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276 | Die späten Jahre (65–68) | 65 nach Christus Die Verschwörung unter Gaius Calpurnius Piso 1 221. Gaius Calpurnius Piso Die Ereignisse der vergangenen Jahre hatten in Teilen des städtischen Volkes, besonders aber bei den gesellschaſtlichen Spitzen von Senatoren, Ritterschaſt und Praetorianern ei- nen Widerstand gegen die neronische Herrschaſt erzeugt, der wahrscheinlich durch die Brandkatastrophe erheblich beschleunigt worden ist. Vermutlich seit Herbst 64 weitete sich die größte Verschwörung gegen Neros Herrschaſt deutlich aus und führte erstmals zu einer ernsthaſten Krise seiner Regierung. Die Verschwörung hatte sich allmählich ge- bildet, doch läßt sich über Beginn und Anwachsen zeitlich nichts genaues feststellen. 2 Ihr drängten sich mit Eifer Senatoren, Ritter, Militärs und sogar Frauen zu, teils aus Haß ge- gen Nero, teils aus Neigung zu Gaius Calpurnius Piso. Man tut Piso möglicherweise zu viel der Ehre an, stellt man seinen Werdegang und seine Person im einzelnen dar. Manchen der Verschwörer galt er nämlich als ein ungeeigneter Nachfolger Neros. Ihn als Haupt der Verschwörung zu bezeichnen, ist nicht einmal zutreffend, war er doch lediglich derjenige, den man als Nachfolger Neros präsentieren wollte. Sein Verhalten hat nicht zum Erfolg der Bewegung beigetragen und auch die treibenden Kräſte des Vorhabens waren gänzlich andere Personen. Unter ihnen haben Angehörige der Praetorianer die größte Standhaſtig- keit bewiesen. Piso stammte aus dem Geschlecht der Calpurnier und war durch seinen hochadeligen Vater 3 mit vielen ausgezeichneten Familien verwandt. Seine erste Ehefrau, Livia Orestilla, nahm ihm Caligula weg. 4 Von 38–40 war er in Rom, wurde sodann gemeinsam mit Ore- 1 Der Bericht bei Tacitus ann.15.48ff. ist nicht so genau, wie er vielleicht sein könnte. Insbesondere die Verzahnung oder Beziehungen der verschiedenen Gruppen (Freigelassene, Senatoren und Ritter, Praetorianer und andere) konnte Tacitus wahrscheinlich nicht vollständig auellen. Die Ermittlung der Einzelheiten dürſte trotz der späteren Offenlegungen durch Neros Regierungsbüro sehr schwierig gewesen sein. Was aus den Resten bei Cassius Dio oder aus Sueton über die Verschwörung hervor- geht, ist so dürſtig, daß man aus diesen Mitteilungen alleine ein sehr bruchstückhaſtes und sogar un- zutreffendes Bild der Vorgänge mit gänzlich anderen Protagonisten erhalten würde. Hierdurch zeigt sich der hohe Wert des taciteischen Berichts, dem die schwierige Ermittlungsarbeit noch anzumerken ist und dessen Verfasser in den Hauptpunkten den Verlauf völlig zutreffend geschildert hat. 2 Tac.ann.15.73.2. Daß die Verschwörung bereits vor dem Brand begonnen hat, ist sehr unsicher und stützt sich auf Tac.ann.14.65 und 15.50. Einen unbestimmten Unmut über Neros Regierung wird es seit 59/60 in Kreisen der Hocharistokratie gegeben haben. 3 M. Calpurnius Piso oder L.Calpurnius Piso Augur (cos. 1 v.Chr.) 4 Suet.Cal.25.1; Cass.Dio 59.8.7f. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/7/14 3:57 PM

Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 65 nach Christus

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Page 1: Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 65 nach Christus

276 | Die späten Jahre (65–68)

| 65 nach Christus

Die Verschwörung unter Gaius Calpurnius Piso1

221. Gaius Calpurnius Piso

Die Ereignisse der vergangenen Jahre hatten in Teilen des städtischen Volkes, besonders aber bei den gesellschaftlichen Spitzen von Senatoren, Ritterschaft und Praetorianern ei-nen Widerstand gegen die neronische Herrschaft erzeugt, der wahrscheinlich durch die Brandkatastrophe erheblich beschleunigt worden ist. Vermutlich seit Herbst 64 weitete sich die größte Verschwörung gegen Neros Herrschaft deutlich aus und führte erstmals zu einer ernsthaften Krise seiner Regierung. Die Verschwörung hatte sich allmählich ge-bildet, doch läßt sich über Beginn und Anwachsen zeitlich nichts genaues feststellen.2 Ihr drängten sich mit Eifer Senatoren, Ritter, Militärs und sogar Frauen zu, teils aus Haß ge-gen Nero, teils aus Neigung zu Gaius Calpurnius Piso. Man tut Piso möglicherweise zu viel der Ehre an, stellt man seinen Werdegang und seine Person im einzelnen dar. Manchen der Verschwörer galt er nämlich als ein ungeeigneter Nachfolger Neros. Ihn als Haupt der Verschwörung zu bezeichnen, ist nicht einmal zutreffend, war er doch lediglich derjenige, den man als Nachfolger Neros präsentieren wollte. Sein Verhalten hat nicht zum Erfolg der Bewegung beigetragen und auch die treibenden Kräfte des Vorhabens waren gänzlich andere Personen. Unter ihnen haben Angehörige der Praetorianer die größte Standhaftig-keit bewiesen.

Piso stammte aus dem Geschlecht der Calpurnier und war durch seinen hochadeligen Vater3 mit vielen ausgezeichneten Familien verwandt. Seine erste Ehefrau, Livia Orestilla, nahm ihm Caligula weg.4 Von 38–40 war er in Rom, wurde sodann gemeinsam mit Ore-

1 Der Bericht bei Tacitus ann.15.48ff. ist nicht so genau, wie er vielleicht sein könnte. Insbesondere die Verzahnung oder Beziehungen der verschiedenen Gruppen (Freigelassene, Senatoren und Ritter, Praetorianer und andere) konnte Tacitus wahrscheinlich nicht vollständig aufhellen. Die Ermittlung der Einzelheiten dürfte trotz der späteren Offenlegungen durch Neros Regierungsbüro sehr schwierig gewesen sein. Was aus den Resten bei Cassius Dio oder aus Sueton über die Verschwörung hervor-geht, ist so dürftig, daß man aus diesen Mitteilungen alleine ein sehr bruchstückhaftes und sogar un-zutreffendes Bild der Vorgänge mit gänzlich anderen Protagonisten erhalten würde. Hierdurch zeigt sich der hohe Wert des taciteischen Berichts, dem die schwierige Ermittlungsarbeit noch anzumerken ist und dessen Verfasser in den Hauptpunkten den Verlauf völlig zutreffend geschildert hat.

2 Tac.ann.15.73.2. Daß die Verschwörung bereits vor dem Brand begonnen hat, ist sehr unsicher und stützt sich auf Tac.ann.14.65 und 15.50. Einen unbestimmten Unmut über Neros Regierung wird es seit 59/60 in Kreisen der Hocharistokratie gegeben haben.

3 M. Calpurnius Piso oder L.Calpurnius Piso Augur (cos. 1 v.Chr.)4 Suet.Cal.25.1; Cass.Dio 59.8.7f.

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stilla von Caligula in die Verbannung geschickt.5 Später ging er eine neue Verbindung mit Satria Galla, einer zwar attraktiven, aber durchtriebenen Frau ein. Piso hatte sie einem seiner Freunde, Domitius Silius,6 ausgespannt. Unter Claudius rehabilitiert, erhielt er das mütterliche Vermögen zurück. Irgendwann in der Folgezeit war er Ersatzconsul,7 danach Statthalter von Dalmatien. 57–60 war er wieder in Rom, ferner auch im Jahre 63.8

Ein junger Dichter9 von bescheidener Herkunft, vermutlich noch nicht zwanzig Jahre alt,10 lobt Piso durch seine talentierten Verse und bittet um die Aufnahme in das Haus, dessen Herrn er preisen will, auf daß Pisos Name der Ewigkeit teilhaftig werde, sofern der Angesprochene dieses Ansinnen angesichts seiner (des Verfassers) Jugend nicht für vermes-sen hält. Der Dichter rühmt das Haus dieses großzügigen Herren, der nicht auf den gesell-schaftlichen Stand eines Clienten, sondern auf dessen Bildung sieht.11 Demzufolge umgibt der Herr sich lieber mit einer Schar künstlerisch und sittlich Gebildeter, von denen sein Haus widerhallt12 und seien sie auch arm, als mit einer Masse von ungebildeten Clienten, deren Fähigkeiten einzig darin bestehen, vor ihrem Herren herzulaufen, um ihm den Weg durch die drängende Volksmasse zu bahnen.13

Noch lange nach seinem Tode wurde Piso als großzügiger Förderer der Künste gefeiert.14 Gerühmt werden sein Talent im Verfassen von Dichtungen, sein Lyraspiel,15 seine sportli-chen Betätigungen im Ballspiel und im Fechten sowie seine strategischen Fähigkeiten im Brettspiel.16 Piso sang auch im tragischen Kostüm, allerdings nicht öffentlich wie Nero.17

In der Öffentlichkeit stand Piso in glänzendem Ruf wegen seiner Lauterkeit, seiner Tugend oder seines anscheinend tugendhaften Auftretens. Er verwendete nämlich seine ausgezeichnete Beredsamkeit zur Verteidigung der Mitbürger. Er war freigiebig zu seinen Freunden und verhielt sich auch zu unbekannten Leuten freundlich und umgänglich. Hinzu kamen seine äußerlichen Vorzüge: eine hohe schlanke Gestalt und ein schönes Gesicht.18 Allerdings stand ihm sittlicher Ernst fern und auch in den Lebensgenüssen war er nicht mäßig. Er gab sich dem Leichtsinn und der Prachtliebe hin, und manchmal auch der Schwelgerei. Und gerade das gefiel vielen, die, weil sie selbst dem einen oder anderen

5 Arvalakten CIL VI 2028 = ILS 5032; CIL VI 2030; 32347; Cass.Dio 59.8.7f., der davon im Jahre 37 berichtet

6 Sonst unbekannt 7 Laus Pis.68ff.; P.A. Gallivan, The Fasti for the Reign of Claudius, CQ 28 (1978), S. 422 8 Arvalakten CIL VI 2039–2042; 2048, 32353) und auch im J. 63 (CIL VI 2043) 9 Zur Schrift grundlegend A. Seel, Laus Pisonis, Text, Übersetzung, Kommentar, Diss. Erlangen 1969,

der (S. 139ff.) behutsam Lucan als Dichter des um 58 entstandenen Textes nachzuweisen sucht. Nach Griffin, Nero, S. 147 mit Anm. könnte es sich um den jungen Persius handeln.

10 Laus Pis.254ff.11 Ebd.118f.12 Ebd.132f.13 Ebd.134ff.14 Iuv.schol.5.10915 Laus Pis.163ff.16 Ebd.178f.17 Tac.ann.15.6518 Laus Pis.39f.; 72ff.; 84–96; Iuv.5.109; vgl. Martial.4.40.1; 12.36.8

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Laster frönten, keinen knauserigen und allzu strengen Herrscher haben wollen.19 Aber da man Nero kannte, versprach sich wohl mancher der Verschworenen von Piso einen anderen Herrschaftsstil. Außerdem galt den Verschwörern Nero in jeder Hinsicht als untragbar und schwer belastet.

222. Ursprung und Teilnehmer

Ihren Ursprung hatte die Verschwörung nicht in Pisos Herrschsucht. Indes, den eigent-lichen Urheber anzugeben und auf wessen Anstoß hin etwas in Gang gesetzt wurde, was dann so viele aufgegriffen haben, ist nicht mehr möglich. Unter den Praetorianern waren die tätigsten Männer Subrius Flavus, ein Cohortentribun, und der Centurio Sulpicius Asper.20 Beide bewiesen dies auch durch ihre Festigkeit, mit der sie später in den Tod gin-gen. Die Senatoren Annaeus Lucanus – der Dichter, und Plautius Lateranus trieb ihr star-ker Haß gegen Nero an. Lucan war durch persönliche Gründe aufgebracht, weil Nero den Ruhm seiner Dichtungen zu unterdrücken suchte und deren öffentliche Vorlesung aus Ei-fersucht verboten hatte. Den vorherbestimmten Consul Lateranus21 – ehemals Buhle der Messalina,22 48 aus dem Senat ausgestoßen23 und im Jahre 55 durch Nero begnadigt24 – brachte keine persönliche Kränkung, sondern sein Zorn über die gegenwärtigen üblen und chaotischen Zustände im Staatswesen zum Anschluß. Daß Flavius Scaevinus25 und Afra-nius Quintianus, beide aus dem Senatorenstand, die Leitung eines so bedeutenden Unter-nehmens übernommen haben, steht im Widerspruch zu dem Ansehen, das beide besaßen. Denn Scaevinus, ein Freund des Dichters Petronius,26 war an Geist durch Schwelgerei zer-rüttet, so daß er sein Dasein nur noch im Halbschlaf hinschleppte. Quintianus, der durch Unzucht oder Knabenliebe in Verruf gekommen und von Nero in einem Schmähgedicht verspottet worden war, wollte sich für diese Beleidigungen rächen. Während der Vorberei-tung zeigten sich beide gar nicht schlaff, sondern im Gegenteil eifrig und voller Energie, die man ihnen zuvor nicht zutraute. Dem Quintianus trat sei engster Freund, der aus dem Militär stammende Publius Glitius Gallus,27 helfend zur Seite.

Diese Männer sprachen nun untereinander oder mit ihren Freunden über die Verbre-chen des Kaisers. Sie waren sich einig, daß dessen Herrschaft jetzt zu Ende gehen und an

19 Tac.ann.15.4820 Neben Tac.ann.15.49 Cass.Dio 62.24.1; sonst unbekannte Männer, die durch ihren Mut und ihre

Energie sich bei der Verschwörung hervor getan haben.21 Wahrscheinlich für das Ersatzconsulat im Verlauf des Jahres 6522 Tac.ann.11.30.223 Ebd. 11.36.424 Ebd. 13.11.225 Koestermann spricht von einem Geistesverwandten des Petron, der ihn später stürzte.26 Tac.ann.16.1827 Seine Abstammung ist nicht sicher; vielleicht der Sohn des Publius Glitius Gallus aus Comum in der

Poebene (CIL V 5345); erster Ehemann der Vistilia, der Mutter Corbulos und der Caesonia (Plin.nat.hist.7.39); über seine Laufbahn s. die von seiner Ehefrau errichtete Inschrift aus Falerii CIL XI 3097. Die Standeszugehörigkeit zur Zeit der Verschwörung ist nicht bekannt. Vielleicht gehörte auch er den Praetorianern an.

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seine Stelle ein Mann treten müsse, der dem zerrütteten Staat wieder aufhelfen und Abhilfe in dem allgemeinen Elend schaffen könne. Währenddessen schlossen sich auch römische Ritter an: Claudius Senecio, Cervarius Proculus, Vulcacius Araricus, Iulius Augurinus, Mu-natius Gratus, Antonius Natalis und Marcius Festus. Unter diesen gehörte Senecio zu den engsten Vertrauten Neros. Er hatte im Jahre 55 Neros Verhältnis mit Acte gedeckt, hielt seitdem den Anschein der Freundschaft aufrecht, strebte keine Karriere im Staatsdienst un-ter Neros Protektion an und hatte deswegen mit umso größeren Gefahren zu kämpfen. Mit ihm trat Annius Pollio,28 sein bester Freund, der Verschwörung bei. Natalis stand in eng-ster Vertraulichkeit mit Piso. Die übrigen Ritter hofften lediglich aus privaten Interessen auf einen Umsturz. Der Verschwörung traten von militärischen Kräften außer den bereits genannten Subrius Flavus und Sulpicius Asper weitere Tribunen der Praetorianercohorten bei: der aus Augusta Taurinorum (Turin) stammende Gaius Gavius Silvanus29 und Statius Proximus sowie die Centurionen Maximus Scaurus und Venetus Paulus.30 Die gewichtig-ste Gestalt aber glaubte man in dem Praetorianerpraefecten Faenius Rufus zu haben. Ob-wohl seine Haltung, sein Lebenswandel und Ruf gelobt wurden, stand sein Amtsgenosse Tigellinus durch manchen klugen Ratschlag und als Genosse seiner Ausschweifungen beim Kaiser in weit höherer Gunst. Tigellinus überhäufte Rufus mit Beschuldigungen und hatte als Neros „böser Geist“31 dem Kaiser wiederholt Angst vor Rufus eingeflößt.32 Agrippina habe sich einst für seine Ernennung zum Praefecten der Getreideversorgung verwendet. Als Gegenleistung sei er ihr Buhle gewesen und sinne nun aus Sehnsucht nach ihr auf Rache. Als nun die Verschworenen durch häufige Unterredungen mit Rufus zu der Überzeugung gelangt waren, daß auch er auf ihre Seite getreten sei, begannen sie mit größerer Entschlos-senheit über Zeit und Ort der Ausführung ihres Anschlags auf den Kaiser zu verhandeln. Subrius Flavus soll sogar den raschen Entschluß gefaßt haben, Nero anzugreifen, sobald er als Sänger auf der Bühne auftrete, oder irgendwann einmal fast ohne Bewachung hierhin und dorthin eile, so geschehen etwa beim Brand in seinem Palast, wobei sich Flavus durch die Menge der anwesenden Zeugen Ruhm erwerben wollte. Doch hielt ihn schließlich die Sorge um sein eigenes Leben zurück, die ja, wie Tacitus kommentiert, großen Taten zumeist hinderlich ist.33

Außer Piso selbst nahmen 21 namentlich bekannte Personen an der Verschwörung teil (zu Epicharis s.u.). Die genauen Beweggründe der Verschwörer bleiben zumeist unbekannt und waren sehr unterschiedlich. Es gab unter ihnen solche, die eine bessere Staatsleitung

28 Sohn des L.Annius Vinicianus; Bruder des Annius Vinicianus und Schwiegersohn des Barea Soranus (Tac.ann.16.30.3); ebenfalls verbannt (Tac.ann.15.71.3). Seine Standeszugehörigkeit zur Zeit der Verschwörung ist nicht bekannt. Vielleicht war auch er Senator.

29 Über seine Laufbahn CIL V 7003 = ILS 2701: Veteran des Britannienfeldzugs (43), von Claudius ausgezeichnet durch Ehrenreif an Hals und Arm sowie mit Brustschmuck, war er Primipilar der leg. VIII Augusta, Tribun der städtischen Nacht-/Feuerwachen, dann einer städtischen Cohorte und schließlich der XII. Praetorianercohorte.

30 Über diese Männer ist außer ihrer Teilnahme an der Verschwörung nichts bekannt.31 So richtig Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 27232 Momigliano hält es für möglich, daß etliche Praetorianer auch nicht fernerhin unter einem kongeni-

alen Genossen des Kaisers und Parvenü wie Tigellinus dienen wollten (CAH 1st Ed., S. 727).33 Tac.ann.15.50

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wünschten (wie etwa Lateranus), weitere, denen Neros unmännliche und nicht standesge-mäße Betätigungen, die er zur Hauptsache gemacht hatte, mißfielen (besonders den Prae-torianern), ferner diejenigen, die das zunehmend schlechte Verhältnis des Hofes zur (stadt)römischen Oberschicht und zum Senat nicht fernerhin billigen wollten, die durch ihn Be-leidigten und auch solche, die Nero überhaupt für ein Übel hielten. Die Verschwörung legte Zeugnis davon ab, wie verhaßt Nero mittlerweile in manchen Kreisen der stadtrömi-schen Oberschicht und vor allem – und hierdurch wurde es für Nero wirklich gefährlich – im Militär war.34 Aber auffällig ist, daß Mitglieder der alten römischen Adelsfamilien dem Unternehmen fern blieben.35 Und während der designierte Consul Lateranus Stel-lung und Leben riskierte, nahm indes kein ehemaliger Consul an der Verschwörung teil.36

Auffällig ist darüber hinaus, daß es nicht mehr um die Frage Principat oder Republik ging. Zudem beschränkten sich die Verschwörer oder Verschwörergruppen auf Rom und Vorsichtsmaßnahmen oder Verbindungen zu Provinzstatthaltern, durch die man sich we-nigstens deren Einverständnis gesichert hätte, sind nicht erkennbar.

223. Epicharis und der Flottenbefehlshaber Volusius Proculus

Zu all diesen genannten Standesherren und Militärs trat noch eine Frau voller Energie na-mens Epicharis hinzu. Während diese noch zögerten und fortgesetzt zwischen Planung und Zaudern schwankten, beginnt sie, die Verschworenen anzufeuern und zurechtzuweisen. Es ist unbekannt, auf welche Weise sie von dem Plan erfahren hatte und was sie zu ihrem Vor-gehen bewog. Sie war eine Freigelassene von Senecas Bruder, Annaeus Mela.37 Jedenfalls war sie des Zögerns müde, und da sie sich gerade in Campanien aufhielt, versuchte sie die Treue der Flottenoffiziere zu Nero zu untergraben und sie ins Vertrauen zu ziehen. In dieser Flotte befehligte ein Nauarch namens Volusius Proculus, der einst als Helfer des Anicetus an der Ermordung Agrippinas im Jahre 59 beteiligt gewesen war. Mit diesem Proculus war Epicharis befreundet. Sie wußte von seinem Verdruß, weil er glaubte, er sei seinerzeit nicht entsprechend der Bedeutung seines Verbrechens befördert worden. Verdienste habe er sich um Nero erworben, aber eingebracht hätten sie ihm nichts. Dann fügte er noch Klagen hinzu und äußerte den Entschluß, Rache nehmen zu wollen, wenn sich ihm die Gelegen-heit dazu böte. Dies nährte in Epicharis die Hoffnung, man könne ihn gewinnen und noch weitere Teilnehmer hinzuziehen. Die Mitwirkung der Flotte, so hieß es, sei von großer Be-deutung und biete zahlreiche Gelegenheiten zum Anschlag, weil sich Nero bei Misenum und Puteoli oft auf Seefahrten verlustiere.

Als sie wieder einmal mit Proculus zusammentraf, geht Epicharis also weiter, beginnt nacheinander die Verbrechen des Kaisers aufzuzählen und läßt auch sonst kein gutes Haar an ihm. Man habe Vorbereitungen dafür getroffen, wie man den Ruin des Staates an ihm rächen könne. Proculus solle nur selbst sich zur Mitwirkung entschließen und die mutig-sten Soldaten zur Teilnahme bewegen; dann könne er reiche Belohnungen erwarten. Die

34 Garzetti, Tiberius to the Antonines, S. 16735 Dessau, Röm. Kaiserzeit, Bd. 2,1, S. 23436 Ebd., S. 23837 Polyain.8.62

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Namen der Verschworenen verschwieg sie ihm jedoch. Aber Epicharis täuschte sich in Pro-culus. Denn die Verärgerung über Nero wurde durch sein Loyalitätsgefühl gegenüber dem Kaiser verdrängt. Proculus brachte vor Nero alles, was er gehört hatte, zur Anzeige, doch blieb sie ergebnislos. Als nämlich Epicharis herbeigeholt und dem Angeber gegenüberge-stellt wurde, widerlegte sie ihn leicht. Vielmehr kamen da seine eigenen Absichten – Äuße-rungen eines Aufwieglers – zur Sprache, wogegen er für das, mit dem er Epicharis belastete, sich auf Zeugen nicht stützen konnte. Epicharis aber behielt man in Gewahrsam, da Nero bedachte, auch was sich einstweilen nicht beweisen lasse, sei deswegen noch nicht falsch.38

224. Beschleunigung der Planungen – Befürchtungen des Piso

Nachdem Epicharis’ Versuch, Mitglieder der Kriegsflotte zu gewinnen, fehlgeschlagen war, beschlossen die Verschwörer nun aus Furcht vor Verrat das Attentat zu beschleunigen. Die meisten waren dafür, es bei Baiae in dem Landhaus Pisos durchzuführen, das der Kaiser wegen seiner anmutigen Lage sehr liebte und häufig besuchte. Dort pflegte er ohne Wachen und ohne das lästige kaiserliche Gefolge zu baden und zu speisen. Aber Piso lehnte dies ab wegen der üblen Nachrede, wenn die Heiligkeit der gastlichen Tafel und die Götter des Gastrechts durch den Mord an Nero, so schlecht er auch sein mochte, verletzt würden. Es sei besser, wenn sie in Rom, in jenem verhaßten und vom Raub an den Bürgern errichteten Goldenen Palast, der damals gerade im Bau war,39 oder an einem anderen öffentlichen Ort die Tat vollbrächten. So sprach sich Piso offen aus. Der eigentliche Grund aber war seine geheime Besorgnis, Lucius Iunius Silanus Torquatus werde die Herrschaft an sich reißen. Dieser war ein Ur-Ur-Urenkel des Augustus,40 ein hochadeliger und in höchstem Anse-hen stehender Mann41 – der letzte unmittelbare Abkömmling aus dem Kaiserhaus neben Nero. Silanus wuchs im Haushalt seiner Tante Iunia Aemilia Lepida (Tochter des Consuls 19 namens Marcus Iunius Silanus Torquatus) und ihres Ehemannes, des Rechtsgelehrten Gaius Cassius, auf, der ihm eine hohe Bildung zukommen ließ. Silanus würde, so dachte Piso bei sich, Zuspruch und Unterstützung all derer finden, die an der geplanten Verschwö-rung nicht beteiligt wären und Nero zum Schein noch bedauerten, weil er einem Verbre-chen zum Opfer gefallen sei. Viele glaubten auch, Piso habe verhindern wollen, daß der energisch veranlagte Consul Vestinus die Republik ausrufe oder einen anderen zum Kaiser erwähle – vielleicht eben jenen Silanus – und so die Herrschaft nach eigenem Ermessen vergebe. Vestinus war nämlich nicht an der Verschwörung beteiligt, obwohl man ihm dies später vorwarf und Nero auch seinen alten Haß an dem Unschuldigen ausließ. So zeigen die Umstände, daß Piso insoweit ungeeignet für den Umsturz war, als ihm gerade Ehrgeiz zur Herrschaft und ein konsequenter, durchgreifender Charakter mangelte, und er dage-gen unwichtige Wahrscheinlichkeiten und unzeitige Konkurrenz hin und her wog. Für sich

38 Tac.ann.15.51; Polyain.8.6239 Nero wohnte damals, wie Tac.ann.15.55.1 zeigt, noch in den horti Serviliani.40 Zur Abstammung s. die Darstellung zum Jahr 54, Anm. 4141 Plin.ep.1.17 (Errichtung eines Standbildes wahrscheinlich zu seinen Ehren); ferner vielleicht auch

CIL VI 1438

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genommen zeigen die genannten Alternativen zu Piso ebenfalls die Unzufriedenheit mit Neros Herrschaft.

Endlich beschlossen die Verschwörer am letzten Tage des Festes, das der Ceres heilig ist und alljährlich vom 12.–19. April begangen wird, das Vorhaben auszuführen. Nero ging selten aus und schloß sich gewöhnlich in seinem Palast oder Park ab.42 Zu den Circusspielen pflegte er indes zu erscheinen. In dem Festtrubel und der allgemeinen Fröhlichkeit konnte man sich ihm so leichter nähern. Für den Anschlag hatten sie folgenden Plan verabredet und sich dabei, wie es scheint, die Ermordung Caesars (44 v.Chr.) zum Vorbild genommen: Lateranus sollte, als ob er um eine finanzielle Unterstützung ansuchen wolle, dem Kaiser demütig zu Füßen fallen und ihn dabei unversehens umwerfen und niederhalten. Er war ein unerschrockener Mann von gewaltiger Körperkraft. Wenn er sodann wehrlos danieder liege, sollten sich die Tribunen, die Centurionen und wer sonst von den übrigen am meisten Mut besaß, sich auf ihn stürzen und ihn durch Dolchstiche töten. Scaevinus verlangte für sich die Berechtigung, den ersten Stoß auszuführen. Er hatte aus einem Heiligtum – dem Tempel der Salus oder dem Fortunatempel in Ferentinum bei Viterbo – einen Dolch an sich gebracht und trug ihn, wie zu einer großen Tat geweiht, bei sich. Inzwischen sollte Piso im Cerestempel in der Nähe des Circus Maximus warten,43 von wo ihn der Praefect Fae-nius Rufus mit den anderen abholen und ihn in das Praetorianerlager bringen würde. Nach Gaius Plinius sollte ihn Antonia, die Tochter des Kaisers Claudius (geb. 28), begleiten, um Volk und Praetorianer günstiger zu stimmen, doch ist dies zweifelhaft.44 Es ist unwahr-scheinlich, daß Antonia auf eitle Hoffnung hin ihren Namen und ihr Leben aufs Spiel ge-setzt haben soll oder auch, daß Piso bei der bekannten Liebe zu seiner Ehefrau eine andere Ehe aus rein politischen Gründen habe schließen wollen. Zudem ist Antonia nicht unter den späterhin Bestraften gewesen.45

225. Verrat des Anschlags durch den Freigelassenen Milichus und die anschließenden Verhöre und Bestrafungen

Es ist verwunderlich, wie unter Leuten von so verschiedener Abstammung, Stand, Alter und Geschlecht, unter Reichen und Armen, dies alles so lange verschwiegen gehalten wer-den konnte. Schließlich aber kam es doch zum Verrat des Vorhabens und zwar ging er vom Hause des Scaevinus aus. Am Tag vor dem geplanten Anschlag hatte Scaevinus ein Gespräch mit Antonius Natalis, kehrte dann nach Hause zurück, versiegelte sein Testa-ment, zog den erwähnten Dolch aus der Scheide und befiehlt, ihn noch einmal auf einem Schleifstein scharf und spitz zu wetzen. Den Auftrag dazu gab er seinem Freigelassenen Milichus. Dann ließ er eine ungewöhnlich reiche Mahlzeit auftragen und beschenkte seine liebsten Sklaven mit der Freilassung, die übrigen mit Geld. Dabei wirkte er traurig

42 Ob hier schon die Domus aurea gemeint ist (wie Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 278 annimmt), oder das Anwesen in den horti Serviliani, ist nicht zu entscheiden. Das letztere trifft meines Erachtens eher zu. Am 19. April hielt sich Nero in den Servilianischen Gärten auf (s.u.).

43 Diese Gegend war offensichtlich nach dem Brand schon wieder hergestellt.44 Tac.ann.15.52f.; Wiedemann, CAH 2nd Ed., S. 252 behandelt dies wie eine Tatsache.45 Griffin, Nero, S. 193

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und mit wichtigen Gedanken beschäftigt, obwohl er in zerstreuten Gesprächen Frohsinn vortäuschte. Schließlich befahl er, Verbandszeug und Mittel zum Blutstillen bereitzuhal-ten. Auch diese Aufträge erteilte er Milichus. Es ist nicht bekannt, ob Milichus in die Verschwörung eingeweiht und bis dahin verschwiegen war, oder ob er von nichts wußte und erst jetzt argwöhnisch wurde. Jedenfalls erwog er die Belohnungen der Treulosigkeit, träumte von großem Reichtum und hoher Stellung und in gleichem Maße wichen sein Pflichtgefühl gegen seinen Herrn, dessen Leben er schützen sollte und die Erinnerung an seine Freilassung. Überdies ließ er sich auch von seiner Frau beraten, die ihn zum Verrat anstachelte, indem sie ihm auch noch Angst machte: Viele Freigelassene und Sklaven hät-ten doch dabei gestanden und dasselbe gesehen wie er. Nichts werde das Schweigen eines einzelnen nützen. Indes, er allein könne den Lohn für seinen Mut empfangen, wenn er den anderen mit seiner Anzeige zuvor komme.46

Mit Tagesanbruch des 19. April begab sich also Milichus in Begleitung seiner Frau zum Servilianischen Park. Am Tor wird er zurückgewiesen, bleibt jedoch hartnäckig und versichert, er bringe wichtige und furchtbare Botschaften. Schließlich wird er von den Torwächtern zu Neros Minister für die Eingaben und Bittschriften (a libellis), Epaphro-ditus, geführt,47 der ihn zum Kaiser geleitet. Dem berichtet er von der drohenden Gefahr und allem übrigen, das er gehört oder sich zusammengereimt und gemutmaßt hatte. Auch die zur Mordtat vorbereitete Waffe zeigt er vor und verlangt, daß der Beschuldigte her-beigerufen werde. Also wird Scaevinus von Soldaten herbei geschleppt. Er versuchte sich zu verteidigen indem er erklärte, der Dolch, aus dessen Besitz man ihm ein Verbrechen mache, sei ein altgeheiligtes Erbstück der Familie aus seiner Heimatgemeinde, das in sei-nem Schlafzimmer aufbewahrt werde. Milichus habe ihn in böswilliger Absicht gestoh-len. Seine testamentarischen Anordnungen habe er schon des öfteren, ohne auf den Tag besonders zu achten, versiegelt. Auch seinen Sklaven habe er schon früher Freiheit und Geld geschenkt. Allerdings sei er diesmal freigiebiger gewesen, aber nur deshalb, weil er bei seinem Vermögensverfall und dem Drängen der Gläubiger nicht wisse, ob nach de-ren Befriedigung noch etwas übrig sei. Wahrlich, seine Mahlzeiten seinen immer reichlich und seine Lebensweise vergnüglich gewesen, wenn dies auch bei strengen Sittenrichtern keine Billigung gefunden haben mag. Einen Auftrag, wundstillende Mittel bereitzuhalten, habe er gar nicht erteilt. Vielmehr füge Milichus, der überhaupt verleumderische Behaup-tungen zusammengestoppelt habe, diese Beschuldigung nur deshalb hinzu, um als Ange-ber und zugleich als Zeuge aufzutreten. All dies brachte Scaevinus mit fester Haltung vor und bezeichnete Milichus als einen ganz ehrlosen und verruchten Bösewicht. Dabei blieb er so sicher in Stimme und Gesichtsausdruck, daß es um die ganze Anzeige schlecht stand. Kurz darauf machte Milichus‘ Frau, die mit ihm gekommen war, ihren Mann noch darauf

46 Nach Rutledge, Imperial Inqusitions, S. 169 hatte Milichus gar keine Wahl zwischen Schweigen oder Verrat angesichts der Bestrafungen von 400 Sklaven nach dem Mord an dem Stadtpraefecten Peda-nius Secundus im Jahre 61 (s.o.).

47 Über ihn s. die Darstellung zum Jahr 62

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aufmerksam, daß Scaevinus eine lange und geheime Unterredung mit Antonius Natalis gehabt habe, und daß beide Pisos vertrauteste Freunde seien.48

Infolgedessen ruft man jetzt Natalis herbei und fragt beide getrennt voneinander über dieses Gespräch und dessen Inhalt aus. Da sich ihre Aussagen nicht deckten, kam Verdacht auf und man ließ beide in Haft nehmen. Als sie die Folterwerkzeuge sahen und mit ihnen bedroht wurden – eine bei ihrer Stellung an sich widerrechtliche Maßnahme49 – hielten sie nicht stand. Den Anfang machte aber Natalis, der mit der ganzen Verschwörung einge-hender vertraut war. Er sagte über Piso aus und erwähnte dann noch Seneca. Entweder war Natalis Unterhändler zwischen diesem und Piso gewesen, oder er wollte sich Neros Gunst erwerben, der Seneca feindlich gesonnen war. Als dann Scaevinus von Natalis’ Geständnis hörte, gab er aus gleicher Schwäche, oder weil er alles bereits für entdeckt hielt und sich von weiterem Schweigen keinen Erfolg mehr versprach, alle anderen an. Er überging jedoch die Offiziere der Praetorianer, von deren Beteiligung er wußte. Dieser Teil der Verschwörung wurde erst später aufgedeckt. Damals aber hoffte Scaevinus noch, daß die Praetorianer auf eigenen Antrieb hin doch etwas ausrichten könnten.50 Unter den Übrigen aber leugneten Lucanus, Quintianus und Senecio lange Zeit alles ab. Dann ließen sie sich dadurch umstim-men, daß ihnen Straffreiheit versprochen wurde. Um ihr langes Zögern zu entschuldigen, gab nun Lucanus die Beteiligung seiner Mutter Acilia an,51 die beiden anderen hingegen ihre besten Freunde – Quintianus den Publius Glitius Gallus, Senecio den Annius Pollio.52

226. Folter und Tod der Epicharis

Inzwischen erinnerte sich Nero der Epicharis, die auf Volusius Proculus’ Anzeige hin ver-haftet worden war. Da er glaubte, eine Frau sei körperlichen Martern nicht gewachsen, be-fiehlt er, sie zu foltern. Epicharis indes ließ sich weder durch Auspeitschen, noch durch Feu-erqualen oder durch den Mutwillen der Folterknechte, die sich nicht von einem Weib Trotz bieten lassen wollten, zu einem Geständnis bewegen. So blieb der erste Tag ihres peinli-chen Verhörs mit erlesenen Folteranwendungen, bei denen Tigellinus die Untersuchung führte, ergebnislos.53 Als sie tags darauf auf einem Tragsessel zur Fortsetzung der Folter

48 Tac.ann.15.54f.49 Die Folter Hochgestellter (honestiores) hatte es entgegen den rechtlichen Vorschriften bereits unter

Tiberius, Caligula und Claudius gelegentlich gegeben: Cass.Dio 57.19; Suet.Tib.58; Sen.ira 3.18.3; 19.3; Suet.Cal.26.3; Cass.Dio 60.15

50 Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 28851 Sie blieb straffrei (s.u.)52 Tac.ann.15.56. Einen gänzlich anderen Hergang des Verrats berichtet Plutarch in seiner Schrift über

die Schwatzhaftigkeit (Plut.de garrul.7), die aber gegenüber der Darstellung, wie sie Tacitus gegeben hat, keine Glaubwürdigkeit verdient. Eine Übereinstimmung besteht nur darin, daß ein gesellschaft-lich tief stehender Mann die Verschwörung verraten hat.

Nach Plutarchs Bericht wartete der Attentäter am Eingang des Theaters auf den Kaiser, dem ein Ge-bundener zugeführt wurde. Diesem flüsterte der Attentäter etwas im Hinblick auf seine Rettung ins Ohr, das dieser richtig als das bevorstehende Attentat deutete und Nero verriet, bevor etwas gesche-hen konnte. Daraufhin wurde der Attentäter im Nu gefaßt und auf die Folter gespannt.

53 Cass.Dio 62.27.3

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geschleppt wurde – sie konnte wegen ihrer verrenkten Glieder nicht mehr gehen –, zog sie ihren Büstenhalter hervor, knüpfte ihn als Schlinge an die Stuhllehne und steckte den Hals hinein. Dann stemmte sie sich mit ihrem ganzen Körpergewicht dagegen und erstickte sich selbst. Damit gab eine Freigelassene, eine Frau, ein Beispiel der Standhaftigkeit, indem sie trotz ihrer großen Not und Bedrängnis fremde, ihr fast unbekannte Männer nicht preisgab, während freigeborene Männer, römische Ritter und Senatoren, ohne Berührung mit Folter, ihre treuesten Angehörigen verrieten.54

227. Bewachung Roms und Italiens – Fortsetzung der Verhöre in den Servilianischen Anlagen – Faenius Rufus

Diese ersten Angaben versetzten Nero derart in Schrecken, daß er, auf persönliche Sicher-heit bedacht, sich fortan von einer größeren Wachmannschaft begleiten ließ. Nachdem nun Lucanus, Quintianus und Senecio weitere Teilnehmer nannten und die Verhöre ohne Un-terlaß das ganze Ausmaß der Verschwörung offenlegten, nahm Nero gleichsam ganz Rom in Haft und ließ überall Soldaten aufziehen. Weitere Polizei- und Kampfverbände, Flotten- und Reiterschwadronen durchstreiften die italischen Landstädte und überwachten auch den Tiber und Ostia. Unter ihnen waren jetzt vor allem berittene Germanen aus der Wach-truppe des Kaiserpalastes, die als besonders gefolgschaftstreue Ausländer, sogar die übrigen Verbände kontrollieren sollten.

Währenddessen wurden unablässig Scharen von Gefangenen herbei geschleppt55 und mußten vor den Toren des Parks warten. Während des Verhörs wurde ihnen nicht nur eine freundliche Äußerung gegen die Verschwörer, sondern auch ein zufälliges Gespräch oder ein unvermutetes Zusammentreffen bei einem Gelage oder Schauspiel als Verbrechen ausgelegt. Außer den unerbittlichen Untersuchungsrichtern, Nero und Tigellinus und vielleicht auch Epaphroditus,56 beteiligte sich auch Faenius Rufus sehr eifrig an den Verhören, die in den Ser-vilianischen Parkanlagen stattfanden.57 Rufus war nämlich noch nicht von den Angebern ge-nannt worden. Es hatte jetzt den Anschein, als wolle er die gemeinsame Sache verlassen, denn er zeigte sich besonders rücksichtslos gegen seine Mitverschworenen, um dadurch glaubhaft zu machen, daß er nichts von der Sache wisse. Auch als der dabeistehende Subrius Flavus ihm durch ein Zeichen zu verstehen gab, daß er noch während der Untersuchung sein Schwert ziehen und den Mord an dem anwesenden Kaiser ausführen wollte, winkte Rufus ihm ab und zerbrach so dem Mann, als bereits seine Hand am Griff des Schwertes lag, den mutigen Entschluß.58 Während der Verhöre gelang es im Verborgenen manch einem der schwerreichen Beschuldigten, sich durch ungeheure Geldsummen an Tigellinus frei zu kaufen.59

54 Polyain.8.62; Tac.ann.15.5755 Suet.Nero 36.256 Epikt.Diatr.1.1.2057 Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 32858 Tac.ann.15.5859 Davon berichtet einzig ein Auszug aus Cass.Dio 62.28.4, doch besteht kein Anlaß, der Nachricht

nicht zu trauen.

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228. Reaktion Pisos und sein Tod

Nachdem nun die Verschwörung aufgedeckt, Milichus vernommen wurde und Scaevinus noch unentschlossen war, forderten einige Verschwörer Piso auf, in die Kaserne der Prae-torianer zu gehen oder durch eine Ansprache Soldaten und Volk für sich zu gewinnen. Die Mitverschworenen sollten sich dem Versuch anschließen. Auf diese Weise würden dann Unbeteiligte nachfolgen. Jede Umsturzbewegung werde durch ihren Ruf verstärkt. Nero sei gegen einen solchen Überraschungsfall völlig unvorbereitet. Selbst mutige Män-ner würden durch unerwarteten Angriff geschreckt. Es sei gar nicht vorstellbar, wie Nero, ein Held der Theaterbühne, bewaffnete Gegenmaßnahmen ergreifen könne. Eine Gestalt wie Tigellinus sei doch unablässig mit Dirnen beschäftigt. Vieles komme durch einen entschlossenen Versuch zustande, was Zaghaften und Tatenscheuen als unausführbar er-scheine. Vergebens sei die Hoffnung auf Verschwiegenheit und Treue. Martern und Beloh-nungen würden ihre Zungen lösen. Auch er werde abgeführt werden, ihn zu binden und schändlich sterben zu lassen. Um wieviel herrlicher würde sein Tod sein, wenn er sich des Gemeinwesens annehme und zum Kampf für die Freiheit von der neronischen Tyrannei aufriefe! Mögen ihm die Soldaten die Gefolgschaft verweigern, mag das Volk ihn im Stich lassen, ruhmvoll wäre es, wenn er durch einen ehrenvollen Tod sich seiner Vorfahren und Nachkommen würdig erweise!

Aber durch diese Ausführungen und Vorhaltungen war Piso nicht zu beeindrucken, blieb nur noch kurze Zeit in der Öffentlichkeit und zog sich dann in sein Haus zurück, wo er Kraft für seine letzten schweren Stunden sammelte. Dann nahte schon eine Schar Soldaten, die Nero aus den jüngst Eingezogenen zusammengestellt hatte, denn bei den älteren befürchtete er, sie könnten auf Pisos Seite sein. Doch dieser hatte sich bereits die Pulsadern aufgeschnitten und verblutete. In seinem Testament äußerte er, um seine Gattin Satria Galla zu schützen, niedrige Schmeicheleien gegen Nero.60

229. Hinrichtung des Lateranus

Die nächste Hinrichtung ließ Nero an dem designierten Consul Plautius Lateranus vollzie-hen. Das prächtige Stadthaus wird rasch von Bewaffneten umstellt.61 Dabei herrschte eine solche Eile, daß dem Verurteilten nicht der Abschied von seinen Kindern erlaubt wurde. Auch die übliche kurze Bedenkzeit für die Wahl der Todesart gestattete man ihm nicht. Statt dessen wird er zu dem für Sklaven bestimmten Platz der Hinrichtung vor das Esqui-linische Tor geschleppt. Der zu den Verschwörern gehörende Tribun Statius Proximus,62 hatte den Befehl erhalten, ihm mit dem Schwert den Kopf abzuschlagen, wobei er den Hals nicht beim ersten Streich traf. Lateranus bewahrte bei alldem ein standhaftes Schweigen und warf dem Tribunen nicht einmal Mitwisserschaft vor.63 Sein vornehmes Stadthaus auf

60 Tac.ann.15.5961 Iuv.10.16f.62 Tac.ann.15.50.363 Epikt.Diatr.1.1.18f.; Tac.ann.15.60.1

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dem Caelius-Hügel ging in kaiserlichen Besitz über.64 Aus Reue oder Gram beging Statius Proximus später Selbstmord.65

230. Ermittlungen gegen Seneca und sein Tod – Diskussion der Nachfolge Neros

Darauf folgte die Beseitigung Senecas.66 An seiner unmittelbaren Beteiligung67 zur Er-mordung des Kaisers sind mit Recht Zweifel geäußert worden, und sie ist umstritten. Sie ließ sich auch damals nicht nachweisen, aber es gab Hinweise darauf, daß er von ihr ge-wußt hat und vermutlich aus diesem Grund in die Nähe von Rom gekommen war, um die weitere Entwicklung abzuwarten. Seneca war nämlich in diesen Tagen zufällig oder absichtlich aus Campanien zurückgekehrt und auf seinem Landgut etwa 6 Kilometer vor Rom geblieben.68

Bei Cassius Dio beziehungsweise in den Auszügen aus seinem Geschichtswerk erschei-nen nur Seneca und Faenius Rufus als namentlich genannte Träger der Verschwörung. Es wird an der Stelle jedoch nichts darüber gesagt, wer Nero nachfolgen sollte. Was Rufus an-geht, so kann dies ausgeschlossen werden. Daß aber Piso gar nicht erwähnt wird, ist beun-ruhigend und kaum erklärbar. Tacitus‘ hingegen deutet Uneinigkeit unter den Verschwo-renen über die Nachfolge Neros an und spricht vorsichtig von einem Gerücht, das sich auf das Verhalten der Praetorianer bezieht. Danach habe der Tribun Subrius Flavus in geheimer Beratung mit den Centurionen, aber mit Wissen Senecas abgemacht, es solle nach der Er-mordung Neros auch Piso beseitigt und die Herrschaft Seneca übergeben werden, weil er unbescholten und wegen des Ruhms seiner Tugend der Herrschaft würdig sei. Es gelangte sogar eine Äußerung des Flavus in die Öffentlichkeit: Es bleibe doch dieselbe Schande, wenn man einen Kitharasänger absetzte und einen Tragödienspieler erhebe. Denn auch Piso pflegte, wie gesagt, von Zeit zu Zeit im Gewand eines tragischen Schauspielers zur Kithara zu singen.69

Fraglich bleibt jedoch, ob die Offiziere wirklich einen Philosophen auf den Thron hät-ten erheben wollen.70 Eine Art „Herold“ der Verschwörung71 wird Seneca gewesen sein.

64 Iuv.10.15ff.65 Tac.ann.15.71.266 Zur Quellenfrage für Tacitus’ Bericht Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 297. Wie tendenziös antine-

ronisch Sueton hier ist zeigt die Stelle Nero 35.5. Dort heißt es, daß er den Philosophen noch zuvor in Sicherheit gewogen habe, um ihn sodann zum Selbstmord zu zwingen. Die Szene zwischen Seneca und Nero ereignete sich drei Jahre zuvor anläßlich des Rücktrittgesuchs Senecas.

67 Cass.Dio 62.24.1. Zum Quellenproblem bei Tacitus Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 287f.68 Tac.ann.15.60.469 Ebd. 15.6570 Noch Schiller, Nero, S. 184f., 695ff. dagegen hielt dies mit aus meiner Sicht unzureichenden Argu-

menten für sehr wahrscheinlich.71 So Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 309

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Vielleicht hat er von verschwörerischen Bewegungen gewußt, aber eine unmittelbare Be-teiligung Senecas ist höchst unwahrscheinlich.72

Zunächst wurde Seneca durch eine Aussage des Natalis belastet.73 Dieser äußerte sich aber nur soweit, daß er zu dem erkrankten Seneca geschickt worden sei, um ihn zu besuchen und sich im Namen von Piso zu beschweren, daß dieser nicht vorgelassen worden sei, mit dem Bemerken: Es sei doch besser, wenn sie ihre Freundschaft in vertrautem Verkehr pfle-gen würden. Wann Piso Seneca aufsuchen und was er besprechen wollte, bleibt unbekannt. Natalis hat es, sollte er es gewußt haben, verschwiegen. Seneca habe darauf geantwortet, häufige Unterredungen und Gedankenaustausch brächten für beide Teile keinen Nutzen. Im übrigen beruhe ja seine eigene Erhaltung auf der Unversehrtheit Pisos. Aus dieser Aus-sage konnte eine verschwörerische Verbindung herausgelesen werden.

Nun wurde der Praetorianertribun Gavius Silvanus, der auch den Verschwörern ange-hörte, zu Seneca geschickt. Er sollte anfragen, ob er Natalis’ Worte und seine eigene Er-widerung bestätige und als zutreffend anerkenne. Der Tribun kam also am nächsten Tag zu dem oben erwähnten Landgut Senecas mit einer Abteilung Soldaten und sperrte es ab. Dann überbrachte er ihm die Aufträge des Kaisers, während Seneca gerade mit seiner Gat-tin Pompeia Paulina und zwei Freunden – wahrscheinlich Fabius Rusticus und sein Arzt Statius Annaeus74 – speiste. Seneca bestätigte die Angaben des Natalis. Den Besuch Pisos habe er zurückgewiesen und sich mit seinem Gesundheitszustand und seinem Ruhebedürf-nis entschuldigt. Einen Grund, anderen gefällig zu sein und seiner eigenen Erhaltung vor-zuziehen, habe er nie gehabt, und Schmeicheleien zu sagen, sei ohnehin nicht seine Art. Das wisse ja niemand besser als Nero selbst, der viel öfter seinen unbefangenen Freimut als seine Unterwürfigkeit kennengelernt habe.

Silvanus kam nach Rom zurück und überbrachte Nero in Anwesenheit von Poppaea und Tigellinus diese Auskünfte. Dann fragt Nero, ob Seneca Anstalten zum freiwilligen Tod treffe. Nein, es seien bei ihm keinerlei Anzeichen von Furcht und oder Niedergeschla-genheit bemerkbar. So erhält Silvanus den Befehl zurückzukehren und ihm den Tod anzu-kündigen – das hieß, ihn zum Selbstmord aufzufordern. Nach dem Bericht des Fabius Ru-sticus, den Tacitus wiedergibt, sei Silvanus nicht sofort zu Seneca zurückgekehrt, sondern er sei erst zum Praefecten Faenius Rufus gegangen, habe ihm des Kaisers Befehl mitgeteilt und ihn als seinen Vorgesetzten gefragt, ob er den Anordnungen Folge leisten solle. Rufus habe ihm zugeredet, er solle getrost den Befehl ausführen. So kam es, daß die Meisten sich als mutlos erwiesen. Denn auch der genannte Silvanus, förderte jetzt noch die Frevel, zu deren Ahndung er einst hatte mitwirken wollen. Er ersparte sich obendrein noch die persönliche Unterhandlung mit Seneca und schickte seinerseits einen Centurio zu ihm, um ihm durch ihn ankündigen zu lassen, daß er sterben müsse. Silvanus ergriff später die Reue über sein Handeln, und er brachte sich selbst ums Leben.75

Das Sterben Senecas und seiner Gattin haben mehrere Zeugen miterlebt, deren Berichte Tacitus zu einer eigenen, eindrucksvollen Darstellung gestaltet hat, die sinngemäß folgenden

72 So auch Griffin, Nero, S. 17373 Tac.ann.15.60.2ff.74 Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 29875 Tac.ann.15.71.2

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Inhalt hat: In aller Ruhe fordert Seneca zunächst die Schreibtafeln seines Testaments, um dieses durch Anhänge zu ergänzen. Aber der Centurio hatte Anweisung, ihm das zu ver-weigern und Seneca äußerte sodann, indem er sich zu seinen Freunden wandte: Da man ihn hindere, seinen Dank für ihre Verdienste abzustatten, hinterlasse er ihnen das einzige, aber auch das Wertvollste, was er noch besitze, nämlich das Bild seines Lebens. Wenn sie dies im Gedächtnis behielten, würden sie den Ruhm wahrer Tugend für ihre Freundschaft gewinnen. Zugleich sucht er sie von ihren Tränen bald durch freundliches Zureden, bald durch ernste Zurechtweisung zur Standhaftigkeit zurückzurufen. Er fragt, wo denn ihre philosophischen Grundsätze, wo ihre durch so viele Jahre erprobte Verhaltensweise drohenden Gefahren gegenüber geblieben sei? Sie wüßten doch seit langem wie grausam Nero sei. Nachdem er seinen Bruder und seine Mutter umgebracht habe, was bleibe ihm da noch übrig, als seinen Erzieher und Lehrer zu beseitigen!? Nun prüft er noch einmal die Schrift, die er gerade abge-schlossen hatte. Seine übrigen Schriftwerke hatte er zuvor schon aus Furcht um ihren Bestand bei Freunden hinterlegt. In seinem Testament hinterließ Seneca, wie sich später zeigte, dem Kaiser sein Vermögen zur Finanzierung des Wiederaufbaus der Hauptstadt.76

Nachdem er dergleichen mehr für die Anwesenden gesprochen hatte, umarmt Seneca seine Gattin Paulina, und in etwas milderer Gestimmtheit, wegen seiner Besorgnis um ihr Schicksal, bittet er sie dringend, sie solle maßvoll bleiben und sich nicht einem endlosen Schmerz hingeben, sondern in Betrachtung seines dem Streben nach Vollkommenheit ge-weihten Lebens ihren Schmerz durch die Tröstungen eines tugendhaften Lebenswandels zu lindern suchen. Sie dagegen erklärt, auch ihr sei der Tod bestimmt und verlangt, mit ihm gemeinsam zu sterben. Seneca wollte ihrem Entschluß nicht entgegenstehen, um auch seine Gattin nicht für weitere Mißhandlungen zurückzulassen. Deshalb spricht er sie lobend an, während er mit einem gemeinsamen Schnitt beider Pulsadern öffnet. Weil Senecas greisem und karg ernährtem Körper das Blut zu langsam ausfloß, schneidet er sich jetzt die Adern an den Beinen und Kniekehlen auf. Um aber, von grausamen Martern gequält, nicht die mutige Haltung Paulinas zu brechen und selbst beim Anblick ihrer Qualen schwach zu werden, rät er ihr, sich in ein anderes Zimmer zu begeben.77 Und weil ihm gar noch in der Stunde des Todes seine Beredsamkeit zu Gebote stand, soll er seine Schreiber haben kom-men lassen denen er eine Rede diktierte,78 die nach seinem Ableben veröffentlicht wurde, von der aber nichts erhalten ist. Gegen Paulina hatte Nero keinen persönlichen Haß. Die Empörung über sein Vorge-hen wollte er nicht noch steigern. Als er von der Tat erfuhr, befiehlt er, man solle ihrem Ab-leben Einhalt tun. Auf Anweisung der Soldaten verbinden die Sklaven und Freigelassenen rasch ihre Arme und stillen das Blut der bewußtlosen Frau. Sie hat dann nur noch wenige Jahre gelebt. Aber sie blieb gezeichnet durch ihren Selbsttötungsversuch, denn an Gesicht und Gliedern war sie so bleich, daß man den Verlust ihrer Lebenskraft deutlich erkennen konnte.

76 Cass.Dio 62.25.2f.77 Nach einer senecafeindlichen Fassung, die sich bei Cass.Dio 62.25.1f. findet, verlangte Seneca von

Paulina, ihm in den Tod zu folgen und schnitt sich und ihr die Adern auf; sie aber wird durch herbei eilende Soldaten noch gerettet.

78 Zu der Szene Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 305

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Unterdessen bat Seneca, weil sich das Sterben zu lange hinzog und der Tod nur langsam eintrat, seinen langjährigen treuen Freund und Arzt, Annaeus Statius, ihm das vorbereitete Gift (Schierling) zu reichen, das die in Athen durch öffentlichen Richtspruch Verurteilten trinken mußten. Doch er nahm es ohne Erfolg ein, weil seine Glieder infolge des Blut-verlusts schon erkaltet und der Blutkreislauf bereits zu schwach waren. Schließlich bestieg er, gestützt auf die Sklaven, eine Wanne mit heißem Wasser, besprengte die ihm zunächst Stehenden und sagte dabei, er weihe dieses Naß Iuppiter, dem Befreier. Dann brachte man79 ihn in ein Dampfbad, wo ihn die Hitze erstickte. Sein Leichnam wurde ohne jede Feier ver-brannt. So hatte er es selber in seinem Testament verfügt, schon zu einer Zeit, als er noch in der Fülle von Wohlstand und Einfluß stehend, dennoch seines Endes gedachte.

231. Die Verschwörung der Offiziere – Harte Bestrafung von Angehörigen der Verschwörer

Während dies so vor sich ging, wurde nun auch die Beteiligung der Praetorianeroffiziere aufgedeckt, die bisher verborgen geblieben war. Dies war für Nero besonders erschreckend, weil sich zeigte, daß ein großer Teil von denen, die sein Leben schützen sollten, bereit wa-ren, ihn zu ermorden. Den vorgeführten Senatoren und Rittern erschien es unerträglich, daß der mitverschworene Praefect Faenius Rufus sich jetzt als scharfer Untersuchungsrich-ter gebärdete. In Gegenwart des Kaisers erklärt auf Rufus‘ drängende und drohende Fragen an die Angeklagten schließlich der erboste Scaevinus mit höhnischem Grinsen, niemand als er selbst wisse doch alles über die gesamte Angelegenheit. Dem gütigen Kaiser möge er doch bitte nicht mit Heuchelei begegnen und auf den Weg zur Wahrhaftigkeit finden. Faenius verschlug es daraufhin die Sprache, aber er versuchte, sein Schweigen zu beenden, brachte indes nichts als Gestammel hervor und zeigte durch seine Miene sichtbar seine Angst. Da die übrigen, besonders der Ritter Cervarius Proculus, bemüht waren, Faenius zu überführen, wird dieser schließlich auf kaiserlichen Befehl von dem ungewöhnlich kräfti-gen Soldaten Cassius ergriffen und gefesselt.80

Bald darauf wird auch der Tribun Subrius Flavus durch die Anzeige der oben genannten Männer zu Fall gebracht. Anfangs suchte er sich damit zu verteidigen, daß er ein anders gearteter Mensch sei und sich als Soldat niemals mit verweichlichten Zivilisten zu einer solchen Tat verbündet hätte. Als dann aber seine Bedrängnis zunahm, suchte er Ruhm in einem offenen Bekenntnis. Auf Neros Frage, aus welchen Gründen er sich habe hinreißen lassen, seinen Eid zu brechen, antwortete er: „Ich haßte dich! Und doch war keiner deiner Soldaten dir treuer, solange du geliebt zu werden verdientest: Aber ich begann dich zu has-sen, seitdem du zum Mörder deiner Mutter und deiner Ehefrau, zum Wagenrennfahrer, Schauspieler und Brandstifter wurdest.“81 Nichts während der gesamten Verhandlungen hat Neros Empfindlichkeit mehr beleidigt als diese Worte.

79 Nach Cass.Dio 62.25.2 die Soldaten80 Tac.ann.15.6681 Ähnlich wie Tac.ann.15.67.2 auch Cass.Dio 62.24.2: dort wird nur der Wagenlenker und der Kithar-

öde erwähnt; allgemein auch Suet.Nero 36.2

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Die Bestrafung des Flavus wird dem Tribunen Veianius Niger82 übertragen. Dieser ließ auf dem nächsten Feld eine Grube ausheben, die Flavus dann als zu flach und zu eng tadelte und zu den umstehenden Soldaten sagte: „Nicht mal dies nach Dienstvorschrift!“ Später, als man ihn ermahnte, den Nacken vorzustrecken, erwiderte er, der Henker möge nur herz-haft zuschlagen. Nachdem dieser ihm heftig zitternd mit Mühe durch zwei Beilhiebe den Kopf abgeschlagen hatte, prahlte er vor Nero noch mit seiner der Unfähigkeit geschuldeten Grausamkeit, indem er äußerte, er habe anderthalb Streiche für die Hinrichtung benötigt.

Das nächste Beispiel von Standhaftigkeit gab der Centurio Sulpicius Asper. Als Nero ihn fragte, warum er sich zu seiner Ermordung verschworen habe, antwortete er knapp, man habe sich gegen seine vielen Frevel und Schandtaten nun mal nicht anders helfen kön-nen.83 Darauf erlitt er seine Strafe. Auch die übrigen Centurionen Maximus Scaurus und Venetus Paulus zeigten beim Erdulden ihrer Hinrichtung eine würdige Haltung. Nur der Praefect Rufus bewies nicht den gleichen Mut, sondern brachte sein Jammern noch in sei-nem Testament vor.84

Einer vereinzelten, glaubhaften Nachricht zufolge traf auch die Angehörigen und be-sonders die Kinder und Jugendlichen der Verschwörer harte Bestrafung, die bis zum Tode führte.85 Von ihnen sind etliche in die Verbannung verwiesen, andere durch Vergiftung ge-tötet oder dem Hungertode preisgegeben worden, entweder im Kerker oder indem man ihnen verwehrte, den täglichen Lebensunterhalt zu beschaffen.86

232. Das Ende des Consuls Vestinus Atticus

Sehr bezeichnend für Neros Verhalten in seiner späten Regierungszeit war das Vorgehen gegen den amtierenden Consul Vestinus Atticus. Ihn hatten die Verschwörer nicht in ihre Pläne eingeweiht. Einige hegten alte Feindschaft gegen ihn; die meisten aber hielten ihn für unberechenbar und unverträglich. Im Vertrauen auf ihre eigene Besonnenheit fürchteten sie Vestinus‘ Entschlossenheit. Nero selbst war ihm feindlich gesonnen, doch beruhte dies auf Gegenseitigkeit. Er wartete darauf, daß Vestinus in die Anklage hineingezogen werde, weil er ihn für gewalttätig und seiner Gesinnung nach für feindlich hielt. Neros Haß gegen Vestinus hatte sich aus einer ehedem sehr engen Kameradschaft entwickelt. Vestinus ver-achtete nämlich die im Grunde schlaffe Seite von Neros Wesensart, die er genau erkannt hatte, während der Kaiser die Unbefangenheit, den Freimut und die Tatkraft des Vestinus fürchtete, der ihn oft mit beißendem Spott verfolgte. Denn, so meint Tacitus zurecht, wenn spöttische Worte zu viel Wahres enthalten, so bleibt oftmals ihr kränkender Gehalt dauer-

82 Sonst unbekannt83 Cass.Dio 62.24.1f.; Suet.Nero 36.284 Tac.ann.15.67f.85 Dasselbe galt schon für die unschuldigen minderjährigen Kinder Seians im Jahre 31 (Tac.Ann.5.9;

Cass.Dio 58.11.5).86 Suet.Nero 36.2. Sueton wird hier einer anderen Quelle gefolgt sein, die Tacitus in seine Darstellung

nicht einbezogen hat. Eine Reminiszenz daran enthält Cass.Dio 63.11.3 in völlig anderem Zusam-menhang (Griechenlandreise), aber der Sache nach auf die Nachwirkungen der Pisonischen Ver-schwörung bezogen. Hier ist sogar von einem kaiserlichen Erlaß zur Verbannung der Kinder aller Verurteilten die Rede (s. ferner Tac.ann.15.73.1).

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haft in der Erinnerung haften. Zu allem schien noch ein weiterer Grund hinzuzukommen: Vestinus hatte nämlich sich mit Statilia Messalina vermählt, obwohl er genau wußte, daß sich unter ihren Liebhabern auch der Kaiser befand.87 Doch die Ermordung des Vestinus diente nicht dem Zweck, daß Messalina für eine Ehe mit dem Kaiser frei würde,88 sondern einen auch sonst lästigen Nebenbuhler loszuwerden. Zwischen seinem Tod und der erneu-ten Ehe Messalinas im Frühjahr 66 lag etwa ein dreiviertel Jahr.

Als nun keine Anschuldigungen vorgebracht wurden, ferner sich kein Ankläger fand und Nero andererseits nicht Kläger und Richter sein wollte, griff er zur Gewalt eines Ty-rannen, um ihn ohne Prozeß zu beseitigen. Er schickte den Tribunen Gerellanus89 mit einer Cohorte Soldaten zu ihm mit dem Befehl, den Unternehmungen des Consuls, wie er sagte, zuvorzukommen, sein festungsähnliches Haus zu besetzen und seine auserlesene Mann-schaft zu überwältigen. Oberhalb des Forums besaß Vestinus nämlich einen Stadtpalast und eine Sklaventruppe von gleichem Alter. An jenem Tage hatte er seine Obliegenheiten als Consul erfüllt und veranstaltete ein Gastmahl, weil er nichts befürchtete oder Besorg-nisse verbergen wollte. Da traten Soldaten ein und sagten, daß er vom Tribunen verlangt werde. Der Consul erhebt sich ohne Zögern und von da an ging alles geschwind vor sich: Man schließt ihn in das Schlafgemach ein. Ein Arzt (!) ist zur Stelle und die Adern werden ihm aufgeschnitten. Da er nicht rasch genug stirbt und sein Todeskampf zu lange dauert, bringt man ihn nun in ein Dampfbad und versenkt ihn im heißen Wasser. Bei alldem gab er keinen Laut von sich, um sein Schicksal zu bejammern. Währenddessen werden seine Tischgäste bewacht und erst spät in der Nacht entlassen. Nero hatte sich die Angst der Leute ausgemalt, sie nachgeäfft und sich darüber lustig gemacht, wie sie an der Tafel ihren baldigen Tod erwarteten. Als ihm der Vollzug gemeldet wurde, äußerte er höhnisch, die Gäste seien nun für das consularische Mahl genug abgestraft.90

233. Weitere Selbstmorde – Lucanus, Senecio, Quintianus, Scaevinus, Gavius Silvanus, Statius Proximus

Danach befahl Nero die Hinrichtung des Dichters Annaeus Lucanus, obwohl ihm noch kurz zuvor im Falle eines Geständnisses Straflosigkeit zugesichert worden war.91 Am 30. April 65 schnitt er sich die Adern auf.92 Als er sein Blut entströmen fühlt, als ihm Füße und Hände kalt werden und seine Lebensgeister aus den Gliedmaßen allmählich entweichen, während sein Bewußtsein noch klar war, da fiel ihm seine eigene Dichtung ein, in der er einen verwundeten Soldaten auf gleiche Weise hatte sterben lassen.93 Sein Vermögen wurde beschlagnahmt.94

87 Tac.ann.15.68.2f.; zu Statilia Messalina s. die Darstellung des Jahres 66.88 So Suet.Nero 35.1; mit berechtigten Zweifeln dagegen Bradley, Nero, S. 20989 Über ihn ist sonst nichts bekannt.90 Tac.ann.15.68f.; Suet.Nero 35.191 Tac.ann.15.56.492 Vit.Luc.93 Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 320 denkt an den Tod des Lycidas, den Lucan im 3. Buch, Verse

635–46 seines Hauptwerks geschildert hat.94 Nach Iuv.7.769 besaß er luxuriöse Gärten

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Dann nahmen sich noch Senecio, Quintianus und Scaevinus das Leben, obwohl auch ihnen Straflosigkeit zugesichert worden war. Ihr bitteres und hartes Sterben stand im Ge-gensatz zu ihrem ehedem so lässigen Lebenswandel mit seiner vermeintlichen Trägheit. Bald nach ihnen kamen auch die übrigen Verschwörer an die Reihe, diese aber ohne eine bemerkenswerte Handlung oder Rede.95

234. Erste Belohnungen und weitere Bestrafungen

Nero nun, erleichtert und im Hochgefühl der überwundenen Gefahr, belohnt zunächst die Ritter Antonius Natalis und Cervarius Proculus mit Straferlaß, weil sie sich mit ihren Aus-sagen und Beschuldigungen beeilt hatten. Milichus erhielt reiche Belohnungen und nahm den Beinamen „Retter“, in griechischer Form (sotēr, σωτήρ) an.

Gleichzeitig erfolgten weitere Selbstmorde und Bestrafungen. 96 Von den Tribunen tö-tete sich Gavius Silvanus trotz Freispruchs – vermutlich im Gram über den Selbstmord Senecas, den er widerstandslos hatte herbeiführen helfen.97 Obwohl er zu den Verschwö-rern gehört hatte, konnte ihm seltsamerweise seine Beteiligung nicht nachgewiesen wer-den. Auch Statius Proximus ging trotz Freispruchs durch den Kaiser freiwillig in den Tod. Weitere vier Praetorianertribunen außer den bereits genannten drei98 wurden sodann ihrer Tribunenstellung enthoben: ein gewisser Pompeius (…), Cornelius Martialis, Flavius Nepos und Statius Domitius, nicht weil sie den Kaiser wirklich haßten, sondern weil sie unter die-sem Verdacht standen.99 Für wie gefährlich der Hof die Lage hielt, zeigt die Tatsache, daß man damit sieben der zwölf100 amtierenden Praetorianertribunen entfernt hatte.

Eine große Anzahl von Personen wurde mit Verbannung bestraft: Novius Priscus101 an-geblich wegen seiner Freundschaft mit Seneca, doch dieser Vorwurf hätte dann auch andere treffen müssen;102 ferner die genannten Publius Glitius Gallus und Annius Pollio (diese drei mit exilium), weil sie von Quintianus beziehungsweise von Lucan angegeben worden waren, ohne überführt worden zu sein. Den Priscus begleitete seine Gattin Artoria Flacilla in die Verbannung, den Gallus Egnatia Maximilla,103 die anfänglich ihre großen Reichtü-

95 Tac.ann.15.70 96 Tacitus nennt ann.15.71.2ff. wohl nur die wichtigsten Namen, doch dürften dies kaum alle Opfer

gewesen sein. 97 Tac.ann.15.61.4; Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 322 98 Tac.ann.15.49; 50.3 99 Ebd. 15.71.1.f.100 CIL V 7003 = ILS 2701. Wiedemann, CAH 2nd Ed., S. 252 irrtümlich sechzehn Praetorianertri-

bunen; dagegen L. Keppie, ebd., S. 393 zwölf101 Möglicherweise der Consul 78 Decimus Novius Priscus (CIL VI 2056, 32362 = ILS 5027)102 So schon Schiller, Nero, S. 192 (s. aber u. Caesennius Maximus)103 Gallus verbannt auf Andros in Begleitung seiner Ehefrau Egnatia Maximilla, die dort Ehrenstatuen

der Bewohner erhielten (CIG 2349i; IG XII 5757 = Ditt.Syll. 811/12); seine eingezogenen Güter ersetzte ihm Otho später (Plut.Otho 1; Tac.hist.1.90.1); sein gleichnamiger Sohn wurde cos. suff. vor 79; der Enkel Quintus Glitius Consul unter Nerva und 104; erfolgreich als Legat im Dacerkrieg (CIL V 6974 = ILS 1021; 6976); zu seiner möglichen Beziehung zu Tacitus Koestermann, Anna-len, Bd. 4, S. 289

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mer behalten durfte, welche sie jedoch später herauszugeben hatte, wohl weil sie und ihr Ehemann im griechischen Andros, dem Verbannungsort, als wohlhabende Berühmtheiten galten.104 Dann wird auch Rufrius Crispinus, der frühere Praetorianerpraefect (47–51), auf die Insel Sardinien verbannt und im folgenden Jahre umgebracht. Er war Nero deshalb verhaßt, weil er einst Poppaea zur Frau genommen hatte. Den Verginius Flavus und den Musonius Rufus, die beide oben (im Jahr 60) erwähnt worden sind, jagte die Berühmtheit ihres Namens in die Verbannung.105 Verginius unterwies die Jugend in der Kunst der Be-redsamkeit, Musonius durch die Lehren der Weisheit.106 Musonius brachte einige Jahre auf der öden Insel Gyaros zu. Wahrscheinlich war er auch als Zwangsarbeiter am Kanalprojekt in Korinth aufgeboten.107 Cluvidienus Quietus, Iulius Agrippa, Blitius Catulinus, Petro-nius Priscus und Iulius Altinus108 wurden aus nicht genannten Gründen auf die Inseln des Ägäischen Meeres verwiesen. Dagegen wurden Caedicia, die Ehefrau des Scaevinus, und Caesennius Maximus nur aus Italien gewiesen. Erst durch ihre Bestrafung erfuhren beide, daß sie angeklagt waren. Caesennius Maximus war vor 65 Ersatzconsul.109 Die Verbannung, die er in Sicilien zu verbringen hatte, war die Folge seiner Freundschaft mit Seneca.110 Sein Freund Ovidius begleitete ihn ins Exil. Acilia, die Mutter des Annaeus Lucanus, wurde ohne Freispruch und ohne Bestrafung übergangen.

235. Belohnungen und Ehrungen – Der neue Praefect Nymphidius Sabinus

So erfuhren wirkliche Teilnehmer der Verschwörung und lediglich verdächtige oder unbe-queme Angehörige der Aristokratie verschiedene Bestrafungen. Andere, vielleicht wirklich Schuldige kamen gegen hohe Summen davon. Währenddessen beginnt man mit offiziellen Opferzeremonien für das Wohl des Staates und der Errettung Neros aus der Gefahr. Wer un-ter den gegebenen Umständen unter Hintansetzung persönlichen Verlusts und seiner Trauer der Notwenigkeit gehorchte, sagte offiziell den Göttern Dank, schmückte das Heim festlich mit Lorbeerzweigen, fiel Nero zu Füßen und bedecke seine rechte Hand mit Küssen.

Nachdem nun die Tribunen abgesetzt und neue ernannt worden waren, hielt Nero eine Versammlung aller Praetorianercohorten ab und verteilte an jeden einzelnen der einfachen Soldaten, also der Mannschaften, 2000 Sesterzen.111 Dies bedeutete, daß er die Offiziere

104 So die ansprechende Vermutung von Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 323105 Cass.Dio 62.27.4106 Zu Musonius Tac.ann.14.59.1; wahrscheinlich identisch mit Gaius Musonius (Plin.ep.3.11.5; 7);

69 nach Rom zurückgekehrt (Tac.hist.3.81.1; 4.10.1; 40.3; Epikt.Diatr.1.1.26); bei der abermaligen Ausweisung von Philosophen durch Vespasian zunächst nicht belangt (Dio 66.13.2), wurde er aber später in die Verbannung geschickt; sein Schüler war Epiktet.

107 Philostr.vit.Apoll.7.16; 5.19108 Diese fünf Personen werden nur bei Tacitus genannt, ohne daß über sie näheres bekannt ist. Es wird

deutlich, daß Tacitus die nennenswerten Opfer Neros aus der römischen Oberschicht vollständig namentlich erfassen möchte, um die Ungeheuerlichkeit der Bestrafung von Personen zu verdeutli-chen, denen keine Schuld nachgewiesen worden ist.

109 Martial.7.44110 Sen.ep.87.2; Martial.7.44.10; 45.1ff.111 Cass.Dio 62.27.4

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65 nach Christus | 295

ohne Anerkennung ließ – eine schwere Brüskierung vor allem auch der treu gebliebe-nen.112 Außerdem erhielten sie das Getreide unentgeltlich, daß sie bisher gemäß dem je-weiligen Marktpreis zu bezahlen hatten,113 indem die Ration zuvor vom Sold abgezogen wurde.114 Bei dieser Gelegenheit wurde der Kaiser wahrscheinlich zum X.mal(?) zum Im-perator ausgerufen,115 so als sei erfolgreich unter seinen Auspicien auswärts Krieg geführt worden. Danach rief Nero den Senat zusammen. Auch dort berichtete er im Stile von Sie-gesmeldungen über die Vorgänge und verlieh dem Consular Petronius Turpilianus, dem vorbestimmten Praetor Marcus Cocceius Nerva, dem späteren Kaiser (96–98), und dem Gardepraefecten Tigellinus die Triumphalbzeichen,116 so als hätten sie militärische Siege errungen. Aufgrund von Inschriften ist es wahrscheinlich gemacht worden,117 daß auch weitere Personen sich große Verdienste um die Sicherung von Neros Herrschaft erworben haben. Bei Neros Freigelassenem Epaphroditus ist dies naheliegend. Eine Inschrift nennt die ihm verliehene silberne Ehrenlanze und eine goldene Krone – ungeheure Ehrungen aus der militärischen Sphäre für einen Freigelassenen. Der spätere Statthalter von Galatien, Paphlagonien, Pamphylien und Pisidien und Proconsul von Africa der flavischen Zeit, Lu-cius Nonius Asprenas, erhielt ebenfalls hohe Auszeichnungen. Er hatte offensichtlich als Centurio der römischen Ritter an der Sicherung von Neros Herrschaft großen Anteil. Die hohen Ehrungen, die er erhalten hat, werden nicht zu Unrecht auf die Ereignisse der Piso-nischen Verschwörung bezogen. Genannt werden acht Ehrenlanzen, vier Ehrenstandarten, und je zwei goldene Ehrenkronen – auch sie allesamt Ehrenabzeichen für hohe militärische Leistungen.

Tigellinus hatte sich als Praefect der Praetorianer allem Anschein nach als unfähig er-wiesen. Seine Amtsauffassung kommt in den abfälligen, aber offensichtlich zutreffenden Äußerungen der Verschwörer zum Ausdruck. Weder von der schwankenden Haltung seines Kollegen Rufus noch von der Umsturzbereitschaft zahlreicher Offiziere schien er etwas ge-wußt zu haben. Durch einen Freigelassenen wurde die Verschwörung verraten. Trotz seines Versagens, das Nero möglicherweise die Herrschaft gekostet hätte, blieb Tigellinus nicht nur im Amt, sondern wurde wahrscheinlich wegen seines Eifers bei den Untersuchungen noch geehrt. Die gesamten Vorgänge bleiben mysteriös und schwer erklärbar. Nerva dilet-tierte in der Dichtkunst, stand Nero deshalb nahe und war wahrscheinlich überhaupt des-sen anhänglicher Freund.118 Tigellinus und Nerva zeichnete Nero noch dadurch aus, daß er außer ihren Triumphalbildnissen auf dem Forum ihre Standbilder auch im Kaiserpalast

112 Flaig, Usurpationen, S. 457113 Suet.Nero 10.1114 Dauerhaft Griffin, Nero, S. 107; dagegen Bradley, Nero, S. 76f. bezieht die Vergünstigung für die

Praetorianer allein auf die Loyalität anläßlich der Pisonischen Verschwörung. Sie war also nicht dauerhaft gewährt.

115 Dessau Röm. Kaiserzeit, Bd. 2,1, S. 253, Anm. 1116 Nerva: CIL XI 5743 = ILS 273; Tigellinus: Suet.Nero 15.2117 Zum Folgenden Eck, Nero’s Freigelassener Epaphroditus, Historia 25 (1976), S. 381–384 unter

Bezugnahme auf ILS 9505 (Epaphroditus) und IRT 346 = AE 1952, Nr. 232 aus dem Jahre 83 (L. Nonius Asprenas); ferner auch § 423

118 So Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 326 unter Hinweis auf Martial.8.70 und Ausführungen von Paribeni.

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aufstellen ließ. Die consularischen Ehrenzeichen wurden dem Nymphidius Sabinus verlie-hen. Er wurde zum Nachfolger des Faenius Rufus in die Praetorianerpraefectur berufen,119 vermutlich aufgrund seiner Verdienste als Verräter oder Ermittler unter den verschworenen Praetorianern.120 Über Nymphidius Werdegang ist kaum etwas bekannt. Vielleicht hatte er Kriegsdienst in Pannonien geleistet.121 Seine Mutter namens Nymphidia war einst eine Freigelassene, nämlich die Tochter des Freigelassenen Callistus. Nymphidius (geb. etwa 30) selber behauptete, ein Sohn Caligulas zu sein, und berief sich dazu auf dessen hagere Gestalt und finstere Miene. Vielleicht hatte sich Caligula, der eine Vorliebe für Huren besaß, auch wirklich mit seiner Mutter eingelassen,122 weil es von ihr bekannt war, daß sie ihren schö-nen Körper preiszugeben pflegte. Es ist wahrscheinlicher, daß der Vater des Nymphidius ein Gladiator namens Martianus war, dem er ebenfalls ähnlich gesehen haben soll.123

236. Neros Rechtfertigungen vor dem Senat – Selbstmord des Iunius Gallio – Dank- und Ehrenbeschlüsse des Senats

In dieser hoch aufgeheizten Stimmung, zudem reizbar und empfindlich, wie Nero jetzt war rechtfertigte er sich sodann durch eine Ansprache vor dem Senat für das Vorgehen und gab einen umfangreichen Erlaß an das Volk. Dieser enthielt auch die Protokolle mit den gesammelten Anzeigen und Geständnissen. Nero war nämlich durch das Gerede der Leute betroffen,124 er habe ehrenwerte und schuldlose Menschen aus Haß, Neid oder Furcht be-seitigen lassen. Es dürfte indes hinlänglich feststehen, daß nun erneut eine hohe Zeit für die Denunzianten aus allen gesellschaftlichen Schichten angebrochen war.125 Dies zeigte sich sogleich im Senat, wo sich gerade diejenigen, die in tiefer Trauer waren, in niedrigen Schmeicheleien ergingen. Und als Iunius Gallio, den der Tod seines Bruders Seneca in Angst versetzt hatte, um sein Leben bat, fuhr Salienus Clemens126 heftig auf ihn los und nannte ihn einen Staatsfeind und Hochverräter. Die Senatoren wiesen ihn jedoch einmütig zurecht und mahnten ihn, er solle nicht den Anschein erwecken, als ob er das allgemeine Unglück dazu nutzen wolle, private Rache zu üben. Er solle es auch unterlassen, das, was durch des Kaisers Milde – so drückte man sich aus – beigelegt und begraben sei, zu neuem Schrecken wieder aufzuwühlen. Gallio brachte sich kurz darauf selbst ums Leben, weil er die Unsicherheit und Furcht fürderhin nicht mehr ertragen konnte.127

In den Gebeten der Arvalbrüder und auf Münzen wurde das Heil Neros oder des Ge-meinwesens (Salus Neronis bzw. publica) beschworen.128 Aus verschiedenen Teilen des Rei-

119 CIL VI 6621120 Dies wird Tacitus wahrscheinlich in der Lücke seines überlieferten Textes erläutert haben.121 CIL III 4269 = ILS 1322122 Auch Plut.Galba 9. Während Tacitus die Behauptung nicht kommentiert, sagt Plutarch, Caligula

sei damals noch ein Kind gewesen, als Nymphidius geboren wurde.123 Tac.ann.15.71.1; 72; Plut.Galba 9124 Dazu auch Suet.Nero 36.1125 Ähnlich wenn auch rhetorisch übertreibend Cass.Dio 62.24.3126 Über ihn ist sonst nichts bekannt.127 Cass.Dio 62.25.3; Tac.ann.15.73128 Belege bei Schiller, Nero, S. 195, Anm. 3

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ches nahmen Dankesbekundungen auf die Errettung Neros Bezug. In Ägypten wurden aus diesem Anlaß umfangreiche Dankopfer abgehalten.129 Im Senat wurden Gaben und Dankgebete an die Götter beschlossen. Eine besondere Ehrung sollte der Sonnengott (Sol) erhalten, der beim Circus, wo das Attentat ausgeführt werden sollte, einen alten Tempel besaß.130 Metaphorisch hieß es, durch dessen göttliches Licht sei das Dunkel der Verschwö-rung erleuchtet und verscheucht worden. Ferner sollte bei den Circusspielen während des Ceresfestes die Anzahl der Wagenrennen erhöht werden. Der Monat April sollte den Na-men Neros erhalten131 und der Gottheit von Rettung und Wohlfahrt (Salus) an Stelle des Tempels (wo er lag ist nicht bekannt), aus dem Scaevinus den Dolch an sich genommen hatte, ein neuer Tempel erbaut werden. Die Mordwaffe weihte Nero selbst auf dem Capitol und gab ihr die Inschrift: „Dem Retter Iuppiter“. Damals wurde diese Inschrift nicht weiter beachtet; später aber, nach Beginn des Aufstands gegen die neronische Herrschaft, deutete man sie als Weissagung künftiger Rache. Dann stellte noch Anicius Cerealis132 in der Se-natssitzung den Antrag, es solle auf Staatskosten dem Gott Nero (divo Neroni) ein Tempel errichtet werden. Damit gab er kund, daß der Kaiser über alle irdischen Ehrungen erhaben sei und vielmehr bei der Menschheit göttliche Verehrung verdient habe. Nero aber lehnte den Tempelbau ab. Er befürchtete, daß dies von manchen Leuten als böses Vorzeichen sei-nes nahen Endes ausgelegt werde. Göttliche Verehrung stünde ihm, römischem Brauch ge-mäß, erst nach seinem Ableben zu.133 Mit dem Antrag versuchte Anicius seine Feindschaft gegen den Kaiser zu verbergen,134 deretwegen er schon bald im darauffolgenden Jahr zum Selbstmord gezwungen wurde.

Die nachfolgenden Ereignisse

237. Der sagenhafte Schatz der Dido

Bald nachdem die Verschwörung zerschlagen war, wurde Nero ein Spielball seiner eigenen Eitelkeit und Gier. Ein gewisser Caesellius Bassus, ein römischer Ritter, machte ihm aus im einzelnen unerfindlichen Gründen, große Versprechungen. Er, ein Punier von Geburt, war ein wirrer Kopf, der glaubte, ein nächtliches Traumgespinst als unzweifelhafte Wahrheit deuten zu dürfen. Er fuhr nach Rom, erkaufte sich den Zugang zum Kaiser und eröffnete ihm, man habe auf einem seiner Grundstücke eine Höhle von unermeßlicher Tiefe ent-deckt, in der sich große Mengen von Gold befänden und zwar in rohen Stücken. Überaus schwere Barren lägen da nebst Säulen, die aufrecht stünden. Lange Zeit hindurch sei alles

129 ILS XI 1331 = ILS 233 aus Luna in Etrurien; Anth.Pal.9.352130 Tert.spect.8.1131 Suet.Nero 55. Dort wird (wahrscheinlich fälschlich) behauptet, Nero habe dies selbst angeordnet.132 Er war Juli/August 65 Ersatzconsul133 Tac.ann.15.74; allgemein Cass.Dio 62.27.4; anders Clauss, Deus Praesens, Klio 78/2 (1996), S.

426; Ders., Kaiser und Gott, S. 101, 360; Orte und Belege für die göttliche Verehrung Neros zu Lebzeiten S. 511

134 Schiller, Nero, S. 195, Anm. 4

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verborgen geblieben, um den Wohlstand der Gegenwart noch zu vermehren. Und er deu-tete nebenbei an, die aus Tyros entflohene Phoenicierin Dido habe nach der Gründung Carthagos diesen Schatz einst versteckt, damit die junge Colonie nicht durch allzu großen Reichtum in Üppigkeit verfalle oder die Könige von Numidien, ohnehin schon feindlich gesonnen, durch die Gier nach Gold zum Krieg gereizt würden.135

Weil der Glaube an riesige, verborgen daliegende Schätze in jener Zeit verbreitet war,136 prüfte nun auch Nero weder die Glaubwürdigkeit des Mannes noch seines Berichts. Er schickte auch nicht Kundschafter voraus, um feststellen zu lassen, was an der Sache dran sei. Vielmehr vergrößert er noch das Gerücht und sendet eine Abteilung ab, die diesen ver-meintlich bereitliegenden Schatz herbeischaffen sollte. Kriegsschiffe und eine ausgewählte Rudermannschaft werden gestellt, damit die Fahrt recht schnell vonstatten gehe. Von nichts anderem sprach man in jenen Tagen, das einfache Volk mit Leichtgläubigkeit, die Einsichtigeren in zweifelnden Unterredungen. Da etwa zu der Zeit die Neronischen Spiele zum zweitenmal gefeiert wurden, hatten die Wettredner und Dichter einen höchst dank-baren Stoff, um den Kaiser in den Himmel zu heben in dessen glücklichem Zeitalter durch die Gnade der Götter nicht nur die Feldfrüchte und goldhaltiges Erz wüchsen, sondern die Erde gar ungesuchte Schätze offenlege. Dies und dergleichen abgeschmacktes Zeug und sonstige kriecherische Unwahrheiten brachten sie mit größter Beredsamkeit vor, weil sie eines geneigten Gehörs bei dem eitlen Fürsten sicher sein konnten.137

Die Hoffnung auf Reichtümer verstärkte inzwischen noch Neros Verschwendungs-sucht. Rücklagen, sofern sie noch vorhanden waren, wurden aufgebraucht, in Erwartung von neuen, unversiegbaren Schatzquellen, die ja viele Jahre hindurch vorhalten würden. Ja, Nero machte von diesen bereits Geschenke im voraus. Die Aussicht auf die vermeintlich künftigen Schätze wurde so eine weitere Ursache für die Schäden in den Staatsfinanzen.138

Als es soweit war, ließ Bassus also sein gesamtes Grundstück umgraben und durchwüh-len, auch die Felder rings umher, während er bald diese, bald jene Stelle als die Stätte der verheißenen Höhle bezeichnete. Dabei ziehen nicht nur die Soldaten, sondern auch das zur Durchführung der Arbeiten gedungene Landvolk mit gieriger Hast nach. Endlich gab man das Unternehmen auf und Bassus äußerte sich verwundert, daß seine Träume, die doch ehedem niemals falsch gewesen, ihn jetzt zum erstenmal betrogen hätten. Nach einigen Be-richten entzog er sich durch freiwilligen Tod der Beschämung und seiner Angst vor Strafe. Nach anderen soll er in Haft genommen, aber bald wieder freigelassen worden sein, nach-dem man sein Vermögen als Ersatz für den versprochenen königlichen Schatz eingezogen hatte.139 Allerdings fand man unter Neros Regierung Goldvorkommen in Dalmatien, die deswegen leicht zu erschließen waren, weil sie nahe an der Erdoberfläche lagen. Täglich gewann man damals 50 Pfund Gold (16,35 kg).140

135 Tac.ann.16.1; Suet.Nero 31.4136 Philostr.vit.Apoll.6.39; ferner Sen.nat.quaest.5.15137 Tac.ann.16.2138 Suet.Nero 31.4; ferner Tac.hist.1.20.1; Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 339139 Tac.ann.16.3140 Plin.nat.hist.33.67

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238. Die zweiten Neronischen Spiele

Weil Nero Gefallen daran gefunden hatte, häufig aufzutreten, waren offenbar Teile der zweiten Neronischen Spiele schon in das Jahr 64 vorverlegt worden.141 Aber nun bietet der Senat dem Kaiser, um die Schändung seiner Stellung durch seine öffentlichen Auftritte abzuwenden, im voraus den Siegespreis im Gesang an und fügt noch den Ehrenkranz der Beredsamkeit hinzu. Nero aber erklärte wiederholt, er brauche die Verwendung und den Machtspruch des Senats nicht; er sei seinen Mitbewerbern gewachsen und werde durch die Gewissenhaftigkeit der Preisrichter das verdiente Lob erringen. So trägt er zuerst auf der Bühne des Pompeiustheaters ein Gedicht vor. Es waren Teile seiner Dichtung über Troia (Troica), die große Ehrung und Anerkennung erhielt.142 Die Freude darüber war so groß, daß ein Dankfest beschlossen wurde und die von ihm vorgetragenen Verse in golde-nen Buchstaben dem Capitolinischen Iuppiter geweiht wurden.143 Als darauf die Menge ihn bestürmte, er solle alle seine Künste zeigen – so drückte man sich aus –, begann Nero in Künstlereitelkeit sich wie eine Diva zu zieren. Er war nämlich in Wirklichkeit begierig darauf, sich auch als Kitharöde zu präsentieren. Damals hatte Aulus Vitellius den Vorsitz der Spiele und war im Theater anwesend. Der Kaiser war schon von der Bühne gegangen, da holte ihn Vitellius mit der Bemerkung zurück, das Volk habe ihn mit der Übermittlung des sehnlichen Wunsches beauftragt, Nero möge dem Publikum die Gnade erweisen, seine göttliche Stimme vernehmen zu dürfen. Durch diesen Einsatz setzte sich Vitellius dauer-haft in höchste Gunst bei Nero.144 So betrat der Kaiser abermals die Bühne des Pompeius-theaters. Sein Herold war der ehemalige Consul und spätere Geschichtsschreiber Cluvius Rufus. Er kündigte den Auftritt seines Herrn an und gab bekannt, der Kaiser werde die Klage der Niobe vortragen.145 Nero fügte sich allen Regeln der Kitharöden. Er durfte sich also nicht setzen, wenn er müde war, durfte sich den Schweiß nur mit dem Gewand abwi-schen, das er trug, und mußte alles Niesen, Schneuzen, Spucken oder Räuspern unterlassen. Zuletzt beugte er das Knie, warf dem Publikum Grußgesten zu und wartete dann mit naiv-kindischem Bangen – Nero nahm seine Auftritte sehr ernst – auf das Urteil der Preisrichter. Doch erwartete er stets den Sieg.146 Die Claque und das städtische Publikum, das die Schau-spielergesten zu beklatschen pflegte, lärmte und spendete rhythmischen Beifall.147

Zuschauern aus entfernten italischen Landstädten oder fernen Provinzen waren diese Dinge erstaunlich und fremd. Manche von ihnen brachten das rhythmische Klatschen durcheinander. Dann konnte es vorkommen, daß sie von den Soldaten, die zwischen den Sitzreihen standen, grob zurechtgewiesen wurden. Während der Auftritte sollen viele Zu-schauer auf die eine oder andere Weise, sei es durch das Gedränge (wie bei den Rittern), sei

141 Suet.Nero 21.1; bei Tacitus zusammenfassend ins Jahr 65 gesetzt.142 Cass.Dio 62.29.1143 Vielleicht gehört die Suet.Nero 10.2 bemerkte Nachricht in diesen Zusammenhang. Im Jahre 60

hatte Nero noch nicht in diesem Rahmen vorgetragen.144 Suet.Vitell.4145 Suet.Nero 21.2, eine Stelle, die vielleicht noch dem Jahr 64 angehört.146 Cass.Dio 63.9.2 für seine Auftritte in Griechenland147 Tac.ann.16.4; Suet.Nero 24.1

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es durch erzwungene Anwesenheit über Stunden zu Schaden gekommen sein, wobei der Wahrheitsgehalt der Berichte im einzelnen nicht geprüft werden kann.148 Die Sensation der kaiserlichen Darbietungen wird zweifellos ein außerordentliches Gewimmel unter den Theaterzuschauern verursacht haben. Die Furcht vor den Folgen, wenn die Prominenten den Aufführungen nicht beiwohnten, war noch größer, denn es gab viele Aufpasser, öffent-liche und noch mehr geheime, die auf Namen und Mienen, auf Heiterkeit oder Verdrieß-lichkeit der Zuschauer Obacht gaben. Gegen Hochgestellte unterdrückte man einstweilen Vorwürfe.149 Später holte man alles bei passender Gelegenheit wieder hervor. Eine promi-nente Gestalt ist in dieser Hinsicht Vespasian, der spätere Kaiser. Es wird berichtet, er sei von dem kaiserlichen Freigelassenen Phoebus angefahren worden, weil er bei einem Vortrag Neros eingeschlafen war. Mit Mühe soll er durch die Fürsprache einflußreicher Männer geschützt worden sein.150 Doch wird eine ähnliche Begebenheit über Vespasian auch anläß-lich der Griechenlandreise Neros berichtet.151

239. Verbannung des Philosophen Annaeus Cornutus

Im gegenwärtigen Hochgefühl seiner Rettung vor Nachstellung und den Siegen bei den Spielen äußerte Nero die Absicht, eine Dichtung über „Die Taten der Römer“ abzufassen, und man debattierte darüber, welchen Umfang das Werk haben müsse. Als Schmeichler von 400 Büchern sprachen bevor Nero noch eine Zeile gedichtet hatte, widersprach der Stoiker Annaeus Cornutus mit der Bemerkung, daß man so viele nicht lesen werde. Als aber jemand einwandte, der Stoiker Chrysippos habe noch mehr Bücher verfaßt, entgegnete Cornutus, „Ja, aber diese waren bei der Lebensführung von nutzen.“ Für diese Äußerung, die Nero als Beleidigung auffaßte, wurde Cornutus auf eine Insel verbannt.152

240. Der Tod Poppaea Sabinas

Nach dem Ende der Spiele kam Poppaea Sabina ums Leben. Ob Nero seine schwangere Gattin im Jähzorn durch einen Fußtritt verletzte, ist bezweifelt worden.153 Sie soll ihn, wie sie so danieder lag, durch ihre Vorwürfe gereizt haben, weil er sehr spät von einem Wagen-rennen nach Hause gekommen war.154 Andere berichten von Vergiftung, doch ist dies nicht glaubwürdig. Er wünschte sich nämlich noch Kinder und war überhaupt von Begehren nach ihr beherrscht. Ihr Leichnam wurde nicht verbrannt, wie es sonst Sitte war, sondern nach dem Vorbild der ägyptischen Könige einbalsamiert und im Grabmal der Iulier bei-gesetzt. Dennoch fand eine öffentliche Leichenfeier mit fiktiver Einäscherung statt. Nero

148 Neben Tac.ann.16.5 Ähnliches zur Griechenlandreise Suet.Nero 23.2 und Cass.Dio 63.15.3; die Zugänge zu den Theatern waren während Neros Auftritten verschlossen.

149 Cass.Dio 63.15.2; Philostr.vit Apoll.4.39150 Cass.Dio 63.10.1a; Tac.ann.16.5151 Suet.Vesp.4.4; 14; Cass.Dio 65(66).11.2 aber dort in Griechenland152 Cass.Dio 62.29.2–4153 Schiller, Nero, S. 200154 Diese Einzelheit nur bei Suet.Nero 35.3

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selbst pries von der Rednertribüne herab ihre Schönheit und hob hervor, daß sie Mutter eines göttlichen Kindes gewesen sei.155 Weil zu ihrer Consecration (Vergöttlichung) die Verbrennung erforderlich war, ließ Nero eine Wachspuppe verbrennen.156 Darauf wurde sie zur Göttin erklärt.157 Ungeheure Mengen von Weihrauch sind während der Zeremonie ver-brannt worden.158 Nero ließ zu Ehren Poppaeas ein prachtvolles Heiligtum errichten, das er noch 68 einweihte.159 Er besaß nach wie vor keinen Erben seiner Stellung. Dies empfand er als hochgradig gefährlich und heizte zusätzlich sein Sicherheitsbedürfnis an. Die Folge war unter anderem die baldige Beseitigung des Iunius Silanus.

Zu ihren Lebzeiten war Poppaea sehr einflußreich. Öffentlich betrauerte man ihren Tod pflichtschuldig. Insgeheim aber wurde er doch von allen, die sich ihrer Eitelkeit, Lasterhaf-tigkeit und Grausamkeit erinnerten, mit Erleichterung und Freude aufgenommen. Nero suchte in seinem fortgesetzten Begehren bald darauf einen Ersatz für sie und ist auf der Bühne zudem in einer Maske mit ihren Gesichtszügen aufgetreten.160

241. Das Ende Antonias

Kurz darauf begann die Suche nach einer neuen offiziellen Gattin, weil Nero ohne einen Erben war. Zunächst dachte man an Antonia, die letzte überlebende Tochter des Claudius (geb. 28). Nero hätte durch sie die Verbindung mit Claudius‘ Familie fortführen können. Antonia war nach dem Tod ihrer beiden ersten Ehemänner Witwe geblieben. Vielleicht ha-ben weitere mögliche Bewerber vor einer Verbindung mit dem Kaiserhaus zurück geschreckt, um nicht, wie vordem schon andere, als vermeintliche Rivalen des Kaisers ihr Leben zu ver-lieren. Die Ehe mit Nero wies Antonia jedoch zurück.161 Ihre Existenz empfand Nero als eine Gefahr, weil sich um ihre Person eine neue Verschwörung zusammenfinden konnte. Zudem war er durch Antonias Zurückweisung beleidigt. An der Pisonischen Verschwörung hatte sie nicht teilgenommen,162 aber ihr Verhalten mag Anlaß zu Verdächtigungen gegeben haben. All dies wurde zu ihrem Nachteil ausgelegt. Nero ließ jetzt auch sie im Alter von 37 Jahren ums Leben bringen unter dem Vorwand, eine Verschwörung angezettelt zu haben.163

242. Nero nimmt den kastrierten Sporus zu sich

In der Folgezeit vermißte Nero Poppaea sehr, und so ließ er bald nach einer Frau suchen, die ihr glich. Nachdem er einige Zeit mit einer ihr ähnlichen Konkubine die Mußestun-den verbracht hatte, fand er noch im Jahre 65 auch einen freigelassenen Jüngling namens

155 Tac.ann.16.6; Cass.Dio 62.28.1156 Schiller, Nero, S. 201157 CIL XI 1331 = ILS 233 aus dem Jahr 66; Tac.ann.16.21.2158 Übertreibend Plin.nat.hist.12.83159 Cass.Dio 63.26.3160 Ebd. 62.28.2; 63.9.5; 12.3;13.1161 Iuv.schol.8.213162 Tac.ann.15.53.4163 Suet.Nero 35.4

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302 | Die späten Jahre (65–68)

Sporus, den er entmannen ließ164 und wie eine Frau zu sich nahm. Ihm gab er den Namen „Sabina“.165 Ob Nero Sporus noch in Rom geehelicht hat ist ungewiß, aber nicht wahr-scheinlich.166 Vielleicht hat er Sporus wie eine Frau aufgeputzt und als Verlobte in Rom gezeigt. Nero soll ihn mit rotem Brautschleier angetan und großem begleitenden Gefolge in den kaiserlichen Palast geführt haben, wo er wie eine Gattin gehalten wurde.167 Nach Cassius Dio fand die förmliche Hochzeit erst in Griechenland im Jahre 67 statt.

243. Tod des Gaius Cassius und des Lucius Iunius Silanus Torquatus

Jetzt nahm sich Neros Untersuchungsbehörde auch höchste Ranginhaber unter den Sena-toren vor, gegen die sich irgendein Verdacht richtete, nämlich gegen Consulare, die irgend-wie auffällig geworden oder in die Ermittlungen hineingezogen worden waren. Dies waren nacheinander bis zum Prozess gegen Thrasea Paetus: Gaius Cassius Longinus (cos. 30), Lu-cius Antistius Vetus (cos. 55), Publius Anteius Rufus (cos. suff. claudische Zeit, vor 50168), Ostorius Scapula minor (cos. suff. 59), Gaius Anicius Cerealis (cos. suff. 65) und Petronius Niger (cos. suff. 62).

Nero hatte den Rechtsgelehrten Gaius Cassius vom Leichenbegräbnis Poppaeas aus-geschlossen und zeigte ihm dadurch seine Ungnade. Der Strafprozeß ließ auch nicht lange auf sich warten und Lucius Iunius Silanus Torquatus wurde in ihn hineingezogen.169 Gegen beide lag zunächst keine Anklage vor. Cassius ragte lediglich durch alten Reichtum, sittli-chen Ernst und Strenge hervor; Silanus machte sein berühmtes Geschlecht und bescheide-nes Betragen verdächtig. Er war neben Nero der letzte lebende Abkömmling des iulisch-claudischen Hauses (Ur-Ur-Urenkel des Augustus).

Nero schickte also ein Schreiben zur Verlesung an den Senat und legte darin dar, warum beide von der weiteren Mitwirkung im Staate ausgeschlossen werden müßten. Unverhohlen wurde vom Senat die Durchführung eines Maiestätsprozesses verlangt, der die Ausstoßung des Cassius zur Folge haben mußte – Nachwehen der Pisonischen Verschwörung. Von den amtierenden Consuln erwartete Nero eine entsprechende Beschlußvorlage (relatio), die der Körperschaft zur Abstimmung, zweifellos mit feststehendem Ergebnis, vorgelegt werden sollte. Cassius warf er vor, daß er unter den Bildern seiner Ahnen auch das Bild des Caes-armörders Gaius Cassius mit der Inschrift „Dem Parteiführer“ verehre. Damit bezwecke er einen neuen Bürgerkrieg und den Abfall vom Caesarenhaus.170 Und damit nicht die bloße Erinnerung an diesen vermeintlichen Befreier zur Zwietracht führe, habe Cassius noch den

164 Dion Chrys.21.6165 Cass.Dio 63.13.1166 Tacitus hätte das Ereignis in dem erhaltenen Teil seines Geschichtswerks erwähnt. Siehe ferner

Cass.Dio 62.28.4 zum Jahre 65, der davon spricht, daß die Vermählung später stattfand.167 Suet.Nero 28.1; 29; Cass.Dio 62.28.2; Aur.Vict.Caes.5.5; epit.5.5; Oros.7.7.2168 P. Gallivan, The Fasti for the Reign of Claudius, CQ 28 (1978), S. 421169 S.o. Anm. 40170 Ähnlich, aber zweifelhaft Iuv.5.36f.; ob mehr dahinter steckte, ist offen; dazu Bradley, Nero, S. 223f.

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65 nach Christus | 303

Silanus, einen Jüngling von vornehmster Abstammung und verwegener Wesensart, hinzu-gezogen, um ihn im Zuge von Staatsumwälzungen als Nachfolger aufzustellen.171

Dem Silanus selbst setzte Nero mit den gleichen Vorwürfen zu wie im Jahr zuvor dessen Onkel Decimus. Er habe wie jener schon Regierungsgeschäfte verteilt und seine Freigelas-senen zu Ministern für Finanzen, Eingaben und Briefverkehr gemacht. Das waren verleum-derische Anschuldigungen, denn Silanus war aus Furcht viel achtsamer geworden. Der Tod seines Onkels hatte ihn zur Vorsicht gemahnt.

Sodann führte man Denunzianten in den Senat, die gegen Cassius’ Gemahlin Iunia Lepida, eine Tante des Silanus, lügnerische Behauptungen vorbrachten: Sie treibe Blut-schande mit ihrem Neffen und übe grauenhafte Opferbräuche. Als Mitwisser zog man, aus welchen Gründen auch immer, die Senatoren Volcatius Tullinus172 und Lucius Cornelius Marcellus173 sowie den römischen Ritter Lucius Calpurnius Fabatus174 hinein. Diese legten Berufung beim Kaisers ein und vereitelten so ihre drohende Verurteilung. Weil Nero später mit bedeutenderen Fällen befaßt war, hatten jene das Glück, daß ihre Beschuldigung als unwichtig in Vergessenheit geriet.175

Der erwartete Senatsbeschluß trieb sodann Cassius und Silanus in die Verbannung. Über Lepida sollte der Kaiser selbst entscheiden, doch ist über ihr weiteres Schicksal nichts bekannt. Der bereits erblindete176 Cassius wurde auf die Insel Sardinien gebracht, wo er, wie man erwartete, wegen der ungesunden Lebensverhältnisse177 und seines fortgeschritte-nen Alters bald sterben würde. Er überdauerte dann aber doch den Untergang Neros und erlebte noch den Aufstieg Vespasians.178

Silanus schaffte man nach Ostia, scheinbar um ihn nach Naxos zu überführen. Später aber wird er in der apulischen Landstadt Barium in strenger Haft gehalten. Hier ertrug er sein elendes Los mit innerer Gefaßtheit, bis ihn ein von Nero ausgesandter Centurio auf-suchte, um ihn zu ermorden. Auf dessen Rat, sich die Adern aufzuschneiden, erwiderte Si-lanus, er sei bereit zu sterben, wolle aber dem Mörder nicht den Ruhm nehmen, seinen eh-renvollen Auftrag an ihm persönlich zu verrichten. Da aber der Centurio sah, daß Silanus, obwohl ohne Waffen, doch sehr kräftig und mehr zornig als furchtsam war, befahl er seinen Soldaten, ihn hinunter zu drücken. Silanus aber hörte nicht auf, sich zu Wehr zu setzen, so gut er es mit bloßen Händen vermochte, bis er durch das Schwert des Centurio durchbohrt

171 Tac.ann.16.7; Suet.Nero 37.1; Cass.Dio 62.27.1; ferner Iuv.schol.1.33172 Wahrscheinlich der spätere Volkstribun Tertullinus Ende 69 gemeint (Tac.hist.4.9.2)173 Zunächst Quaestor in Sicilien (CIL X 7192 = ILS 6767), später Legat in Sicilien (CIL X 7266); 68

als Gegner der Erhebung Galbas in Spanien beseitigt (Tac.hist.1.37.3).174 Stammte aus Comum (Plin.ep.5.11.2; 7.32.1); über seine Ämter unterrichtet CIL V 5267 = ILS

2721; war Großvater väterlicherseits der Calpurnia Hispulla, welche die dritte Ehefrau des Plinius minor war; Plinius richtete zahlreiche Briefe an ihn (Plin.ep.4.1; 5.14.8; 8.11 u.a.); Fabatus starb um 112 (Plin.ep.10.120.2).

175 Tac.ann.16.8176 Suet.Nero 37.1177 Tac.ann.2.85178 Dig.1.2.2.52; Fehlinformation bei Cass.Dio 62.27.2, der von Tötung des Cassius spricht.

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304 | Die späten Jahre (65–68)

wurde – ein Einzelner, der im Bewußtsein seiner Unschuld nicht ohne Eindruck zu machen der kaiserlichen Willkürjustiz einmal Widerstand geleistet hat.179

244. Tod des Lucius Antistius Vetus, der Sextia, der Antistia Pollitta und des Ritters Publius Gallus180

Darauf folgte der Tod des Lucius Antistius Vetus, seiner Schwiegermutter Sextia181 und seiner Tochter Antistia Pollitta, Witwe des 62 ermordeten Rubellius Plautus.182 Allesamt waren sie dem Kaiser verhaßt als leibhaftiger Vorwurf für seine Mordtat gegen Plautus und als Quell weiterer Furcht vor der Rache des Antistius Vetus für den Verlust des Schwieger-sohns. Außerdem war Antistius einst 55 Consul und konnte so als ein Günstling der Agrip-pina gelten. Antistia war außer durch die drohenden Gefahren auch noch durch eine lange Leidenszeit verbittert, seitdem sie den Mord an ihrem Gatten Plautus mit angesehen hatte, dem sie in die Verbannung gefolgt war. Damals hatte sie seine Leiche umschlungen und be-wahrte noch jetzt die blutverschmierten Kleider auf. Sie lebte als Witwe in tiefster Trauer, hatte ihre Lebenslust eingebüßt und nahm nur soviel Nahrung zu sich, daß sie gerade noch dem Hungertod entging. Aber den Anstoß für Neros Vorgehen gab Vetus‘ Freigelassener Fortunatus, der das Eigentum seines Patrons veruntreut hatte und sich nun durch eine ge-fällige Anklage zu retten versuchte. Dabei zog er noch Claudius Demianus hinzu, den Vetus als Proconsul von Asien in der Zeit von 64 bis zum Sommer 65183 seiner Verbrechen wegen verhaftet hatte, und den Nero jetzt zum Lohn für seine Anklage freiließ. Als Antistius dies erfuhr und merkte, daß sein Freigelassener widerrechtlich184 als gleichberechtigter Kläger gegen ihn zugelassen wurde, begab er sich in Begleitung seiner Tochter auf seine Landgüter in Formiae. Dort wurde er heimlich von Soldaten bewacht. Antistia aber ging auf Bitten ihres Vaters zu Nero, der damals in Neapel weilte. Als er sie nicht vorließ, wartete sie auf ihn, bis er ausging. Da flehte sie ihn an, er solle doch ihren schuldlosen Vater anhören und seinen ehemaligen Amtskollegen im Consulat nicht einem Freigelassenen ausliefern. Mal ließ sie ein erbärmliches Greinen hören, ein andermal setzte sie Nero mit Drohungen zu. Aber er hatte in Politta leibhaftig vor Augen, was er Plautus angetan hatte, war dem nicht gewachsen und zeigte sich gegen Bitten und Haß gleich unempfindlich.

Antistia kehrte also zurück und meldete dem Vater, es bestünde keine Hoffnung auf einen Sinneswandel Neros. Dann traf auch die Nachricht ein, der Senat bereite gerade die Untersuchung vor und es sei ein harter Urteilsspruch zu erwarten. Einige Vertraute rieten Antistius, er solle doch dem Kaiser den Großteil seines Vermögens vermachen, um dadurch das Übrige seinen Enkeln zu sichern. Aber dies lehnte er ab, weil er sein mit möglichst großem Freimut geführtes Leben zuletzt nicht noch durch eine niedrige Handlungsweise

179 Tac.ann.16.9; Dessau, Röm. Kaiserzeit, Bd. 2,1, S. 257f.180 Tac.ann.16.10ff.181 Über sie ist sonst nichts bekannt.182 Tac.ann.14.59.3183 Sein Vorgänger war 63/64 Otho Titianus (cos. 52, Tac.Agr.6), der Nachfolger 65/66 Marcus Acilius

Aviola (cos. 54)184 S. Darstellung zum Jahre 56

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schänden wollte. Was an Geld vorhanden war, schenkte er seinen Sklaven. Alles, was sie tragen konnten, sollten sie mitnehmen und ihnen nur drei Ruhebetten zum Sterben zu-rücklassen. Sodann schnitten sie sich mit dem gleichen Messer die Adern auf und ließen sich, aus Schicklichkeit nur in ein Gewand gehüllt, ins Bad tragen. Dabei sahen sie sich ge-genseitig an und erbaten ein rasches Ende für ihr entschwindendes Leben. Zuerst verschie-den die beiden Älteren, danach die Jüngste an Jahren. Nachdem sie schon bestattet waren, klagte man sie noch an. Vielleicht brachte Fortunatus dabei die Anweisungen des Antistius zur Kenntnis, die dieser einst seinem in Asien verbannten Schwiegersohn Rubellius Plautus in der höchsten Gefahr für einen Umsturz gegen Nero gegeben hatte.185 Man beschloß, sie sollten nach Art der Vorfahren hingerichtet werden. Nero aber, wie in einem Possenspiel, erhob Einspruch und gestattete den Toten die freie Wahl der Todesart.

Als nächstes wurde über einen römischen Ritter namens Publius Gallus die Verbannung ausgesprochen, weil er ein vertrauter Freund des Faenius Rufus gewesen war und auch zu Antistius Vetus in naher Verbindung gestanden hatte. Seinem Freigelassenen, der zugleich sein Ankläger war, wurde zur Belohnung für seine Dienste ein Theatersitzplatz bei den tri-bunicischen Amtsboten (viatores tribunicii)186 bewilligt.

245. Verschiedene Ereignisse(Monatsumbenennungen – Unwetter – Die Seuche – Ergänzungen der Illyrischen Legionen – Der Brand von Ludgunum (Lyon))

Daneben sah das Jahr noch andere Ereignisse. Der Senat beschloß neben dem April, wel-cher der Neromonat war, noch den Mai in den Claudius und den Juni in den Germanicus umzubenennen. Servius Cornelius (Scipio) Salvidienus Orfitus, der das beantragt hatte, erklärte, der Monat Juni sei deshalb umbenannt worden, weil schon zwei Iunii Torquati187 als Verbrecher hingerichtet worden seien und so den Monat zu einem Unglücksmonat ge-macht hätten. Doch schlug dem Orfitus sein schmeichlerischer Antrag nicht zum Vorteil aus, denn auch er wurde bald darauf Opfer Neros, wobei er von dem berüchtigten Aquilius Regulus angeklagt wurde.188

Dieses Jahr, das schon durch so viele ungewöhnliche Ereignisse befleckt war, kennzeich-neten die Götter auch durch Ungewitter und Seuchen. Campanien wurde durch einen Ge-wittersturm verwüstet, der allerwärts Bäume umlegte, die Landhäuser und Saatfelder zer-störte und bis in die Nähe Roms tobte. In Rom machten sich die Seuchen und Krankheit fördernden Zustände nach dem Brand bemerkbar, weil Tausende Menschen in Baracken und öffentlichen Gebäuden hausten, die Nero zur Verfügung gestellt hatte. Hier herrschte die Pest in allen Schichten der Bevölkerung, obwohl die Witterung keine Besonderheiten aufwies. Die Häuser waren mit Leichen, die Straßen mit Trauerzügen angefüllt. Kein Ge-schlecht, kein Alter blieb verschont. Sklaven ebenso wie freie Bürger wurden unter dem

185 Tac.ann.14.58.3f.186 Mommsen, Röm. Staatsrecht Bd. 1 3.Aufl., S. 360; Marquardt, Röm. Staatsverwaltung, Bd. 3,

S. 535, Anm. 4187 Tac.ann.15.35.1; 16.8.1188 Tac.hist.4.42.1

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306 | Die späten Jahre (65–68)

Wehklagen ihrer Angehörigen hinweg gerafft und allenthalben loderten die Scheiterhaufen zur Verbrennung der Leichen. Man berichtet von 30.000 Toten, deren Namen in die Rech-nungsbücher der Libitina eingetragen worden sein sollen.189 Diese wurden im Tempel, der im Hain der Libitina gelegen ist, von der Zunft der Leichenbestatter geführt und aufbe-wahrt.190

In Gallien wurde Lugdunum (Lyon) durch eine große Feuersbrunst zerstört (64/65).191 Nero schenkte der Stadt vier Millionen Sesterzen, um den Wiederaufbau der niederge-brannten Stadtteile zu finanzieren. Ebendieselbe Summe hatten die Bürger der Stadt an Rom nach dem großen Brand des Jahres 64 übergeben.192

Im gleichen Jahr wurden in den Provinzen Gallia Narbonensis, in Africa und Asia Aushe-bungen abgehalten, um die Legionen in Pannonien, Dalmatien und Moesien zu ergänzen. Aus ihnen wurden nämlich alle durch Alter und Krankheit dienstuntauglichen Leute ver-abschiedet. Sie waren vielleicht mittelbar durch die Anforderungen des armenischen Krie-ges und ihrer eigenen Sicherungsaufgaben auf dem Balkan (s.u. zum Jahr 66) geschwächt und mitgenommen worden.

189 Nach Friedländer, Sittengeschichte, Bd. 1, S. 31 können dabei Sklaven und Unvermögende kaum mitgezählt worden sein.

190 Suet.Nero 39.1; Oros.7.7.11191 Sen.ep.91.1f.192 Tac.ann.16.12f.

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