafür ab, daß dieses Leben dem Wesen des Menschen ge-mäß ist, daß er sich nämlich seines Menschseins als Wechselwirkungzwischen Ich und Wir sowie als Sein im Hier und Jetzt bewußt sein kann.Entscheidet der Mensch sich, wie Prometheus, frei und vernunftgeleitetaus der Absurdität heraus für die Revolte, so überwindet er in seiner Beja-hung der natürlichen Erde, der Logik und der positiven, dem Wohl allerdienenden Handlung den Nihilismus; oder, wie Camus sagt: „Wir ent-scheiden uns für Ithaka, die treue Erde, das kühne und nüchterne Denken,die klare Tat, die Großzügigkeit des wissenden Menschen“.37 Nicht imStreben nach Göttlichkeit liegt das Glück des Einzelnen, sondern in derbewußten, gewollten Hinwendung zur Natur, zu den Grenzen des Den-kens und dem daraus resultierenden Tun, das erst Gerechtigkeit in einerGesellschaft ermöglicht, die ihr Maß an den Grenzen der Freiheit des Ein-zelnen findet.

Um dieses Maß für sich in seinem persönlichen Handeln ebenfalls zurealisieren, muß der revoltierende Mensch aus einer bestimmten Grund-haltung heraus sein Werk beginnen, die Camus als ‚indifférence‘ bezeich-net. Nicht schlechte, negative Gleichgültigkeit ist hiermit gemeint, sondernein Gleichmut, der dem Anderen auch in seiner Fremdheit sein Recht aufLeben zubilligt, der nicht vorverurteilt, vielmehr einen Relativismus an-strebt, der jedem das Recht einräumt, an seinem Platz bestehen zu dürfen.Diese Gleichgültigkeit im Sinne eines Gleich-gelten-Lassens muß in Ver-bindung mit dem in ihr parallel zum Ausdruck kommenden Maßgedan-ken auch die Haltung des Einzelnen zur Gemeinschaft sowie rücklaufendder Gesellschaft gegenüber dem Individuum prägen. Die gleiche Behand-lung aller Menschen muß sowohl vom Einzelnen angestrebt als auch vomStaat als gängiger Entwicklungstendenz aller Sozialität zur Grundlage sei-ner Tätigkeiten, insbesondere seiner Gesetzgebung, gemacht werden. Umden Einzelmenschen vor den möglichen Auswüchsen staatlicher Aktivitätzu schützen, muß die sich in den Staat transformierende Gemeinschaft(über die Zwischenstufe der Gesellschaft) sich zu einem unterschieds- undleidenschaftslosen Verhalten allen Individuen gegenüber verpflichten, sodaß nie der Irrtum entstehen kann, er sei das dem Menschen übergeord-nete, allwissende und im Gegensatz zu ihm unschuldige – weil die rechtenGesetze kennende und erlassende – Ganze, dem im Bedarfsfall jeder geop-fert werden darf. Weder die historische noch die nach Ordnung und Ord-nungserhalt strebende, quasi-religiöse Sicht auf den Staat rechtfertigen dieUnterordnung und Unterdrückung der Einzelnen. Kein Mensch darf zum

36 A. Camus: Der Mensch in der Revolte, S. 241; vgl. dazu umfänglicher S. 234–241.37 A. Camus: Der Mensch in der Revolte, S. 248.

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Ding im Rahmen der nihilistischen Teleologie oder im Rahmen einer aufeine immer nur relative Schuld antwortenden Strafjustiz herabgesetzt wer-den.38 Da alle Menschen demselben Maß unterliegen, müssen sie auch die-selbe Art der Gerechtigkeit erfahren.39 Letztlich bedeutet dies, daß derMensch dann, wenn er ein Teil der ‚zärtlichen Gleichgültigkeit’40 des Gan-zen als der Natur, einer Gleichgültigkeit, die das notwendige Gleichge-wicht erhält, geworden ist, sein Einswerden mit der Welt in seiner Rela-tion zur Gesellschaft auch auf den Anderen abbilden muß.41 Er bejaht dasWir und findet darin eine Gerechtigkeit, die Freiheit und Vernunft maß-voll und auf der Basis moralischer, lebendiger Werte verwirklicht – wenig-stens eine Zeitlang.

Schluß

Mit den drei Stufen des Menschseins haben sich auch drei Verhältniswei-sen zwischen Individuum und Gesellschaft ergeben, die dem Weg von derEinsamkeit zum Wir entsprechen.

– Der natürliche Mensch ist der seiner selbst noch nicht bewußteEinzelne, der seine Wirklichkeit in seiner körperlichen Einheit mitder Natur findet. Er existiert im nur ihm eignenden Gefühl ohneGeschichte, Mythos oder Religion.

– Der absurde Mensch ist der einzelne, sich seiner selbst in seinerSituation bewußte Mensch, der im Denken seine Differenz zur

38 Vgl. A. Camus: Der Mensch in der Revolte, S. 203; „Die Guillotine“. In: Fragen derZeit. Reinbek bei Hamburg 1960, S. 117.

39 Zwischen diesem Verständnis von Gerechtigkeit und der Platonischen Vorstellungderselben als Tun und Bekommen des Seinigen, als des Habens von Rechten und desdamit einhergehenden Akzeptierens von Pflichten, wie sie insbesondere in der Poli-teia Ausdruck findet, ergeben sich offensichtliche Gemeinsamkeiten.

40 Vgl. z.B. A. Camus: „Zwischen Ja und Nein“ (aus: Licht und Schatten). In: Literari-sche Essays, S. 47; „Der Wind in Djemila“ (aus: Hochzeit des Lichts). In: LiterarischeEssays, S. 92; „Die Wüste“ (aus: Hochzeit des Lichts). In: Literarische Essays,S. 108–109; Der Fremde. Reinbek bei Hamburg, S. 122. – Die Wahrheit einer ver-antwortlichen Haltung liegt in der umgesetzten Erkenntnis dessen, was weder wahrnoch falsch ist, im Einswerden mit der Natur in ihrer übergeschichtlichen, empfin-dungsfreien Dauer und Selbständigkeit.

41 Dennoch ist das Agieren des Menschen in der Gemeinschaft und auch im Staat vonseinen Ursprüngen her vom Absurden geprägt, somit wurzelhaft von einer Hoffnungdes Einzelnen auf den Menschen bestimmt, ohne daß dieser zur Hoffnung berechtig-te, was etwa das Schicksal des Prometheus eindrücklich vor Augen führt. In jedemTun verschmelzen demnach (der Wunsch nach) Rationalität und das unüberwindbarUnvernünftige; jede Einzeltat bildet daher die absurde Grundsituation des Menschenexemplarisch ab.

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Welt begreift, um in seinem nur ihm gehörenden Nein zu Tod,Leiden und Ungerechtigkeit sein Ja zum Leben zu bekräftigen. Ersucht Antworten auf Fragen, die in ihrer Widersprüchlichkeit kei-ne Lösung erfahren, und findet sein Glück in der Individualitätseines persönlichen Schicksals, das dadurch, daß es den Wider-spruch aushält, stärker ist als dieser.

– Der revoltierende Mensch schließlich wird sich seiner selbst im‚Wir sind‘ bewußt, in der gemeinsamen Auflehnung gegen dieSinnlosigkeit des Lebens, der er im Handeln zu begegnen sucht. Ersteht nicht mehr nur – wie der absurde Mensch – in bloßer Diffe-renz zur Welt, sondern er widersetzt sich. Aus seinem Nein zumTatsächlichen muß ein gemeinsames Ja zum Leben und Mensch-sein werden, das gegen alle Maßlosigkeit zu verteidigen ist. DerSchutz des Wir ist immer Sache des Einzelnen, dem Camus stetsmehr zutraut als dem Kollektiv; und doch kann das Individuumseine Identität nur erlangen in derjenigen Anerkennung des Ande-ren, die diesen als Freiheitsgrenze zur sichtbaren Forderung nachMaß und Gerechtigkeit macht. Hierin zeigt sich Camus’ Ideal desHumanismus, der als Solidarität ein ständiges Bemühen für denMenschen darstellt und einen damit notwendig einhergehendenKampf gegen alles, was ihn zerstören könnte – gegen Leiden, Todund Absurdität.

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