22
58 nach Christus | 71 | 58 nach Christus 46. Beginn des Jahres Im dritten Consulatsjahr Neros war Marcus Valerius Messala Corvinus sein Amtsgenosse. Nur wenige alte Leute erinnerten sich noch, daß dessen Urgroßvater, der Redner Corvi- nus, mit Augustus, Neros Ur-Urgroßvater, ebenfalls die Consulwürde bekleidet hatte (31 v.Chr.). Die Ehre für diese vornehme Familie wurde noch dadurch erhöht, daß der Kaiser für Messala eine jährliche Schenkung von einer halben Million Sesterzen bewilligte, um sei- ner unverschuldeten Armut aufzuhelfen. Auch für Aurelius Cotta 1 und Quintus Haterius Antonius 2 setzte Nero eine jährliche Zuwendung aus, obwohl sie durch Ausschweifungen das Vermögen ihrer Väter vergeudet hatten. 3 Ausbruch des Krieges mit den Parthern um Armenien und die Bewegungen des Jahres 58 4 47. Corbulos Vorbereitungen in Syrien Seit 54 hatte sich der kaum begonnene Krieg mit den Parthern um Armenien mit Geplän- kel hingezogen und war schließlich für zwei Jahre (56/57) auf später vertagt worden. Am Beginn dieses Frühlings aber brach er mit aller Schärfe aus. Der Partherkönig Vologaeses wollte es nicht dulden, daß sein Bruder Tiridates den armenischen ron, den er ihm im Jahre 52 überlassen hatte, verliere oder als eine Gunst Roms erhalte. Und der Oberbefehls- haber Corbulo empfand es als der Würde des römischen Namens angemessen, das, was einst unter Lucullus und Pompeius Magnus im 3. Mithridatischen Kriege 74–64 v. Chr. erobert worden war, wiederzuerlangen. Hinzu kam die unentschiedene Haltung der Armenier und ihrer Fürsten (Megisthanes), die beide Seiten zum Krieg ermunterte. Den Parthern standen sie freilich wegen der Lage ihres Landes, der Ähnlichkeit ihrer Sitten und der verwandt- schaſtlichen Bande näher als der griechisch-römischen Welt. 1 Vielleicht Sohn des Marcus Aurelius Cotta, Consul im Jahre 20 (Koestermann, Annalen, Bd. 3, S. 300) 2 Consul im Jahre 53 3 Tac.ann.13.34.1; Suet.Nero 10.1 4 Zur Datierung Heil, Orientpolitik, S. 214f.; zum Folgenden Tac.ann.13.34.2–41. Tacitus‘ Bericht ist knapp gehalten, aber inhaltsreich. Er hat vermutlich weitgehend, aber dennoch nicht unkritisch, die Erinnerungen oder Kriegsberichte/Aufzeichnungen (commentarii) Corbulos benutzt. Über die meisten Örtlichkeiten sind nur Vermutungen möglich. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

  • Upload
    julian

  • View
    213

  • Download
    1

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

58 nach Christus | 71

| 58 nach Christus

46. Beginn des Jahres

Im dritten Consulatsjahr Neros war Marcus Valerius Messala Corvinus sein Amtsgenosse. Nur wenige alte Leute erinnerten sich noch, daß dessen Urgroßvater, der Redner Corvi-nus, mit Augustus, Neros Ur-Urgroßvater, ebenfalls die Consulwürde bekleidet hatte (31 v.Chr.). Die Ehre für diese vornehme Familie wurde noch dadurch erhöht, daß der Kaiser für Messala eine jährliche Schenkung von einer halben Million Sesterzen bewilligte, um sei-ner unverschuldeten Armut aufzuhelfen. Auch für Aurelius Cotta1 und Quintus Haterius Antonius2 setzte Nero eine jährliche Zuwendung aus, obwohl sie durch Ausschweifungen das Vermögen ihrer Väter vergeudet hatten.3

Ausbruch des Krieges mit den Parthern um Armenien und die Bewegungen des Jahres 584

47. Corbulos Vorbereitungen in Syrien

Seit 54 hatte sich der kaum begonnene Krieg mit den Parthern um Armenien mit Geplän-kel hingezogen und war schließlich für zwei Jahre (56/57) auf später vertagt worden. Am Beginn dieses Frühlings aber brach er mit aller Schärfe aus. Der Partherkönig Vologaeses wollte es nicht dulden, daß sein Bruder Tiridates den armenischen Thron, den er ihm im Jahre 52 überlassen hatte, verliere oder als eine Gunst Roms erhalte. Und der Oberbefehls-haber Corbulo empfand es als der Würde des römischen Namens angemessen, das, was einst unter Lucullus und Pompeius Magnus im 3. Mithridatischen Kriege 74–64 v. Chr. erobert worden war, wiederzuerlangen. Hinzu kam die unentschiedene Haltung der Armenier und ihrer Fürsten (Megisthanes), die beide Seiten zum Krieg ermunterte. Den Parthern standen sie freilich wegen der Lage ihres Landes, der Ähnlichkeit ihrer Sitten und der verwandt-schaftlichen Bande näher als der griechisch-römischen Welt.

1 Vielleicht Sohn des Marcus Aurelius Cotta, Consul im Jahre 20 (Koestermann, Annalen, Bd. 3, S. 300)

2 Consul im Jahre 533 Tac.ann.13.34.1; Suet.Nero 10.14 Zur Datierung Heil, Orientpolitik, S. 214f.; zum Folgenden Tac.ann.13.34.2–41. Tacitus‘ Bericht

ist knapp gehalten, aber inhaltsreich. Er hat vermutlich weitgehend, aber dennoch nicht unkritisch, die Erinnerungen oder Kriegsberichte/Aufzeichnungen (commentarii) Corbulos benutzt. Über die meisten Örtlichkeiten sind nur Vermutungen möglich.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 2: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

72 | Die frühen Jahre (54–58)

Die zurückliegenden Jahre hatten gezeigt, daß die Führung unter Corbulo mehr mit der Disziplinlosigkeit der Soldaten als mit der Hinterlist der Feinde zu kämpfen hatte. Die Legionen aus Syrien5 ertrugen den Lagerdienst, da sie eine lange Friedenszeit lässig gemacht hatte, nur sehr widerwillig. Es war bekannt, daß es unter ihnen altgediente Soldaten gab, die kaum auf Posten oder Wache gezogen waren, Wall und Graben sozusagen wie wundersame Dinge anstaunten und weder Helm noch Brustpanzer besaßen. Dagegen waren sie aufge-putzte und durch Handel reich gewordene Leute, die ihren Dienst nur in Städten verrichtet hatten. So entließ Corbulo alle, die alt oder krank waren, und bat um Ersatz. Der Kaiserhof stimmte neuen Aushebungen in Galatien und Kappadokien zu und man zog eine Legion aus Moesien (IV Scythica) ab zum Ersatz der unter Corbulo stehenden Legionen Syriens.6 Verstärkt wurde das Heer durch Reiterei und Fußtruppen der Bundesgenossen. Schon im Herbst 57 betrat Corbulo mit dem Heer außerrömisches Gebiet und verzichtete auf die Überwinterung im festen Lager. Er ließ die Soldaten in Zelten lagern, ungeachtet der Win-ter 57/58 so streng war, daß der Boden aufgehackt werden mußte, um die Aufstellung von Zelten zu ermöglichen. Vielen erfroren die Gliedmaßen in der grimmigen Kälte und einige fanden auf Wachdienst den Tod. Es wurde von einem Soldaten berichtet, dem, als er ein Holzbündel trug die Hände derart erfroren waren, daß sie an dem Bündel fest hafteten und sich von den Armstümpfen ablösten. Corbulo selbst war fast immer zur Stelle, auf dem Marsch und bei den Arbeiten, stets in leichter Kleidung und mit bloßem Kopf. Dennoch lehnten sich, als die Härte der Witterung und die Mühen des Dienstes die Geduld über-forderte, etliche auf und liefen davon. Corbulo unterband dies durch harte Bestrafung. Er ließ nämlich nicht, wie in anderen Heeren, das erste und zweite Dienstvergehen straflos durchgehen, sondern jeder, der die Fahne verlassen hatte, büßte dafür sofort mit dem Le-ben. Das hatte sich erfahrungsgemäß als wirkungsvoller erwiesen, als wenn man Nachsicht walten ließ. Die Zahl der Fahnenflüchtigen war in seinem Lager weit geringer als dort, wo man Verzeihung gewährte.7

Der Feldzug 58

48. Erste Römische Niederlage in einem Gefecht

Corbulo hielt die Legionen im Lager, bis der Frühling anbrach, verteilte die bundesgenös-sischen Cohorten auf geeignete Plätze und befahl ihnen, die Gegner nicht zu einem Kampf herauszufordern. Den Befehl über diese Truppen überträgt er dem ehemaligen Primipilus Paccius Orfitus.8 Der Primipilus war im römischen Heere das Spitzenamt der Unteroffi-ziere und gehörte als enger Vertrauter des Corbulo dem Kriegsrat an. Orfitus also wird, ob-

5 Es waren die leg. III Gallica, die leg. VI Ferrata und Teile der leg. X Fretensis (Tac.ann.13.8.2; 38.4; 40.2)

6 Zu dem Irrtum bei Tac.ann.13.35.2 Koestermann, Annalen, Bd. 3, S. 3037 Neben Tacitus ferner Cass.Dio 62.19.1; zur Disziplinierung der Truppe auch Frontin.Strat.4.1.28;

2.3; 7.28 Über ihn Koestermann, Annalen, Bd. 3, S. 305

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 3: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

58 nach Christus | 73

gleich er gemeldet hatte, daß die Feinde unvorsichtig seien und eine günstige Gelegenheit zu einem erfolgreichen Handstreich böten, angewiesen, seine Leute innerhalb der Befesti-gungsanlagen seines Lagers Initia zu halten und Verstärkung abzuwarten. Er aber hielt sich nicht an den Befehl, sondern ließ sich, als einige Reiterabteilungen aus den nächstgelegenen Castellen herangekommen waren und in ihrer Unerfahrenheit ungestüm eine Schlacht for-derten, mit zwei Reiterabteilungen und drei Cohorten auf einen Kampf mit dem Feind ein und wird in die Flucht geschlagen. Durch seine Verluste erschreckt, zogen sich die übrigen Truppen, die ihm hätten Hilfe bringen sollen, in ängstlicher Flucht in ihre Lagerplätze zu-rück. Über diese Niederlage war Corbulo heftig erzürnt. Er gab dem Paccius einen harten Verweis und befahl ihm, mit seinen Praefecten und Soldaten einstweilen außerhalb der Ver-schanzung zu lagern. In dieser demütigenden Lage mußten sie ausharren und wurden nur auf die Bitten des gesamten Heeres begnadigt und aus ihr erlöst.9

49. Verstreute Kriegunternehmungen – Eingreifen der Hiberer und Moscher – Fehlgeschlagene Verhandlungen

Tiridates nun, der armenische König, der außer über seinen eigenen, nicht unbedeutenden Anhang auch über die Machtmittel seines Bruders, des Partherkönigs Vologaeses verfügte, beunruhigte nicht mehr im Geheimen, sondern ganz offen Armenien durch Kriegsmaß-nahmen. Er verwüstete die Gebiete, die er für romtreu hielt, wich den Truppen aus, die gegen ihn geführt wurden, eilte bald hierhin, bald dorthin und verbreitete durch Gerücht und seinen Ruf mehr Schrecken als durch seine Waffen. Corbulo, der eine Entscheidungs-schlacht suchte, sah sich gezwungen, den Krieg eben nach dem Beispiel der Feinde in die Breite zu ziehen und dementsprechend seine Streitkräfte zu verteilen, damit seine Legaten und Praefecten an verschiedenen Punkten zugleich zum Angriff übergingen. Den König Antiochos IV. Epiphanes von Kommagene fordert er auf, in die ihm nächst liegenden Be-zirke Armeniens einzufallen. Anders Pharasmanes, der König der kaukasischen Hiberer, der keine Befehle benötigte; er hatte seinen Sohn Radamistus, der wiederholt versucht hatte, die Herrschaft in Armenien an sich zu reißen, angeblich wegen Verrats getötet und bemühte sich, um seine Treue gegen Rom zu beweisen, schon von selbst darum, seinen alten Haß gegen die Armenier zur Geltung zu bringen. Jetzt wurden auch erstmalig die Moscher als ein Rom besonders treu ergebener Stamm im Südosten des Schwarzen Meeres10 gewon-nen und auch ihre Krieger drangen in die unwegsamen Teile Armeniens ein. Unterstützt wurde Corbulo zudem von den armenischen Fürsten, die Gegner des Tiridates und der Par-ther waren, so daß man auch von einem gleichzeitigen armenischen Bürgerkrieg sprechen kann.11 So von vielen Seiten bedrängt änderte Tiridates daher seine Pläne vollständig und schickte Unterhändler, um in seinem und der Parther Namen Aufklärung zu verlangen, wa-rum man ihn aus seiner Herrschaft in Armenien vertreibe. Habe er doch erst jüngst Geiseln gestellt und die Freundschaft mit Rom erneuert, von der er auch neue Wohltaten erwarten

9 Neben Tac.ann.13.36 auch Frontin.Strat.4.1.2110 Über die Moscher: Hdt.3.94.3; 7.78.1; Strabo 11.2.14f.(497); 12.3.18(548); Plin.nat.hist.5.99; 6.13;

6.29; Ptol.5.6.1.; 13.5; Prok.bell.Goth.4.2.24f. (dort Mescher genannt)11 Heil, Orientpolitik, S. 91

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 4: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

74 | Die frühen Jahre (54–58)

dürfe. Aus demselben Grund habe sich auch sein Bruder Vologaeses selbst noch nicht er-hoben, weil sie Verhandlungen der Gewaltanwendung vorzögen. Wolle man aber Krieg, so werde es dem Haus der Arsakiden nicht an Tapferkeit und an Glück fehlen, das sich schon so oft in römischen Niederlagen gezeigt hätte. Daraufhin gab Corbulo, der recht gut wußte, daß Vologaeses jetzt durch den Abfall der Hyrkaner am Kaspischen Meer gebunden war, dem Tiridates den Rat, sich mit Bitten an den Kaiser zu wenden. Er könne ein dauerhaftes Reich ohne Blutvergießen gewinnen, wenn er seine in weiter Ferne liegenden und sich spät oder gar nicht erfüllenden Hoffnungen aufgebe und dem Besseren, das ihm die Gegenwart biete, zuwende.

Weil man aber durch das Hin- und Herschicken von Boten doch nicht zu einem ent-scheidenden Friedensschluß gelangen konnte, beschloß man, Ort und Zeit für eine per-sönliche Unterredung festzusetzen. Tiridates gab an, er werde mit einer Bedeckung von 1000 Reitern eintreffen. Über Zahl und Waffengattung der Soldaten, die Corbulo zur Seite stehen sollten, wolle er nichts festsetzen, wenn sie nur ohne Panzer und Helm, also unge-schützt wie friedliche Leute kämen. Der alte und erfahrene Heerführer durchschaute die List: es war auf einen Hinterhalt abgesehen. Corbulo aber stellte sich so, als merke er nichts und antwortete nur, ihm scheine es richtiger, wenn sie über Dinge, die die Allgemeinheit angingen, in Anwesenheit der versammelten Heere verhandelten. Dem stimmte Tiridates zu. Also wählte Corbulo eine Gegend, die teils aus sanft ansteigenden Hügeln bestand, um die Abteilungen des Fußvolks aufzunehmen, teils in eine Ebene auslief, so daß sich die Rei-tergeschwader entfalten könnten. Am verabredeten Tage stellte Corbulo als erster die bun-desgenössischen Cohorten und die Hilfstruppen der verbündeten Könige auf den Flügeln und die sechste Legion in der Mitte auf. 3000 Mann der dritten Legion, die er während der Nacht herangezogen hatte, reihte er mit ein, aber unter einem einzigen Legionsfeldzeichen, um den Eindruck zu erwecken, als sähe man nur eine einzige Legion. Tiridates kam mit seinen Truppen später heran, blieb aber bis zum Abend in so großer Entfernung stehen, daß er zwar gesehen, aber kaum gehört werden konnte. Ohne daß eine Zusammenkunft statt-gefunden hatte, ließ Corbulo die Soldaten wieder in ihre einzelnen Standlager einrücken.12

50. Einnahme von armenischen Festungen

Mochte Tiridates eine List argwöhnen, weil die Truppen nach mehreren Richtungen zugleich abmarschierten, mochte er beabsichtigen, die Zufuhr, die von Trapezunt, dem römischen Flottenstützpunkt am Schwarzen Meer13 her unterwegs war, abzufangen, je-denfalls zog er eilig ab. Aber der König war nicht imstande, über die Versorgungszufuhr herzufallen, weil sie über die von römischen Truppen besetzten Gebirge geleitet wurden. Corbulo ging nun, um den Krieg nicht vergeblich in die Länge zu ziehen und die Arme-nier zur Verteidigung ihres eigenen Landes zu zwingen, die Zerstörung der Festungen an und behält seinen Abteilungen die stärkste von ihnen namens Volandum, westlich von

12 Die Örtlichkeit dieses Ereignisses ist nicht bekannt (Tac.ann.13.38).13 Ios.bell.Iud.2.367; Tac.hist.2.83; 3.47

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 5: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

58 nach Christus | 75

Artaxata gelegen, vor.14 Die kleineren überläßt er dem Legaten Cornelius Flaccus15 und dem Lagerpraefecten Insteius Capito.16 Nachdem er die Befestigungen besichtigt und alle Vorbereitungen zu ihrer Erstürmung getroffen hatte, ermahnt er seine Soldaten, sie soll-ten den schwankenden Feind, der sich weder zum Frieden noch zur Schlacht entscheiden könne, sondern seine Treulosigkeit und Zaghaftigkeit durch Flucht eingestehe, aus seinen Wohnstätten jagen und sich ebenso viel Ruhm wie Beute holen. Sodann teilt er das Heer in vier Haufen, führt die einen unter dem Schilddach (testudo) zusammengedrängt heran, um den Wall einzureißen, befiehlt den anderen, auf Leitern die Mauern zu erklimmen, und einer dritten, größeren Abteilung, aus den Wurfmaschinen Feuerbrände und Lanzen zu schleudern. Den Wurfschützen und Schleuderern weist er einen Platz an, von wo sie aus der Ferne ihre Bleikugeln werfen konnten. Keine der Seiten sollte den Bedrängten Schutz bieten, sondern überall gleichermaßen Schrecken und Ansturm herrschen. Die Begeiste-rung des kämpfenden Heeres war nun so groß, daß schon im ersten Drittel des Tages die Mauern von Verteidigern entblößt, die Verriegelung der Tore gesprengt, die Schanzen im Sturm genommen waren. Alle erwachsenen Männer wurden niedergemacht. Die Verluste waren auf beiden Seiten nicht gering.17 Das nicht waffenfähige Volk wurde in die Sklaverei verkauft, die übrige Beute fiel den Siegern zu. Das gleiche Kriegsglück hatten der Legat und der Praefect, so daß an einem Tage drei Festungen erstürmt wurden. Die übrigen ergaben sich jetzt, erschreckt durch die römischen Erfolge.

51. Weiterer Feldzug bis zur Eroberung und Zerstörung der armenischen Hauptstadt Artaxata

Durch diese Erfolge gewann man Vertrauen zum Angriff auf die Hauptstadt Artaxata. Doch wurden die Legionen nicht auf dem unmittelbaren Wege herangeführt, weil sie sich dann auf der bei den Stadtmauern befindlichen Brücke, die den Araxes überquert, den feindlichen Geschossen ausgesetzt hätten. Daher gingen sie in größerer Entfernung auf günstigen Furten über den Fluß. Tiridates unterdessen schwankte zwischen Scham einerseits und Furcht andererseits. Es war ihm peinlich und unangenehm, wenn er ohne Gegenmaßnahmen die Belagerung der Stadt zuließe, weil er dann den Anschein erweckte, er könne keine Hilfe bringen. Wollte er sich aber der Einschließung Artaxatas widerset-zen, so bestand die Gefahr, sich selbst und seine Reiterscharen auf dem ungünstigen Ge-lände in eine gefährliche Lage zu bringen. Nach langer Überlegung entschloß er sich, die Schlachtordnung aufzustellen und an einem geeigneten Tag den Kampf zu beginnen oder sich durch eine vorgetäuschte Flucht Gelegenheit zu einem Hinterhalt zu verschaffen. Da-her ließ Tiridates seine Streiter plötzlich den römischen Heereszug umschwärmen, ohne freilich Corbulo überraschen zu können. Der hatte sein Heer in gleicher Weise zum Marsch wie zum Kampf geordnet. Auf dem rechten Flügel marschierte die III. Legion, auf dem

14 Die Lage ist unbekannt. Vermutlich ist sie südlich des Araxes und westlich der Hauptstadt Artaxata zu suchen (einzelnes Koestermann, Annalen, Bd. 3, S. 310).

15 Sonst unbekannt16 Schon im Jahre 54 erwähnt17 Anders, aber wenig glaubwürdig Tac.ann.13.39.4 (Koestermann, Annalen, Bd. 3, S. 311)

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 6: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

76 | Die frühen Jahre (54–58)

linken die VI. Legion, in der Mitte die Kampffähigsten der X. Legion. Den Troß hatte man zwischen die Marschkolonnen genommen. Den Schluß des Zuges deckten 1000 Reiter. Sie hatten den Befehl erhalten, anstürmende Feinde sofort abzuwehren, weichende aber nicht zu verfolgen. Die Bogenschützen zu Fuß und der Rest der Reiterei deckten die Flanken. Der gesamte linke Flügel des römischen Heeres am Fuße der Anhöhen war viel breiter auf-gestellt, um gegebenenfalls den andringenden Feind leichter von vorn und von der Flanke her zugleich greifen zu können. Tiridates ließ seine Reiterei aus verschiedenen Richtungen heran sprengen, aber nicht bis auf Schußweite der Bogenschützen, sondern bald drohend, bald zum Schein zögernd, aber immer in der Hoffnung, falls die Reihen sich auflösten, die Zerstreuten verfolgen zu können. Als aber nirgends durch Unbesonnenheit eine Lücke ent-stand und nur ein einziger Reiterhauptmann sich allzu kühn vorgewagt hatte und, von Pfei-len durchbohrt, durch sein warnendes Beispiel die übrigen im Gehorsam gefestigt hatte, ließ er bei Einbruch der Dunkelheit den Rückzug antreten.

Tiridates war mit seinen Streitkräften bereits weit entflohen und ließ jetzt auch Arta-xata im Stich. Corbulo ließ währenddessen ein Lager abstecken und überlegte, ob er noch in derselben Nacht mit einem Teil seiner Legionen die Stadt erreichen und einschließen solle. Er glaubte nämlich, Tiridates habe sich dahin zurückgezogen. Aber Kundschafter meldeten, der König sei weiter in die östlichen Einöden in Richtung auf das Kaspische Meer marschiert, und man wisse nicht, ob nach Medien oder Albanien.18 Deswegen wartete Cor-bulo den Tagesanbruch ab. Nur die Bogenschützen und Schleuderer schickte er voraus, um inzwischen die Mauern zu umschwärmen und die Belagerung mit dem Fernkampf zu beginnen. Aber die Bewohner öffneten freiwillig die Tore und ergaben sich mit ihrer Habe den Römern. Dies rettete ihnen selbst das Leben. Artaxata aber wurde in Brand gesteckt und vollständig zerstört. Die Stadt war so groß, daß sie nicht ohne eine starke Besatzung hätte gehalten werden können. Unversehrt aber wollte man sie nicht zurück lassen. Da soll es auch zu einer wunderlichen Naturerscheinung gekommen sein. Das Gebiet der Stadt war bisher vom Sonnenlicht durchflutet. Da wurde es von einer schwarzen Wolke verdunkelt, die Blitze durchzuckten und gleichsam einen Hinweis gaben, daß der Zorn der Götter die Stadt dem Untergang weihe.19

52. Ehrungen und Festtage in Rom

Wegen dieser Erfolge wurde Nero 58/59 mehrmals (wahrscheinlich zum IV. – VI. mal) als Imperator begrüßt.20 In Rom fanden auf Senatsbeschluß Dankfeste statt. Außerdem wurden Standbilder, Triumphbogen (eingeweiht im Jahre 62)21 und die dauernde Übertra-gung der Consulswürde für den Kaiser beantragt, dies letztere aber von Nero nicht ange-nommen. Die Tage des vermeintlichen Sieges, der Bekanntgabe in Rom und der Kenntnis-

18 Wahrscheinlicher ist Medien, wie Tac.ann.14.26.1 zeigt.19 Neben Tac.ann.13.41.1–3 auch Cass.Dio 62.20.1. Nach Koestermann, Annalen, Bd. 3, S. 315 nicht

identisch mit der Finsternis vom 30. April 59 (Plin.nat.hist.2.180). 20 Dessau, Röm. Kaiserzeit, Bd. 2,1, S. 195, Anm. 2 zum Jahr 5821 Tac.ann.15.18.1. Ferner Heil, Orientpolitik, S. 93, Anm. 32 zum Bogen und zur Münzprägung aus

Anlaß des Ereignisses.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 7: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

58 nach Christus | 77

nahme durch den Senat wurden allesamt unter die Festtage eingereiht.22 Der Rechtsgelehrte Gaius Cassius Longinus (cos. 30),23 der den übrigen Beschlüssen auch zugestimmt hatte, äußerte die Befürchtung, wenn den Göttern entsprechend der Gunst des Schicksals jedes-mal jährlich wiederkehrende Festtage ausgerufen würden, so reiche ja das gesamte Jahr für die Dankfeste nicht aus. Der Sieg, der mit der Vertreibung des Tiridates als errungen galt, wurde reichsweit bekannt gemacht und dokumentiert, unter anderem auch auf Reliefs (teil-weise errichtet vor März 59), die sich im Sebasteion von Aphrodisias in Karien gefunden haben.24 Wie Nero den Sieg zu nutzen gedachte, zeigte das folgende Jahr (60?), in dem er den Armeniern einen neuen König gab.

Die Rheingrenze und Germanien

53. Vorgänge in den römischen Provinzen an der Rheingrenze (55/56?–58)

Während sich dies in den Einöden des Ostens zutrug, vernahm man in Rom von neuen Bewegungen unter den Germanen. Nach der römischen Niederlage im Jahre 9 war es eine Zeitlang ruhig geblieben. Immer wieder einmal aber waren verschiedene germanische Stämme gegen die Rheingrenze vorgedrungen. Unbestimmte Bewegungen hatte es unter den Stämmen bereits unter Tiberius (14–37)25 und Caligula (37–41) gegeben,26 und unter Claudius griff man mit Heeresmacht in den Jahren 41, 47 und 5027 in ihre Umtriebe ein. Aber jetzt war es einige Zeit ruhig geblieben infolge der Haltung der Heerführer, die sich Ruhm durch die Erhaltung des Friedens erhofften. Aulus Pompeius Paulinus (cos. suff. 54?) und Lucius Antistius Vetus (cos. 55) führten damals die römischen Heere am Rhein. Um aber die Soldaten nicht ohne Beschäftigung zu lassen, ließ Pompeius den Wall vollenden, den Drusus im Jahre 9 v.Chr. zur Eindämmung des Rheins gegen Überschwemmungen hatte aufwerfen lassen.28 Vetus hingegen ließ Anstalten treffen, die Mosel und den Arar zu verbinden, damit Waren vom Mittelmeer über die Rhône und den Arar und von da durch den Kanal zur Mosel und weiter zum Rhein und zur Nordsee befördert werden könnten. So sollten die Beschwerlichkeiten des Landwegs vermieden werden. In seinem Neid auf die-ses Unternehmen warnte der Legat der Provinz Belgica, Aelius Gracilis,29 Vetus davor, zur Ausführung dieser Arbeiten die Legionen in seine Provinz zu führen. Zum Vorwand nahm er die Mißhelligkeiten, welche daraus entstehen könnten und bei gewissen Parteiungen der Gallier den Verdacht erregten, sie könnten sich die Uneinigkeit der römischen Beamten für eigene Zwecke nutzbar machen. Und um dabei glaubwürdiger zu erscheinen, verwies

22 Man faßte angeblich noch weitere Beschlüsse, die ohne Maß waren, doch ist darüber Einzelnes nicht bekannt.

23 Unter Caligula und Claudius in verschiedenen Provinzämtern24 Beschrieben bei Heil, Orientpolitik, S. 94–9725 Tac.ann.4.72f.26 Cass.Dio 59.21.227 Ebd. 60.8.7; Suet.Galba 6.2; Tac.ann.11.16ff.; 12.27–3028 Tac.hist.5.19.229 Über ihn ist sonst nichts bekannt.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 8: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

78 | Die frühen Jahre (54–58)

er immer wieder darauf, daß solche Truppenbewegungen die Besorgnis des Kaisers erregen würden.30 So unterblieb das Vorhaben.

54. Auseinandersetzungen mit den germanischen Friesen – Die Häuptlinge Verritus und Malorix in Rom

Angesichts des dauernden friedlichen Dienstes der Legionen verbreitete sich bei den Ger-manen das Gerücht, den Legaten sei die Berechtigung entzogen worden, gegen den Feind Streifzüge zu unternehmen. Infolgedessen führten die nördlich des Rheins und westlich der Ems siedelnden Friesen31 ihre junge Mannschaft durch Waldgebirge oder Sümpfe, die Älte-ren über Seen dem Rheinufer zu. Im Jahre 47 hatte Corbulo ihnen Siedlungsgebiete ange-wiesen. Ihre Häuptlinge waren jetzt Verritus und Malorix, die diesen Stamm anführten. Die Friesen besetzten die menschenleeren, den Soldaten für Versorgung, militärische Übungen und anderes vorbehaltenen Gebiete (prata legionum) auf dem östlichen Rheinufer. Schon hatten sie sich da Hütten gebaut, die Aussaat gemacht und bearbeiteten den Boden, als wäre es der heimische, da drohte Lucius Duvius Avitus (cos. suff. 56), der Nachfolger des Paulinus, mit der römischen Heeresmacht, falls die Friesen nicht in ihr altes Land abzögen oder vom Kaiser neue Siedlungsgebiete erbäten. So brachte er die Häuptlinge dazu, daß sie sich zu Bitten bequemten. Verritus und Malorix begaben sich nach Rom und besuchten, während sie auf Nero warten mußten, der durch verschiedene Geschäfte verhindert war, unter an-deren Sehenswürdigkeiten, die man ausländischen Gesandtschaften zu zeigen pflegte, das prächtige Pompeiustheater, wo sie eine Anschauung von der Größe des römischen Volkes bekommen sollten. Aus Langeweile – denn an den Spielen, die sie nicht verstanden, hatten sie keinen Gefallen – erkundigten sie sich nach den Zuschauern und den Unterschieden der Stände, welche die Ritter wären und wo die Senatoren säßen und anderes mehr. Da bemerkten sie auf den Sitzen der Senatoren Leute in fremdländischer Tracht. Auf die Frage, wer diese seien, sagte man ihnen, daß diese Ehre den Gesandten derjenigen Völker zuteil werde, die sich durch Tapferkeit und als Freunde Roms besonders hervortäten. Da riefen sie in ihrer Unbefangenheit aus, kein Volk auf der Welt könne an Tapferkeit und Treue die Germanen übertreffen, stiegen hinab und nahmen unter den Senatoren Platz.32 Man nahm das freundlich auf, weil es an die ungekünstelte, biedere Aufwallung und den edlen Wett-streit um sittliche Tugenden in der alten Zeit erinnerte.

Nero schenkte den beiden Häuptlingen das römische Bürgerrecht, befahl aber, die Frie-sen sollten das Land räumen. Als sie aber, zurückgekehrt, die Anordnung mit Verachtung zurückwiesen, wurde die bundesgenössische Reiterei gegen sie ausgeschickt, die die Durch-

30 Tac.ann.13.5331 Über sie Plin.nat.hist.4.101; Tac.Germ.34 32 Wahrscheinlich aus dem Jahre 49 ist ein ähnlicher Vorfall von Suet.Claud.25.4 erzählt, bei dem ger-

manische Gesandte die diplomatischen Vertreter der Parther und Armenier auf den bevorrechtigten Sitzen sahen.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 9: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

58 nach Christus | 79

führung erzwang. Wer hartnäckigen Widerstand dagegen leistete, wurde gefangengenom-men oder niedergemacht.33

55. Vergebliche Bitten der Ampsivarier um Land und ihr Ende

Kurz darauf besetzten das verlassene Gebiet am Niederrhein die Ampsivarier – ein germa-nischer Stamm an der Ems, der durch die Zahl seiner Zugehörigen stärker war als die Frie-sen. Die benachbarten Stämme nahmen besonderen Anteil an ihrem Geschick. Sie waren nämlich von den Chauken vertrieben worden und baten als Heimatlose um sichere Sied-lungsgebiete. Vor dem Statthalter Niedergermaniens, Avitus, sprach für sie ein bei jenen Völkern berühmter und romtreuer Häuptling namens Boiocalus. Er sei, wie er erzählte, beim Aufstand der Cherusker im Jahre 9 auf Arminius‘ Befehl gefesselt worden, habe dann unter Tiberius und Germanicus gedient (9–13) und wolle seine fünfzigjährige Treue da-durch krönen, daß er seinen Stamm der römischen Botmäßigkeit unterwerfe. Wie gering sei der Teil des brachliegenden Landes, auf den die Soldaten hin und wieder ihre Viehher-den treiben wollten! Mögen sie diesen Teil unter einer hungernden Bevölkerung immerhin als Weideplätze behalten. Aber auf dem übrigen Landstück sollte ihnen doch der Besitz einer Einöde nicht lieber sein, als treue und befreundete Volksstämme in ihren ärmlichen Hütten. Den Chamaven34 hätten einst diese Weidetriften gehört, später den Tubanten35 und nach diesen den Usipetern.36 Wie der Himmel den Göttern, so gehöre die Erde dem Geschlecht der Menschen, und wo sie leer stehe, sei sie Allgemeingut. Dann blickte Boioca-lus zur Sonne auf, rief die übrigen Gestirne an und fragte sie, als ob sie gegenwärtig wären, ob sie auf ein ödes Land herabschauen wollten. Lieber sollten sie das Meer darüber hinflu-ten lassen, um sie Landräuber zu strafen!

So ergriffen Avitus nun von diesen Worten erschien, so erwiderte er doch, man müsse sich nun einmal den Befehlen der Stärkeren fügen. Den Göttern, die sie anriefen, habe es gefallen, daß die Römer die Entscheidung darüber behielten, was sie geben und was sie neh-men wollten, und daß sie keinen anderen Richter darüber duldeten als sich selber. Dies ant-wortete er den Ampsivariern öffentlich. Boiocalus aber sagte er insgeheim zu, er werde zum Lohn für seine Treue Land für sich und seine Sippe erhalten. Aber der Häuptling lehnte dieses Anerbieten als einen Verräterlohn ab und fügte verärgert hinzu, Land zum Leben könne man ihnen ja nehmen, Land zum Sterben aber nicht. So gingen sie in gegenseitiger Erbitterung auseinander.

Nun suchten die Ampsivarier die Bructerer, einen Stamm an der oberen Ems und die Tencterer, im Bergland östlich von Confluentes (Koblenz) und noch entferntere Völker-

33 Tac.ann.13.5434 Stamm am Niederrhein, der noch im 4. Jahrhundert zu den Feinden des römischen Heeres unter

Julian zählt (Amm.Marc.17.8.5.; Not.Dig.31.61).35 Der Name bedeutet „Die in zwei Gauen Lebenden“; ein Volksstamm nahe der Lippe westlich der

Ems.36 Stammesname keltischen Ursprungs: „Die guten Reiter“; mit Tencterern und Sugambrern oft ver-

bündet, siedelten sie in deren Nähe am Niederrhein auf der rechten Rheinseite auf der Höhe von Köln.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 10: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

80 | Die frühen Jahre (54–58)

schaften als Bündner zum gemeinsamen Kampf zu gewinnen. Avitus schrieb an den neuen Befehlshaber am Oberrhein in Mogontiacum, Titus Curtilius Mancia (56–58, cos. suff. 55), er solle den Rhein überschreiten und seine Truppen dem Feind in den Rücken führen. Er selbst ließ seine Legionen ins Gebiet der Tencterer einrücken und drohte ihnen mit Ver-nichtung, wenn sie sich nicht von der Kampfgemeinschaft lossagten. Als diese, hierdurch eingeschüchtert, zurücktraten, wurden die Bructerer durch die gleiche Drohung erschreckt. Da sich auch die übrigen nicht für andere in Gefahr begeben wollten, blieb der Stamm der Ampsivarier allein und wich ins Land der Usipeter und Tubanten zurück. Aus deren Gebieten vertrieben, wanderten sie zu den mächtigen Chatten (im heutigen Mittelhessen), dann zu den Cheruskern an der Weser. Der größte Teil der Ampsivarier ging angeblich nach langen Irrfahrten, wo sie bald als Gäste, bald als Bettler, bald als Feinde behandelt wurden, in der Fremde zugrunde, doch Genaueres ist nicht bekannt;37 denn noch Ende des 4. Jahrhunderts werden sie als Krieger in dem in Auszügen erhaltenen Werk des Sulpicius Alexander bei Gregor von Tours erwähnt.38

56. Krieg zwischen Hermunduren und Chatten

Im Innern Germaniens kam es im gleichen Sommer zu einer großen Schlacht zwischen den mächtigen germanischen Stämmen der Chatten und Hermunduren. Beide Seiten versuchten einen zur Salzgewinnung ergiebigen Fluß, vermutlich die Werra,39 ihrem Ge-biet zuzuschlagen. Außer der den Germanen eigenen Neigung, alles mit Waffengewalt zu entscheiden, wirkte auch der angestammte Volksglaube mit, diese Naturkräfte seien dem Himmel besonders nahe, und menschliche Gebete würden von den Göttern nirgends so sorgfältig wahrgenommen.40 Deshalb entsteht nach deren Vorstellung durch die Gnade der Gottheit in jenem Fluß und seinen Wäldern auch das Salz, nicht, wie bei anderen Völkern, durch Austrocknen des übergetretenen Meerwassers. Man goß hier das Wasser über einen brennenden Holzstoß und nach Kampf zwischen den Urelementen Feuer und Wasser blieb die Salzkruste zurück.41 Der Krieg ging für die Hermunduren glücklich aus und wurde für die Chatten umso verderblicher und grauenhafter, als beide Teile für den Fall des Sieges die Gegner dem Tiu (Mars)42 und Wotan (Mercur) geweiht hatten. Durch dieses Gelübde verfiel alles was überlebt, Mann und Pferd, dem Opfertod.43

57. Geschehnisse bei den Ubiern um Colonia Agrippina (Köln)

Die Siedlungsgebiete der mit Rom verbündeten Ubier, die auf der linksrheinischen Seite bei Colonia Agrippina siedelten, wurden von unvorhergesehenem Unglück betroffen. Aus

37 Tac.ann.13.55f.38 Greg.Tur.2.939 Werra, fränkische Saale oder ein anderer Fluß (Koestermann, Annalen, Bd. 3, S. 345)40 Tac.Germ.9.241 Dazu Plin.nat.hist.31.82 dessen Ausführungen Tacitus mit Sicherheit benutzt hat.42 Menschenopfer für Mars auch Tac.Germ.9.1 erwähnt.43 Tac.ann.13.57.1f.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 11: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

58 nach Christus | 81

der Erde brachen Qualm und Flammen hervor, weil sich Torfmoore infolge der großen Sommerhitze entzündet hatten. Sie ergriffen weit und breit die Landgüter, Felder und Dör-fer und drangen sogar in den Mauerring der im Jahre 50 gegründeten Colonia ein. Das Feuer konnte weder durch Regen, Ströme von Wasser oder anderes sonst gelöscht werden, weil es sich unterirdisch hielt und verbreitete. Die Landleute bewarfen den Brand in ihrer Hilflosigkeit aus Wut über ihre Verluste mit Steinen, rückten dann näher heran und schlu-gen mit Knütteln und Prügeln darauf ein. Schließlich versuchten sie es zu ersticken, indem sie ihre Kleidung darauf warfen.44

Ereignisse in Rom und Italien

58. Der Prozeß gegen Publius Suillius

Während dieser Ereignisse in den verschiedenen Weltgegenden wird nun in Rom eine prominente Persönlichkeit, ein Mann der claudischen Zeit, der von wechselndem Schick-sal hin und her geworfen worden war und sich nicht ohne eigenes Zutun den Haß vieler Personen zugezogen hatte, angeklagt. Im Verlauf des Prozesses belastete er dabei den Ruf Senecas durch verschiedene, nicht gänzlich unzutreffende Anwürfe. Es handelte sich um Publius Suillius, der unter Claudius‘ Regierung als Ankläger gefürchtet war und als käuflich galt. Nach dem Regierungswechsel zeigte er sich nicht so unterwürfig, wie es seine Feinde wünschten, und wollte lieber für schuldig gelten, als um Gnade zu flehen. Seinetwegen, so glaubte man, sei jetzt der Senatsbeschluß aus dem Jahre 47 mit den Strafvorschriften nach dem Cincischen Gesetz gegen diejenigen wieder zur Geltung gebracht worden, die Privat-prozesse gegen Geld übernommen hatten. Die alte Vorschrift aus dem Jahre 204 v.Chr.45 war 17 v.Chr. von Augustus,46 47 durch Claudius47 und abermals 54 von Nero erneut ein-geschärft worden, ließ sich aber in einem Rechtswesen, das den Staatsanwalt nicht kannte und berufsmäßige Sachwalter und Prozeßredner zuließ, nicht durchsetzen. Während des Prozesses trug Suillius bei seiner Verteidigung seinerseits viele Klagen oder Vorwürfe vor. Außer seiner charakterlich bedingten Rücksichtslosigkeit machte ihn jetzt sein hohes Alter noch freimütiger. Er brachte vor allem gegen Seneca viel Schimpf hervor: Er sei ein Feind all derer, die Freunde des Claudius gewesen. Zu Recht habe er unter Claudius die Verbannung erdulden müssen. Zudem sehe Seneca, nur an unfruchtbaren Studien und den Umgang mit unerfahrenen Jünglingen gewöhnt, bei denen er in der Tat mit seinen Schriften starken Eindruck machte,48 scheel auf all jene herab, die ihre lebendige und ungekünstelte Bered-samkeit in den Dienst ihrer Mitbürger stellten. Er selbst sei Quaestor des edlen Germanicus (gest. 19) gewesen,49 jener aber nur ein Ehebrecher in dessen Familie. Damit spielte er auf

44 Ebd.13.57.345 Liv.34.4.946 Cass.Dio 54.18.247 Tac.ann.11.5–748 Quint.inst.10.1.125f.49 Tac.ann.4.31

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 12: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

82 | Die frühen Jahre (54–58)

die Ereignisse des Jahres 41 an, in deren Folge Iulia und Seneca wegen Ehebruchs verbannt worden waren. Oder sei es etwa, so Suillius weiter, ein größeres Verbrechen, sich von einer streitenden Partei für eine ehrenhafte Bemühung den verdienten Lohn auszahlen zu lassen, als das Ehegemach fürstlicher Frauen zu entehren? Durch welche Weisheit, durch welche philosophischen Grundsätze habe Seneca denn während der vergangenen vier Jahre seine kaiserliche Freundschaft 300 Millionen Sesterzen50 eingebracht? In Rom wisse er kinder-lose Erblasser in seine Netze zu locken. Italien und die Provinzen sauge er durch maßlosen Zinswucher aus. Er dagegen besitze, wie er behauptete, nur ein kleines, durch eigenen Ar-beitsfleiß erworbenes Vermögen. Beschuldigungen, Gefahren und alles andere sonst wolle er lieber ertragen, als mit seinen alten und selbst erworbenen Verdiensten sich vor einem solchen Glücksritter dieser günstigen Zeiten zu beugen.51

Seine Freunde hinterbrachten Seneca diese Äußerungen mit gleichen oder in noch schärferen Worten. Man wußte aber Ankläger zu finden, die Suillius vorwarfen, er habe während seiner Verwaltung der Provinz Asia (noch unter Claudius?)52 die Bundesgenossen ausgeplündert und staatliche Gelder unterschlagen. Weil jedoch die Ankläger ein ganzes Jahr Frist erhalten hatten, um die Schuld nachzuweisen, hielt man es für einfacher und aussichtsreicher, mit seinen in Rom begangenen Verbrechen zu beginnen, wofür die Zeu-gen bei der Hand waren. Diese warfen jetzt dem Suillius vor, er habe durch seine wüsten Anklagen den Quintus Pomponius im Jahre 42 in den Bürgerkrieg getrieben; er habe 43 Iulia, Drusus‘ Tochter, sowie 47 Sabina Poppaea zum Tod gezwungen, ferner (47) Valerius Asiaticus, Lusius Saturninus und Cornelius Lupus gestürzt. Ganze Scharen von römischen Rittern seien durch seine Anklägertätigkeit verurteilt worden. Jegliche Grausamkeit des Claudius gehe in Wirklichkeit auf ihn zurück.

Suillius führte zu seiner Verteidigung an, er habe keine einzige dieser Anklagen aus ei-genem Antrieb erhoben, sondern lediglich dem Kaiser gehorcht. Nero aber gebot diesen Einlassungen Einhalt, indem er bemerkte, er habe aus den Tagebüchern des Claudius in Erfahrung gebracht, daß dieser niemals die Erhebung einer Anklage erzwungen habe. Jetzt beruft sich Suillius auf Befehle der Kaiserin Messalina, und damit gerät seine Verteidigung ins Wanken. Warum, so fuhr man ihn an, sei denn kein anderer für die zahllosen Strafpro-zesse auserwählt worden, um diesem rasenden und zuchtlosen Weibstück seine Stimme zu

50 Die gleiche Summe bei Cass.Dio 61.10.3 (75 Mill. Drachmen); des weiteren soll er 500 Tische aus Zitronenholz mit Füßen aus Elfenbein besessen haben. Die senecafeindliche Quelle, aus der Dio des öfteren schöpft, erweckt den Eindruck eines üppigen gesellschaftlichen Lebens, das Seneca seinen philosophischen Einsichten zum Trotz geführt haben soll. Dies ist jedoch unzutreffend und wird durch die glaubwürdigen Nachrichten des Tacitus berichtigt. Seneca besaß (neben solchen in Spanien und Italien [s. auch § 138]) jedoch einträgliche Güter in Ägypten – vermutlich Geschenke Neros aus dem kaiserlichen Krongut. Verschiedene Belege dazu: BGU 102, 172, 202; P.Meyer 1911; P.Ryl. 99; 207, 7, 15; P.Hamb. 3, 9; P.Lips.115, 6; SB 14 11657(138/39); P.Fay.338; PIR2 A 617 (S. 104); Weiteres Parassoglou, Imperial Estates, S. 24f. Auch nach seinem Rückzug hatte Seneca Besitzungen in Ägypten (ep.77.4).

51 Weiteres ferner bei Cass.Dio 61.10.1ff.; angeblich habe sich Seneca auch Agrippina in einem intimen Verhältnis angenähert. Auch dies ist, wie anderes bei Dio Mitgeteiltes, Ausfluß von verleumderischen Gerüchten aus seiner senecafeindlichen Quelle.

52 Griechische Inschriften aus Samos IGRom IV 972; 995

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 13: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

58 nach Christus | 83

leihen? Auch die Werkzeuge solcher Taten müßten bestraft werden, wenn sie ihre Verbre-chen, für die sie Bezahlung angenommen, auf andere abwälzen wollten.

Durch das Urteil verlor Suillius daraufhin einen Teil seines Vermögens; ein anderer Teil verblieb seinem Sohn Nerullinus und seiner Enkelin.53 Er selbst wird auf die Balearischen Inseln verbannt,54 wirkte aber weder während des Prozesses noch nach der Verurteilung irgendwie gebrochen. Ja, es hieß sogar, er habe sein abgeschiedenes Leben noch genußreich und behaglich zugebracht.

Als die Ankläger dann auch Nerullinus aus Haß gegen den Vater angriffen und auch ihm Erpressungen vorwarfen, die er vielleicht als Legat seines Vaters begangen hatte, erhob Nero Einspruch: Es sei nun genug der Rache geschehen.55

59. Verurteilung des Volkstribuns Octavius Sagitta

Abseits der politisch-geschichtlichen Ereignisse trug sich etwa um dieselbe Zeit im stadt-römischen Adel ein bühnenreifes Liebesdrama mit blutigem Ausgang zu, das in die Über-lieferung deswegen Aufnahme gefunden hat, weil es damals ungeheures Aufsehen erregte. Der Volkstribun Octavius Sagitta56 nämlich war in wahnsinniger Liebe zu Pontia Postumia, einer verheirateten Frau, entbrannt, erkaufte durch ungeheure Geschenke den Ehebruch und später auch die Scheidung von ihrem Gatten, indem er ihr die Ehe versprach, und sie wiederum dies auch mit ihm verabredete. Als die Frau aber frei war, suchte sie die Heirat zu verzögern, gab vor, ihr Vater sei nicht einverstanden und ignorierte ihr Versprechen, als sich ihr die Aussicht auf einen reicheren Ehemann eröffnete. Octavius dagegen versucht es bald mit Klagen, bald mit Drohungen, beteuert, sein guter Ruf sei vernichtet, sein Vermögen erschöpft, und gibt zuletzt sein Leben, das ihm, wie er sagt, allein noch geblieben sei, in ihre Hände. Als er erneut zurückgewiesen wird, erbittet er sich zum Trost noch eine einzige Nacht, um sich, durch diese befriedigt und besänftigt, wie er meinte, in Zukunft mäßigen zu können. Pontia läßt sich dazu herbei; die Verabredung wird getroffen und die Frau läßt eine vertraute Dienerin vor dem Schlafgemach Wache halten. Octavius erscheint mit einem Freigelassenen und bringt, unter dem Gewand versteckt, einen Dolch mit. Es folgen nun die bei eifersüchtigen Liebhabern üblichen Zänkereien und Bitten, Vorwürfe, Entschuldi-gungen und Versöhnungen. Nur ein Teil der Nacht war dem Liebesgenuß gewidmet. Durch diesen angeblich erregt, ersticht Octavius die Ahnungslose mit dem Dolch, vertreibt die herbeieilende Dienerin durch einen Hieb und stürzt dann aus dem Gemach.

Am folgenden Tag wurde die Mordtat bekannt. An der Person des Mörders bestand kein Zweifel, weil der Nachweis erbracht wurde, daß er die Nacht bei Pontia verbracht hatte. Doch der Freigelassene des Sagitta bekennt, er habe die Tat vollbracht. Hierdurch habe er die seinem Herren zugefügten Beleidigungen rächen wollen. Schon hatte er einige durch das erhabene

53 Sein anderer Sohn Caesonius wird nicht erwähnt. Entweder war er bereits gestorben oder lebte in der Verbannung.

54 Im Jahre 24 war er schon einmal aus Italien verbannt worden, weil er Prozesse gegen Geld geführt hatte (Tac.ann.4.31).

55 Tac.ann.13.42f.56 Über ihn ist sonst nichts bekannt (s. Koestermann, Annalen , Bd. 3, S. 322).

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 14: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

84 | Die frühen Jahre (54–58)

Beispiel von Treue gerührt, als die Dienerin, die sich von ihrer Verwundung erholt hatte, den Vorgang seinem wirklichen Verlauf gemäß erzählte. Octavius wurde nun vom Vater der Er-mordeten vor die Consuln als Leiter des Senatsgerichts geführt. Die erdrückenden Beweise führten zu seinem Ausscheiden aus dem Volkstribunat, da er nur nach Verlust seiner sacra-len Unverletzlichkeit (sacrosanctitas) belangt werden durfte. Die Senatoren verurteilten ihn sodann nach dem Gesetz über den Meuchelmord (lex Cornelia) zu dauernder Verbannung. Sein Vermögen wurde der Staatskasse übergeben. Auch als Octavius sich 12 Jahre später (70) Hoffnung auf Begnadigung machte, mußte er in der Verbannung verbleiben.57

60. Poppaea Sabina, Otho und Nero

Nicht weniger Aufsehen erregte in diesem Jahr ein anderes ehebrecherisches Verhältnis, das den Anfang eines großen Unglücks für den Staat machte. In Rom lebte eine gewisse Pop-paea Sabina, Tochter des Titus Ollius, die den Namen ihres Großvaters mütterlicherseits angenommen hatte. Der Großvater, Poppaeus Sabinus, war eine berühmte Persönlichkeit gewesen, ungewöhnlich lange von 11–35 Statthalter in Moesien, Achaia und Makedonien, ein Mann, der im Ehrenschmuck des Consuls (9 n.Chr.) und Triumphators strahlte.58 Ollius dagegen war ehemaliger Quaestor und durch seine Freundschaft mit Seian zu Fall gekom-men, noch ehe er die höheren Staatsämter bekleiden konnte.59 Poppaea besaß alles sonst, aber keine Ehrenhaftigkeit. Ihre Mutter, die, wie es hieß, alle Frauen an Schönheit übertraf und mit Hilfe des Suillius durch die Kaiserin Messalina 47 zu Fall gebracht wurde, hatte ihr Glanz und äußere Reize in gleicher Weise vererbt. Ihr Vermögen entsprach ihrer hohen Ab-kunft, die Art ihrer Äußerungen war anziehend, ihr Verstand nicht ohne Begabung. Nach außen tat sie tugendhaft und bescheiden; in Wirklichkeit aber war sie durchtrieben gepaart mit Ausgelassenheit und bisweilen ausschweifend. Selten ließ sie sich öffentlich sehen und dann nur mit halb verschleiertem Gesicht, um die Blicke der Leute nicht ganz zu befriedi-gen oder weil es ihr gut stand. Niemals aber schonte sie ihren Ruf und behandelte Ehemann und Buhlen in gleicher Weise. Und da sie sich weder eigener noch fremder Leidenschaft ohne Berechnung hingab, suchte sie die Befriedigung ihrer Lüste da, wo sich ihr eigener Vorteil zeigte. Sie lebte in einer Ehe mit dem ehemaligen Praetorianerpraefecten (43–51) Rufrius Crispinus,60 mit dem sie einen Sohn hatte.

Da begann sich 58 ein intimes Verhältnis zwischen Poppaea, dem Jugendfreund Neros, Marcus Salvius Otho, und dem Kaiser selbst herauszubilden, das als ein Skandal Stadtge-spräch geworden ist. Weil die Einzelheiten nie zur Gänze geklärt worden sind, haben sich unterschiedliche Fassungen des Geschehens erhalten. Ob sie auf eine einzige oder meh-rere Geschichtsquellen zurückgehen, ist umstritten.61 Wenige Jahrzehnte nach den Ereig-

57 Tac.hist.4.44.2; ann.13.4458 Tac.ann.1.80.1; 4.46ff.; 6.39.3; Cass.Dio 58.25.459 Suet.Nero 35.160 Tac.ann.11.1.3; 12.42.1f.61 Tac.ann.13.45f.; hist.1.13.3; Suet.Otho 3; Plut.Galba 19; Cass.Dio 61(62).11.2. Im einzelnen Chil-

ver, Histories I and II, S. 70f.; Murison, Suetonius (Kommentar), Galba, Otho, Vitellius, S. 98; Muri-son, Careers and Controversies, S. 75

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 15: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

58 nach Christus | 85

nissen wußten schon die Historiker nicht mehr, was genau geschehen war und konnten die geschichtliche Wahrheit auch nicht mehr ermitteln. Es läßt sich nicht erklären, wie es bei Tacitus zu den zwei unterschiedlichen Fassungen in den Historien (1.13.3) und in den Annalen (13.45f.) gekommen ist, weil er auf die anders lautende Fassung seines früheren Werkes in dem späteren nicht eingegangen ist. Es ist lediglich eine vage Vermutung, daß er ohne ausdrücklichen Hinweis in den Annalen, seinem letzten Geschichtswerk, mittelbar eine Berichtigung seiner in den Historien erzählten Fassung geben wollte. Im wesentlichen sind zwei verschiedene Fassungen vorhanden, die in Einzelheiten voneinander abweichen. Dabei erscheint zumeist Otho als Mittler und infolge seiner Unvorsichtigkeit und Groß-mäuligkeit schließlich auch als Opfer des Verhältnisses.

Nach der einen Fassung soll die Initiative von Nero ausgegangen sein, den das Begehren nach Poppaea erfaßt habe. Ungewiß bleibt dabei, ob Nero noch vor Othos Eingreifen62 ein in-times Verhältnis zu ihr hatte, oder Otho dies erst ermöglichte.63 Da Poppaea noch dem Rufrius Crispinus ehelich verbunden war, und weil er angeblich die Auseinandersetzung mit Octavia und seiner Mutter scheute, wenn er sie unmittelbar zu seiner Mätresse mache, bat er Otho, sich als Ehebrecher zu betätigen und sie für ihn zu gewinnen.64 Poppaea war infolge der Tref-fen mit Otho durch die Aussicht verlockt, in die Nähe des Kaisers zu gelangen.65 Schließlich schied sich Poppaea von Crispinus66 und kam in das Haus Othos, höchstwahrscheinlich als dessen Ehefrau,67 doch ist dies nicht sicher.68 Hierdurch sollten Poppaeas Zusammenkünfte mit Nero gedeckt werden. Gelegentlich mag auch Otho dabei gewesen sein,69 bis es ihm bald darauf mißfiel, Poppaea mit Nero teilen zu müssen und nach einem der Berichte70 es sogar wagte, dem Kaiser oder seinen Abgesandten den Zutritt zu verbieten.

Ein Seitenaspekt, der zu der anderen Fassung hinführt, ist das Verhalten Poppaeas, die vielmehr das Haus gegen die Zudringlichkeiten des Kaisers verschlossen haben soll. Ihr soll die Eifersucht Othos nicht unwillkommen gewesen sein. Auch wenn ihr Ehemann nicht im Hause weilte, verweigerte sie sich dem Begehren Neros, entweder weil sie der Übersät-tigung vorbeugen wollte, oder weil sie es zwar nicht ablehnte, die Geliebte Neros zu sein, andererseits aber die Ehe mit Otho nicht aufgeben wollte.71

Nach der anderen Fassung ging die Initiative im Ursprung von der von Ehrgeiz getrie-benen Poppaea aus. Sie war zunächst durch Othos Jugend und Luxus verlockt, ihn zu ver-führen. Daß Otho zudem als Neros engster Kumpan und Freund galt, machte ihn noch interessanter. Es dauerte nicht lange, bis aus dem Ehebruch eine neue Vermählung wurde.

62 Suet.Otho 363 Plut.Galba 1964 Ebd. 1965 Ebd. 1966 Nach Cass.Dio 61(62).11.2 trennte Nero die Ehe.67 So Plut.Galba 19; Cass.Dio 61(62).11.268 Nach Suet.Otho 3 nur unter diesem Vorwand; Tac.hist.1.13.3 spricht auch von Übergabe zur „Ver-

wahrung“. Poppaea habe aber das Mätressenverhältnis nicht befriedigt und im Verdacht gestanden, sich Otho hinzugeben, worauf Nero diesen verbannte.

69 Cass.Dio 61(62).11.270 Suet.Otho 371 Nach Plut.Galba 19 und Tac.ann.13.45f.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 16: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

86 | Die frühen Jahre (54–58)

Otho preist nun vor dem Kaiser Schönheit und Geschmack seiner Gattin, entweder weil er unvorsichtig war oder um Nero zu reizen und durch diese vermeintliche Gemeinsamkeit, wenn sie beide dieselbe Frau besäßen, seinen eigenen Einfluß zu erhöhen. Oft hörte man ihn angeblich beim Aufstehen von der kaiserlichen Tafel sagen, er gehe jetzt zu ihr, ihm sei Schönheit und Adel zuteil geworden, alles, was man sich auf dieser Welt wünsche, und die Glücklichen erfreue. Nach diesen und ähnlichen Aufreizungen zögert man nicht fernerhin. Poppaea erhält Zutritt zum Hof und sucht zunächst durch Schmeichelei und berechnendes Betragen Einfluß zu gewinnen, wobei sie so tut, als unterliege sie ihrer Leidenschaft und sei durch Neros Schönheit hingerissen. Als aber bald des Kaisers Begierde entflammt war, spielt sie die Spröde. Wenn er sie über eine oder zwei Nächte bei sich behalten wollte, er-klärte sie immer wieder, sie sei doch verheiratet, sie könne ihre Ehe nicht aufgeben; sie sei an Otho gebunden durch seine Lebenskunst, darin kein anderer ihn erreiche. Das sei ein Mann von hoher Gesinnung und Geschmack; bei ihm finde sie alle Eigenschaften, die für die höchste Stellung würdig mache. Nero dagegen liege in den Banden seiner Buhlerin und Magd Acte. Überhaupt habe er aus dieser sklavischen Ehe nichts angenommen, als gemeine und ekelhafte Gewohnheiten. Diese gefährlichen Äußerungen führten dazu, daß Otho zu-nächst von Neros Freundschaft, später auch vom Zugang und aus dessen Gefolge ausge-schlossen wurde. Zuletzt ernannte ihn der Kaiser, um den Nebenbuhler loszuwerden, extra ordinem, also außer der Reihe, zum Statthalter (legatus pro praetore) der Provinz Lusitanien. Er war im Range eines ehemaligen Quaestors im Alter von erst 26 Jahren.72 Dies geschah angeblich auf Anraten Senecas hin, der Gönner Othos war.73 Dort lebte er bis nach Neros Tod nicht nach seiner bisherigen lotterhaften Weise, sondern unbescholten und rechtschaf-fen, ruhebedürftig und in seiner Amtsführung zurückhaltend.74 So wurde der Rivale in die ehrenvolle Verbannung geschickt. Die Länge der erzwungenen Abwesenheit Othos und der sofortige Anschluß an die spätere antineronische Bewegung75 lassen auf eine tiefgreifende Zerrüttung des beiderseitigen Verhältnisses schließen. Die „Jugendkumpanei“ zweier sehr ähnlich gearteter Männer hatte so ihr rasches Ende gefunden.

61. Verbannung des Faustus Cornelius Sulla Felix

In diesem Jahre ließ sich Nero erstmals durch Einflüsterungen seiner Umgebung – man weiß nicht aus was für einem Grunde sie erfolgten – in Schrecken vor einem Umsturz und Verlust seiner Herrschaft setzten. Damals richtete sich sein Verdacht gegen Faustus Cornelius Sulla, den Schwiegersohn des Claudius und Consul von 52. Dessen träge We-sensart deutete er ins Gegenteil um und glaubte darin Arglist und Verstellung zu erken-nen. Besonders gefährlich war es, daß Sulla schon 55 als Rivale Neros um die Herrschaft

72 Suet.Otho 3.2, dort von einer Trennung der Ehe durch Nero die Rede. Nach Murison, Suetonius, S. 101 handelte es sich eher um ein repudium Poppaeas vor sieben Zeugen. Nach 3.1 vermittelt die Darstellung den Eindruck, Otho sei erst nach der Ermordung Agrippinas nach Lusitanien gesandt worden, doch ist dies ein Irrtum, wie aus Tac.ann.14.4.4 hervorgeht.

73 Plut.Galba 20.174 Zu Othos Amtsführung Suet.Otho 3.2; Tac.hist.1.13.4; Plut.Galba 20.175 Tac.hist.1.13.4

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 17: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

58 nach Christus | 87

ins Gespräch gebracht worden und dadurch in Gefahr geraten war. Neros Furcht steigerte noch ein kaiserlicher Freigelassener namens Graptus,76 der infolge seiner Erfahrung und seines hohen Alters den Kaiserhof seit Tiberius durch und durch kannte. Er erfand die folgende Lügengeschichte: Die Mulvische Brücke war damals der Treffpunkt für nächtli-ches Amüsement und Liebesabenteuer. Nero suchte sie häufig auf, um sich außerhalb der Stadt noch ausgelassener zu befinden. Graptus lügt ihm nun vor, man habe dem Kaiser bei seiner Rückkehr auf der Flaminischen Straße einen Hinterhalt gelegt, der nur durch Schicksalsfügung vereitelt worden sei, weil Nero auf einem anderen Wege durch die Sal-lustianischen Gärten im nordöstlichen Stadtgebiet (regio VI, zwischen dem Pincius und Quirinalis gelegen) zurückgekehrt sei. Der Urheber dieser Hinterlist sei Sulla gewesen. Einige junge Leute hatten nämlich in ihrer Ausgelassenheit, die damals allenthalben herrschte, den alleine heimkehrenden kaiserlichen Dienern einen harmlosen Schrecken eingejagt. Aber auch unter diesen Witzbolden war kein Sklave oder üblicher Begleiter des Sulla erkannt worden. Zudem widersprach Sullas verachtete Wesensart, die eines solchen Wagemuts gegen den Kaiser gar nicht fähig gewesen wäre, der Beschuldigung. Dennoch wird ihm, ganz so als ob er überführt und schuldig sei, durch kaiserlichen Befehl aufgege-ben, seine Vaterstadt zu verlassen und seinen Aufenthalt fern davon im gallischen Massilia (Marseille) zu nehmen.77

62. Streit in Puteoli

Sodann beschäftigte sich der Senat mit verschiedenen Geschäften aus italischen Gemein-den. Bürgerzwist war in Puteoli entstanden. Zwei Gesandtschaften erhielten Gehör vor dem Senat. Die eine hatten die städtischen Behörden, die andere die Bevölkerung geschickt. Jene beschwerten sich über die Gewalttätigkeiten der Menge, diese über die Geldgier ih-rer städtischen Beamten, besonders der führenden Männer. Der Aufruhr hatte sich bis zu Steinwürfen und Androhungen von Brandstiftung gesteigert. Um es nicht zu Mord und Bürgerkrieg kommen zu lassen, wurde der schon erwähnte Jurist Gaius Cassius bestimmt, Abhilfe zu schaffen. Aber die Puteolaner ertrugen seine Strenge nicht. Deshalb wurden auf seine Bitte hin die Gebrüder Scribonius Proculus und Rufus, deren Schicksale in den letz-ten Jahren Neros zur Darstellung kommen werden, abgesandt mit einer Cohorte der Prae-torianer. Die Furcht vor den Soldaten und der Eindruck einiger Hinrichtungen kühlten die erhitzen Gemüter ab und stellen alsbald die Ruhe in der Stadt wieder her.78

63. Thrasea Paetus im Senat

Durch einen Senatsbeschluß wurde der Stadt Syracus erlaubt, die für die Abhaltung von Gladiatorenspielen festgesetzte Höchstzahl von Kämpfern zu überschreiten.79 Nach dem

76 Freigelassener des Tiberius (CIL XV 7466)77 Tac.ann.13.4778 Ebd.13.4879 Augustus hatte 22 v.Chr. die Höchstzahl in Rom auf 120 Kämpfer begrenzt (Cass.Dio 54.2.4). Für

Pompei sind inschriftlich 30 Kämpferpaare belegt (CIL X 1074).

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 18: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

88 | Die frühen Jahre (54–58)

Vortrag des Beschlußtextes durch den Senatvorsitz (relatio), widersprach dem Publius Clodius Thrasea Paetus (cos. suff. 56), weil er sich möglicherweise gegen das aufstrebende Selbstgefühl der Provinzialen wenden wollte.80 Damit gab er seinen Neidern, die er wegen seines souveränen Auftretens schon damals besaß, Gelegenheit, seine Stellungnahme ver-dächtig zu machen. Wenn er glaube, daß es dem Staat an einem freien Senat fehle, warum eifere er dann wegen solcher Nebensächlichkeiten? Warum erhebe er nicht seine zuratende, mahnende oder warnende Stimme, wenn über Krieg und Frieden, über Zölle und Gesetze oder andere Hauptangelegenheiten des Staates verhandelt werde? Seien den alle anderen Verhältnisse des Reiches in so vortrefflichem Zustand? Wenn er schon die wichtigsten An-gelegenheiten mit absichtlichem Schweigen übergehe, um wieviel mehr müsse er sich dann bei Nebensächlichkeiten zurückhalten! Oder wolle er hier etwa als Verbesserer der Senats-arbeit auftreten, da sie seinen Ansprüchen nicht genüge?

Darauf entgegnete Thrasea, als seine Freunde eine Erklärung begehrten, in seiner be-sonnenen Art, die ihm später den Vorwurf der Schulmeisterei einbrachte,81 daß er nicht aus Mangel an Kenntnis der gegenwärtigen Staatsumstände derartige Beschlüsse zu bessern suche, sondern zu Ehren des Senats. Es solle dadurch deutlich werden, daß Männer, die auch den unerheblichsten Dingen ihre Aufmerksamkeit schenkten, ihre Sorge um die wich-tigsten Angelegenheiten niemals vernachlässigen würden.82

64. Zoll- und Gebührenangelegenheiten

Das Jahr sah auch die erste und einzige große politische Initiative Neros im engeren Sinne, von der die Geschichte berichtet. Hier trat der Kaiser erstmals selbständig mit eigenem Wil-len auf, wurde aber bald darauf in seinem Tatendrang gedämpft. Es häuften sich in diesem Jahr83 allerwärts die Beschwerden über die zu weite oder willkürliche Auslegung der Steuer-vorschriften durch die Pächter der Einnahmen aus Zöllen (portoria) und mittelbaren Steuern (vectigalia),84 und Nero verfiel auf den Gedanken, ob er nicht alle diese Staatseinnahmen ab-schaffen und damit, wie er meinte, der Menschheit das herrlichste Geschenk machen könne. Möglicherweise kamen ihm diese Klagen anläßlich öffentlicher Spiele oder im Theater zu Ohren, und er hat in seiner überschwenglichen Art sofort reagiert, machte in gut gemein-ter Absicht ein Großprojekt zur „Chefsache“ und kündigte offiziell Maßnahmen an.85 Aber

80 Schiller, Nero, S. 67181 Suet.Nero 37.182 Tac.ann.13.49. Zum Vorgang jetzt auch Chr. Ronning, Nero und Thrasea, Chiron 36 (2006), S. 333–

3583 Wahrscheinlich nicht plötzlich, sondern gesteigert schon in den zurückliegenden Jahren.84 Die Zollinschrift aus Ephesos (s.u.) belegt, daß einige Reformvorschriften bereits dem Jahre 57 ange-

hörten (§§ 46f., Z. 109–112 des Gesetzes). Zu den vectigalia s. die Definition des Ulpian in den Dig.50.16.17.1: „Publica“ vectigalia intellegere

debemus, ex quibus vectigal fiscus capit: quale est vectigal portus vel venalium rerum, item salinarum et metallorum et picariarum. „Als öffentliche Steuern müssen wir solche ansehen, die die Kasse auf bestimmte Waren erhebt, unter denen sind: Der Hafenzoll und Verkaufssteuern auf Handelswaren, desgleichen Steuern auf Salinen, Bergwerke und Pechhütten.“

85 So ansprechend Griffin, Nero, S. 47

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 19: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

58 nach Christus | 89

nachdem man zunächst seine Hochherzigkeit öffentlich gepriesen hatte, damit er das Gesicht nicht verliere, zügelten dann doch, als es vermutlich im Senat zur Verhandlung des Vorhabens kam, nach Vorarbeit im kaiserlichen Rat, die älteren Männer seinen Eifer. Denn vor allem die Zolleinnahmen, die in das Aerarium flossen, standen, formal gesehen, in der Verfügung des Senats und deswegen mußte auch über die Angelegenheit im Senat gesprochen werden. Man setzte Nero also im einzelnen auseinander, daß es die Auflösung des Reiches bedeuten würde, wenn die Einkünfte, durch die der Staat erhalten wird, vermindert würden. Die Männer ver-traten dabei auch ihre eigenen Interessen, weil sie mittelbar an den Steuerpachtgesellschaften (societates publicanorum) beteiligt waren.86 Die Angelegenheiten dieser Gesellschaften und ihre Vorgehensweise wurde jetzt vor allem im kaiserlichen Rat besprochen. Die Aufhebung der Zölle hätte zur Folge, so hieß es, daß auch die Abschaffung der Steuern (tributa) gefordert würde. Die meisten Gesellschaften für die Einnahme der vectigalia bestünden lange schon seit der Zeit der Republik (durch leges = gesetzliche Bestimmungen und plebiscita = Volksbe-schlüsse). Später hinzugekommene, mittelbare Abgaben habe man mit Rücksicht darauf ge-schaffen, daß die Einnahmen und die notwendigen Ausgaben miteinander übereinstimmten. Richtig aber sei es, daß man gegen die ungesetzlichen Übergriffe der Einnehmer einschreiten müsse, damit nicht das, was das Volk so lange Jahre geduldig getragen habe, jetzt durch Lega-lisierung neuer Drangsale zur Unzufriedenheit führe.

65. Überblick zum Zollgesetz der Provinz Asia vom 9. Juli 62 aufgrund des Beschlusses vom Jahre 58

Eine im Jahre 1976 in Ephesos gefundene Inschrift für die („senatorisch verwaltete“) Provinz Asia aus der neronischen Zeit wirft Licht auf diese komplizierten Erhebungs- und Einnahme-vorgänge.87 Auf einem durch Zufall sehr gut erhaltenen Stein hat sich die Neufassung eines über beinahe 200 Jahre mit verschiedenen Änderungen fortgeschriebenen Zollgesetzes für die Provinz Asia vom 9. Juli 62 erhalten. Dem vorausgegangen war ein Senatsbeschluß vom 14. April 62. Die Regelung und ihre Durchführung fußten auf dem Finanzverwaltungsedict, das Nero im Jahre 58 gegeben hat, obwohl für gewöhnlich dies dem Senat oblag.88 Dadurch wurde den Vorschriften mehr Gewicht verliehen, und dies zeigt deutlich, wie durchlässig die Grenze zwischen der Verwaltung des Fiscus und des Aerariums war, und daß der Kaiser in sämtlichen Verwaltungsangelegenheiten von allgemeiner Bedeutung Bestimmungen traf. Diese genaue griechische Übersetzung des im Urkundenarchiv der Basilica Iulia in Rom auf-bewahrten lateinischen Originals ermöglicht einen Vergleich zu dem geschichtlichen Bericht der Annalen 13.51 des Tacitus und ergänzt ihn durch weitere Angaben.

Der lange Text, der eine Schichtung von Gesetzesvorschriften zeigt und teils Wieder-holungen, teils Präzisierungen, teils Änderungen der wahrscheinlich bis 133/29 v.Chr. zurückreichenden Urfassung enthält, stellt eine Neufassung der zum Teil seit 200 Jahren

86 Schiller, Nero, S. 34887 H. Engelmann, D. Knibbe, Das Zollgesetz der Provinz Asia – Eine neue Inschrift aus Ephesos, EA

(Epigraphica Anatolica) 14 (1989), S. 1–195 (SEG 39, Nr. 1180); s. jetzt auch die englische Ausgabe mit Kommentar verschiedener Autoren: M. Cottier et alii, The Customs Law of Asia, Oxford, 2009

88 Marquardt, Röm. Staatsverwaltung, Bd. 2, S. 298f.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 20: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

90 | Die frühen Jahre (54–58)

gültigen Regelungen dar. Die wesentliche Rechtsgrundlage für die Zolleinnahme wurde im Jahre 75 v.Chr. geschaffen. Die Zolleinnahmen wurden auf fünf Jahre (Z. 108, und 127f. 12? v.Chr. und weitere Wiederholungen) an die meistbietende Pächtergesellschaft verge-ben. Danach wurden die Verhandlungen zwischen einem Praefecten des Aerariums, das ein höchst arbeitsaufwendiges Amt war,89 und einem Vorsitzenden einer Gesellschaft von Steu-erpächtern geführt. Die Pächter hatten nicht sofort im voraus zu zahlen, aber Sicherheit zu leisten. Waren sie dazu nicht in der Lage, hatten sie Bürgen zu stellen (bis spätestens 15.1. des Folgejahres, Z. 101–03, 17 v.Chr.; Einzelnes ferner §§ 46f. und §§ 54f. = Z. 109–112, 57 n.Chr. und Z. 126–129 5 n.Chr.), die ebenfalls, um das Risiko zu verringern, in Gesell-schaften organisiert waren (Z. 145f. 62 n.Chr.), und an die sich die staatliche Kasse bei Einnahmeausfällen unmittelbar wenden konnte. Die in einem eigenen Gesetz (lex censoria) festgelegte jährliche Zahlungssumme aus der Provinz mußte am 15. Oktober jeden Jahres in Rom eingezahlt werden (Z. 99–101, 17 v.Chr.).

Die einzelnen Pächter einer Gesellschaft konnten Anteile haben oder unter Einhal-tung von genauen Vorschriften über Abstand, Lage, Größe und anderes (Z. 29–40, 71f. genormte Größe) eigene Zollstellen mit Stube und Lagerraum und anderem mehr an Grenzen/Häfen errichten. An den großen Handelsstraßen des Ostens hat hier ein reges Verwaltungshandeln an den Reichgrenzen mit einer Vielzahl von Sklaven/Bediensteten geherrscht. Ausdrücklich wird in einem Zusatz aus dem Jahre 5 (Z. 118) angeordnet, daß diese Zollstellen mit dem jeweiligen Namen des Pächters oder seines Vertreters klar ge-kennzeichnet sein mußten – ein Zeichen für die verbreitete Korruption auf diesem Gebiet. Reisende waren unter genauen Vorschriften verpflichtet, die nächste Zollstation aufsuchen (40ff.). Es scheint in klaren Fällen mündliche Angabe der Reisenden über mitgeführte Wa-ren ausgereicht zu haben (etwa Z. 45f.). In Fällen von großem Warenhandel mußte stets schriftlich unter Angabe von Mengen deklariert werden und bei Betrugsverdacht erfolgte Durchsuchung und gegebenenfalls Beschlagnahme. Der Zoll betrug 2,5% (Z. 10 ergänzt) des Warenwerts. Mit der doppelten Höhe des Zolls (Z. 87f. 72 v.Chr.) konnte der Betrüger seine beschlagnahmte Ware auslösen und hatte dazu eine Frist von 30 Tagen. Danach ging sie ins Eigentum des Zollpächters über, der sie verkaufen konnte. Käufer hatten zuzüglich zum Preis den Zoll zu entrichten (47f., 114f. aus dem Jahre 2 v.Chr).

Sonderzölle, und zwar in Pauschalsätzen, hat es für minderjährige Sklaven beiderlei Ge-schlechts gegeben; jüngere erhielten ein Brandmal (Z. 11f.; Erhöhung der Sätze 17 v.Chr. Z. 98f.; Brandmal: Z. 117ff. dazu S. 122). Das enorm teuere Luxusprodukt von lebenden Purpurschnecken aus dem Meer wurde mit einem höheren Zoll von 5 % belegt (Z. 20, 5 n.Chr. erhöht?: 122f.). Daneben gab es Erleichterungen und Befreiungen im Zollverkehr, so für Transporte in staatlichem, beziehungsweise kaiserlichem Auftrag, die zollfrei waren. Die Stadtgemeinde von Alexandria Troas (Z. 103–105) war von Zollzahlungen befreit, und für Warenlieferung zur Festzeit der alle vier Jahre zu Ehren des Augustus stattfinden-den Spiele (Sebasteia) in Pergamon galt Zollbefreiung (Z. 128–133; vielleicht gewährt seit 8 oder 12 n.Chr, s. S. 127f.). Abgabenfreiheit galt auch für kriegsflüchtige Provinzialen, die aus objektiv vorliegenden Tatsachen (Kriegszustand) die Zollgrenze überschreiten mußten und ihre Wertsachen in Sicherheit bringen wollten (Z. 66f.). Das war gerade während des

89 Plin.Paneg.91.1

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 21: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

58 nach Christus | 91

langen Krieges um Armenien von praktischer Bedeutung; ferner für Erdproben, mochten sie auch Edelmetalle enthalten und Wasser. Auch die Zollpächter besaßen Abgabenfreiheit für alle Dinge, die sie oder ihre Beauftragten benötigten. Aufgezählt sind Schiffe/Schiffs-gerät, Sklaven, Buchrollen, Tafeln, Lebensmittel, Tiere (Z. 74–78, ähnliche Aufzählung s.u.). Überhaupt durfte der persönliche Eigenbedarf nicht der Verzollung unterworfen werden – möglicherweise nicht selten ein Streitthema. Die Stelle ann.13.51, welche die von Tacitus genannten wesentlichen Regelungen ent-hält, die unter Nero den Regelungsbedarf befriedigen sollten, zeigt nun im Vergleich mit dem inschriftlichen Dokument, daß genau diese Absicht dem Zollgesetz zugrunde gelegen hat. (1) Zunächst ist die Inschrift gerade ein Zeugnis für die Forderung des Edicts, daß nun-mehr alle Bestimmungen abschließend aufgeführt werden müssen, nach denen die Zoll-/Steuerpflichtigen behandelt werden. Zusätzliche Belastungen, wie sie wegen der auch in anderen (Grenz-)Provinzen des Reiches verbreitet nicht öffentlich bekannten Regelungen oft willkürlich festgesetzt worden waren, sind damit zukünftig unzulässig. Tacitus führt ausdrücklich aus, daß alle illegalen Gebühren oder Abgaben von 2½ und 2 Prozent sowie weitere ungesetzliche Erhebungen, die die Steuerpächter im Laufe der Zeit eingeführt hatten, dauerhaft abgeschafft waren. Die Willkür und damit die Korruption auf diesem Gebiet muß großen Unmut geweckt haben. Dazu kamen noch weitere, durchaus billige Beschränkungen (welche, sagt Tacitus nicht), die kurze Zeit beobachtet, dann aber wieder außer Acht gelassen wurden. (2) Eine Bestimmung, die das Zollgesetz nicht enthält (aber vielleicht zukünftig für andere Abgaben galt): Nicht erhobene Forderungen gegen die Ab-gabenpflichtigen, die irrtümlich unterblieben waren, durften nach Ablauf eines Jahres nicht mehr erhoben werden. (3) Schon als alte Gesetz von 75 v.Chr. kannte das Klagerecht der Zahlungspflichtigen bei Übergriffen der örtlichen Pächter. Diese mußte aber vor dem Prae-tor peregrinus in Rom verhandelt werden (Z. 56–58, ferner Z. 115–17, 5 n.Chr.). Das ne-ronische Edict brachte insofern eine Erleichterung, als nun ein Prozeß außer der Reihe (co-gnitio extra ordinem) vor dem Procurator der Provinz geführt werden durfte (Z. 147–49). (4) Den Soldaten und den in staatlichem und kaiserlichem Auftrag Reisenden/Spedieren-den und für das notwendige Zubehör (jeder Eigenbedarf, so etwa Verpflegung, abgezählte Geldsummen, Schiff und Schiffsgerät, eigene Sklaven und Tiere, Buchrollen, Schreibtafeln, Unterlagen, Schreibmaterial, Schuhe, Ringe) blieb die schon lange bestehende Abgaben-freiheit gewahrt und wird durch das Edict nochmals bestätigt (Z. 58–66). Das galt nicht für die Waren, mit denen sie selbst handelten.

Man regelte auch die Vorschriften für die Getreideausfuhr aus den Provinzen und setzte fest, daß die Frachtschiffe nicht zum Vermögen der Kaufleute gerechnet und für sie keine Abgaben (tributa) gezahlt werden sollten.90

Durch die Ephesische Inschrift ist einerseits inhaltlich der Bericht des Tacitus in seinen wesentlichen Punkten bestätigt worden. Andererseits zeigt der taciteische Bericht für sich genommen, daß der Geschichtsschreiber, besäßen wir die inschriftliche Quelle nicht, uns völlig zutreffend und ausreichend mit den wesentlichen allgemeinen Regelungen Neros be-kannt macht. Die verbreitete Korruption auf dem Gebiet der Zolleinnahme – eine Folge der „Privatisierung“, das heißt der Bevollmächtigung von gewinnorientiert arbeitenden

90 Tac.ann.13.50f.; Suet.Nero 10.1

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM

Page 22: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 58 nach Christus

92 | Die frühen Jahre (54–58)

Gesellschaften zur Durchführung staatlicher Aufgaben – wird schon von Tacitus erwähnt und durch die Inschrift in manchen Punkten noch deutlicher. Tacitus wird mit seiner Be-leuchtung Neros als eines überspannt und überschwenglich agierenden Herrschers nicht ganz unrecht haben. Dennoch kann man sich dem positiven Gesamteindruck,91 den diese selten in der Antike so detailliert nachvollziehbare Reform aus zwei verschiedenen, sich er-gänzenden Geschichtsquellen gibt, nicht verschließen. Wie schon bei dem Vergleich seines Berichts über den Prozeß gegen Gnaeus Calpurnius Piso im Jahre 20 mit der in Spanien gefunden Inschrift des zugehörigen Senatsbeschlusses zeigt sich im vorliegenden Fall erneut die im großen und ganzen zuverlässige Schilderung des römischen Historikers.

66. Prozesse gegen Sulpicius Camerinus und Pompeius Silvanus

Zwei Angeklagte der Provinz Africa, Quintus Sulpicius Camerinus (46 cos .suff.,92 54–57? Proconsul von Africa) und Marcus Pompeius Silvanus (45 cos. suff.,93 53–56 Proconsul von Africa), die dort Statthalter gewesen waren, ließ der Kaiser freisprechen, obwohl die An-klage gegen diese „senatorischen“ Provinzbeamten vor dem Senat verhandelt wurde. Die Anklage gegen Camerinus ging nur von wenigen Privatleuten aus, die ihm mehr gewalttä-tigen Amtsmißbrauch als Erpressung vorwarfen. Den Silvanus aber ging eine große Menge von Anklägern an, die mehr Zeit zur Beibringung von Zeugen verlangten. Der Angeklagte forderte jedoch, sich sogleich verteidigen zu dürfen und setzte dies auch durch, weil er ver-mögend, kinderlos und darüber hinaus bereits alt war. Er hat dann aber noch länger gelebt als die Erbschleicher, durch deren Eifrigkeit und Bemühungen er aus dem Prozeß so gut davon gekommen war.94

67. Der Ruminalische Baum

Im gleichen Jahre erinnerte man sich des Ruminalischen Baumes, weil er durch Absterben des Astwerks und Verdorren des Stammes zu verkümmern schien, was als böses Vorzeichen galt. Man erzählte sich die alten Sagen wieder, denen zufolge der junge Baum vor 830 Jahren Romulus und Remus beschattet habe. 95 Da soll er auf dem Palatin an einer Örtlichkeit, ge-nannt Lupercal, gestanden haben. Der Augur des Königs Tarquinius Priscus namens Attius Navius ließ ihn aber zum Comitium nahe dem Capitol versetzen, der Versammlungsstätte der Bürger, wo später eine bronzene Statuengruppe mit der säugenden Wölfin stand.96

91 Eine günstige Beurteilung der Maßnahmen bereits bei Hertzberg, Röm. Kaiserreich, S. 219, aller-dings unter der nunmehr widerlegten Vermutung, Tacitus habe möglicherweise durch Verschweigen von Details einen gegenteiligen Eindruck beabsichtigt.

92 CIL V 5050 = ILS 20693 Ios.ant.Iud.20.1494 Tac.ann.13.5295 Dazu Varro re rust.2.11.5; Plut.Rom.4.196 Die Geschichte im einzelnen auch bei Plin.nat.hist.15.77f.; Tac.ann.13.58

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 4:10 PM