Nerv mich nicht – ich muss fahren! · VI ngenieur- und erkehrspsychologie November 8, 2013 | Prof. Dr. Mark Vollrath | Was mache ich nur mit meinem Fahrer?| Seite 3 Oder doch nicht?

Ingenieur- und V erkehrspsychologie

Nerv mich nicht – ich muss fahren! Wie Stress und Emotionen das Autofahren beeinflussen

Prof. Dr. Mark Vollrath


November 8, 2013 | Prof. Dr. Mark Vollrath | Was mache ich nur mit meinem Fahrer?| Seite 2

Stress - ein Problem? „Nerv mich nicht!“ „Besserwisser!“



Oder doch nicht? Langeweile Monotonie Müdigkeit



„Ich bin total gestresst von der Arbeit…“

„… wie bin ich überhaupt nach Hause gekommen?“



Stopp! Jetzt mal systematisch!



IST STRESS EIN PROBLEM BEIM FAHREN?



Datenbasis und Vorgehen Unfallprotokolle Braunschweig 2002 §  n = 4257 Unfälle §  n = 992 schwere Unfälle

Gewichtung mit Hilfe 50% Stichprobe Unfälle BRD 2002 §  n = 185004 Unfallverursacher, Pkw, ab 18 Jahre §  Gewichtet nach Unfalltyp, Wochentag, Tageszeit

Aufteilung nach Unfalltypen entsprechend Handlungsfehlern und Fehlhandlungen §  Pro Unfall-Feintyp Gruppen von Ursachen (Expertenrating)

Pro Protokoll: §  Ursache der Fehlhandlung



Fahraufgaben mit den häufigsten Fehlern

Abstand halten6%

Spur halten3%

GasBremseLenkrad

Geschwindigkeit halten

Aktive Suche 3%

Erkennen 30%

Vorhersage 1%

Erkennen der Handlungsrelevanz

Position vorgeben1%

Abstand vorgeben

13%

Geschwindigkeit vorgeben

19%

Regelungsebene

Führungsebene

Situationsbewusstsein

Planung

Ausführung



Vorgabe von Abstand und Geschwindigkeit Ursachen Fehlerhafte Einschätzung der Situation: §  Fahrer erwarten nicht, dass das

Vorderfahrzeug plötzlich bremst

Fehlerhafte Einschätzung des Straßenzustands: §  Nicht berücksichtigt, dass Bremsweg

verlängert ist

Abstand haltenSpur halten

GasBremseLenkrad


Aktive Suche Verkehrs-teilnehmer

Erkennen Verkehrs-teilnehmer

Vorhersage Verkehrs-teilnehmer

Erkennen der Handlungsrelevanz der

Situation

Position (Fahrspur, Genauigkeit)

vorgeben

Abstand vorgeben


5.5%

12.5%



Vernachlässigung der Abstandshaltung Ursachen


GasBremseLenkrad






Situation


vorgeben

Abstand vorgeben


5.5%

12.5%77

8

12

3

0 20 40 60 80 100

Unaufmerksamkeit

Ablenkung

Fahrerzustand

Falsche Ausrichtung

Anteil Unfälle [%]



Fahrunfälle Ursachen Falsche Geschwindigkeitsvorgabe: §  Eingeschränkter Fahrerzustand (24% dieser

Unfälle) §  Erhöhte Risikofreudigkeit (5% dieser Unfälle)

???: §  Angaben fehlen


GasBremseLenkrad






Situation


vorgeben

Abstand vorgeben


2.2%

18.3%



Kollisionen mit Bevorrechtigten 31.6% der schweren Unfälle


GasBremseLenkrad






Situation


vorgeben

Abstand vorgeben


0.4%

1.7%

29.5%

59

23

15

3

0 20 40 60 80

Unaufmerksamkeit

Falsche Aufmerksamkeit

Fehleinschätzung

Fahrerzustand

Anteil Unfälle [%]



Unfälle im bewegten Verkehr Ursachen Vernachlässigung aktive Suche: §  Überforderung durch die komplexe

Verkehrssituation (25% dieser Unfälle)

Vernachlässigung Spurhaltung: §  Ablenkung, Unaufmerksamkeit

???: §  Angaben fehlen


GasBremseLenkrad






Situation


vorgeben

Abstand vorgeben


1.0%

0.2%

3.1%



Stress bei Unfällen Sich selbst Stress machen: §  (Zu) schnell fahren, drängeln: Auffahrunfälle §  Sich ablenken lassen, nicht damit rechnen: Auffahrunfälle, Fahrunfälle §  Alkohol trinken, etwas riskieren: Fahrunfälle

Weil man gestresst ist zu wenig aufpassen: §  Wenn der vorne bremst: Auffahrunfälle §  Wenn zu viel los ist: Kreuzungsunfälle §  Wenn man sich nach vorne konzentriert: Spurwechselunfälle

Was ist das eigentlich, „Stress“???



Was ist Stress? Stress entsteht, §  wenn Anforderungen auf einen einstürmen §  man völlig überfordert ist §  man dann chaotisch / fehlerhaft reagiert §  und sich dabei schlecht fühlt

Gibt es das beim Autofahren wirklich?



Studie zur Stresslage der Nation (TK 2013) Anteil Personen, die davon zumindest selten gestresst sind

4741

3432

2723

2221

1716

0 10 20 30 40 50

Beruf, Schule, StudiumHohe Ansprüche an…

Private KonflikteKrankheit eines…

GeldsorgenHaushalt

KindererziehungAutofahrten

Bus/BahnfahrtenPflege

Anteil Personen [%]



Was ist Stress? Stress entsteht, §  wenn Anforderungen auf einen einstürmen §  man völlig überfordert ist §  man dann chaotisch / fehlerhaft reagiert §  und sich dabei schlecht fühlt

Gibt es das beim Autofahren wirklich? §  Autofahren taucht als Stressursache auf §  Ist aber eher eine seltene Ursache §  (Wahrscheinliche Ausnahme: Berufskraftfahrer) Um was geht es dann?



BELASTUNG UND BEANSPRUCHUNG



Belastung und Beanspruchung



Und beim Fahren? Task-Capability Interface Model (TCI) von Fuller

Überdauernde Eigenschaften

TrainingErziehung Erfahrung

Kompetenz Fertigkeiten

Aktueller Zustand

Umwelt

Andere Verkehrs-teilnehmer

FahrzeugGeschwindigkeitPosition auf der Straße

Aktuelle Ziele

Kontrolle

Unfall

Reaktionen anderer

GlückKein Unfall

Verlust der Kontrolle

Aktuelle Fähigkeit

Anforderungen der AufgabeBelastung

Beanspruchung

Unfall



Und beim Fahren? Task-Capability Interface Model (TCI) von Fuller

Überdauernde Eigenschaften

TrainingErziehung Erfahrung

Kompetenz Fertigkeiten

Aktueller Zustand

Umwelt

Andere Verkehrs-teilnehmer

FahrzeugGeschwindigkeitPosition auf der Straße

Aktuelle Ziele

Kontrolle

Unfall

Reaktionen anderer

GlückKein Unfall

Verlust der Kontrolle

Aktuelle Fähigkeit

Anforderungen der Aufgabe



Zwei Fragen Was macht das Fahren stressig? §  Umwelt §  Andere Verkehrsteilnehmer §  Fahrzeug §  Die eigene Fahrweise

Was schützt den Fahrer? §  Angeborene Fähigkeiten §  Ausbildung, Training, Erfahrung §  Leistungsfähiger Zustand



Es ist doch ganz einfach… Macht die Fahrt stressfrei! §  Breite, gut ausgebaute Straßen §  Beleuchtung überall §  Ampeln an jeder Kreuzung §  Gut überwachte Tempolimits §  Trennung von motorisiertem Verkehr und schwächeren Teilnehmern Nehmt nur die guten Fahrer! §  Strengere Auswahl §  Längeres Fahrtraining §  Tests für ältere Verkehrsteilnehmer §  Hohe Strafen für Alkohol, Drogen, Telefonieren, SMS, Müdigkeit



Der Mensch ist kein Blech!



Der Mensch als Handelnder Hockey (1997)

ZentraleÜberwachung

Ziele

Kontrolle der Handlung

Kontrolle der Anstrengung

Qualität der Leistung

Schleife A

Schleife B

Belastung, Störung



Jeder Mensch ist anders Jeder Mensch verträgt unterschiedlich viel Belastung §  Das Blech

Man kann die Belastung beeinflussen §  Der Mensch ist kein Blech

Beispiel Alte Fahrer (Fofanova, Maciej, Vollrath, 2011)



Alte warten länger, fahren langsamer Zeitlücke Geschwindigkeit



Alte machen nicht mehr Fehler als Junge



Kompensationsstrategien älterer Fahrer Während der Fahrt: §  Langsamer Fahren §  Länger Warten §  Größere Abstände

Vor der Fahrt: §  Nachtfahrten meiden §  Schlechtes Wetter meiden §  Zeiten mit starkem Verkehr meiden §  Nur bekannte Strecken fahren



Und – der Mensch braucht Stress! Yerkes-Dodson-Gesetz

Leis

tung

Beanspruchung durch die Fahraufgabeniedrig hoch

niedrig

hoch

Hohe EnergieHohe Motivation

Hohe Leistung



Sensation Seeking – Wunsch nach Stimulation

Sensation Seeker: §  Fahren schneller §  Halten kleinere Abstände §  Beschleunigen schneller §  Haben mehr Unfälle §  Haben mehr Übertretungen



Unterforderung – die andere Seite des Stress! Unterforderung ist häufig – Unfälle wegen Einschlafen: §  24% der tödlichen Unfälle (Anselm & Helm 2002) §  19% der Lkw-Unfälle (Evers & Auerbach 2005)

Aktuelle Schätzung von Young (2003): §  Neue Auswertung der 100-Car-Study



Unfallrisiko 60fach erhöht 20% der Unfälle vermeidbar



Fahrer tun etwas gegen Unterforderung



Befragungsstudie in Braunschweig Tätigkeiten in der letzten halben Stunde

3.8

20.6

37.3

22.0

9.8

3.1 2.8

0

10

20

30

40

50

0 1 2 3 4 5 6

Ant

eil F

ahre

r [%

]

Anzahl fahrfremder Tätigkeiten



Ist Ablenkung gefährlich? Jein! 100-Car-Study, Klauer et al. 2006



Kein Stress beim Fahren… Stress im Sinne einer generellen Überforderung ist kein echtes Problem im Verkehr §  Umwelt, Verkehr, Fahrzeug ist selten wirklich belastend §  Fahrer sind hoch geübt und kompetent §  Fahrer können die Belastung regulieren (Tempo, Abstand)

Bestimmte Aspekte von Belastung / Beanspruchung sind ein Problem: §  Fahrer sind unterfordert: Müdigkeitsunfälle §  Fahrer senken ihre Leistungsfähigkeit: Alkohol, Drogen §  Fahrer bekämpfen ihre Langeweile (zu sehr): Ablenkungsunfälle §  Fahrer möchten Stress: Sensation Seeking §  Punktuell übersteigen die Anforderungen der Situation die Fähigkeiten

der Fahrer: Kreuzungsunfälle, alte Fahrer



ABER EMOTIONEN!



ADAC-Umfrage „Rasen, Drängeln und Pöbeln begegnet über der Hälfte der Autofahrer auf der Autobahn“ §  BMW 50%, Mercedes 32%, Audi 26%, Porsche 9%



Wie entstehen Emotionen? Appraisal-Theorie der Emotion Ich habe ein Ziel: §  Ich möchte von A nach B kommen, möglichst schnell und sicher Es geschieht etwas, das meine Zielerreichung beeinflusst: §  Ich komme in den Stau (Blockade): Negative Emotion §  Alles ist frei, Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben: Positive Emotion Ich suche nach Ursachen: §  Warum fahren die alle hier lang? Die Anderen – Ärger auf die anderen §  Schlechtes Wetter, kann man nichts machen: Umwelt – Frust §  Warum bin ich hier langgefahren? Ich –Ärger auf mich Was kann ich tun: §  Nichts – Frust §  Abfahren – Erleichterung Was wird passieren: §  Der Stau löst sich auf: Hoffnung §  Der ADAC kommt mit Decken: Verzweiflung



Wozu ist das gut? Emotionen sind schnell: §  Wenn etwas wichtiges passiert (Ziele!), kann man schnell reagieren

Emotionen aktivieren und motivieren: §  Es wird Energie freigesetzt, um effektiv zu

handeln

§  Man wird motiviert, um negative Situationen zu vermeiden



Kein Wunder! Ich werde blockiert: §  Ärger, Erregung §  Gerichtet auf das Hindernis –

den anderen Fahrer §  Geh mir aus dem Weg!



Alles eine Frage der Perspektive… Emotionen entstehen schnell und weitgehend unbewusst Aber: Man kann sie bewusst verändern! §  Der andere steckt auch im Stau! §  Der kann nicht anders, hat ja nur ein kleines Auto. §  Deswegen komme ich nicht zu spät.



Welche Emotionen entstehen im Verkehr? Levelt (2000) Lkw-Fahrer Freude: §  Freiheitsgefühl, schnell fahren

Stolz: §  Weil man so gut fährt (Einparken!) Reue: §  Weil man etwas falsch gemacht hat

Ärger: §  Weil man blockiert wird (Ziele!)

Scham/Schuld: §  Weil man andere gefährdet hat



Was machen aggressive Fahrer? Wells-Parker et al. 2002 Befragung USA



Ist das gefährlich? Fahrer, die sich zumindest manchmal aggressiv verhalten haben ein höheres Unfallrisiko Wer nur schimpft und hupt, nicht!



Wird es mehr? Mann et al. (2006) Canada

2001 2002 2003



Emotionen durch Verkehr Auffällig ist vor allem Ärger: §  Anderer Verkehrsteilnehmer behindern

Ärger kann zu riskantem Verhalten führen: §  Drängeln, riskant überholen, abdrängen Wer riskant fährt, hat mehr Unfälle: §  Kein Wunder!

Wer nur schimpft, fährt besser! Es scheint nachzulassen: §  Deutsche Studien fehlen

Der Effekt von positiven Emotionen durch Verkehr ist nicht nachgewiesen…



EMOTIONEN, DIE MAN MITBRINGT



Emotionale Gespräche mit dem Beifahrer Maciej et al. (2010)

Ärger §  Streitgespräch über den Abwasch

Sympathie §  Interesse an seinem Gegenüber zeigen Ängstlichkeit §  Falsche Info über bevorstehende Rede

Neutral §  Small-talk

Fahrt mit der LCT



Das klappt ganz gut…



Schlechter fahren beim Flirten…



Komplexere Anforderungen Reiss (1997) Fahrsimulator

0 1 2 3 4 5

Stiller Beifahrer

Small Talk

Streit

Komplex

Zuhören

Sprechen

Relatives Risiko [x-fach]

Stadt Landstraße



Riskant durch riskantes Verhalten

70 80 90 100 110

Stiller Beifahrer

Small Talk

Streit

Komplex

Zuhören

Sprechen

Geschwindigkeit [km/h]



Das geht auch mit Musik Blabl (2011), Musik im Fahrsimulator



Emotionen, die man mitbringt Ereignisse vor der Fahrt, die Emotionen erzeugen: §  Gerade heftige, nachwirkende Emotionen sind vermutlich eher selten §  Auswirkungen unbekannt

Emotionen während der Fahrt im Fahrzeug §  Intensive, emotionale Gespräche können ablenken §  Aggressive Musik kann zu schnellem Fahren führen §  Weder Häufigkeit noch Risiko ist momentan abschätzbar



Stress - ein Problem? Stress im engen Sinn ist eher kein Problem beim Fahren: §  Völlige Überforderung durch komplexe Situationen Zu hohe Beanspruchung kann Unfälle verursachen: §  Wenn der Fahrer nicht mehr gegenregulieren kann §  Wenn die Situation plötzlich komplex wird §  Wenn der Fahrer seinen Zustand einschränkt §  Wenn der Fahrer sich überschätzt und ablenkt Zu geringe Beanspruchung ist mindestens genauso gefährlich: §  Müdigkeitsunfälle §  Ablenkung, weil zu wenig beansprucht Emotionen sollte man nicht unterschätzen §  Aggression und riskanter Fahrstil §  Positive Emotionen lenken ab



Das intelligente, adaptive Fahrzeug



Stressassistenz

Ärger erkannt: Langsamer!


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