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NEUNEINHALB JAHRHUNDERTE SIEGBURG SIEGBURG … · 2019-09-12 · „Er war gesegnet mit vorzüglichsten Eigenschaften und ausgezeichnet vor allen Fürsten des Reiches“, so ein Biograph

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NEUNEINHALB JAHRHUNDERTE SIEGBURGSIEGBURG NEUNEINHALB

Wir danken für die Unterstützung der Kreisstadt Siegburg und der Stiftung Benediktinerabtei Michaelsberg

ISBN-Nr. 978-3-936256-58-1Herausgeber: Reinhard Zado, Edition BlattweltNiederhofen 2014

Texte: Andrea Korte-Böger© bei den AutorenGestaltung und Produktion: Reinhard Zado, Martina SchiefenAlle Rechte vorbehalten

NEUNEINHALB JAHRHUNDERTE SIEGBURGSIEGBURG NEUNEINHALB

Andrea Korte-Böger · Reinhard Zado

EDITION BLATTWELT

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-VII- KapItel DIe InDuStrIalISIerung ............................ 60Taschentücher und Kanonen .............................................................. 60

Die Kattunfabrik Rolffs & Co. ......................................................... 62Die Entwicklung zum Eisenbahnknotenpunkt ............................ 64Die städtische Gasanstalt ................................................................. 65Die Königlich-Preußischen Werke ................................................. 66

-VIII- KapItelDIe erSte Hälfte DeS 20. JaHrHunDertS ........................ 70Notzeiten und Zerstörungen .............................................................. 72

... durch die Hände übermütigerBesatzungstruppen zerstört ............................................................ 74Besatzungstruppen in Siegburg ..................................................... 75Die Schließung der Munitionswerke ............................................. 75Notzeiten in den Zwanziger Jahren ............................................... 76Die Bemberg AG ............................................................................... 78Die Rheinische Zellwolle AG .......................................................... 78Die NS-Zeit ........................................................................................ 79Der Untergang der jüdischen Gemeinde ...................................... 80Die Stadt im Bombenkrieg .............................................................. 82

-IX- Der Weg InS WIrtScHaftSWunDer .......................... 86Die Stadt am Kriegsende ..................................................................... 86

Hunger ............................................................................................... 87Und Not ............................................................................................. 87Die Nachkriegszeit ........................................................................... 88Die Eingemeindung von Braschoß,Schreck und Kaldauen ..................................................................... 89Umbau zu einer verkehrsgerechten Stadt? ................................... 90Die Stadtsanierung ab 1970 ............................................................. 92

-9 1/2- KapIteleIn HalbeS KapItel aber KeIne Halbe SacHe .............. 94Von der Einkaufsstadt bis heute ......................................................... 94

Der ICE-Bahnhof .............................................................................. 95Der Europaplatz und die Konrad-Adenauer-Allee ..................... 95Das S-Carré ........................................................................................ 96Die Rhein-Sieg-Halle ........................................................................ 98Ein neues 1064 ................................................................................ 100

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Liebe Leserinnen und Leser,

der Aufarbeitung von 950 Jahren Siegburg geht ein diffiziler Auswahlprozess voraus. Was muss behandelt, auf welches Detail kann verzichtet werden? Wo liegen die Besonderheiten, die Historikergenerationen zuvor verborgen blieben? Sachkundig und mit einem sicheren Gespür für spannende Geschichten, die zusammengepuzzelt die große Geschichte ausmachen, sind die Autoren ans Werk gegangen. Ganz herzlich danke ich für die Anstrengungen und darf zum guten Gelingen gratulieren!

Der 950. Stadtgeburtstag ist der passende Zeitpunkt, um zurückzublicken. Die Retrospektive ist aus einer Vielzahl von Gründen essentiell. Sie zeigt uns, auf welchen Pfeilern unsere Kultur ruht. Sie führt uns vor Augen, welche Traditionen bewahrenswert sind. Die Rückschau ist uns ferner Antrieb, dem historischen Siegburg in unserer Stadtplanung einen angemessenen Platz einzuräumen. Schon lange ist uns dies ein Anliegen. Wir machen eben nicht alles neu,wir integrieren das Bestehende. Nehmen wir zum Beispiel das Großprojekt Michaelsberg. Ein Anbau wird für den Umzug des Katholisch-Sozialen Instituts aus Bad Honnef notwendig. Doch die Abtei bleibt der Star, so sehen es die Pläne der Architekten vor.

Sie werden bei der Lektüre bemerken, dass die historische Forschung nicht schläft. Selbst Siegburgkenner erfahren Neues in Text und Bild. „9-einhalb Kapitel“ – ein neues Kapitel in der Geschichtsschreibung? Lassen Sie sich überraschen!

Freundliche GrüßeIhr

Franz HuhnBürgermeister

INHALTSVERZEICHNIS

-I- KapItel anno DomInI 1064 .................................................. 8Oben auf dem Berg ................................................................................. 8

Der Abteigründer – Erzbischof Anno II., der Heilige .................. 10Die ersten Äbte – Abt Erpho, Abt Reginhard und Abt Cuno I. ................................................................................. 14

-II- KapItel DIe StaDt SIegberg ........................................... 18Am Fuße des Berges ............................................................................. 18

Der Bau der Stadtbefestigung ......................................................... 20Die Stadtmauererweiterung ............................................................ 22Die vogteiliche Burg ......................................................................... 22Im Weichbild der Stadt .................................................................... 23Recht und Macht ............................................................................... 24Der Aufstand der Bürger ................................................................. 25

-III- KapItel HanDel unD WanDel ..................................... 28Der Marktplatz ...................................................................................... 28

Zünfte und Handwerk ..................................................................... 30Die Siegburger Töpfer ...................................................................... 30Der Wappenstecher .......................................................................... 34Der Wegzug der Töpfer ................................................................... 34

-IV- KapItel KrIeg unD Verfolgung ............................... 36Vor dem Burgbann der Stadt .............................................................. 36

Der Truchsessische Krieg ................................................................. 37Die Schlacht an der Aggerbrücke ................................................... 38Der Jülich-Klevische Erbfolgestreit ................................................ 40Der Dreißigjährige Krieg ................................................................. 41Die Hexenverfolgung ....................................................................... 43

-V- KapItel oben auf Dem berg ........................................... 48Umbau, Neubau, Streitereien und Auflösung .................................. 48

Der Brand 1649 .................................................................................. 48Der Brand 1772 .................................................................................. 48Die Auflösung ................................................................................... 50

-VI- KapItel fremDe auf Dem berg .................................... 52Nach der Auflösung ............................................................................. 52

Die erste Irrenheilanstalt der preußischen Rheinprovinz ........... 53Die Musteranstalt .............................................................................. 54Die Gründung der evangelischen Pfarrgemeindein Siegburg ........................................................................................ 56Die Auflösung ................................................................................... 56Das preußische Zuchthaus .............................................................. 57

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OBEN AUF DEM BERGN

-I-KAPITEL

Der heilige Anno wäscht die Füße der Ärmsten und speist sie.

Federzeichnungen aus dem Annozyklus des Augustin Braun (tätig in Köln um 1590 - 1641)

Der Tod des heiligen AnnoDer jugendliche Anno beim Reitunterricht

icht immer stand oben auf dem Berg ein Kloster, vielmehr begann die Bebauung des Michaelsberges miteiner Burganlage der Pfalzgrafen bereits in karolin-

gischer Zeit. Was davor war – vielleicht sogar ein römi-scher Wachturm – wird wohl für immer im Dunklenbleiben; denn mit jedem neuen Herrscher oben auf demBerg wurde neu gebaut, abgerissen, umgebaut und dieSpuren der Vorgänger verändert, meist sogar ausge-löscht. Und natürlich hieß der Berg noch nicht „Micha-elsberg“, sondern es war der „Siegberg“.

Der Siegberg ragte – und der Michaelsberg tut es bisheute – als beherrschender Bergkegel über die Sieg auf,die damals durch ein morastiges Auengebiet in Mäan-dern der Mündung in den Rhein entgegenströmte. Durchdieses Gebiet führte, neben anderen, untergeordneten,als wichtigste Straße, die alte Köln-Gießener Verbin-

dung, und es entsprach den Herrschaftsgepflogenhei-ten karolingischer Zeiten, derartige Fernwege durchPfalzgrafen bzw. deren Burganlagen überwachen undsichern zu lassen. Nun ist die Geschichte der Pfalzgra-fen hier nicht unser Thema, nur so viel sei erwähnt,dass der letzte Pfalzgraf Heinrich, aus dem Geschlechtder Ezzonen-Hezelinen, kurz vor seinem Tod auf derBurg Cochem in einem Anfall von Wahnsinn seine Ehe-frau erschlug, was ihm den Beinamen „der Wütende“eintrug. Schon Jahre zuvor hatte er immer wieder ge-gen seinen Vetter Hermann, Erzbischof von Köln, unddessen Territorialpolitik gewütet und gekämpft, nun-mehr war das Maß unter dem auf Hermann folgendenErzbischof Anno II. voll. Er ließ seine Ritter gegen denWütigen ziehen, besiegte und vertrieb ihn vom hohenSiegberg. In der Gründungsurkunde der Abtei ließErzbischof Anno diese Geschichte aufschreiben:

„Wissen soll es der fromme Glaube der Christgläubigen,der zukünftigen wie der gegenwärtigen, weshalb wiruns entschlossen haben, ein Kloster zu bauen auf demBerg, dem heute der Name Michaelsberg gegeben ist, alsdas Kloster zu Ehren dieses Erzengels geweiht wurde.Wegen der natürlichen Festigkeit des Platzes hatten ver-wegene und leichtfertige Menschen, denen Übeltat Ge-setz und Lust am Straßenraub Gerechtigkeit erschien,sich manchmal dort festgesetzt und nicht nur aus denGütern unserer Kirche, sondern auch der Umwohnendengrausam Beute weggetrieben, was wir nicht nur von denBewohnern erfuhren, sondern in unseren Tagen zum Un-recht und zur Verwüstung unserer Kirche gesehen haben.Aber der allmächtige Gott, der die, die auf ihn hoffen, nie-mals verlässt, hat diese Kirchenräuber durch seine Kraftgezähmt, so dass sie nicht nur von ihrem Beginnen ab-

ließen, sondern auch den Berg selbst mit dem ganzen Bauin die Macht des hl. Petrus, des Fürsten der Apostel, ga-ben. Wir haben deshalb, nicht uneingedenk des göttlichenErbarmens, den Ort, den die Diener der Teufel zum Ver-derben der Seelen vorher besetzt hatten, zum Heil der See-len bestimmt. Das war die Ursache unseres Handelns aufdem Michaelsberg, dass die dort wohnenden geistlichenMänner in treuem Wandel für sich wachen, zu unserm,unserer Vorgänger und Nachfolger und der ganzen KircheHeil die Ohren der göttlichen Milde anflehen. Wir hof-fen aber und vertrauen auf die göttliche Erbarmung, dasswir durch die Burg dieser Ritter treu und sicher ge-schützt werden, durch die Gottes Sohn und seine heiligs-te Mutter – immer Jungfrau – Maria mit dem ErzengelMichael und dem hl. Märtyrer Mauritius und seinen Ge-fährten und allen Heiligen ständig gepriesen wird ….“

1110

Das Bild aus der Annovita

zeigt die Überführung des Leichnams

des heiligen Anno von Köln zur Abtei

nach Siegburg.

Der Abteigründer – Erzbischof Anno II., der Heilige

Und mit diesen Worten gründet Erzbischof Anno II.von Köln, der später den Beinamen „der Heilige“ erhielt,1064, vor 950 Jahren das Kloster auf dem Michaelsberg.Und da diese Klostergründung der Anlass war, dasssich am Fuße des Berges eine Siedlung entwickelte, heutebekannt unter dem Namen „Siegburg“, feiern wir, imJahre 2014, ein Jubiläumsjahr: 950 Jahre Klostergrün-dung auf dem Michaelsberg – 950 Jahre Wurzeln derStadt Siegburg.

Ihm verdanken wir unser Jubiläum – in Vorträgen zurStadtgeschichte wird er jedoch selten lobend, eher deut-lich abwertend und sogar unfreundlich dargestellt.Schauen wir einfach in die Quellen, die über ihn anläss-lich seiner Heiligsprechung verfasst wurden, aber auch,was jüngere Zeitgenossen über ihn zu sagen haben:

„Zu Köln war er geweihter Bischof,Darum soll die Stadt immer Gott loben,Daß in der schönsten Burg,Die in deutschen Landen je ward,Richter war der tüchtigste Mann,Der je zum Rheine kam;Darum dass die Stadt desto hehrer schiene,Indem sie eine so weiseHerrschaft erleuchtete,Und seine Tugend desto glänzender wäre,Daß er einer so hehrenStadt pflegte.Köln ist der hehrstenBurgen eine,Sanct Annobracht‘ ihr Ehre wohl heim.“So aus dem Annolied in einer Übertragungdes19. Jahrhunderts.

„Er war die kostbarste Perle, bestimmt für das himmlische Diadem“, so Lambert von Hersfeld, ein Zeitgenossen Annos, der übrigens in seinenSchriften die schlechte Zucht am Hofe Heinrichs IV. seit Anno’s Entfernungbeklagte. Der aber auch feststellte:„Bei allen seinen Vorzügen erschien es wie ein Fleck auf einem sehr schönenKörper, dass er im Zorn seine Zunge nicht genug mäßigen konnte, sondern ge-gen alle ohne Ansehen der Person Drohungen und die bittersten Vorwürfeherausschleuderte, was er selbst, wenn der Zorn sich gelegt hatte, heftig tadelte.“

Erzbischof Adalbert von Bremen (* um 1000 – † 1072) Abbildung aus der„Chronica der Stadt Bremen“ von Johann Renner (* um 1525 – um † 1583)

Tierfigur auf einem Emailplättchen am Annoschrein

Ein nicht sehr freundlich gesonnener Zeitgenosse Annos,Adam von Bremen, schreibt über diesen, auch für da-malige Zeiten exorbitanten Stiftungs- und Baueinsatz:„Der Kölner (d. h. Anno) verwandte alles, was er zu Hau-se und bei Hofe erraffen konnte, zum Schmuck seinerKirche (d. h. der Kölner Kirchen). Sie war zuvor schongroß gewesen – („die heilige Stadt Köln“), er machte sieso bedeutend, dass sie über jeden Vergleich mit eineranderen Kirche des Reiches erhaben war …“

„Ein Mann der Religion, ein Bischof nicht nur demNamen, sondern auch der Tat nach“,so Papst Alexander II. in der Bestätigungsurkunde zurGründung der Siegburger Abtei.

„Er war gesegnet mit vorzüglichsten Eigenschaftenund ausgezeichnet vor allen Fürsten des Reiches“,so ein Biograph des frühen 19. Jahrhunderts.

„Er war eine der dunkelsten Gestalten des Mittelalters!“,so der große Historiker Leopold von Ranke, ebenfalls19. Jahrhundert.

„Er war begabt, jedoch herrisch-stolz und rücksichtslos,das eigene ICH betonend, ein Nepotist, ein Plünderer!“so Erich Düsterwald im 20. Jahrhundert.

„… und überhaupt scheinen die Menschen kölnischerLebensart wenig Verständnis gehabt zu haben, für dieStrenge, die Anno anstrebte: denn keinen entschiedene-ren Förderer hat das Mönchstum strengster Observanzzu seiner Zeit gehabt als eben Anno!“Zitat aus Monumenta Annonis, Köln 1974.

„Er war ein Mensch wie wir – mit Ecken und Kanten“, so versöhnlich Toni Diedrich anlässlich der 800. Wie-derkehr der Heiligsprechung.

Abschließend sei der jüngste Annobiograph, Frater Linus OSB, zitiert. Er schrieb, aus dem damals noch be-stehenden Kloster St. Michael in Siegburg, im Dezem-ber 2007 zur Rückkehr des Annoschreins nach mehr-jähriger Restaurierung unter der Überschrift:„Ein seliger Bischof in der Tat? Sankt Anno und seinSchrein: Wir müssen den heiligen Anno nicht lieben,wir müssen ihn nicht unbedingt verehren, aber wir sollten ihm dankbar sein. Denn was wäre Siegburgohne seinen Michaelsberg? Was wären unsere Gottes-dienste, wenn wir nicht, wie einst der Dichter JosephMohr im Angesichte der Abtei, aus vollem Herzen sin-gen könnten: „Ein Haus voll Glorie schauet weit überalles Land, aus ew´gem Stein erbauet von Gottes Meister-hand!“…. ?

Eines ist sicherlich zur Einschätzung der PersönlichkeitAnnos wichtig: Niemals bereicherte er sich selbst! AlleEinnahmen gab er sofort an seine neugegründeten Klös-ter weiter – und da mit Vorliebe an seine Lieblings-gründung oben auf dem Michaelsberg! Dort sollte be-sonders eindringlich zum Heile aller, aber natürlichauch seiner Seele gebetet werden. Wie empört und ent-setzt war der als überaus aufbrausend bekannte Anno,als er gerade dort, auf dem Michaelsberg, bei den

Mönchen des ersten Konvents schon baldWohlleben und Zuchtlosigkeit feststellenmusste. „So sagt Abt Reginhard in der Vita, da er(Anno) in allen deutschen Klöstern denEifer für die Regel erkalten sah, (sei er) vondem Gedanken gequält worden, dass fürihn, für seine ungeheuren Auslagen, keineGott würdige Leistung angerechnet werde.… Da sei er, als er für das Reich nach Romund Italien reiste … nach Fruttuaria (inPiermont) gekommen; den strengen, denRegeln gemäßen Wandel der Brüder be-wundernd, habe er zwölf Mönche mitgenom-men und nach Siegburg gebracht, die frü-heren Mönche aber entlassen und nachHause geschickt.“

Und dann, mit den neuen, vor Glaubens-eifer brennenden Mönchen nahm dieLieblingsgründung des hl. Annos, dasKloster St. Michael, den Weg in seineBlütezeit.

1312

1514

Bischofsstab, sog. „Annokrümme“,11. Jahrhundert, heute Schatzkammer St. Servatius Siegburg

Die ersten Äbte – Abt Erpho, Abt Reginhard und Abt Cuno I.

Über den ersten Abt, Abt Erpho (†�1076), wissen dieQuellen fast nichts zu berichten. Weder sein Herkom-men, noch seine Klosterlaufbahn ist bekannt, gehörte erschon zu den Reformern oder noch zum erstenKonvent, dessen Mitglieder aus St. Maximin in Trierstammten? Wir wissen lediglich, dass er dem Konventvorstand, in dem Anno so gerne weilte und dessenMitglieder er so ehrte und verehrte, als seien sie „seineMeister“ (F. W. Oediger). Und wir wissen,dass er dem Erzbischof in Köln in seinerSterbestunde beistand. Als Abt Erpho 1076starb, konnte sein Nachfolger, Abt Regin-hard, mit einem gut ausgebildeten, rund 40Mönchen umfassenden Konvent, ein rei-ches monastisches Leben fortführen.

Abt Reginhard (1076-1105) hatte den Grün-der während seines Amts als Prior nochkennengelernt. Vielleicht war das derGrund, dass er die erste „Vita Sancti Anno-nis“ verfasste, die als Urfassung allen ande-ren Lebensbeschreibungen zugrunde liegt.Ansonsten setzte er erfolgreich das Auf-bauwerk seines Vorgängers fort. Lampertvon Hersfeld, ein berühmter Geschichts-schreiber des 11. Jahrhunderts, ein SchülerAnnos, als dieser noch die Klosterschule inBamberg leitete, kam eigens nach Siegburgum das Reformkloster seines verehrtenLehrers kennenzulernen.

Der Ruf Siegburgs strahlte so weit, dass –wie die Quellen berichten – sogar ein Mönch,namens Thiezelinus, aus einem Klosternahe Magdeburg gelegen, aufbrach, umhier die Klosterdisziplin zu erfahren und zulernen, die ihm sein Professkloster nicht bieten konnte.Andere Klöster forderten aus Siegburg Mönche alsLehrer an, die bei der Einführung und Umsetzung derReformen mit Rat und Tat mitwirken sollten. Trotzdemwuchs der Konvent weiter, und nach dem Tod Regin-hards und der Amtsübernahme durch Abt Cuno I. leb-ten zwischen 70 und 80 Mönche oben auf dem Berg.

1716

figur des hl. petrus am annoschrein figur des evangelisten lukas am annoschrein

figur des heiligen andreas am annoschrein

Abt Reginhard meldete sich noch einmal sehr präsentzurück, als 1934, bei der Grundsanierung der Abteikir-che nach den Fremdnutzungen im 19. Jahrhundert, seinGrab gefunden wurde. Der ihm beigegebene Kelch mitPatene war bis zur Schließung eine der Attraktionen imAbteimuseum oben auf dem Berg.

Unter Abt Cuno I. (1105-1126) erreichte das Klosterden Höhepunkt seiner Ausstrahlung. Der Konventwuchs auf 120 Mitglieder, sieben Probsteien, d. h. große Wirtschafts- und Kirchengüter, sowohl amRhein, als auch im Bergischen gelegen, sicherten, ne-ben vielen anderen Einkünften, den Wohlstand. Derberühmte Theologe Rupert von Deutz lebte zwei Jahreauf dem Berg und arbeitete an seinen Schriften, beför-dert von Abt Cuno. Auch Norbert von Xanten weilteals Gast auf dem Berg. Als Cuno schließlich Bischof vonRegensburg wurde, hinterließ er seinem Nachfolger

Abt Cuno II. (1126-1147) ein wohlbestelltes Kloster, dasauch dessen Nachfolger Abt Nikolaus I. (1147-1173)noch voll in Zucht und Ordnung halten konnte, so dasssogar die große Seherin Hildegard von Bingen mit denMönchen einen Briefwechsel führte. Quasi als Höhe-punkt und Krönung erfolgte im Jahre 1183 die Heilig-sprechung des Gründers. Aus dem Kölner ErzbischofAnno II. war Anno, der Heilige, geworden. Seine Ge-beine wurden in den herrlichen Schrein gebettet, denwir heute noch bewundern.

Im 13. Jahrhundert erlosch der Reformeifer, neue Re-formorden, wie die Zisterzienser, aber auch ganz neueBewegungen wie die der Franziskaner traten an seineStelle und wurden prägend für blühendes Klosterle-ben. Die Siegburger Abtei trat, wie fast alle anderenBenediktinerklöster auch, in die Entwicklung zumfreiadeligen Stift ein.

m Fuße des Berges hatte sich derweil ein kleinesGemeinwesen entwickelt.

Befördert durch päpstliche Privilegien für Markt-, Zoll-und Münzrecht (1069), zur Gerichtshoheit in einemeigenen Bannbezirk (1071), sicherlich aber auch durchArbeitsmöglichkeiten, die das Kloster und seine Län-

dereien boten, zog man aus nah und fern zum Micha-elsberg. Neben einfachen Häusern, Hütten und Katenbaute man als ersten steinernen Bau ein kleines Kirch-lein, von dem wir um 1170 den Namen, St. Servatius,erfahren und das mit dem Umbau zu einer romani-schen Emporenbasilika wurde.

-II-KAPITEL

AM FUSSEDES BERGESA

1918

So wurde ab dem Ausgang des 12., Beginn des 13. Jahr-hunderts die Siedlung – wie für die größeren Gemein-wesen der damaligen Zeit typisch – mit einer Stadt-maueranlage umgeben und damit der bisherige, ausWall und Holzpalisaden oder hohen Flechtzäunen,bestehende Schutz, ersetzt. Der Stadtmauerring vomHolztor, Grimmelstor, Kölntor lief auf die „Alte Pforte“zu, die heute vor der Wegekapelle an der Mühlen-straße zu lokalisieren ist, dort, wo vom Berg kommend,die Immunitätsmauern der Abtei auf die Mühlenstraßetreffen. Der Vorort Aulgasse erhielt eine Holzum-wallung. Siegburg wies damit die typischen Kenn-zeichen einer Stadt auf: Mauern und Toranlagen.Dieses Bild zeigt auch das erste Stadtsiegel.

Die neue Stadtmauer hatten eine Höhe von 6 bis 7 Me-tern und eine Breite von wenigstens einem Meter undwar in Schalenbautechnik errichtet, d. h. zwischen zweiMauerschalen aus schweren Quadern Wolsdorfer Bro-cken wurde eine Füllung aus größeren und kleinerenBruchsteinen und Mörtel eingebracht. Auch heute über-rascht es noch immer wieder bei Bauarbeiten in un-mittelbar angrenzenden Mauerbereichen, dass tatsäch-lich keine Mauerfundamente gebaut wurden, sonderndie Mauer „einfach so“ auf der anstehenden Erde hoch-gezogen wurde. Auch Verankerungen der beidenSchalenteile sind nicht überliefert. Allerdings wurdenfür die unteren Bausteinlagen bevorzugt Basalt und Grau-wacke, also festeres Gesteinsmaterial, als der Tuffsteinaus Wolsdorf, verwandt. Das Baumaterial, die Wols-dorfer Brocken, schipperte man von den Brüchen anden Wolsbergen den Mühlengraben hinunter bis zur

Wie das Kloster oben auf dem Berg, so wuchs undblühte auch unten am Fuße des Berges die neue An-siedlung auf. Der Mühlengraben wurde angelegt, da-mit das Wasser der Sieg unmittelbar an der Siedlungdie notwendigen Mühlen antreiben konnte. Am Randedes auch heute noch in seiner Form bestehenden Markt-platzes wuchsen, beginnend mit dem Haus zum Win-ter vor der Servatiuskirche, den Markt hinunter biszum heutigen Stadtmuseum, romanische Steinhäuserauf großen Kellergewölben, die heute noch im Stadt-museum als Museumsräume begeh- und erlebbar sind.

Man wusste natürlich, dass gut bestückte Häuser, eingroßer Marktplatz, auf dem an Markttagen Auslagenlockten, für allerlei Gesindel verlockende Ziele waren.

Floßlende oberhalb der Mühlen; von dort wurden dieSteine zu den verschiedenen Bauplätzen gekarrt.

Der Mauerring war das sichtbarste Zeichen der Unter-scheidung von Stadt und flachem Land, von Bürgernund Bauern. Er bot seinen Bürgern Schutz vor räuberi-schen und kriegerischen Überfällen, aber das Leben inihm verpflichtete auch. So oblagen den Bürgern nicht nurBau- und Reparaturarbeiten an ihrer Stadtmauer, son-dern sie waren auch zum Wachdienst verpflichtet, dertagtäglich auf den Mauern der Stadt abzuleisten war,und, damit nicht genug, mussten sie auch die zum Dienstder Verteidigung notwendigen Waffen und sonsti-gen Ausrüstungsgeräte, wie z. B. Harnische, selbst an-schaffen. Lediglich die Munition wurde im akuten Ver-teidigungsfall aus der Stadtkasse bezahlt.

Mauerdetails An der Kälke, Schießscharte und Zierbogen

Der Bau der Stadtbefestigung

21

schlossen. Die Bürgerschaft wuchs, so dass zu Beginndes 15. Jahrhunderts eine Stadtmauererweiterung nötigwurde, um den engen Gürtel des gesicherten Bereicheszu vergrößern.

Die Erweiterung umfasste das Mühlenviertel – heuteMühlenstraße, Herrengartenstraße, Mahlgasse – dasmit dem Mühlentor ein weiteres, neues Stadttor erhielt.Das alte Stadttor hielt sich in den schriftlichen Quellenmit der Ortsbezeichnung an der Alden Portzen präsent.

Die von vielen Städten überlieferte Stadtrechtsverlei-hung fehlt für Siegburg. Sie war Voraussetzung, dassman in den Urkunden sich als „Stadt“ benennen undein eigenes Siegel führen durfte. Da beides in einer Ur-kunde aus dem Jahre 1285 aber vorliegt, muss derRechtsakt irgendwann zuvor geschehen sein.

1243 erbauten die Grafen von Berg, seit GründungVögte, das heißt Schutzherren der Abtei, am Rande dernördlichen Stadtmauer ihre Burg. Die Burg zog weite-re Siedler nach sich, denn sie bot zusätzlich Schutz. Inihrem Schatten, noch außerhalb der Mauern, in der heu-tigen Ringstraße, siedelten die ersten Juden. Gut 100Jahre später finden wir sie in der heutigen Holzgasse.Sie hatten sich das Recht, in der schützenden Stadt-mauer zu siedeln, erkauft, ebenso, wie sie eine eigeneGrablege, den heutigen jüdischen Friedhof in der Hein-richstraße, anlegen durften.

Nicht nur innerhalb der Stadtmauern entwickelte sichdie Stadt. Auch außerhalb, in heute zur Stadt gehören-den Straßenzügen oder als Stadtteile bekannte Viertel,siedelten sich Menschen an, beschickten den Siegbur-ger Markt und nahmen als Handwerker Aufträge vonBürgern entgegen.

In der heutigen Aulgasse finden wir zu Beginn des 13.Jahrhunderts erste Töpferwerkstätten. Der Name derStraße leitet sich aus dieser Zeit her: „olla“ = lateinisch„Topf“ wurde mundartlich zu „Auel“, in den Urkundenwird die „Auljass´“ 1384 erstmalig erwähnt. Vermutlichwaren es Töpfer vom Lendersberg in Kaldauen, wo be-reits seit dem Ende des 9. Jahrhunderts Töpferhandwerknachgewiesen ist. Wenn auch näher an der Stadt und

Die Stadt nahm einen raschen wirtschaftlichen Auf-schwung. Durch die Städteverbrüderungen Köln – Sieg-burg und Koblenz – Siegburg wurden dem Handel mitden Produkten aus Siegburg, speziell den Töpferei-waren, die großen Handelsstraßen und die Hanse er-

damit an ihrem Handelsplatz, dem Markt, durften sieaufgrund der von ihren Öfen ausgehenden Brandgefahrdoch nicht in den schützenden Mauern selbst siedeln.

Weit vor den Toren und auch nicht mehr zum Ge-richtsbezirk der Abtei gehörend, stifteten 1231 GrafHeinrich von Sayn und seine Gemahlin Mechtild aufihrem Grundbesitz in Seligenthal eine Einsiedelei undberiefen dorthin Franziskaner. Sie begründen das Klos-ter Seligenthal und wirkten von dort aus in der Seel-sorge, boten aber auch Jungen aus Siegburg die ersteSchule, lange bevor es in der Stadt selbst ein Schul-angebot gab. Der ehemalige Klosterbezirk mit seinenalten Bauten, der herrlichen Kirche, alten Bäumen undeinem Mauerbiotop ist damals wie heute ein Geheim-tipp für alle, die etwas Ruhe vom städtischen Trubelsuchen.

Die Stadtmauererweiterung

Die vogteiliche Burg

Im Weichbild der Stadt

Ältester Grabstein auf dem jüdischen Friedhof an der Heinrichstraße, ausWolsdorfer Brocken aus dem Jahre 1696

2322

2524

Mit dem Wachsen und Erstarken des Gemeinwesensentwickelten die Siegburger ein Wir-Gefühl. Man warwer, man erlebte vieles und wollte sich bei Weitemnicht alles bieten lassen. Und man bekam natürlich auchmit, dass zum Beispiel die Bürger der verbündetenStadt Köln es nach der verlorenen Schlacht ihres Erz-bischofs bei Worringen 1288 verstanden hatten, ihrenStadtherrn abzusetzen. Der Erzbischof von Köln wurdefür ein Jahr als Gefangener nach Schloss Burg geführt,die Kölner Bürger hatten freie Hand und befreiten sichvon der weltlichen Herrschaft ihres Bischofs. Der Wegzur freien Bürgerstadt war offen. – Und in Siegburgregierte der Abt, verordnete neue Steuern, verlangtehöhere Gerichtsgebühren, man ärgerte sich am Fußedes Berges über „den da oben auf dem Berg“, ein Ärger,der seit der Mitte des 14. Jahrhunderts ständig wuchs.Zwar gab es seitens des Abtes einige halbherzige Eini-gungsversuche, Verträge über die Anerkenntnis alter,aber nicht weiter benannter Rechte der Bürger (1355),

Zur Durchsetzung eines – mehr oder min-der – friedlichen Zusammenlebens war esVoraussetzung, dass die jeweilige Landesherr-schaft Rechtsinstitute ausbildete und zurVerfügung stellte. Sie boten dem Einzel-nen bei einer eingetretenen Rechtsverlet-zung Genugtuung, setzten diese auchdurch und waren so Voraussetzungen zueinem friedlichen Zusammenleben.

In Siegburg wird mit der Gründung derAbtei der Abt von St. Michael Herr über denBurgbann und aller dort lebenden Men-schen. Damit war er zuständig, aber auchder Garant, für ein geordnetes Rechtswesen.Durch das Einsetzen eines städtischen Ge-richts, bis heute dokumentiert durch mehrals 8.000 Seiten Gerichtsprotokolle ausmehr als 200 Jahren, befriedete er die Bür-gerinnen und Bürger seiner kleinen Herr-schaft; seine von ihm eingesetzten und bestä-tigten Gerichtsschöffen schlichteten Streit,setzten Vormünder ein, protokollierten Ver-käufe, kurz, sorgten für Recht und Ordnung.

In der Gründungsurkunde wurde zurDurchsetzung der abteilichen Rechte ge-genüber Dritter, wie damals üblich, eineweltliche Macht bestimmt. Der Abtei-gründer Erzbischof Anno II. übergab dieseAufgabe an die Grafen von Berg, die, wiebereits erwähnt, sich als Vögte in der Stadteine Burg bauten.

Damit konnten sich zwei Kraftpole ent-wickeln. Auf der einen Seite der Abt, derim Laufe der Zeit immer stärker versuchte,die Rechte der Grafen abzuschütteln, umin eine Position der Reichsunmittelbarkeithineinzuwachsen und die Grafen von Berg,die dieses genau zu verhindern suchten.Im ausgehenden Mittelalter, frühe Neu-zeit, war der Abt der Stärkere. Die gesam-te Rechtspflege, das Steuerwesen, alles lagin seiner Hand. Letztendlich gewinnen dieGrafen von Berg aber diesen Machtkampf,allerdings erst im Jahre 1676 – und dazwi-schen liegen noch einige Kapitel Stadtge-schichte.

Klärungen zu Fragen des Mühlenbanns und der Steuer-erhebung, aber so richtig kehrte keine Ruhe ein. Derandere Machtpol in der Stadt, die Vögte der Grafen vonBerg (seit 1380 Herzöge von Berg), sahen das mit Ver-gnügen! Getreu des alten Sprichwortes: „Wo zwei sichstreiten, freut sich der Dritte,“ versuchten sie ihrerseits,die Macht des Abtes zu schwächen.

So war es ihnen nur allzu recht, als die Bürger sie we-gen neuer Gerichtsgebühren als Streitschlichter anrie-fen. Nun konnte sich Herzog Wilhelm von Berg offi-ziell einmischen, und er entfachte erst einmal einen di-plomatischen Feldzug. Das heißt, man schrieb sich un-freundliche Briefe. 1401 konnten die Bürger unter sei-nem Schutz sogar eigenmächtig ihren Bürgermeistersamt Rat und alle anderen städtischen Beamten selbstwählen, sonst geschah die Einsetzung „von oben“, dochnoch saß der Abt als Stadtherr in seinem Kloster, obenauf dem Berg, und das war, wenn wir uns das ältesteüberlieferte Bild auf dem sogenannten Bödinger Funda-tionsbild anschauen, eine gut gesicherte Festungsanlage.

Bödinger Fundationsbild. Der rechte Bildteil zeigt die älteste Ansicht Siegburgs.

Recht und Macht Der Aufstand der Bürger

ringende Hände und geballte Fäuste, die sich bald nachdem Berge, bald nach der Burg und dem Tore richteten,durch welches jener seinen Eingang gefunden hatte. DieWeiber vor allem erfüllten mit ihrem Jammergeschrei dieLuft und machten den Männern Vorwürfe wegen ihresVerhaltens gegen den Abt und ihrer Zuneigung zu denBergischen. Die Verzweiflungstat der Mönche erschienihnen zuletzt weniger fluchwürdig als das unqualifizier-te Benehmen des Herzogs, und als von außen Hülfe kam,ergab man sich schließlich in sein Geschick und tröstetesich mit der besseren Jahreszeit. Wie groß das Unglückder armen Siegburger gewesen ist, ergibt sich aus demBeschlusse des Kölner Magistrats vom 4. Juni (1403), dem-gemäß es ihnen gestattet sein sollte, sich 2 Jahre lang zuKöln aufzuhalten zu dürfen, ohne irgend eine Abgabe zu

entrichten oder irgend einer Zunft beizutreten. DasServatiusfest hatte Hunderten von Pilgern die leergebrannten Stätten gezeigt und mit der Bitte um Segensich die Freigiebigkeit derjenigen verbunden, welcheMitleid mit den Trostlosen empfanden. Die Nachbarn derUmgebung lieferten Holz und Steine, die MöncheLebensmittel und noch ehe der Herbst herannahte, warmanches Haus wieder aufgebaut und mit besserenEinrichtungen versehen. …“

Abt Peregrin von Drachenfels, der 23. Abt seit Grün-dung des Klosters, blieb „oben auf dem Berg“ undkonnte seinem Nachfolger die Abtei und das zugehöri-ge „Ländchen Siegburg“ in seinen Rechten ungeschmä-lert übergeben.

Man stand sich unversöhnlich gegenüber, die Bürgerbeanspruchten alle Rechte auf Ämtereinsetzung fürsich, der Abt, Pelegrin von Drachenfels, lehnte dies abund betonte, dass es keine Veränderungen geben dürfe,sprich diese Rechte bei ihm zu bleiben hätten. Hinzukam, dass sich im Hause der Herzöge von Berg Macht-streitigkeiten zwischen Vater und Sohn entwickelt hat-ten, der Alte stand auf Seiten des Abtes, der Junge aufSeiten der Bürger, vermutlich nicht, um deren Frei-heitsbestrebungen zu unterstützen, sondern weil er be-absichtigte, im Falle der Vertreibung des Abtes sichselbst die verlockenden Besitzungen einzuverleiben.

Trotzdem, oder vielleicht auch weil die Bürgerschaftnicht so vorausschauend war, öffnete man im Vorfrühlingdes Jahres 1403 dem Jungherzog Adolf die Tore, um

mit Unterstützung seiner Truppen den Berg zu erstür-men und den Abt zu vertreiben. Nun stürmt es sich –jeder Stratege weiß das – schlecht bergauf, zumal wennvon oben mit Brandpfeilen geschossen wird. Und alsdie Bürger unten ihre Häuser in Flammen auflodernsahen, erlosch ihr Freiheitsdrang umgehend – aller-dings nicht ganz so schnell, wie die in Brand geschos-sene Stadt!

Der berühmte Siegburger Chronist, Rudolf Heinekamp,beschreibt in seinem Buch: „Siegburgs Vergangenheitund Gegenwart“ (erschienen 1897), die Folgen so an-schaulich, dass ihm hier das Wort erteilt wird: „An ein Löschen war bei dem Mangel an Wasser undden strohgedeckten Häusern nicht zu denken, und derHerzog ohne weiteres abgezogen. Überall sah man nur

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ereits 1069 hatte die Abtei das Marktrecht für dieStadt am Fuße des Berges erhalten. Seit dieser Zeitwurde in Siegburg Markt gehalten, und der große

Platz, den wir heute noch in seiner Ausdehnung aus derGründungszeit erleben können, erlaubt Rückschlüsseauf die Bedeutung der Abtei und der ihr zugehörigennoch jungen Stadt Siegburg. Sie konnte ihren BürgernSchutz und Schirm bieten, so dass Handel und Hand-werk gediehen. Unterstützt wurde diese Entwicklungdurch ein Privileg Kaiser Friedrichs aus dem Jahre 1174,das einen neuen Markt in einem Umkreis von 4 Meilenverbot (eine Meile ca. 4-5.000 Schritte).

Jeden Godestag, wie damals der Donnerstag genanntwurde, war Markttag in Siegburg, gleichgültig, wieviele Händler ihre Stände aufschlugen. Sie hatten sichdabei der „Siegburger Maße und Gewichte“ zu bedie-nen und – auch das gab es damals schon – ein Stand-geld, entsprechend der Größe des eingenommenenPlatzes, zu entrichten. Für die Einhaltung der Ordnungsorgte der Marktmeister; denn die Platzwahl war kei-nesfalls frei. Die Tuchhändler hatten ihre Stände vor

dem Rathaus – heute der Ort vor dem Stadtmuseum,die Eisenhändler schräg gegenüber am „Isermart“, dieLederhändler fand man oben an der Bergstraße gleichneben den Schuhmachern, und die Töpfer boten kurz vorder Holzgasse Kannen, Krüge, Töpfe aber auch „schö-ne Ware“ feil, wie die in aller Welt begehrten Renais-sance-Töpfereien 1552 in einem Rechtsstreit benanntwurden. Ob auf dem Hühnermarkt Geflügel, vielleichtauch Vieh gehandelt wurde, ist nicht überliefert.

Zusätzlich hatte die Stadt das Recht, Jahrmärkte abzu-halten – Stadtfeste damals wie heute; denn immer warder Jahrmarkt mit einer großen Kirmes verknüpft. Derälteste wurde am Fronleichnamstag veranstaltet. Im 15.Jahrhundert kam ein zweiter Jahrmarkt am Tag desEvangelisten Matthäus hinzu, am 21. September. Knapp100 Jahre später, dies auch ein Zeichen, wie beliebt Sieg-burg als Handelsplatz war, der Markt am Appolinaris-tag (17. Juni/23. Juli), und schließlich zu Beginn der 17. Jahrhunderts, gestattete der Abt noch einen viertenMarkt, den Nikolaus-Markt.

Segen, aber auch Nachteile brachte Siegburg die Nähezu einer noch größeren, noch bedeutenderen Stadt,zum „Heiligen Köln“, schon damals eine Metropole.Vermutlich erhielt von ihr Siegburg sein Stadtrecht,denn in ihr genossen seit 1285 die Siegburger Bürger

burg allerdings zum Nachteil, da sich der Handel imsogenannten „Rom des Nordens“ konzentrierte. Sieg-burgs Händlerschaft, die „Handel und Wandel/Geldund Gut“ in die Stadt bringen sollten, verlagerten ihreGeschäfte mehr und mehr nach Köln. In Siegburg blie-ben Handwerker und Ackerbürger zurück. Aber nochsind wir im Ausgang des Mittelalters, der Blütezeit derStadt.

Kölner Bürgerrechte, so wie die Kölner, aber auch wieBürger aus Deutz und Koblenz, in Siegburg die vollenBürgerrechte zugesprochen bekamen. Diese Abspra-chen eröffneten den Siegburgern den Handelszug in diefreie Handelsstadt, die so Hauptumschlagsplatz zumBeispiel für die reichen Töpferwaren aus der Aulgassewurde. In der Neuzeit, da halfen auch vier Jahrmärktenichts, gereichte diese brüderliche Verbindung Sieg-

-III-KAPITEL

DER MARKTPLATZB

&HANDEL

WANDEL

Dabei standen die Fragen der Techniken und Produk-tionsabläufe bis vor wenigen Jahrzehnten nicht imMittelpunkt der Forschung. Form, Gestalt und Motivewaren gefragt und viel bearbeitet, das Wie der Her-stellung interessierte, wenn überhaupt, nur am Rande.Noch in den 1960er und 1970er Jahren wurden bei Bau-maßnahmen in der Aulgasse lediglich „Funde“ gebor-gen; die „Befunde“, die Aussagen zum menschlichenSchaffen, blieben weitgehend unberücksichtigt. GroßeGrabungskampagnen unter der Leitung der Stadt Endeder 1980er Jahre im Bereich der Aulgasse brachten dannerstmalig auch Einsichten in den Schaffensablauf derTöpferarbeit, als dort, vor Beginn einer Neubaumaß-nahme, eine Töpferwerkstatt ausgegraben wurde, dieeinem der Mitglieder der berühmten Töpferfamilie Knüt-gen gehörte. Auf engstem Raum in einem Fachwerk-schuppen standen mehrere Drehscheiben zusammen,an denen zwischen Aschermittwoch und Martini – sodie Vorgaben in den überlieferten Zunftbriefen – dieGefäße gedreht wurden. Im Winter hatte die Arbeit zuruhen. In den ungeheizten Werkstätten wäre das Töp-fern mit dem erdfeuchten Ton und mit Wasser, das eingeschmeidiges Drehen verlangte, wohl ohnehin nichtmöglich gewesen. Außer der unmittelbaren Töpferein-richtung befanden sich lediglich noch kleine Abstell-flächen für die frisch getöpferten Gefäße in dem Räum-chen, größere Regalflächen zum Trocknen der Gefäßelagen außerhalb, in verschiedenen Trockenschuppen.

Die Töpfer arbeiteten mit Fußdrehscheiben, deren Ach-se in der Erde versenkt und durch eine Lage großerSteine befestigt und verankert war. In dem Hohlraumzwischen der fußbetriebenen Scheibe und der Stein-packung fanden sich bei der Ausgrabung große Mengen

Während die Geschichte der Sieg-burger Töpferei Kunsthistorikern undHeimatgeschichtlern bis heute gutbekannt ist, deren Produkte auch welt-weit in vielen Museen zu finden sind,ist die deutlich größere und reichereWollweberzunft gänzlich aus demGedächtnis verschwunden. Beide Zünf-te waren maßgeblich für den Reich-tum der Stadt verantwortlich; dennsie exportieren ihre Waren auf frem-de Märkte und brachte so Steuern,Akzisen wie man damals sagte, insStadtsäckel.

Daneben gab es noch weitere, kleineZünfte, so die der Fleischer und derBäcker, die nur für den Siegburger Marktproduzierten. Die Händler verschie-dener Gerberzünfte belieferten zwarnoch das Umland, aber gegen die Kon-kurrenz auf den großen Märkten konn-ten sie nicht bestehen.

Das Stadtmuseum am Siegburger Markt sammelt seitlangem Nachweise, in welchen Museumsvitrinen derWelt Siegburger Renaissance-Keramik steht; die Nach-weise reichen von Museen in der USA über zahlreichemitteleuropäische Museen bis in den Norden nachSchweden und Norwegen.

Die reichverzierte, sogenannte „weiße Ware“, die„schöne Ware“ wie sie in der Entstehungszeit genanntwurde, erfreut sich seit dem 19. Jahrhundert der Wert-schätzung der Sammler, legt sie doch anschaulichesZeugnis von hohem handwerklichen Können undkünstlerischem Gestaltungssinn der Siegburger Töpferin der zweiten Hälfte des 16., zu Beginn des 17. Jahr-hunderts ab.Bereits in der Spätgotik produzierten Siegburger Töp-fer Gefäße mit eigenständigen Verzierungen. Es wurdenzum Beispiel doppelwandige kleine Krüge gedreht, de-ren Außenwand kunstvoll mit gotischen Fischblasen-Mustern durchbrochen wurde und die, im Inneren ver-borgen, ein kleines, nicht durchbrochenes Gefäß zurAufbewahrung einer Flüssigkeit bargen. Doch erst mitder Einführung einer völlig neuen Technik begann eineEntwicklung hin zu höchster Kunstfertigkeit.

Zünfte und Handwerk Die Siegburger Töpfer

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Hinzu kommt, dass für wenige Jahrzehnte in der erstenHälfte des 16. Jahrhunderts kurzzeitig in der Stadt Kölneine Töpferzunft existierte. Dann aber wurden aus Grün-den der Brandgefahr, die der Betrieb der Töpferöfenfür die umliegende Bebauung durch Funkenflug dar-stellte, deren Mitglieder aus der Stadt verwiesen unddie Zunft verboten. Einige dieser Töpfer siedelten nachSiegburg um und brachten so neue Ideen und Anre-gungen in eine Zunftgesellschaft, die bis dato eher aufMassenerzeugnisse eingestellt war. Eine der Ideen wares, Gefäße mit Tonbildern zu verzieren.

Wie diese Arbeit vor sich ging, lässt sich anhand derGrabungsfunde aus der Aulgasse anschaulich belegen:Das gedachte Motiv wurde in einem ersten Arbeits-schritt seitenverkehrt in einen dickeren Tonblockgeschnitten, so dass eine Negativhohlform entstand.Als Werkzeuge dienten hierfür Messer, kleine Bohrer,Stichel und Formhölzer. Aus dieser Negativform wurdenunmehr ein Positivabdruck, die Patrize, genommen,die das Bildmotiv seitenrichtig zeigte und an der sichFeinheiten leichter nacharbeiten ließen. Die überarbei-tete Patrize diente dann als Abdruckform, von der je-derzeit Arbeitsmatrizen genommen werden konnten,mit denen die Töpfer in der Werkstatt selbst die Ver-zierungen für das „Herrenwerk“ herstellten.

Die Beschreibung macht deutlich, dass es einer ausge-feilten Technik bedurfte, ein Bild seitenverkehrt in Tonzu gravieren. Ein Blick in die Protokolle des SiegburgerSchöffengerichts führte zu völlig neuen Erkenntnissen.Dank eines dort verhandelten Streits gelangen wir indie Anfangszeit der Herstellung von Matrizen und er-halten neue Einblicke auf Technik- und Wissenstrans-fer zwischen Köln und Siegburg.

Es ist viel darüber gerätselt worden, werdie Bildmatrizen geschnitten hat. In denZunftbriefen werden Werkleute der Töpferbenannt, wie zum Beispiel die Tongräber.Sie gehörten zwar nicht der Zunft an, wa-ren aber als Zulieferer des Rohmaterialsüberaus wichtig. Auch alle möglichen Fra-gen zum Handel mit den Töpferwaren wur-den bis ins Detail geregelt. Zur Frage: „Wermachte die Matrizen?“ erweitert auf: „Wokommt das Wissen zur Matrizenanferti-gung her?“ schweigt sich diese einzigeschriftliche Quelle zum Schaffen der Sieg-burger Töpfer aus.

Bei den Überlegungen führt ein Strang na-türlich, wie bei so vielen Fragen zur Sieg-burger Stadtgeschichte, nach Köln zu derArbeit von Formenstechern für Wappen, vonGold- und Kupferschmieden und Zinn-gießern, die ihr Handwerk in der nahege-legenen Stadt zu höchster Blüte getriebenhatten. Da zwischen den beiden Städtenohnenhin ein reger Austausch in allen Han-dels- und Gewerbebereichen stattfand,gilt hier eine Einflussnahme als gesichert.

Arbeitsgerät, die die neue Technik derBlütezeit dokumentieren. Sie waren beimArbeiten den Töpfern heruntergefallen, dochdiese arbeiteten lieber flott weiter, als inden engen Hohlräumen zeitaufwändig nachden kleinen Gegenständen zu suchen. Die-se sogenannten Model oder Matrizen, ver-tieft ausgeschnittenen Formen mit Bildern,mit denen die Bildauflagen zum Verzie-ren der Gefäße hergestellt wurden, zeigenein reiches Bildgut. Da gibt es ornamenta-le Bandverzierungen, beliebt bei Pullen undSchnabelkannen, meist kombiniert mit se-parat aufgelegten Bildmotiven und auf-wändige Bildfolgen bei den Schnellen. Beidiesen waren biblische Themen ebensobeliebt, wie Bilder aus der Antike, heraldi-sche Motive wurden auf Bestellung gefer-tigt. Oft tragen die Darstellungen kurze In-schriften wie zum Beispiel „Judith – Koppaff“ für die Abbildung Judiths mit demKopf des enthaupteten Holofernes oder„Lucretia – ein Römerin“. Bei biblischenMotiven finden wir zusätzlich oft die An-gabe der Bibelstelle, die als Bildvorlage dien-te. Damit nicht genug, verzierte man dieBildthemen auch noch gerne mit aufwän-digem Rankenwerk und schuf so, Gefäßfür Gefäß, wundervolle, erzählende Kunst-werke.

Formenvielfalt: Krüge, Sturzbecher,Pulle undSchenkkanne

Doppelwandiger Trichterhalskrug

Pulle

Sturzbecher

Steine eines Töpferofens,die beim Brand zusammenbacken

es vor, in ihre sicheren Stadthäuser nach Köln zu zie-hen, und die Bürger blieben sich selbst überlassen. DenTöpfern gelang es kaum noch, ihre Gefäße zu produ-zieren, geschweige denn, sie heil zu ihrem wichtigstenHandelsplatz, zum Kölner Markt zu schaffen. Aber gab

es nicht Verwandtschaft im Westerwald? Am Ende desKrieges lag die Aulgasse zerstört und fast menschen-leer vor der Stadt, die Geschichte der Siegburger Töpfe-rei war beendet. Trotz Aufrufen des Abtes und Zu-sicherung von Steuerfreiheiten kam keiner zurück.

Im Jahre 1561, der Anfangszeit derFertigung von „Herrenwerk“ inSiegburg, wird ein „Franz Wappen-stecher“ vor Gericht zitiert. Sein Nach-name weist zugleich – wie für dieZeit üblich – auf seinen Beruf hin: erist ein „Wappenstecher“, eine alte Be-rufsbezeichnung, die heute der desGraveurs entspricht.

Franz Wappenstecher stand vor Ge-richt, da er in einen heftigen Streit mitwüsten Beschimpfungen verwickeltwar. Wie damals üblich, musste eram Ende des Verfahrens mit einemEid angepasstes Wohlverhalten ver-sprechen und für die Einhaltung Bür-gen stellen. Und die lesen sich wiedas „Who is who“ der SiegburgerTöpferzunft. Es bürgen für ihn – im-merhin mit ihrem gesamten Vermö-gen: der junge Herman Flach, Peterund Anno Knütgen.

Sicherlich kann man überlegen, obdie drei Töpfer sich vielleicht geradealle Siegelringe bei Franz Wappen-stecher hatten gravieren lassen,genauso darf aber auch gemutmaßtwerden, dass hier eine geschäftlicheBeziehung vorlag, die den Wissens-austausch der Gravurtechnik für dieArbeit des Model schneidendenTöpfers zum Inhalt hatte. Es gibt sogar Vermutungen, dass Wappen-stecher selbst als Töpfer gearbeitethaben könnte, wobei vorausgesetztwird, dass er identisch mit dem be-rühmten Franz Trac sei. Fragen überFragen, die eine so lange und so rei-che Stadtgeschichte, wie Siegburg sieaufweisen kann, immer vor sich her-schiebt – viele bleiben vielleicht auchfür immer unbeantwortet.

Der Zeitgeschmack änderte sich,das Barockzeitalter dämmerte her-auf, und die Siegburger Töpfer be-gannen im noch jungen 17. Jahrhun-dert mit Glasuren zu experimentie-ren. Lustig anzuschauende Fehlver-suche gibt es aus dieser Zeit, dieVerzierungen sind weiterhin wun-derschön, aber durch schwarz bla-sig aufgekochte Farbtupfer und -streifen verunziert, man hatte sichan Mangan- oder Kobaltglasurenversucht. In den zurückliegendenJahren, Auswirkungen der Reforma-tion, war im Truchsessischen Kriegdie Aulgasse mehrfach gebrand-schatzt worden. Es bestand zwareine Holzumwallung, die auch einenSchutz vor Kleinübergriffen bot,aber im Kriegsfall einfach über-rannt wurde. Aus den Grabungenin der Aulgasse wissen wir, dasswenigstens zwei Mal im Jahre 1588die Lagerschuppen und mit ihnen –und das war besonders schlimm –die gesamte Produktion, die kurzvor der Auslieferung nach Köln dortlagerte, verbrannt, zerstört, zer-schlagen, kurz vernichtet wurde.

Erste Töpfer wanderten daraufhinin den Westerwald ab, wo in den Or-ten Höhr und Grenzhausen auchTöpfer ihr Handwerk betrieben, woüber Heirat vielleicht sogar schonFamilienbeziehungen hin bestan-den und wo man, fern von großenHandelsstraßen, sicherer leben undweiterarbeiten konnte, als in Sieg-burg.

Im 30-jährigen Krieg, als sich die Be-satzungstruppen in Siegburg prak-tisch „die Klinke in die Hand ga-ben“, war weder in der Stadt nochin der vorgelagerten Aulgasse anein geregeltes Leben und Arbeitenzu denken. Konvent und Abt zogen

Der Wappenstecher Der Wegzug der Töpfer

Eine Siegburger Pulle mit Kobaltglasurtupfen

Schankkrug aus dem Westerwald

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werk, kein Handel und Wandel sollte in der Stadt Raumhaben, bis sich nicht alle wieder zur „Kirchenordnung“,so seine Forderung, bekannt hatten.

Wir schreiben das Jahr 1573. Die Reformation findetallerorten aufmerksame Zuhörer, auch überzeugteAnhänger und jeder Landesherr geht in seiner Weisedamit um. In Siegburg sorgte Abt Wachtendonk dafür,dass seine Untertanen gut katholisch blieben und stell-te schon das nur interessierte Hingehen und Zuhörenunter hohe Strafandrohung bis hin zur Landesverwei-sung im Wiederholungsfall.

Doch die unruhigen Zeiten, die schließlich zum Aus-bruch des 30-jährigen Kriegs führten, ließen sich auchfür Siegburg nicht aufhalten. Zwar konnte der Abtnicht zuletzt durch harte Strafandrohungen, für Ruheund Ordnung in seinem Territorium sorgen, doch er

hatte nicht mit seinem Erzbischof gerechnet.

Der Kölner Kurfürst und Erzbischof Gebhard II., Truch-seß von Waldburg heiratete 1583 eine ehemalige Kano-nisse aus Gerresheim, Agnes Gräfin von Mansfeld.

Natürlich waren die Eheleute zuvor zum evangeli-schen Glauben konvertiert und natürlich hatte ihnPapst Gregor III. umgehend abgesetzt, doch das küm-merte den ehemaligen Erzbischof überhaupt nicht. Erwollte weder auf seine Einkünfte noch auf sein Amtverzichten und richtete sich auf Krieg ein. Unterstüt-zung erhielt er durch die sieben calvinistisch geworde-nen Provinzen der Niederlande, die Generalstaaten,aber auch von allen anderen Landesherren, die sich derReformation angeschlossen hatten. Auf der anderen Seitestanden ein Söldnerheer, angeworben durch das Dom-kapitel, der neue Erzbischof, Herzog Ernst von Bayernmit seiner Hausmacht, zusätzlich unterstützt durchspanische Söldner, aber auch alle katholischen Kurfürs-tentümer, die eine Umwandlung Kurkölns in ein pro-testantisches Fürstentum auf jeden Fall verhindernwollten, da ansonsten das Kurfürstengremium durchevangelische Mitglieder dominiert worden wäre.

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lige Schwören des Bürgereids, ergänzt um den Zusatz,nie von den Pfaden frommer Christenmenschen abzu-weichen. Zudem sollten alle Handwerker einer Zunftfüreinander bürgen. Damit taten sich besonders die Töpferin der Aulgasse schwer und erbaten sich Bedenkzeit.

Das war für Abt Hermann von Wachtendonk zu viel.Er schickte die Gerichtsbüttel aus, ließ die Werkstättenversiegeln, den ebenfalls zu Ungehorsam neigendenLohgerbern, die Mühlen verschließen – kein Hand-

inkelprediger vor dem Burgbann der Stadt! Sektiererund Heidenmenschen – und Siegburger Handwerker,die sich nachts heimlich dorthin schleichen. Der Abt

zürnte und tobte. Ließ die Erwischten vor das städti-sche Gericht vorladen und verlangte zur Sicherheitauch von allen anderen Zunftmitgliedern, das nochma-

Dem Zwang zur „Rechtgläubigkeit“ widersetzten sich die Töpfer auf subtile Weise, indem sie Gefäßemit antipäpstlichen Darstellungenfertigten und als Fremdaufträgedeklarierten.

-IV-KAPITEL

VOR DEM BURGBANN DER STADTW

Der Truchsessische Krieg

UNDKRIEG VERFOLGUNG

net, erst musste die Agger, dann die Sieg gequert wer-den. Die Truppen des Kurfürsten zogen bis zumBrückberg, Schanzen aus Balken und Steinen aus denRuinen der Aulgasse und vom Driesch wurden errich-tet, jedoch nicht besetzt, denn ein Großteil der Soldatenverbarg sich im Lohmarer Wald. Zuvor wurden abernoch die Verankerungen der hölzernen Aggerbrücke ge-lockert und angesägt. Unter ihr gurgeln und rauschenHochwasserfluten. Und, ganz klassisch, nachdem dergegnerische Vortrag die Brücke passiert hat, wirft man

sich auf den Gegner, drängt ihn zurück auf die Holz-brücke, die Wagen stocken, andere drängen von hintennach, der Kampf wogt auf und ab – und dann brichtdie Brücke! Viele Gegner stürzen in die Fluten undertrinken, Fliehende werden bis zur Sieg verfolgt, dortam Ufer niedergestreckt oder auch ins Hochwasser und,durch die schwere Armierungen behindert, in densicheren Tod getrieben.

Der Sieg ist überwältigend! 45 Wagen mit Waffen undMunitionsvorräten, eingepökeltem Fleisch und mehre-ren 100 Seiten Speck werden erbeutet. Einen Monat spä-ter ergibt sich der abgesetzte Ex-Kurfürst und flüchtetin die Generalstaaten. Aber noch lange ziehen abge-sprengte Truppenteile, gleich welcher Seite, plünderndin der Region umher und verbreiten Schrecken undUnruhe.

Die Entscheidung fiel am 2. Januar 1584 an der Agger-brücke, gleich vor den Toren der Stadt Siegburg. Ma-rodierende Truppenverbände hatten den Driesch unddie Vorstadt Aulgasse in Brand gesteckt, die Bürgerwaren in den Schutz der Stadtmauer geflohen. Wie sahdie Großlage aus?

Die Truppen des neuen Kurfürsten hatten einen festenBelagerungsring um die Stadt Bonn gezogen, in dersich der abgesetzte, evangelisch gewordene Alte mitGattin, verschanzt hielt. Ihm zur Hilfe eilten durch dasAggertal und über Bensberg, Truppenverbände aus West-falen heran. Kurfürst Ferdinand von Bayern zog nun so

viele Söldner zusammen, dass der Belagerungsringum Bonn hielt, er aber auch dem Feind mit einerstattlichen Einheit entgegen ziehen konnte,um eine Schlacht unmittelbar vor den TorenBonns, gepaart mit Ausbruchversuchender Belagerten, zu vermeiden.

Der Weg der Truppen-verbände aus West-falen war klarvorgezeich-

Die Schlacht an der Aggerbrücke

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In Siegburg besserte man die Schäden an der Stadt-mauer aus und überholte und verstärkte die gesamteAnlage. Die Einwohner der Vororte schauten, was vonihrem Besitz übrig geblieben war und gingen an denWiederaufbau. Zwar erhielt auch die Aulgasse wiedereine neue Palisade, doch erste Töpferfamilien zogen weg,nach Altenrath und in den Westerwald, in die Gegend vonGrenzhausen und Höhr, wo man sich sicherer wähnte.

Für die nächsten Jahrzehnte kehrte für die Siegburgerwieder Ruhe ein. Geschickt taktierte der Abt mit alten

und neuen kaiserlichen Schutzbriefen und immer wie-der gelang es ihm, sein kleines Ländchen aus kriegeri-schen Auseinandersetzungen herauszuhalten. Sogareiner Belagerung durch brandenburgische Truppen imJahre 1615 hielt die Stadtbefestigung stand; denn imVorfeld, zeitgleich und dann noch länger dauernd als der30-jährige Krieg, währte der Jülich-Klevische Erbfolge-streit (1609-1666), der mit dem Tod des letzten Herzogsaus dem Hause Jülich-Kleve-Berg ausgebrochen war undvon dem Siegburg, das in seiner Gründungszeit die Gra-fen von Berg als Vögte erhalten hatte, immer wiedermitbetroffen wurde.

Der Jülich-Klevische Erbfolgestreit Der Dreißigjährige Krieg

Der sogenannte Hexenturm, ein Halbturm im Verlauf der Stadtmauer zwi-schen Abtei und Holztor

Noch wusste keiner der Beteiligten, wie lange dasKriegsübel toben würde (1618-1648), doch zur Sicher-heit erbat Abt Gerhard III. von Kolff vom königlich spa-nischen Kriegsrat und Generalleutnant Heinrich Grafvon Berg um eine Ergänzung der vorhandenen Waffen-bestände und um neue, moderne Geschütze. Die Kämpfetobten in anderen Regionen Deutschlands, allerdings zo-gen immer wieder Soldatenverbände durch das Rhein-land, in denen die schlecht oder gar nicht besoldetenMänner Ausschau nach Beute hielten. Da kommt das fried-liche Städtchen gerade recht und, obwohl zur katholi-schen Seite gehörend, wird Siegburg 1626 von kaiser-lichen Soldaten überfallen und geplündert. Natürlichlässt sich das Abt Gerhard nicht gefallen und erbittet ausWien erneut einen kaiserlichen Schutzbrief, der nichtnur vor feindlichen Attacken, sondern auch vor Über-griffen eigener, katholischer Söldner schützen soll.

1632 erreicht der Krieg dann auch Siegburg. Um einedirekte Verbindung zwischen den evangelischen Terri-torien im Norden Deutschlands und den VereinigtenNiederlanden zu schaffen, versucht der schwedischeKönig das Territorium des Kurfürstentums Köln zu er-obern. General Wolf Heinrich von Baudissin befehligtdie rund 11.000 Söldner, denen es zwar nicht gelingt,den ehrgeizigen Plan des Schweden vollständig umzu-setzen, der aber doch große Landesteile der katholi-schen Seite entreißen kann.

Am 27. Oktober wird die Stadt Siegburg ohne nennens-werte Verteidigung eingenommen, vier Tage später,am 31. fällt die Abtei. Ein Tor stand offen und ohne je-de Gegenwehr spazieren die schwedischen Söldner hi-nein und machen reiche Beute. Abt und Konvent, ein-schließlich aller Schätze und Reliquienschreine, warenzuvor aus der Stadt ins sichere Köln geflohen, wo sieim, der Abtei gehörenden, Siegburger Hof, besserenZeiten entgegenlebten.

Für drei Jahre bleiben die Schweden in Siegburg. Siebefestigen die Stadt weiter, die Abtei erhält eine vorge-lagerte Bastion, das „neue Werk“ – heute noch erkennt-lich an der großen Wiese oberhalb des Kinderspiel-platzes. Zur besseren Verteidigung der Stadt werdenalle im Weichbild der Stadtmauer erbauten Häuserniedergelegt. Man will frühzeitig ein Herannahen desFeindes erkennen können. Fast selbstverständlich, dassbei der Einnahme die Aulgasse wiederum zerstört

wurde. 500 Soldaten für drei Jahre in der Stadt – dieschriftlichen Quellen berichten immer wieder von er-pressten Kontributionsgeldern, von Übergriffen in Pri-vathaushalten, von Diebstählen und Vergewaltigun-gen. Zwei vergebliche Rückeroberungsversuche auf Be-treiben des Abtes in den Jahren 1633 und 1635 ver-schlimmeren die Lage der Bevölkerung, die jedes Malzu erneuten Strafzahlungen verpflichtet wird.

Exakt drei Jahre später, am 27. Oktober 1635, ist derSpuk vorbei. Die schwedischen Söldner ziehen aufgrunddes sogenannte Verschonungsvergleichs von Wormszwischen der evangelischen und der katholischen Seite,aus Siegburg und der umliegenden Region ab, doch dieZeiten bleiben unruhig, jedes Jahr liegen andere Trup-pen in der Stadt, verköstigen sich aus allem, was dieausgepresste Bevölkerung noch an Vorräten in denKellern hat und verlangen Geld – Geld – Geld. Dazuhatte ein Brand Turm und Geläut der St. Servatiuskir-che samt den umliegenden Häusern in Schutt und Aschegelegt.

In den Jahren 1636 bis 1638 regierte auch hier in Sieg-burg der Wahn, eine überall existierende „Hexensekte“müsse aufgefunden und vernichtet werden. DenMitgliedern dieser Sekte wurde unterstellt, sie hättenGott abgeschworen und wären nun gleichsam in einer„Gegenkirche“ mit dem Teufel als Oberhaupt organi-siert. Das heißt, die Menschen, die man der Hexereianklagte, wurden als Häretiker, als Ketzer angesehen –und auf Ketzerei stand die Todesstrafe.

Die 19, im Stadtarchiv Siegburg in einer handschrift-lichen Abschrift aus dem 19. Jahrhundert vollständigüberlieferten Hexenprozesse, bieten einen faszinieren-den aber zugleich auch erschreckenden Einblick in dieProzessabläufe. Mit den Daten zur Person, die natür-

lich auch damals schon vor Gericht abgefragt wurden,entstehen die 18 Frauen und der eine Mann in allerLebensnähe vor uns; wir lesen ihre Aussagen zu tat-sächlich erlebten Dingen und zu Wahnvorstellungen –unter der Folter erpresst – und enden bei dem kurzenVermerk: „Hierauf Meister Hans, Scharfrichter, die Exe-cution befohlen und in Beisein Bertram Brewer, CasparKaimer und Hilger Knütgen, Schöffen des Subdelegir-ten Adelichen Gerichts, richtig vollzogen worden.“(Zitate Prozessprotokolle)

Das letzte Todesurteil wurde am 19. Juli 1638 über Trin-gen [Katharina] Genßköpper verhängt, fast auf den Tagzwei Jahre zuvor, am 17. Juli 1636 hatte der Verfol-gungswahn gegen die Hexensekte in Siegburg mit einerDenunziation und Anzeige gegen Küntgen [Kunigun-de] Meurer begonnen.

Die Anordnung des Abtes wird ihnen wie Hohn in denOhren geklungen haben: „… dass wir durch die täglichen Erfahrungen und einAugenschein genugsam bemerkt haben, dass viele Häu-ser und Wohnplätze hierselbst in Siegburg zu großemSchaden und zur deformation der Stadt verfallen sindund unbebaut liegen bleiben, so wie, dass verschiedeneBürger ihre Häuser, so noch in ziemlichen Bau sich befin-den, unbewohnt lassen, zum Teil sich hie und dort aufKammern verstecken, zum Teil auch nach unseren Vor-städten und anderen Orten [Töpfer!] sich begeben undsich ihrer Örter und Plätze nicht im geringsten anneh-men. Da wir nun in der Tat finden, dass dadurch denEingesessenen die bürgerliche Nahrung abgeschnittenund Wachen und andere bürgerliche Lasten aufgedrungenwerden, und der schließlich Ruin und Untergang herbei-geführt werden muß, so erachten wir es für nötig, sol-chem Unheil beizeiten vorzubeugen und befehlen hier-mit allen unseren Bürgern und Beerbten unserer Stadt,

Die Hexenverfolgungin- und auswendig gesessen, daß sie innerhalb dreierMonate a dato dieses ihre verfallenen und verwüstetenHäuser wieder aufzubauen anfangen, sich ihrer Plätzeannehmen, die Häuser aber, welche noch stehen, repa-rieren und in gutem Bau erhalten, ihre Wachen sowohlaus den leeren Häusern und Bauplätzen als auch aus denanderen tun lassen und Fahren, Zinsen und Pensionenrichtig bezahlen. …“ (Zitat nach Heinkamp, S. 224) Schriebs und zog sich aus der Leitung seiner Geschäftezurück (23. August 1635), ohne allerdings zuvor seinAmt als Abt und Landesherr in andere Hände gelegtzu haben. Bürgermeister Wilhelm Kortenbach warbegeistert – und was das heißen sollte, erfuhren nundie Bürger, besonders aber die Siegburgerinnen.

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pflegen, kam keine Reaktion, und der Prozess nahm sei-nen Lauf. Vorangetrieben wurde die Angelegenheit da-durch, dass Bürgermeister Kortenbach zwei sogenann-te Hexenkommissare herbeizitiert hatte, die sich alsglühende Verfolger bereits in verschiedenen kurkölni-schen Städten hervorgetan hatten.

In genau vorgegebenen Prozessabläufen wurden dieAngeklagten, in einem Falle auch ein Mann, nun vorGericht vorgeladen und mit der Anklage der Hexereikonfrontiert. In allen Fällen leugneten die Beklagten –doch wer nicht gestand, wurde der Folter unterzogen.

Die Peinigung, die peinliche Befragung, die Tortur –die Folter, wie wir heute sagen würden – gehörte seitdem Spätmittelalter als normales Geständniserzwingungs-mittel zu jedem Strafprozess; schriftlich fixiert wurdesie erstmalig in der „Peinlichen Halsgerichts-Ord-nung“, der sog. „Carolina“, dem Strafgesetzbuch Kai-ser Karls V., von 1532. Hier wurde auch festgelegt, inwelchem Umfang die Foltergänge durchgeführt wer-den durften und dass fehlerhafte Anwendung zu Scha-densersatzansprüchen berechtigte. Nur, diese ganzenVorschriften galten nicht in den Hexenprozessen! DieHexenprozesse waren als „crimen exceptum“, alsaußergewöhnliches Delikt in dem nicht ein Fehlver-halten zwischen Menschen, sondern zwischen Menschund Gott zur Verurteilung anstand, von allen in dennormalen Strafprozessen anzuwendenden Schutzre-geln ausgenommen. Das heißt, hier wurde ohne jedezeitliche Begrenzung und ohne zwischenzeitlichemedizinische Versorgung gefoltert, um das Geständniszu erlangen und damit die Rettung des Seelenheils,d. h. die Lossagung vom Teufelspakt, durchzusetzen.

Die Siegburger Prozesse kennen vier Foltermethoden,die, falls ein Geständnis die Folter nicht frühzeitig be-endete, nacheinander zur Anwendung kamen: Das Zei-gen der Foltergeräte, die Beinschrauben, das Aufziehenund den Stuhl.

An diesem Tag hatte der schwerkranke WollweberChristian Lindlar die beiden Bürgermeister WilhelmKortenbach und Herrgen Räder zusammen mit demGerichtsschreiber Wilhelm Koltzen „zu sich fordernlassen“. Ihnen teilte er mit, dass er wegen eines zurück-liegenden Streites um ein Brot mit Peter Meurers Frau,„Kündgen genannt“, so krank daniederläge: „Dieselbeihm, Christian, die hochbeschwerliche Krankheit solleangetan haben, dergestalt, daß ihm seine Männlichkeitbenommen und alle Kräfte seines ganzen Leibes quittworden. Welches also wahr sein, und darauf zu lebenund zu sterben [er bereit sei], daß obgemelte Person ihmsolches angetan.“

Tatsächlich starb Christian noch vor Prozessende – wo-ran auch immer; für ihn stand fest, dass er durch magi-sche Kräfte erkrankt und auf sein Sterbelager gehextworden war.

Die Klageerhebung hatte der Siegburger Klostersekre-tär zwar dem Abt mitgeteilt, da sich dieser aber auf dieGüter seiner Familie zurückgezogen hatte, um seinerschwächlichen Gesundheit besonders aber der Jagd, zu

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Während in einigen Fällen die Angeklagten bereitsnach dem Zeigen der Folterwerkzeuge, spätestens nachdem Anlegen der Beinschrauben gestanden, versuch-ten andere, sich der Tortur in der gesamten Härte zustellen und dadurch ihre Unschuld zu beweisen. Inallen Fällen wurde aber so lange gefoltert, bis einGeständnis vorlag oder das Opfer auf der Folter ver-starb.

In keinem Fall gab sich das Gericht mit dem bloßenGeständnis „man habe der Hexerei gehuldigt, denTeufel getroffen“ oder ähnlichem, zufrieden, sondernnunmehr wurde durch einen speziellen Fragenkatalogversucht, den vorgefassten Tatbestand der Hexerei imDetail zu belegen und weitere wichtige Informationenzu erhalten. Ausführlich schilderten die Angeklagten

aus Angst vor der Folter oder vor der Fortführung derFolter, wie sie den Teufel getroffen, sich mit ihm ver-bündeten, ihm huldigten, mit ihm auf den Tanz flogenund unter seiner Anleitung anderen Schaden zufügten.

Die zum Teil unglaublich phantasievollen, bis zur Be-schreibung von Musikinstrumenten auf dem Teufels-tanz ausgeschmückten, Aussagen geben ein inhaltsrei-ches Bild des in der damaligen Zeit allgemein akzep-tierten Volksglaubens über die Hexerei wieder. Ganzwichtig war dem Gericht die Frage nach dem Teu-felstanz. Dort, so die Theorie, trafen sich die Mitgliederder Hexensekte zum fröhlichen Tanzen und Feiern,aber auch zum Essen und Trinken, und dort sah maneinander. Das heißt, mit dieser Frage konnten Namenweiterer Hexensektenmitglieder aus dem Opfer her-

ausgepresst werden, die, kurze Zeit später vor Gerichtzitiert und mit der Anklage der Hexerei konfrontiertwurden, leugneten, gefoltert wurden, neue Namennannten und so die Verfolgungskette im Fluss erhiel-ten.

War die Vernehmung abgeschlossen, erfolgte das Ur-teil sofort am nächsten Verhandlungstag. Bis auf eineFrau wurden alle Geständigen zum Tod durch Strangund anschließendes Verbrennen der Leiche verurteilt.Das heißt, das Opfer wurde an den Richtpfahl gebun-den, von hinten durch den Henker stranguliert – er-würgt – und anschließend verbrannt.

Es ist nicht bekannt, warum zwei Jahre später die Hexen-kommissare die Stadt verließen. Mit ihrem Weggang

endet die Verfolgung abrupt. Zehn Jahre später tauchteiner von ihnen nochmals in der Stadt auf, wird abervon einem Angehörigen einer Hingerichteten sozusammengeschlagen, dass er den für ihn unfreund-lichen Ort rasch wieder verlässt.

Die Stadt bleibt geschunden von Krieg und Verfolgungverarmt zurück. Die ehemals stolze und mächtigeAbtei ist ausgeplündert, die Einnahmen fast vollstän-dig zum Erliegen gekommen und ein Großteil derMönche zieht es vor, weiterhin im reichen Köln zu blei-ben. Auch der Abteischatz bleibt im sicheren Siegbur-ger Hof in Köln stehen.

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ährend in den zurückliegenden Kriegszeiten dieAbtei zwar völlig ausgeplündert worden war, hiel-ten sich die Schäden an den Gebäuden in überschau-

baren Grenzen. Wie zum Hohn brachten die nun wie-der eingekehrten Friedenszeiten auf dem Berg verhee-rende Brände, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-derts zum umfassenden Neubau aller Gebäude führten.

Während man im Jahre 1647 noch vom Berg aus auf dasFlammenmeer in der Stadt schaute, sogar der Turm-helm mit den Glocken der Servatiuskirche krachte indie Tiefe, loderte es zwei Jahre später in den eigenenMauern und legte große Teile der Kirche, aber auch diegesamten in den Jahrhunderten gewachsenen Gebäudein Schutt und Asche. Nur die Krypta aus der erstenHälfte des 12. Jahrhunderts und der gotische Chor ausder Zeit Pilgrims v. Drachenfels, blieben erhalten. AbtJohann III. von Bock baute Kloster und Kirche in denfolgenden knapp drei Jahrzehnten im frühbarocken Stil wieder auf. Es entstand annähernd das Bild, daswir heute auf dem Berg sehen. Wehrtürmchen und -gänge verschwanden ebenso, wie die Kleinteiligkeitder Bebauung. Nunmehr thronte ein geschlossenesGebäudecarré im barocken Stil oben auf dem Berg. DasKirchenschiff wurde der Höhe des Chores angepasstund zusätzlich mit einem barocken Ziergiebel zur Ab-teihofseite hin, geschmückt.

Abt Johann III. von Bock muss ein sehr harscher Herr-scher gewesen sein und so brach im Konvent ein Auf-stand gegen ihn aus, der ihm zur Flucht und schließlichzur Abdankung zwang. Der Streit eskalierte, ein Botedes Abtes wurde bei dem Versuch, einen Brief des ver-triebenen Abtes dem Konvent zu überbringen, gar totgeschlagen. Dies hatte das Eingreifen des Erzbischofsvon Köln und des päpstlichen Nuntius zur Folge. Zu-letzt einigte man sich, dass ein Administrator die Stelledes Abtes, bis zur endgültigen Klärung aller Streitfra-gen, übernehmen sollte. Zahlreiche Visitationsberichteaus damaliger Zeit überliefern ein trauriges Bild vonder inneren und äußeren Zerrüttung der Abtei.

1762 brannten die abteilichen Nebengebäude. Derschwerste Schlag traf die Abtei, als am Neujahrstag 1772der größte Teil des Klosters, mit Ausnahme der Kirche,ein Raub der Flammen wurde; angeblich durch Blitzschlag,wahrscheinlicher indes durch Brandstiftung. Zwar war mandurch die zurückliegenden Kriegszeiten, aber auch durcheinen aufwändigen Lebenswandel stark verschuldet, dochAbt Gottfried IV. von Schaumburg kümmerte das wenig.Er bat um Spenden, nahm weitere Gelder auf und dieAbtei entstand in dem Bestand, wie er uns heute nochoben vom Berge herunter grüßt.

In seinem Bittschreiben, die der Abt an den Kaiser, dieumliegenden großen und kleinen Adelshäuser, anKlöster und Bischöfe versandte, schreibt er, „dass am 1. dieses Jahres Abends nach 8 Uhr unbegreiflicherweise das Dachwerk des ihm untergebenen adeligen Stiftes an dreiEcken in Brand geraten sey und dass das Feuer bei der

hohen, wasserlosen Lage desselben dergestalt um sich gegrif-fen habe, dass dadurch das ganze Gebäu mit allingen Lebens-mitteln und den meisten Mobilien eingeäschert worden sey.“(Zitat, auch im Folgenden, nach Heinekamp)

98 Spenden aus der geistlichen und adeligen Welt gin-gen, in einer Höhe von 5.329 Reichstaler, 37 Albus und4 Pfennigen, ein. Um diese Summe einzuschätzen: ImJahr 1777 kostete ein Gebrauchspferd beim Kauf inHaan im Bergischen Land 10 Reichstaler, dasselbe wieein dickes, wohl gemästetes Schein!

Der Kaiserliche Hof zog Erkundigungen ein: Schulden-stand der Abtei 100.000 Reichstaler, Brandschaden 20.000 Reichtstaler, man spendete 400 Gulden, waseinem Wert von ca. 600 Reichstalern entsprach. Sehrschön ist die in den Akten überlieferte Anmerkung desGrafen von Hachenburg: „…viel zu geben sei nichtthunlich und wenig zu geben nicht reputierlich!“

Ansichten aus dem Ende des 18. Jahrhunderts zeigennun die geschlossene Barockanlage, immer völlig freiauf einem kahlen Michaelsberg liegend. Die Berghängedienen nunmehr dem Weinanbau.

-V-KAPITEL

UMBAU, NEUBAU,STREITEREIEN UND

AUFLÖSUNGWDer Brand 1649

Der Brand 1772

OBEN AUF DEM BERG

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1803, mit dem Reichsdeputationshauptschluss wurde einevöllig neue, territoriale Gliederung des heiligen Römi-schen Reiches Deutscher Nation eingeleitet; praktisch allegeistlichen Reichsstände, aller Besitz von Stiften, Abteienund Klöstern wurde verstaatlicht und der Verfügungs-gewalt der zum Teil neuen Landesherren unterstellt.

Die Abtei St. Michael, zum Herzogtum Berg gehörend,wurde nach 739 Jahren Bestehens per Gesetz durch denLandesherren, geschlossen und aufgelöst. Alle Konvents-angehörige bekamen eine Pension ausgesetzt, ein sog.

Gnadengehalt, für den Abt 450 Taler, für die Konvents-mitglieder pro Person jährlich 240, und der Konventwurde auf den Aussterbeetat gesetzt, d.h. Neuaufnah-men wurden verboten. Der letzte Abt, Johann Speyart vonWoerden, siedelte nach Düsseldorf über und verbrachte

Das gesamte Inventar wurde verkauft, Bücher, Glock-en – alles kam unter den Hammer; denn die Schulden-last, die neben den Besitzungen auch auf den Landes-herrn übergegangen war, war enorm. Allein für dieForderungen aus den Weinlieferungen der letzten Jahr-zehnte erhielt der Kölner Weinlieferant die Gebäudedes Klosters Altenberg überschrieben.

Die Auflösung dort seinen Lebensabend. Die den Konvent bildenden,sieben Konventualen, wohnten noch einige Zeit auf derAbtei, dann zogen sie sich, alle aus begüterten, adeligenFamilien stammend, auf die Familiengüter zurück.

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ie Gebäude auf dem Michaelsberg dienten in dennächsten Jahren als Kaserne, als Magazine zur

Versorgung durchziehender Truppen, auch wohlkurze Zeit einmal als Schullokal – im Inneren herrschteVandalismus, nach Außen blieb das Bild unbeeinträch-tigt. Dass die Gebäude nicht, vergleichbar Kloster Heis-terbach, auf Abriss versteigert wurden, verdankten sielediglich ihrer unzugänglichen Lage auf dem Berg, dernoch von keiner Straße erschlossen wurde.

1815 kamen die Abteigebäude in den Besitz des neuenLandesherrn, dem Königreichen Preußen. Die preußi-sche Verwaltung versuchte baldmöglichst die nochnicht abgerissene Klosteranlage einer neuen Nutzungzuzuführen, aber wiederum erwies sich der Michaels-berg als fast unbezwingbar, und der Leerstand zog sichhin.

1819 erreichte den in Düsseldorf lebenden Arzt, Dr.Maximilian Jacobi, eine Anfrage der königlichen Regie-rung aus Berlin, ob er gewillt sei, die Einrichtung einerneu zu errichtenden, rheinischen Irrenheilanstalt zu über-nehmen. Er sagte zu. Als Unterbringung stellte ihm diepreußische Regierung Schloss Bensberg oder die ehe-maligen Siegburger Klostergebäude zur Auswahl. Erwählte Siegburg, gerade weil er die Abgeschiedenheitder Lage oben auf dem Berg als besonders förderlichfür seine Heilanstalt erachtete.

-VI-KAPITEL

NACH DER AUFLÖSUNG D

Die erste Irrenheilanstalt der preußischen Rheinprovinz

In den Jahren 1823-24 wurden zahlreiche, zur neuenNutzung notwendige Umbauarbeiten vorgenommen,so dass Zeitgenossen schließlich feststellten, dass „diealte Abtei nur noch in ihrem äußeren Mauerwerk be-stand“. Die veranschlagten Umbaukosten von 75.000 Ta-lern wurden um ein Vielfaches überschritten. NachAbschluss aller Arbeiten betrugen die Gesamtkostenschließlich 106.280 Taler. In dieser Summe befandensich auch die Kosten für den Straßenbau; denn damitdie umfangreichen Baumaßnahmen überhaupt durch-geführt werden konnten, wurde der Berg erstmals miteiner Straße erschlossen – die Bergstraße entstand. Bisdahin führte lediglich ein steiler Pfad in etwa dort hin-auf, wo heute der Treppenweg nach oben führt.

FREMDE AUF DEM BERG

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Die Anstalt galt seit ihrer Gründung 1825 bis in dieMitte des 19. Jahrhunderts hinein in ihrer Einstellungzu den Kranken, ihrer Diagnostik und Therapie als Mo-dellanstalt. Sie wollte nicht, wie die Anstalten bisher,eine „Verwahranstalt“ sein, sondern stellte erstmalig denGedanken der Therapie in den Vordergrund. Dazuhatte Jacobi zwei Ansätze entwickelt, die heute völligselbstverständlich zum medizinischen Standart gehö-ren: die Einführung eines Patientenbogens mit einerexakten Anamnese bei der Aufnahme und eine sinnvolleBeschäftigung der Kranken während ihres Aufenthalts.

Zur Beschäftigung richtete man in den Gebäuden zahl-reiche Werkstätten ein, eine Weberei, eine Seilspinne-rei, eine Spinnerei für Flachs und Werg, eine Schrei-nerei, eine Korbmacherei, eine Werkstatt für sog. klei-nere Handarbeiten wie Mattenflechten, Rosshaarzupfenund eine Buchbinderei. Da Jacobi der Beschäftigung inder Natur einen besonders hohen Heilungswert zu-

schrieb, zudem eine weitgehende Selbstversorgung auchgrößerer Einrichtungen damals üblich war, wurde derBerg in eine intensive landwirtschaftliche Nutzung ge-nommen. Man legte Terrassen an und verband sie miteinem Wegenetz, das zum Teil bis heute existiert. Ja-cobi schrieb: „Es verdient hiebey nach bemerkt zu werden, daß als dieEinrichtung der Irrenheilanstalt zu Siegburg beschlos-sen wurde, es keine Bäume an dem Abteyberge gab alseinige verkrüppelte Pflaumenbäume in dem Garten vordem Südflügel des Klosters, welche sofort umgehauenwurden. Seitdem aber wurden allein zwischen eilf undzwölf Hundert Obstbäume von den besten Gattungenund wenigstens eben so viele wilde Bäume von verschie-dener Art angepflanzt, welche sämmtlich trefflich gedei-hen und in Verbindung mit dem zugleich heranwachsen-den Strauchwerk, den so fleißig angebauten Gemüsefel-dern und den mit verschiedenen Kleearten besetzten Grund-stücken, dem vormals so einförmig erscheinenden Berge,schon jetzt ein höchst anmuthiges Ansehen verleihen.“

Die Musteranstalt Es wurde aber nicht nur gearbeitet, sondern auch dieKultur und Geselligkeit gepflegt. Es gab Laienspiel-gruppen, es wurde musiziert, und außer den Funk-tionsräumen der Anstalt gab es Kegelbahnen und Räu-me zum Ballspielen. In den großen Aufenthaltssälenfanden am Wochenende Tanzveranstaltungen statt, undim Freien legte man Belustigungsplätze mit Karussellsund Einrichtungen zum Vogelschießen an, Vorgänge,die von den vorgesetzten preußischen Behörden mehrals einmal als „überflüssige Spielereien“ gerügt wurden.

Da die Anstalt mit dem Anspruch der „Heilung“ dieArbeit aufnahm, wurden aber nur solche Kranke auf-genommen, deren Krankheitsverlauf nach dem dama-ligen medizinischen Wissensstand eine Heilung alsmöglich erscheinen ließ. Menschen, die schon jahre-lang „seelen-krank“ waren, d.h. an einer psychischenErkrankung litten, wurden von vorneherein abgelehnt.

Dr. Maximilian Jacobi

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Maximilian Jacobi stufte die seelsorgerische Betreuungseiner Kranken als therapeutisch überaus wichtig undunverzichtbar ein, und so wurde 1829, trotz eines knap-pen Personalbudgets und auch eines nur kleinen zubetreuenden Patientenkreises, ein evangelischer Pastoreingestellt. Die ehemalige Abteikirche diente nun als Si-multankirche beiden Konfessionen.

Der für die Region zuständige Superintendent war sichwohl bewusst, dass der evangelische Anstaltsgeistlichenur mäßig ausgelastet war und sah hierin die Mög-lichkeit, die erst in den Anfängen befindliche, seelsor-gerisch noch völlig unversorgte evangelische Gemein-de in der Stadt mit in eine geistliche Obhut zu geben.15 Haushaltsvorstände waren im Jahre 1829 als derevangelischen Konfession zugehörig in der Stadt ge-meldet, 51 weitere lebten in den umliegenden Ortschaf-ten; insgesamt zu wenig Menschen, als dass sie diefinanziellen Belastungen einer eigenen Pfarrei hättenaufbringen können. So bot der Einsatz des Anstalts-geistlichen auch als Pfarrer für die in der Stadt woh-nenden Evangelischen eine zufriedenstellende Lösung.

Am 26. Juni 1829 stimmte das geistliche Konsistoriumin Koblenz diesem Vorschlag zu und bestimmte damitdas Datum, das als Gründungsdatum einer evangeli-schen Pfarrgemeinde in Siegburg gilt, die ihren Anfangin der Betreuung der Kranken auf dem Michaelsberg hat.

Am 1. Mai 1878 wurde die Irrenheilanstalt auf demMichaelsberg geschlossen, die letzten Patienten in dieneuerbaute Anstalt nach Düren verlegt. Die Gebäude,besonders die sanitären Einrichtungen, waren vernutztund eine Sanierung zu kostspielig, zumal sich auch dieAnsprüche an eine Unterbringung von psychischKranken geändert hatte.

Bis heute gilt die Irrenheilanstalt in Siegburg als Mus-teranstalt nicht nur wegen des hier praktizierten neuenHeil- und Behandlungsansatzes, sondern besonderswegen der eindrucksvollen Persönlichkeit ihres erstenLeiters. Maximilian Jacobi war eben nicht „nur ersterArzt und Verwaltungsleiter“ sondern verstand sich inerster Linie als Vater und Beschützer „seiner“ Kranken.

gittert, schwere eiserne Tore an den Zugängen einge-hängt und, um nunmehr gut 500 Menschen auf demBerg versorgen zu können, eine Materialseilbahn gebaut.Das Maschinenhaus stand auf dem Mühlentorplatz.Die Stützenreihe für die Seile zog sich den Berg hinaufund endete vor dem barocken Gebäudecarré an der süd-westlichen Ecke, parallel des Zellentrakts. Wenn manweiß, wo man suchen muss, findet man die Stützen-linie auf allen alten Postkarten der Zeit.

Doch auch diese fremden Gäste blieben – zum Glück –nicht dauerhaft auf dem Michaelsberg. Am 2. Juli 1914wurden die Gebäude wieder einem Benediktinerkon-vent übergeben.

Die Gründung der evangelischen Pfarrgemeinde in Siegburg

Die Auflösung

Blick in die Krypta vor der Restaurierung, die Bottiche erinnern an ihre Nut-zung zur Zeit der Irrenheilanstalt, als hier Baderäume untergebracht waren.

Die letzten Inhaftierten verlassenden Berg und wurden in das neuerbaute Zuchthausin Rheinbach überführt.

Blick auf den Turm

der im Zweiten Weltkrieg

zerstörten ev. Stadtkirche

Das preußische Zuchthaus

Doch der preußische Staat brauchte nicht lange, umeine neue Nutzung zu finden. Als Gefängnis, nach we-nigen Jahren zum Zuchthaus umgewidmet, da durchseine isolierte Lage gut zu bewachen, waren die ehe-maligen Klostergebäude bestens zu gebrauchen.

Die neue Einrichtung verschandelte den Berg. 1890 wurdein den Johannesgarten hinein ein großer, gefängnis-technisch moderner Zellentrakt gebaut, der bis 1929das Bild der Abtei beeinträchtigte. Wie die Bevölke-rung das Schicksal ihres Berges empfand, fasste RudolfHeinekamp zusammen: „…1064 ein Benediktinerklos-ter mit ‚Engeln im Fleische’, wie Lambert von Hersfeldsich ausdrückt, später ein freiadeliges Stift mitBerufenen und Unberufenen im Ordenskleide, 1815eine Lateinschule und Kaserne für den Stamm desLandwehrbataillons, 1825 eine Irrenheilanstaltzum Segen für die Leidenden und nun einGefängnis für nicht schwere Verbrecher, umnächstens einem Zuchthause Platz zumachen – wie wird das noch enden?!“– Zuerst mit weiteren Eingriffen indas Erscheinungsbild: AlleFenster wurden ver-

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Aquarell nach einer Darstellung aus dem 19. Jahrhundert Aquarell nach einer Darstellung aus dem 19. Jahrhundert

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ährend andernorts im Rheinland im ersten Dritteldes 19. Jahrhunderts die Industrialisierung bereitsbegonnen hatte, musste bis 1839 der Siegburger

Bürgermeister Johann Kuttenkeuler in seinen monat-lichen Berichten zum Thema „Handel und Industrie“ stetslapidar bemerken: „Zu unbedeutend, als daß etwas zuberichten wäre.“ Das änderte sich erst, als der KölnerKaufmann Christian Gottlieb Rolffs ab 1839 Grund-stücke in Siegburg erwarb, um seine 1833 in Köln ge-gründete Kattundruckerei (Kattun = Baumwolle) um-zusiedeln.

-VII-KAPITEL

TASCHENTÜCHERUND KANONENW Die Ansiedlung einer ersten Industrieanlage wurde in

Siegburg erleichtert begrüßt. Endlich bestand die Aus-sicht, dass Handel und Gewerbe durch die Errichtungvon Arbeitsplätzen den Bürgern der Stadt neuen Wohl-stand bringen würde. Stadtgeschichtlich beginnt mitder Ansiedlung der Kattunfabrik auf dem Siegfeld 1840für Siegburg das Zeitalter der Industrialisierung.

DIE INDUSTRIALISIERUNG:

Die Gebäude der ehemaligen Kattunfabrik, um 1930.Im Hintergrund die Wolsberge.

Um 1890 fotografierte T. J. Dickkopf die damalige Kattunfabrik von Rolffs & Comp. im Siegfeld.

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schwinglich und hatte neben seiner praktischen Funk-tion auch noch einen ästhetischen Wert aufzuweisen.Es bot die beste Voraussetzung, um zu Popularität undgroßer Verbreitung zu gelangen. Daneben wurdenaber auch Stoffe für Bekleidung und den Haushalt pro-duziert.

Die ersten Gebäude – ein Fabriksaal mit Mühlradstubeund ein Trockenhaus – wurden zusammen mit demersten Wohnhaus, dem Torhaus, bereits 1840 errichtet.Die Fabrik wuchs rasch und gehörte nach 30 Jahren zuden größten Baumwolldruckereien Preußens. 1861 fan-den hier 300, 1911 über 800 Arbeiter Lohn und Brot.Ihre Produkte findet man auf Messen und Industrie-ausstellungen, und schließlich darf sie Preußen sogarauf der Weltausstellung in Wien (1873) vertreten.

Besonderen Umsatz erzielte man mit einem Tuch, inder Fachsprache „Foulard“ genannt, einem Ziertuch, aberauch als Schnupftuch zu gebrauchen, das mit Musternoder einem Bildmotiv ein- oder mehrfarbig bedrucktwurde und üblicherweise die stattliche Größen von70cm x 70cm aufweist. Die unterschiedlichsten Motivewurden angeboten: Politische oder zeitgeschichtliche,patriotische oder ländlich-idyllische, Porträts vonPersönlichkeiten europäischer Herrscherhäuser, derenHochzeiten oder Thronjubiläen, außerdem jahreszeitli-che Feste und Bräuche, Kinderszenen, illustrierteGedichte und Volkslieder, Tierporträts, selbst Kalenderwurden so in gedruckter Form „unters Volk gebracht“,ein Renner, denn das Accessoire war finanziell er-

Blick auf den Michaelsberg über das Siegfeld mit der Kattunfabrik, Post-karte um 1910

Musterbuch, unten links mit einem Entwurf für ein „Militärinstruktionstuch“

Druckzylinder für ein Ornament

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Die Geschichte der Firma beginnt in Köln. 1824 grün-dete dort Christian Gottlieb Rolffs zusammen mit sei-nem Schwager Carl Poensgen die „Manufacturwaren-handlung Rolffs & Poensgen“. 1830 schied der Schwa-ger aus und C.G. Rolffs führt die Firma unter demneuen Namen „Rolffs & Cie.“ weiter. 1833, am 15. April,stellt C.G. Rolffs einen Färbermeister für den Kattun-,d.h. für den Baumwolldruck ein und ändert den Na-men seiner Firma, der Aufnahme der neuen Spartegemäß um, in „Rolffs & Comp. Druckerei, Färberei undManufakturwarenhandlung“. Mit ganzer Kraft wid-met er sich nunmehr dem Aufbau seiner neuen Fabrikund gliederte 1838 seiner Kattundruckerei auch eineKattunweberei mit 100 Webstühlen an, die er aber 1862wieder einstellte.

Die Kattunfabrik Rolffs & Co. Für die schnell wachsende Fabrik wurde das Areal inKöln am Bayen bald zu klein, und C.G. Rolffs begann,für seine Fabrik einen neuen Standort zu suchen. InSiegburg wurde er fündig, denn hier gab es vor denToren der Stadt ausreichend Freiflächen, durchflossenvon einem Mühlengraben mit gutem Wasser – notwen-dige Voraussetzung für seine Produktion – aber auchMenschen, die Arbeit suchten.

Ein Brand in der Fabrik in Köln am 25. August 1839zwang zu raschem Handeln. Erste Verträge zurUmsiedlung wurden noch im selben Jahr abgeschlos-sen. Bis 1871 schlossen er und seine Nachfolger mehrals 100 Grundstückskauf- und Tauschverträge bis einFirmenareal entstanden war, das auch heute nochRaum für das Siegwerk, die Siegwerk AG, bietet. 1840,zum Zeitpunkt des Umzugs nach Siegburg, arbeitetenin der Kattunfabrik Rolffs & Cie. 410 Arbeiter, der Wertder Fabrik wurde auf 300 000 Taler geschätzt.

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Bereits 1862 hatte die Stadt beschlossen, ihren BürgernModernität in die Wohnungen zu bringen und die Ein-richtung einer städtischen „Leuchtgasfabrik“ voranzu-treiben. Für diesen Plan fanden sich anfänglich in derBürgerschaft zu wenig Interessenten. Erst eine zugesi-cherte große Abnahmemenge der Preußischen Irren-heilanstalt, die sich in den Gebäuden der aufgelöstenAbtei auf dem Michaelsberg befand, brachte dem Pro-jekt die benötigte Wirtschaftlichkeit. Im Bereich zwi-schen Ring- und Bachstraße wurde die städtische Gas-anstalt, Vorläufer der Rhenag, gebaut.

Ab den 1. Januar 1863 beleuchteten dann 36 Straßenla-ternen das Nachtleben in Siegburg. Immer mehr Sieg-burger Bürger schlossen sich dem Leitungsnetz an undbrachten durch die Gasbeleuchtung Licht und Hellig-keit in ihre Wohnungen und Häuser. Für den Direktorder Preußischen Irrenheilanstalt führte sein innova-

Die städtische Gasanstalt tionsfreudiger Entschluss zu einem tragischen Ende: Inder Nacht vom 8. auf den 9. April 1863 stürzte er sichin Köln selbstmörderisch von der Rheinbrücke in diekalten Fluten, da die Kosten der neuen Gasbeleuchtung– und auch die Herstellung eines neuen Brunnens – fürdie Heilanstalt die Summe des Kostenvoranschlages,die er seiner vorgesetzten preußischen Behörde mitge-teilt und für die er eine Genehmigung bekommen hatte,nach Fertigstellung erheblich überstieg. Dieses seinenVorgesetzten zu gestehen, fehlte es ihm an Mut undKraft – er wählte den Freitod.

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Seit 1852 bemühte man sich in Siegburg und den um-liegenden Ortschaften, ein Projekt der Köln-Mindener-Eisenbahngesellschaft mit Streckenführung die Sieghinauf, zu befördern. Der Anschluss an das sich lang-sam entwickelnde Eisenbahnnetz war für jede Ge-meinde attraktiv und versprach wirtschaftlichen Auf-schwung.

Ein „Comité für die direkte Cöln-Siegburg-FrankfurterEisenbahnlinie“ unter Beteiligung des Landrats wurdegegründet, Denkschriften verfasst, für die Wichtigkeitdieser Strecke geworben – und schließlich, 1854, dankder Unterstützung des Preußischen Staates, diese auchaus der Taufe gehoben. Ende des Jahres begannen dieVermessungsarbeiten, im Sommer 1855 wurde mit denersten Erdarbeiten begonnen und ein Jahr später inSiegburg der erste Bahnhof in Betrieb genommen. 1859kam durch die Eisenbahnbrücke in Köln für Siegburgauch der Anschluss an das linksrheinische Eisenbahn-

netz zustande. 1883/84 folgte die Eröffnung der Ag-gertalbahn, 1899 die der Bröltalbahn, so dass sich Sieg-burg innerhalb von gerade einmal 40 Jahren zu einemEisenbahnknotenpunkt der Region entwickelt hatte.

Die Entwicklung zum Eisenbahnknotenpunkt

Postkarte um 1920

konnte auch der dort arbeitende Handwerksmeisterselbst bauen, d. h. neue Bauplätze mussten erschlossen,neue Straßen angelegt bzw. alte ausgebaut werden.

Von dieser Expansionsphase zeugen heute im Stadt-gebiet besonders die Straßen mit preußischer Namens-gebung, z. B. Kronprinzenstraße, Elisabethstraße, Au-gustastraße, Luisenstraße, Kaiserstraße, Wilhelmstraßeund Kaiser-Wilhelm-Platz.

Für gut 30 Jahre wurde die Stadtsilhouette Siegburgsgeprägt von in den Himmel ragenden Schornsteinen.Siegburg war ein größerer Rüstungsstandort als Span-dau, die historische, preußische Rüstungsstadt. Im Ers-ten Weltkrieg arbeiteten hier zeitweise mehr als 30.000Menschen. Die Artilleriemunition für den mörderischenStellungskrieg an der Westfront wurde ganz überwie-gend in Siegburg produziert und in ewig langenGüterzügen an die Kampfplätze transportiert. Sieg-burg war Industriestadt geworden.

Der deutsch-französischen Krieg 1870-71 hatte dempreußischen Militär Nachschubprobleme aufgezeigt,da es im Westen des Königreichs Preußen keine größe-ren Munitionsfabriken gab. So suchte man einen neuenStandort im Rheinland, der verkehrstechnisch bereitsgut erschlossen, ansonsten aber noch nicht allzu starkvon der Industrialisierung erfasst war und damit genuganzuwerbende Arbeitskräfte bot. Die Wahl fiel 1873 aufSiegburg, das diesen Voraussetzungen perfekt entsprach.

Der Aufbruchstimmung der Gründerzeit entsprechend,schritt man rasch ans Werk und bereits am 15. Juni 1875wurde mit dem Guss des ersten Artilleriegeschossesdie Königlich-Preußische Geschoßfabrik eröffnet. Derneue Industriekomplex, in dem Artilleriegeschosskör-per gegossen wurden, lag „Am Haufeld“, im heutigenIndustriegebiet.

Mit dieser Einrichtung entwickelte sich die Stadt nun-mehr in die Verlängerung der Wilhelmstraße und Au-gustastraße in westlicher Richtung in die Siegniederunghinein. Das Gebiet wurde durch einen Gleisanschlussan die Verkehrswege angeschlossen. Die Baupläne derfolgenden Zeit zeigen ein rasches Anwachsen an Ge-bäuden und technischen Einrichtungen.

1893 folgte die Eröffnung des Zweigwerks auf demBrückberg, des Königlich-Preußischen Feuerwerkslabo-ratoriums. Mit der Ansiedlung des zweiten Teils derpreußischen Munitionsfabriken trat Siegburg in diePhase einer absoluten Expansion ein. Die Munitionsbe-triebe wurden verstärkt ausgebaut, selbst in Friedens-zeiten arbeiteten hier 3.000 bis 5.000 Menschen, dieüberwiegend von außerhalb hinzuzogen, so dass dieBevölkerung rapide zunahm. Dies führte dazu, dassvon der öffentlichen Hand große Investitionen getätigtwerden mussten: Ein neues Krankenhaus wurde ge-baut, eine Kanalisation angelegt, neue Schulen erbaut,bestehende erweitert. Es bildete sich die sogenannteNeustadt um die St. Annokirche, denn da in den Kö-niglichen Werken sehr hohe Löhne gezahlt wurden,

Die Königlich-Preußischen Werke

Die Direktorenvilla des Feuerwerkslaboratoriums an der Luisenstraße, 1910

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in Siegburgdurch die Industrialisierung entstanden verschiedeneBrauereien und Brauereiausschanke, gerade in der Näheder wachsenden Fabrikanlagen. Die bekannteste Sieg-burger Brauerei war die „Germania Brauerei“ von JosefBreuer auf dem Brückberg, direkt gegenüber des Kö-niglich-Preußischen Feuerwerkslaboratoriums.

Hier schwefeln Arbeiter die gebrauchten Fässeraus, um sie zu desinfizieren und anschließendfür die nächste Füllung wieder abzudichten.

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-VIII-KAPITEL

ier wie im gesamten Deutschen Reich, ja auch inden anderen, nunmehr gegeneinander kriegführen-den Nationen, wurde der Ausbruch des Krieges be-

geistert begrüßt. Jeder auf seiner Seite ging davon aus,Weihnachten 1914 wieder siegreich zu Hause zu sein.Wir wissen, dass die Geschichte ein anderes Drehbuchschrieb.

Auf den Michaelsberg waren am 2. Juli, gefeiert miteiner großen Dankes- und Festmesse, die Benediktinerzurückgekehrt. Doch bevor man an sich als neuer Kon-vent eingerichtet hatte, bevor mönchisches Leben wie-der die alten Gebäude belebte, brach der Erste Welt-krieg aus und statt einer Renovierung der Anlage, schrittman zur Einrichtung eines Lazaretts, in das auch schonbald die ersten Verwundeten eingeliefert wurden. Esbestand bis zum Kriegsende, dann wurde die Abtei fürdie nächsten Jahre „Caserne de la Marne“.

DIE ERSTE HÄLFTE

DES 20. JAHRHUNDERTS

H

Das Lazarett war nicht nurOperationsplatz und Krankenhaus,sondern auch eineGenesungseinrichtung mit einem umfangreichenFreizeitangebot bis hin zur Platzkonzerten.

Auch Soldaten, derenVerwundungen Amputationen nach sich gezogen hatten, lernten hier mit ihren Prothesenumzugehen. Lediglich den Kriegsblinden konnte keiner mehr helfen.

Der Erste Weltkrieg war aus – Deutschland geschla-gen, das Kaiserreich zu Ende. Fremde Truppen flu-teten ins Rheinland, in Siegburg sah man in denTruppenkontingenten der Besatzer zum ersten malMenschen mit dunkler Hautfarbe! Ein erster Eklat: DasKriegerdenkmal auf dem Markt wurde demoliert, manfühlte sich durch den Kriegsausgang gedemütigt undbekam nun das Geschlagensein auch handgreiflich vorAugen geführt.

NOTZEITEN UND ZERSTÖRUNGEN

So posieren Sieger im ehemaligen Feindesland, jetzt im Land der Besiegten.

Die deutschen Truppen waren entwaffnet worden,

auch wenn man seine Uniform noch hatte, man zeigte sich

nicht mehr im Bild.

Fotos 1919, britische Soldaten beim Boxkampf ...

... in der Feldküche ... beim Telefonbau

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Seit dem 12. Dezember 1918 lagenin der Stadt Besatzungstruppen, erstKanadier, dann Engländer. Im Juni1919, im Monat der Unterzeichnungdes Versailler Vertrages, hatte dieStadt mit rund 19.000 Einwohnern6.400 englische Offiziere und Sol-daten zu beherbergen, und es be-darf keiner allzu großen Phantasie,um sich vorzustellen, dass bei ihnendas große Denkmal auf dem Markt,mit einer preußischen Sieges-Vik-toria bekrönt, nicht nur freundli-che Gedanken auslöste.

In der Nacht vom 28. Juni 1819 ge-schah dann das Unglaubliche! Ver-mutlich hatten englische Soldatendie Unterzeichnung des Friedensver-trages in Versailles zu heftig be-feierten und das hoch aufragendeKriegerdenkmal, an gewonneneSchlachten des jetzigen Verliererserinnernd, reizte noch mehr alssonst. Es sollte fallen! Zuerst ver-suchte die Soldaten mittels Seilendie Viktoria herabzuzerren, alsdiese widerstand, spannte man, soder Zeitungsbericht, Maultiere an,riss die Kandelaber herunter unddie Einfassung um. Die Bürgerschaft nimmt diesen, nachder Friedensunterzeichnung gesche-henen Akt als Schändung teurer undwertgeschätzter Verstorbener mittiefem Groll im Herzen, aber ruhighin. Vielfach wurde der Wunsch ge-äußert, dass dieses Wahrzeichen desDankes der Eingesessenen des Sieg-kreises an seine Heldentoten frühe-rer Kriege vorerst weder instand ge-setzt, noch die Trümmerstätte ge-räumt werden möge. Wir Siegburgerhaben so etwas nach dem bisherigenmustergültigen Verhalten nicht ver-dient.

So sahen das auch die britischen Be-fehlshaber und am 23. Juli 1919 ver-las der Siegburger Bürgermeister vorEintritt in die Tagesordnung der Stadt-verordneten-Versammlung ein Schrei-ben des britischen kommandieren-den Generals zu Bonn, worin dasBedauern über die Vorgänge vom 28.Juni gelegentlich der Zerstörung desDenkmals auf dem Marktplatz aus-gesprochen und die Erstattung desSchadens zugesichert wurde. Nachausgiebiger Erörterung sprach sichdie Versammlung für die Wieder-herstellung des Denkmals in der ur-sprünglichen Form aus. Am selbenTag erschien auch auf der Frontseitedes Siegburger Kreisblattes, gleichals erster Eintrag, das Entschuldi-gungsschreiben im Wortlaut:

Bekanntmachung! Ich bringe hiermit fol-gendes Schreiben des Herrn Kom. Gene-rals des X. britischen Korps in Bonn zuröffentlichen Kenntnis: An den Herrn Bür-germeister Siegburg. Ich möchte michhiermit bei Ihnen entschuldigen, wegender Disziplinlosigkeit der britischenTruppen in Siegburg am Abend des 28.Juni 1919 und wegen des Schadens, wel-cher Ihrem Denkmal seitens der briti-schen Soldaten zugefügt wurde. Ich habeeine eingehende Untersuchung in derAngelegenheit gehalten und es werdeneine Anzahl Offiziere und Mannschaf-ten, deren Schuld an diesem Vorkomm-nis nachgewiesen worden ist, strengstensbestraft. Außerdem werde ich den inFrage kommenden Truppen befehlen,den öffentlichen und privaten Schaden[es waren auch noch 23 Schaufenstereingeschlagen worden], welchen sie ver-ursacht haben, zu bezahlen. Gezeichnet:G.T.N. Morland Gernalleutnant, Komman-dant des X. Korps.

Am 12. November berichtet das Sieg-burger Kreisblatt: Das Krieger-Denk-mal auf dem Markt ist in seinem frühe-ren Zustande wiederhergestellt.

... durch die Hände übermütigerBesatzungstruppen zerstört!

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Die 1920er Jahre der Stadtgeschichte wurden durchge-hend von Hunger, Not und Armut geprägt, wobei so-wohl die öffentliche Hand als auch karitativ arbeitendeVereine und Institutionen, aber auch Privatleute ver-suchten, die größte Not zu lindern, indem sie zusam-men die Siegburger Notgemeinschaft gründeten: HELFT.Ein bitterharter Winter steht uns bevor. Hunderte Familienunserer Stadt leiden unter der langdauernden Erwerbslosig-keit, bangen von Tag zu Tag um den notdürftigsten Lebens-unterhalt. Die Not wird noch größer werden und auf breite

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Die Stadt hatte, wie alle übrigen rheinischen Städteauch, Wohnraum für die Besatzungstruppen zur Ver-fügung zu stellen. Die großen Häuserzeilen in der Han-sen- und der Kempstraße, die heute die Annokircheflankieren, die Zeile in der Wilhelmstraße und die imZweiten Weltkrieg dann durch Bomben zum Teil unter-gegangenen Häuserflucht in der Wilhelmstraße, NäheKaiser-Wilhelm-Platz, wurden für Offiziere und ihreFamilien erbaut. Die Mannschaften wurden zum über-wiegenden Teil in den Klostergebäuden der Abtei, jetztCaserne de la Marne untergebracht oder in den Gebäu-den des ehemaligen Feuerwerkslaboratoriums, der Ca-serne Verdun, an der Luisenstraße.

Und die Denkmäler, die den gefallenen Freunden, Kol-legen oder auch Vereinsmitgliedern errichtet wurden,hatten sich dem Diktat der Besatz anzupassen. So wähl-te man unverfängliche Motive, versuchte sich wegzu-ducken und mit der neuen Rolle des „Besiegten“ klarzu kommen. Die Welt war zum ersten Mal aus den Fu-gen geraten, man sprach vom „Weltenbrand“, und je-der einzelne erlebte, was es hieß, wenn ein gewachse-nes Staatsgefüge in Auflösung gerät.

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Versaill-er Friedensvertrag mussten in Siegburg die Reichs-werke schließen. Die Anlagen auf dem Brückberg wur-den kurzfristig geschleift, einen Teil nutzte man als Ka-sernen oder Wohnunterkünfte. Der Abriss großer Teileder Geschoßfabrik folgte in den 1930er Jahren, nach-dem mehrere Versuche in den aufgelassenen Fabrikenprivate Stahl- und Walzwerke zu installieren, fehlge-schlagen waren.

Der extreme Ausbau der Munitionsfabriken im ErstenWeltkrieg, zeitweise arbeiten hier mehr als 30.000 Men-schen, hatte dazu geführt, dass die geringe, noch ne-benher existierende Industrie, die Kattunfabrik und an-dere kleinere Handwerksbetriebe, aus Arbeitermangelliquidieren mussten. Für die aus den Reichswerken frei-gesetzten Arbeitermassen existierten somit vor Ortkeine gewachsenen Arbeitsmarktstrukturen mehr. Fürdie Bevölkerung bracht ein Jahrzehnt mit enorm hohenArbeitslosenquoten an. Während im Reich die Arbeits-losenzahlen bei 3 bis 5 % im Verhältnis zur Gesamtbe-völkerung lagen, waren in Siegburg die Zahlen um einVielfaches höher und erreichten bis zu 17% der Bevöl-kerung.

Besatzungstruppen in Siegburg Die Schließung der Munitionswerke Notzeiten in den Zwanziger Jahren Schichten unserer Bürgerschaft übergreifen. Die behördlicheWohlfahrtspflege wird dieser Not nicht alleine Herr werdenkönnen. Hier muß die private Liebestätigkeit eingreigen.Getragen von der gesamten Bürgerschaft muß ein Hilfswerkentstehen, dessen Aufgabe es sein wird, unseren notleiden-den Mitbürgern zu helfen.

In diesem Jahrzehnt kommt die Bautätigkeit und jedeForm von Stadtentwicklung praktisch vollständig zumErliegen. Ein Versuch, eine neue Industrieansiedlungnach Siegburg zu holen, scheiterte Ende der 20er Jahre.

Besatzungsbauten in der Kempstraße

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Außer an personelle Veränderungen mussten dieSiegburgerinnen und Siegburger sich auch neue Stra-ßen- und Platznamen gewöhnen, historische Namenwurden ausgetauscht und auf Personennamen der NS-Elite umbenannt; so wurde aus dem Marktplatz der Adolf-Hitler-Platz, aus der Bahnhofstraße die Hermann-Gö-ring-Straße usw.

Es wurden – die Mechanismen sind bekannt und durchdie Geschichtswissenschaft vielfach dargestellt – Ar-beitsplätze geschaffen. Es beginnt der Autobahnbau,die Eröffnung der Zellwoll AG wurde schon genannt.Es gab hier in Siegburg aber auch ein größeres Bauvor-haben, das aus dem üblichen Schema der Arbeitsplatz-beschaffungen der Zeit herausfällt: Auf dem Brückbergwird ein Siedlungsprojekt in Angriff genommen, daszwar schon in den 1920er Jahren geplant aber nichtumgesetzt worden war. Nunmehr werden die Plänezur sog. Trerichsweiher-Siedlung leicht überarbeitet, einAufmarschplatz wird eingefügt, und es beginnt der Baueiner DAF-Mustersiedlung (DAF = Deutsche Arbeits-front). Er wird durch das Gauheimstättenwerk voran-getrieben und dient der „Hinführung des deutschenArbeiters zum nationalsozialistischen Staat.“ DieBauplätze werden an „alle ehrbaren minderbemitteltenVolksgenossen“ vergeben, wenn sie „deutsche Reichs-

angehörige, deutsch oder artverwandten Blutes, poli-tisch zuverlässig und erbgesund“ sind. Es entstehendie Siedlungshäuser entlang der Roon-, Moltke- undGneisenaustraße. Am geplanten Aufmarschplatz, demheutigen Adolf-Kolping-Platz, soll zu den geplantenSiedlungsstellen ein großes HJ-Heim entstehen, dieseUmsetzung verhindert jedoch der Ausbruch des Zwei-ten Weltkriegs. Heute steht dort die Kirche St. Joseph.

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Anfang 1937 verkaufte die Bemberg AG die leerstehen-den Werksgebäude für 1,43 Millionen Reichsmark andie im November 1936 in Köln gegründete RheinischeZellwolle AG.

Die Gründung dieser AG stand in Verbindung mit demvon der NSDAP 1936 auf dem Nürnberger Reichspar-teitag verkündeten „zweiten Vierjahresplan“ und soll-te dazu dienen, das Deutsche Reich von devisenver-schlingenden Importen unabhängig zu machen. Außer-dem konnte die leichte Kunstseide nicht nur zu feinenTextilien verarbeitet werden, sondern ebenso gut zuFallschirmen.

Die Rheinische Zellwolle AG wurde 1940 an die PhrixAG Hamburg angeschlossen. Das Siegburger Werkproduzierte zunächst bis Dezember 1944 und bliebdann wegen der Kriegszerstörungen, aber auch ausRohstoff- und Ersatzteilmangel sowie wegen Produk-tionsverbot und Demontage des Maschinenparks, bisSeptember 1948 geschlossen.

Obwohl die ökonomischen und sozialen Verhältnissein Siegburg katastrophal waren und damit eigentlichbeste Voraussetzungen für eine nationalsozialistische„Machtergreifung“ boten, gelang es nicht, die Siegbur-ger Bevölkerung auf breiter Fläche zu mobilisieren.Natürlich gab es Aufmärsche und Kundgebungen, beiden entscheidenden Wahlen 1930 und 1932 lagen dieErgebnisse für die „Braunen“ aber deutlich unter denüblichen Zahlen im Deutschen Reich (5%, bzw. 13%).Als überwiegend katholisch geprägte Stadt blieb Sieg-burg bis zur Machtergreifung eine Hochburg des Zen-trums.

Am Morgen nach der Reichstagswahl, am 6. März 1933,wurde auch am Siegburger Rathaus die Hakenkreuz-fahne gehisst. Noch protestiert Bürgermeister Becker,doch wurde er, angeblich auf eigenem Wunsch hin, be-reits zum Monatsende beurlaubt, nachdem zuvor schonSchlüsselstellen von Verwaltung und Polizei personellausgetauscht worden waren.

Die Rheinische Zellwolle AG

Die NS-Zeit

1928 hatten die Bemberg AG Barmen [heute Wupper-tal] und die Stadt Siegburg einen Vertrag über die Er-richtung eines Werkes zur Kunstseidenherstellung ab-geschlossen. In dem neuen Werk sollten ca. 1.600 Ar-beitsplätze geschaffen werden, eine positive Zukunfts-vision für die von Arbeitslosigkeit gebeutelte Bevölke-rung. Die Werksgebäude werden in den Jahren 1928-1929 errichtet (heute Kaufland, Wilhelm-Ostwald-Straße); Produktionsbeginn sollte Ende 1929 sein, dochdazu kam es nicht. Da die Bemberg AG ab Mitte 1929wirtschaftliche Einbußen zu verzeichnen hatte, wurdendie Gebäude nach ihrer Fertigstellung, „vorerst“ wie eshießt, nicht mit Maschinen bestückt. Bedingt durch diebald darauf eintretende Weltwirtschaftskrise wurdedas Werk trotz intensiver Bemühungen der Stadt nichteröffnet. Lediglich den markanten, 55m hohen Turm,der als firmeneigener Wasserturm genutzt werden soll-te, verdankt die Stadt dieser versuchten Industrieansied-lung.

Die Bemberg AG

Blick von Wolsdorf auf die Phrix, Mitt 1950er Jahre

Mit „Tschingderassa-Bum“ zum Kreishaus

Aufmarsch in der Kaiserstraße heute steht hier der Kaufhof

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In der NS-Zeit wurden in den Stadtverwaltungen eige-ne sog. „Judenkarteien“ angelegt. Hier wurden nicht nurdie Mitglieder der Synagogengemeinden erfasst, son-dern alle, die nach der NS-Rassegesetzgebung als „Ju-den“ definiert wurden. In Siegburg waren das 408 Per-sonen. Von ihnen konnten 176 durch Flucht erfolgreichder NS-Vernichtungsmaschinerie entkommen, alle an-dern wurden ermordet. Hinter diesen nüchternen Zah-len verbirgt sich unglaubliches Leid, aber auch die Ver-nichtung eines großen kulturellen Erbes.

Natürlich fand die „Reichskristallnacht“, übrigens eineWortschöpfung aus der Bevölkerung und keinesfallsaus dem NS-Sprachgebrauch stammend, auch in Sieg-burg statt. Am 10. Oktober 1938, gegen 6.10 Uhr wurdeFeuer in der Siegburger Synagoge gemeldet und dieFeuerwehr benachrichtig. Sofort rückte ein Löschzugaus, aber nicht, um, wie üblich, den Brandherd zu lösch-en, sondern lediglich, um die angrenzende Bebauung

vor einem Übergriff der Flammen zu schützen. Dasheißt, keine offizielle Hand rührte sich, das Gotteshausder jüdischen Gemeinde zu retten. Einige beherztejüdische Männer drangen über die angebaute jüdischeSchule in den Innenraum ein und retteten die Thora-rolle, das Herz einer jeden jüdischen Gemeinde. Sie wirdheute in der Synagoge von Haifa aufbewahrt.

Das Synagogengebäude brannte völlig aus. Die ausge-glühten Ziegelsteinmauern wurden in den nächstenJahren abgerissen, aus einem Schriftwechsel aus demJahre 1943 wissen wir, dass sie zwischenzeitlich nieder-gelegt worden waren.

Die bei fünf jüdischen Geschäften zerschlagenen Schau-fensteranlagen nehmen sich gegenüber der bewusstenVernichtung der Synagoge fast nebensächlich aus. Aberauch dies verbreitete bei den betroffenen Familien undFreunden natürlich Angst und Schrecken, zumal trotzdes Lärms und Klirrens der zerspringenden, großenGlasscheiben keine Polizei ausrückte.

Der Untergang der jüdischen Gemeinde

Versteckt fotografierte ein Siegburger die Deportationder letzten Jüdinnen und Juden aus Siegburg.Diese, in der Geschichte des Holocaust einmaligenBilddokumente, hängen heute unter anderem auch in Washington, im Holocaust Museum und in Jerusalem, im Holocaust Memorial Museum.

Siegburg von Norden. Sepiazeichnung Adolf Wegelin, um 1845

Die ehemalige jüdische Schule in der Holzgasse, Aufnahme 1963 Blick auf den Thoraschrein in der Siegburger Synagoge, 1900

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Während sich die Lage im Januar für die Bevölkerungwieder etwas beruhigte, brachten ab Februar die letz-ten drei Kriegsmonate im Wortsinn „ein Ende mitSchrecken“. Von nun an war die Stadt fast laufend dasZiel von Tieffliegern und von Jagdbomberangriffen, beidenen es immer wieder Tote gab. Die Menschen wur-den abgestumpft, kaum noch spürte man die Angst.Man sah die zerstörten Häuser, man hörte von totenMitbürgern und man wartete. Der nächste größereAngriff erfolgte am 10. Februar. Acht Jagdbomber kreis-ten über dem Stadtgebiet und warfen über der Stadt-mitte und über dem westlichen Stadtviertel 21 Spreng-bomben, davon 2 Blindgänger ab. 4 Häuser wurdentotal zerstört, 8 Häuser schwer und etwa 200 leicht be-schädigt. Getroffen wurden u. a. die Schule an der BonnerStraße, der Güterbahnhof, das Postamt und erneut dasReservelazarett auf dem Michaelsberg, das bereits am28. Dezember 1944 schwer getroffen worden war.Nunmehr folgten die Angriffe Schlag auf Schlag. Hinzuverbreiteten Tiefflieger Angst und Schrecken, indemsie mit Bordwaffenbeschuss die Bevölkerung auf denStraßen „wie Kaninchen jagten,“ so die Zeitzeugen.

Am 6. März wurde die Kreisstadt von drei Angriffs-wellen heimgesucht, wobei die geschätzte Anzahl derabgeworfenen Bomben vielleicht den Horror wider-spiegeln kann, wenn man sich den Aufwand vergegen-wärtigt, der heutzutage aufgeboten wird, wenn mannur eine Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg beiBaumaßnahmen irgendwo im Stadtgebiet findet:

Eine nicht festgehaltene Anzahl von Bombern ließgegen 3.30 Uhr am frühen Morgen den ersten Bomben-teppich niedergehen, kurz darauf folgte ein zweiterund gegen 16.00 Uhr ein dritter Abwurf. Über 600 Spreng-bomben, 300 Phosphorbomben und 2.000 Stabbrand-bomben wurden gezählt. Die Schäden waren immens.Das Langhaus der Abteikirche wurde völlig zerstört.200 Gebäude wurden mittelschwer beschädigt, wie esin der Behördensprache jener Zeit heißt, 800 leicht. 20Großbrände, 30 mittlere Brände und 20 Kleinbrändemussten gelöscht werden. 35 Personen kamen ums Le-ben, 12 wurden schwer verwundet. Erschwert wurdendie Löscharbeiten durch die teilweise Zerstörung desWasserleitungssystems, so dass es an Löschwassermangelte.

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Während in anderen Regionen Deutschlands der Bom-benkrieg bereits seit 1942 Städte vernichtete und zahl-lose Menschen in den Tot riss, blieb Siegburg, von eini-gen kleineren Angriffen abgesehen, bis Anfang 1944weitgehend vom Luftkrieg verschont. So erregten diewenigen Bombenabwürfe in den Jahren 1941-1943 be-sonderes Aufsehen, vor allem wenn ein so stadtbekann-tes Objekt wie die erst wenige Jahre zuvor eingeweihteAutobahnraststätte zerstört wurde (6.4.1942). Die weni-gen Bombenopfer – im Jahr 1943 drei Personen, imVergleich dazu starben im selben Jahr in Wuppertal ineiner Bombennacht 3.900 Menschen – waren nament-lich bekannt und wurden zum Teil sogar in einer gro-ßen nationalsozialistischen Inszenierung auf dem Marktam Kriegerdenkmal öffentlich aufgebahrt. Lediglichdrei Gebäude wurden bis Ende 1943 als Totalverlust ineine bei der Stadtverwaltung geführten Liste überBombenschäden eingetragen. Zwar war die Stadt hinund wieder angegriffen worden, auch gab es seit 1943regelmäßig mehrmals am Tag Fliegeralarm, aber da sogut wie nie Menschen- und/oder Sachschaden zu be-klagen war, kehrte immer wieder schnell der Alltag ein.Erst im September 1944 brach auch über Siegburg dasKriegsgeschehen mit aller Macht herein.

Die Angriffe vervielfältigten sich, die Opferzahlen schnell-ten in die Höhe und das Grauen steigerte sich. 2 Toteund 18 Verletzte gab es am 23. Dezember 1944, als 10feindliche Flugzeuge nachmittags über dem südlichenTeil des Stadtgebiets 11 Sprengbomben abwarfen. Ver-mutlich sollte der Hauptbahnhof ausgeschaltet werden,aufgrund von Zielabweichungen wurde nur der Zug-verkehr vorübergehend unterbrochen.

Am 28. Dezember, mittags um kurz nach 13.00 Uhr, er-folgte ein Großangriff mit über 100 Maschinen in zweiWellen aus südöstlicher Richtung. Es wurden ca. 360Fünf- und Zehnzentner-Sprengbomben abgeworfen.Dazu kamen ca. 150 Phosphorbomben und etwa 1.000Stabbrandbomben. Die Bevölkerung hatte 66 Tote zubeklagen, zusätzlich starben 11 Wehrmachtsangehöri-ge, 50 Menschen wurden schwer, 200 leicht verwundet.In diesem Angriff wurden nicht nur die alte evangeli-sche Pfarrkirche in der Georgstraße, viele Häuser umden Markt herum und in der Mühlenstraße zerstört,sondern auch die Abtei erhielt erste, schwere Beschädi-gungen.

Die Stadt im Bombenkrieg

Die zerstörte Abteikirche Der Propeller eines abgestürzten Bombers auf dem Alten Friedhof

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Diesem Wohnraumverlust stand auf der anderen Seiteeine größer gewordene Bevölkerungszahl gegenüber.Nicht erst in der Nachkriegszeit mit den Flüchtlings-strömen aus der Vertreibung, sondern bereits seit 1943/44 durch Flüchtlinge aus den westlichen Gebieten desehemaligen Reiches, war die Bevölkerung um ca. 25 %angewachsen. In Zahlen heißt das, dass sich zum Kriegs-ende ca. 5.000 Menschen mehr in der Stadt aufhieltenals im Jahre 1939; für die meisten von ihnen war voneinem „Wohnen“ nicht zu reden. Aber sie hatten über-lebt und zusammen mit den alteingesessenen Siegbur-gern gingen sie in der Nachkriegszeit an den Wieder-aufbau ihrer alten oder eben auch neuen Heimat.

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Zu dem Leid paarte sich die Not. Seit Mitte Februar1945 gab es in Siegburg kein Fett, keine Nährmittel,kein Salz, keine Kartoffeln, keine Textilien, keine Schuhe,keine Kohlen, keine Seife und keine Waschmittel mehrzu kaufen. Natürlich fehlte es auch an Baustoffen, umdie Bombenschäden zu beseitigen, und selbst kleineReparaturen im Freien wurden durch ständige Tief-fliegerangriffe vereitelt.

Die Frühjahrsaussaat, auf die man große Hoffnung ge-setzt hatte, fiel zum großen Teil durch den Mangel anSaatgut aus, aber auch hier galt dasselbe, wie bei denReparaturarbeiten in der Stadt. Selbst die, die noch ver-suchten, kleinere Arbeiten auf den Feldern auszufüh-ren, wurden durch die ständigen Tieffliegerangriffe –im günstigen Falle – verjagt, sonst erschossen; denn dieJagdbomber scheuten sich nicht, einzelne pflügendeBauern auf den Feldern als Ziel auszumachen und zubeschießen.

Seit März 1945 lag zusätzlich noch kontinuierlichesArtilleriefeuer der nun nachgerückten Front auf derStadt. Am 9. April 1945, um 6 Uhr in der Frühe über-querten die ersten Amerikaner des 303. Regiments der97. Amerikanischen Infanteriedivision im Bereich desDeichhauses die Sieg. Der Sturm auf Siegburg hattebegonnen. Die Bevölkerung flüchtete sich im Hagel derGeschosse in die Splittergräben rund um den Michaels-berg, in die Keller und in die in den Michaelsberggegrabenen, unfertigen Schutzhöhlen. Der Widerstandwar schwach, trotzdem dauerte die Einnahme der Stadteinen ganzen Tag. Die letzten Kampfhandlungen wa-ren am Abend des 10. April 1945 beendet. Einige deut-sche Granaten fielen noch in die Stadt ohne großen Scha-

den anzurichten. Die Kriegswalze war über Siegburg hin-weggerollt.

Die Schäden in Siegburg waren schwer. 850 Gebäude,d. h. 25 % des gesamten Gebäudebestandes im Stadt-gebiet, waren total zerstört, 1.000 Gebäude (32 %) wa-ren schwer und 1.300 Gebäude, d.h. rund 40 % leichtbeschädigt. Insgesamt waren mehr als 2.000 Wohnun-gen unbewohnbar geworden. Trotzdem war man gutweg gekommen, denn andernorts – zum Beispiel inKöln, Wuppertal und in den Industriegebieten – be-klagte man Totalverluste jenseits von 70-80 % der ge-samten Baumasse.

Bombentrichter auf dem Schulhof der heutigen Humperdinck-Schule Amerikanische Soldaten bei der Einnahme Siegburgs in der Alleestraße

Volkssturmmänner als letztes Aufgebot, die Heimatfront zu halten.Foto auf dem sog. „Thingplatz“, heute Mühlentorplatz, Anfang 1945

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„In der Nacht vom 29. zum 30. November 1946 er-schien auf unerklärliche Weise an zwölf verschiedenenStellen im Zentrum von Siegburg das Wort ‚Hunger‘.Der Fall wurde jedoch auf der Gerichtssitzung der Kon-trollkommission am 7. Januar 1947 aufgeklärt. Die Polizei-wachtmeister Kraft und Thiel beschrieben die Ereig-nisse, die zur Festnahme des Karl Benghaus, 32 Jahrealt, des Wilhelm Böttner, 22 Jahre und Karlheinz Nette-koven, 22 Jahre, alle aus Siegburg, führten. In freiwilli-gen Aussagen bei der Kriminalpolizei gaben sie zu, inder fraglichen Nacht mit Farbtopf und Pinsel versehen,losgezogen zu sein. Die drei Vorgenannten wollten mitdieser Tat gegen die Handlungsweise der deutschenhöheren Stellen in Bezug auf die Lebensmittellage pro-testieren... Die Angeklagten wurden zu sechs MonatenGefängnis mit Wirkung vom 7. Januar ab verurteilt.“

„7.000 Männer hat Siegburg, denen neun Anzüge zurVerfügung standen. Außerdem sind ausgegeben: 20Röcke, 38 Hosen, vier Arbeitsanzüge für Männer, 96Kleider für Frauen und vier Nachthemden für Frauen,drei Wintermäntel, 17 Winterkleider, 42 Sommerklei-der, 28 Hemden, 97 Paar Strümpfe für Mädchen; neunHöschen, 58 Jäckchen und 418 Windeln für Säuglinge,12 Bettlaken, 14 Kopfkissen. Für die bis jetzt weit über5.000 vorliegenden Anträge wurden verteilt: 331 PaarSchuhe für Männer, 110 Paar für Burschen, 507 Paarfür Frauen, 1.229 Paar für Kinder bis Größe 35, 593 PaarArbeitsschuhe für Männer und 144 Paar für Frauen.Für Gebrauchs- und Haushaltungsgegenstände wurdenBezugsscheine ausgestellt: 18 Öfen, 1 Haushaltseimer,117 Kochtöpfe, 17 Fahrräder, 5 Kinderwagen und 6 Wasser-kessel. ...“

Es fehlte am Notwendigsten und das Wenige mussteab Anfang 1946 auch noch mit den hinzukommendenFlüchtlingen und Vertriebenen geteilt werden. In Zah-len: Es strömten täglich zwischen 300 und 400 Menschenin das in Troisdorf eingerichtete Auffanglager, gesamtbis Ende 1946 in den damaligen Siegkreis rund 12.600Personen.

„Die Not und das Elend unter den Flüchtlingen hatsich vermehrt. [...] Es ist tief bedauerlich, dass man die-se halbverhungerten Menschen ohne Kleidung und Wäschein den Landkrei sen zusammenpfercht und keinerlei Hil-fe gewährt, klagte die Kreisverwaltung. Etwa zwei Fünf-tel der Flüchtlinge besaßen weder Schuhe noch Strümpfe.Nahezu alle Flüchtlingskinder trugen nur selbstgemachteStoffpantoffeln oder Holzsandalen“.

Ende 1948 gab im Siegkreis noch rund 1.600 Notunter-künfte, aber dank Währungsreform und der dadurchin Gang gekommenen Wiederbelebung der Wirtschaft,besonders aber auch dank der Tatkraft der Bevölke-rung, die froh war, das Inferno des Krieges überlebt zuhaben, wurde das Leben für alle erträglicher und baldauch besser.

ie Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmittelnwar fast unmöglich, da fast sämtliche Vorräte er-schöpft waren. Das Transportwesen war vollständig

zum Erliegen gebracht, denn die Reichsbahnstrecken wa-ren durch Brücken- und Schienensprengungen unter-brochen. Die Strecken Köln – Troisdorf – Siegburg – Gieß-en, die Bahnstrecken des Bröl- und Aggertales konntennicht befahren werden. Die gleichen Verhältnisse erga-ben sich bei den elektrischen Bahnen Bonn-Siegburg undSiegburg-Zündorf. Durch Benzinmangel fehlte der Brenn-stoff für die Kraftwagen. Ein wesentlicher Teil der Ver-kehrsstraßen war durch Bombentrichter unterbrochen.Gerade die Verkehrsschwierigkeiten bewirkten eine fast voll-ständige Lahmlegung aller Zufuhren an Lebensmitteln,Brennmaterial und sonstigen Gegenständen des täg-lichen Bedarfs. Die Straßen der Stadt lagen voller Trümmer

und waren teilweise gesperrt. Die Wasser-, Gas- und Strom-versorgung versagte vollständig infolge der Bombenschä-den und der Zerstörungen durch den Artilleriebeschuß.Häuser und Wohnungen, zahlreiche Geschäftslokale, Werk-stätten und Fabriken waren zum großen Teil zerstörtoder beschädigt. Die meisten Betriebe ruhten, die Bevölke-rung war fast ohne Arbeit und Brot. Trümmer überalldort, wohin man nur blickte. Und mehr noch lastete dieZertrümmerung, das Zerschlagen des deutschen Geis-tes, der ideellen Güter und Werte. Volk und Land wa-ren zu einer einzigen Ruine geworden. Das war das Erbeder seit 1933 betriebenen Machtpolitik des Dritten Reiches!

So der Bericht der damaligen Stadtarchivarin Dr. MariaGeimer.

-IX-KAPITEL

DIE STADT AM KRIEGSENDE

D

Hunger und NotDER WEG INS WIRTSCHAFTSWUNDER

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Als „lokalgeschichtlich folgerichtigen Entwicklungspro-zesses und keineswegs als eine kommunalpolitischeKonstruktion, die ein mehr als 30 Jahre zurückreichen-des Bemühen abschließt“, bezeichnete StadtdirektorDr. Gerhard Kersken in der „Denkschrift zur Einglie-derung eines Teiles der Gemeinde Braschoß in dieStadt Siegburg“ 1956 die nunmehr vollzogenen Ein-gemeindungen der heute zu den bevorzugten Wohnla-gen Siegburgs gehörenden Stadtteile.

Das Stadtgebiet, bisher auf die Siegniederung begrenzt,erfuhr damit eine Erweiterung auf die erste Höhenstufedes Bergischen Landes.

Die Bewohner von Seligenthal und Münchshecke hat-ten sich allerdings vehement gegen die Eingemeindunggewehrt, so dass sie erst einmal beim Amt Lauthausenblieben. Erst bei der Kommunalreform 1969 wurde Seli-genthal dann Siegburg zugeschlagen, während die Münchs-hecke zu Hennef kam.

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In der Siegburger Presse erschienen seit Mitte 1948 keineBerichte mehr über Lebensmittelengpässe; am 2.9.1948wird sogar von einem Überangebot auf dem Obst- undGemüsemarkt berichtet – der Weg ins „Wirtschafts-wunder“ begann.

Die 1950er Jahre sind, wie fast allerorts, dem Wieder-aufbau gewidmet. Allerdings werden in Siegburgdamit nicht, wie anderen Städten, die historisch ge-wachsenen Strukturen zerschlagen. So verschwindenzum Beispiel Bebauungsvorschläge zum oberen Teildes Marktplatzes mit völlig neuen Fluchtlinien undneu geplanten Bauzeilen in Richtung Platzmitte, nichtzuletzt auf Grund der empörten Reaktion der Bevöl-kerung, rasch wieder in den Schubladen.

Der Zuzug durch Vertriebene aus den Ostgebieten undFlüchtlinge aus der sogenannten „SBZ, der Sowjet-ischen Besatzungszone“, belebte den Bau von Sied-lungshäusern. Auf dem Stallberg wird die in den 1920erJahren begonnene Siedlung im Bereich WinterbergerStraße und Deutzer Hof-Straße aufgefüllt und derMarienfried, eine Siedlung in Wolsdorf, entsteht neu.Auch auf dem Brückberg, in der nunmehr ehemaligen„DAF-Mustersiedlung“, ging es weiter und auf demBauplatz des HJ-Heims wird die Kirche St. Josepherrichtet.

Über allem aber thront die Abtei, das WahrzeichenSiegburgs, vom Krieg schwer getroffen, doch Abt Ilde-fons Schulte Strathaus hatte, als er im Mai 1945 in seinzerstörtes Kloster zurückgekehrt war, seine Entschei-dung ganz im Sinne des abteilichen Wahlspruchesgetroffen: „In der Hoffnung liegt unsere Stärke“. Erbegann, zusammen mit seinen Mitbrüdern, den Wie-deraufbau. Er wurde als „Abt mit der Schüppe in derHand“ geradezu zum Symbol des Aufbauwillens nachden Verheerungen des Zweiten Weltkriegs.

Die Nachkriegszeit

Die Eingemeindungen von Braschoß, Schreck und Kaldauen 1956

Bilder aus den 1950er bis 1960er Jahren, bevor Kaldauen ein völlig neues Gesicht bekam.

Von den Hügeln oberhalb von Kaldau-en fotografierte Herrmann Josef Gerlach1956 das Siegtal mit Blick auf Siegburg.

1. Oktober 1956, das neue Ortsschildwird angebracht.

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Waren in den 1950er Jahren mit dem Neubau des vomVolksmund sogenannten „Backfischaquariums“, demGymnasium Alleestraße, noch die baulichen Investi-tionen der öffentlich Hand überschaubar, bestand imdarauffolgenden Jahrzehnt die Gefahr, alle gewachse-nen Stadtstruktur dem Abrissbagger zu überantworten.

Es entstand ein neues Rathaus an der Stelle, wo einstdie Stadtburg stand. In unmittelbarer Nachbarschaftfiel das 1882 erbaute städtische Krankenhaus und wur-de in verschiedenen Bauabschnitten bis 1966 vollstän-

dig neuerrichtet. Der spektakulären Sprengung in derInnenstadt, folgte 1970 eine weitere. Dieses Mal sinktdas Schiff der Annokirche in sich zusammen, man be-vorzugte den Neubau statt eines Sanierung des neogo-tischen Altbaus. An der Zeithstraße stadtauswärts ent-stehen neue Schulen und ein neues Hallen- und Frei-bad, alles Projekte, die die Bevölkerung gutheißt undmitträgt, doch bei einem Plan gibt es einen Aufschrei.

In den Jahren 1962-1966 wurde von Landesseite durcheine Arbeitsgemeinschaft ein Generalverkehrsplan fürdie Stadt erarbeitet, dessen Umsetzung eine Zerschla-gung der historischen Stadtstrukturen bedeutet hätte.

Umbau zu einer verkehrsgerechten Stadt? So sollte unter anderem eine Innenstadttangente als Hoch-straße um den Michaelsberg herumgeführt werden, diesogenannte Osttangente, mit einer vierspurigen, einerauf Stelzen stehenden Hochstraße unterhalb des Johannes-türmchens, auf der der Verkehr von der Mühlenstraßeabbiegend, um und über die Stadt und das Siegfeld brau-sen könnte. Daran anknüpfend, wird ein erster Entwurfzur Stadtkernsanierung erarbeitet, der ebenfalls zu einervölligen Neugestaltung der Stadt im Stil der 1960er Jahregeführt hätte: große Verkehrsflächen mit Hochhausblock-bebauung, für die Holzgasse zum Beispiel mit Nieder-legung der gesamten Altbebauung und Errichtung vonNeubauten bis in eine Höhe von 11 Geschossen.

Der Protest wird maßgeblich getragen durch die JungeUnion. Mitte des Jahres 1970 hat sich der Widerstand inder Stadt soweit etabliert, dass von Landesseite alle wei-teren Planungsversuche, Siegburg autogerecht umzu-gestalten, eingestellt werden. Auch die Arbeit an den Be-bauungsplänen zum Teilabriss der Stadt wird einge-stellt zugunsten eines Konzeptes, das die Kleinräumig-keit erhält und den Menschen in den Mittelpunkt stellt.Es entsteht nach und nach eine fast verkehrsfreie Innen-stadt mit viel Außengastronomie und einem verlocken-den Shopping-Angebot, das den Wandel von der Industrie-stadt, die Siegburg zur Zeit der Rüstungsbetriebe war,hin zur Dienstleistungsstadt augenscheinlich macht.

Die Annokirche nach der erfolgten Sprengung des Kirchenschiffs am 7. April 1970Ballspielende Schülerinnen auf dem Spielrasen vor den Pavillions des Gym-nasiums Alleestraße, um 1955

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Durch das Interesse der Kaufhof AG, sich in Siegburganzusiedeln, falls denn ein entsprechend gewünschtesgroßes Grundstück für einen Neubau zur Verfügunggestellt werden würde, bekamen die Planungen zueiner sich an gewachsenen Strukturen zu orientieren-den Stadtsanierungen Zeitdruck, denn die umliegen-den Städte standen als Ansiedlungskonkurrenten mitim Ring. In kürzester Zeit gelang es, Grundstücke zuerwerben oder eigene bereit zu stellen; so fielen das erstwenige Jahre zuvor im Bereich Kaiserstraße/Grimmels-gasse eingerichtete Heimatmuseum samt Stadtbüchereiebenso der Abrissbirne zum Opfer, wie der gesamte hin-tere Teil der Holzgasse. Hier entstanden die Strukturen,die das heutige Antlitz der Stadt prägen.

Natürlich ging diese Entwicklung nicht ohne große undkleine Proteste ab. Die Pflasterung in der Holzgasse wardabei ein ebenso immer wieder aufflammender Streit-punkt, wie die Frage, Marktplatz und Kaiserstraße nichtnur zu einer verkehrsberuhigten sondern zu einer Fuß-gängerzone umzugestalten. Letztendlich setzte sichdas Beharrungsvermögen der stadtplanerischen Visio-näre durch, und heute kann sich keiner mehr vorstellen,dass außer tausenden von Autos und Lastwagen auchnoch öffentliche Busse um die, sich auf der Innflächedes Platzes zusammengedrängten Marktstände, brausten.

Der neue Werbeslogan entstand:

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Wenn auch die Gefahr der Stadtzerstörung zugunstendes wachsenden Verkehrsaufkommens – mit all´ seinenProblemen bis heute – gebannt war, konnte nichts da-rüber hinweg täuschen, dass die Kreisstadt Siegburg inder Gefahr war, ihre zentralörtliche Bedeutung zu ver-lieren. Großflächige Verkaufsflächen oder gar Neubau-flächen zur Ansiedlung einer Kaufhauskette konnten inder Kernstadt ebenso wenig angeboten werden, wiemoderner Wohnraum und ausreichend Parkplätze.

Die Bilder zum 900-jährigen Stadtjubiläum zeigen in vie-len Bereichen eine heruntergekommene, sicherlich auchungepflegte, Bausubstanz einer eher verschlafen wir-kenden kleinen Stadt.

Eine Untersuchung nach dem 1971 in Kraft getretenen„Gesetz über städtebauliche Sanierungs- und Entwick-lungsmaßnahmen in den Gemeinden“ kam 1973 zu fol-gendem Ergebnis: „In der Stadt Siegburg ist schwerpunktmäßig der Stadt-kern zu sanieren, d.h. hier sollen städtebauliche Mißstän-de durch Beseitigung baulicher Anlagen und Neubebau-ung oder durch Modernisierung in den Bereichen Wirt-schaft, der Wohn- und Arbeitsstätten, des Verkehrs, derFreizeit- und Fremdenverkehrseinrichtungen geschaffenwurden. Bei der Sanierung ist auf die Erhaltung undAktivierung der historichen Werte zu achten. Bei demhistorisch wertvollen Stadtkern mit Michaelsberg, St.Servatius-Kirche, Marktplatz und angrenzenden Straßen-zügen ist laufender Unterhalt erforderlich.“

Die Stadtsanierung ab 1970

Siegburg ist schön!

Holzgasse, Kaiserstraße und Markt – Bilder aus der Fotodokumentation zur Stadtsarnierung, 1970

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Heute flanieren wir wie selbstverständlich durch dieneue Poststraße – oder hasten auch der nahen Abfahrts-zeit eines Zuges entgegen – damals begann für dieKommunalpolitik ein heftiges Verhandlen und Ringenhinter verschlossenen Türen, für die Kreisstadt das Bes-te bei dieser Streckenführung heraus zu schlagen. Unddas hieß: ein neues Bahnhofsgebäude in Siegburg zubekommen.

Mit dem Aufblühen der Stadt in der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts hatte Siegburg ein repräsentatives Bahn-hofsgebäude bekommen. Im Zweiten Weltkrieg war esteilzerstört und dann billig wiederhergestellt worden.Seit Anfang der 1960er Jahre versuchte die Stadt, mög-lichst zur 900-Jahrfeier zu einem Neubau zu kommen.Das gelang zwar erst ein Jahr später, aber ansehnlich wardiese „weiße Kiste“ im Baustil der 1960er Jahre nunwahrlich nicht. Und so entwickelte sich das Entree derStadt mehr und mehr zu einem Schandfleck. Dessen warman sich seitens der Stadtverwaltung durchaus be-wusst, aber der Anpack fehlte – und der war nun da!

Entgegen den üblichen Gepflogenheiten der Bundes-bahn konnte die Stadt ihren Wunsch-Architekten durch-setzen. Hartmut de Corné entwarf das Gebäude, dasdann auch so gebaut wurde. Vom ersten Spatenstich am2. Dezember 1997 bis zur Einweihungsfeier am 28. Sep-tember 2004 glich der Weg zwar mehr einem Hinder-nislauf, doch hier zählt nur das Ergebnis und das istjedem bekannt. Dabei entstand weniger ein Bahnhof,das heißt ein Gebäude, das nur der Abwicklung des Nah-

und Fernverkehrs gewidmet ist, als ein imposanter Multi-funktionsbau mit Ladenflächen und Büroraumange-boten bis hin zu Arztpraxen.

Das repräsentative Gebäude, an das sich ein Großkinoanschließt, wurde in eine völlig neue Verkehrsstruktureingebunden. Nach vorne, zur Stadt hin, entstand derEuropaplatz, der die Anbindung an die Fußgänger-zone in die Innenstadt bringt, stadtauswärts, zum Stadt-teil Zange hin, entstand mit der Konrad-Adenauer-Alleeein völlig neuer Straßenzug.

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er Startschuss zu einer Siegburger Neustadt, denICE-Bahnhof und das S-Carré weitläufig umfas-send, bildete die Entscheidung des Bundestags am

20. Dezember 1989, die schon seit den 1970er Jahren invielen Planungsspielen bedachte und abgewogeneStreckenführung für die neue Hochgeschwindigkeits-bahn – kurz ICE-Strecke genannt – durchgehendrechtsrheinisch zu führen. Damit ergab sich für Sieg-burg die Möglichkeit, das Entree der Stadt völlig neuzu gestalten und natürlich aufzuwerten.

-9 1/2-KAPITEL

VON DEREINKAUFSSTADT BIS HEUTE

D

Der ICE-Bahnhof

Der Europaplatz und die Konrad-Adenauer-Allee

EIN HALBES KAPITEL,ABER KEINE HALBE SACHE

In die Planung eines neuen Bahnhofs passend, aber vonden Zeitabläufen her eher zufällig zusammentreffend,entwickelte sich die gesamte Überplanung der Straßen-bereiche Neue Poststraße – An der Stadtmauer – AmTierbungert, eben des Areals, das heue als S-Carré um-schrieben wird. Dass hier die Stadt planerisch agierenkonnte, lag an der Privatisierung der Bundespost, dieim Rahmen ihrer Umstrukturierung ihre gesamten Lie-genschaften verkaufte und damit auch das in Siegburgin den 1920er Jahren bezogene Postgebäude in der Neu-en Poststraße. Erwerber war die Kreissparkasse, die sichdamit die Voraussetzung zu Erweiterungen ihres Haupt-sitzes schuf.

Wie immer, wenn ein in die Stadtsilhouette eingewach-sener Bau zum Abriss freigegeben werden soll, erhoben

sich viele Stimmen zum Erhalt dieses Identifi-kationsfaktors auf dem Weg zum Bahn-

hof. Der Denkmalschutz bzw. die Fra-ge, ob es sich hier um ein schutz-

würdiges Gebäude handelnwürde, stand im Raum. Was aber

nur noch die alten Siegburger-

innen und Siegburger wussten, war die Tatsache, dassdas Gebäude im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigtworden und vollständig ausgebrannt war. Nur dieAußenhaut mit dem großen Postadler war alt, aber zuwenig, um einen Denkmalschutz aussprechen zu kön-nen. 2003 wurde es, nachdem – wie die Zeitungen titel-ten – „der Adler ins Museumsmagazin geflogen war“,niedergelegt.

Bei der Außengestaltung wurde wiederum der Sieg-burger Architekt Hartmut de Corné mit eingebunden,und es entstand der moderne Baukomplex, extra mittigabgesenkt, so dass eine bisher nicht vorhandene Blick-achse aus diesem Bereich der Stadt gen Michaelsberggegeben ist.

In den neu errichten Gebäuden entlang der Straße Ander Stadtmauer zog im Erdgeschoss Gastronomie ein.Hier sitzen an warmen Tagen alte und junge Siegbur-gerinnen und Siegburger und genießen den Blick aufden zwar unhistorischen, aber wunderschönen See-rosenteich an der mittelalterlichen Stadtmauer.

Statt Wasserflächen war hier im Mittel-alter ein trockener Stadtgraben zumSchutz der Mauer angelegt worden.Im laufe der Jahrhunderte war er immerflacher geworden, da man hier – wieandernorts auch – den wenigen Müll,bestehend aus zerbrochenen Krügen

und Töpfen hineinwarf. Der Rest ver-schwand über den Kompost. Zur An-lage des Seerosenteichs wurde auf die-sen hochinteressanten, archäologischenFundkomplex einfach eine wasserdichteFolie aufgebracht, um sich kostspieligeGrabungskampagnen zu sparen.

Das S-Carré

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Noch ein städtisches Bauvorhaben soll im „halben Ka-pitel“ Stadtgeschichte, Raum finden. Hinter dem Rat-haus, stadtgeschichtlich visionär gesehen, hinter der Stadt-mauer, an der Stelle, wo einst die Stadtburg stand, er-bauten sich die Siegburger in den Jahren 2004-2005erstmalig in ihrer Geschichte eine eigene Stadthalle, dieRhein-Sieg-Halle.

Zwar gab es bereits seit 1964, seit der 900-Jahrfeier eineStadthalle, doch die stand als Schulaula in gemeinsamerNutzung mit dem Gymnasium Alleestraße. Das Foyerwurde zugleich als Pausenraum genutzt, kurz das Am-biente, den Charme der 1960er Jahre und der Schul-nutzung ausstrahlend, war nicht mehr so attraktiv,dass es die Siegburgerinnen und Siegburger so richtigdahin zog. Im September 2006 wurde das neue Kon-gress- und Veranstaltungszentrum, ein weiterer BauHartmut de Cornés, eröffnet und ist seither aus demstädtischen Kulturleben nicht mehr wegzudenken.

Die Rhein-Sieg-Halle Zwischen dem Stadteil Zange und der Kernstadt lagund liegt bis heute der Bahnhof. In früheren Zeiten wardie Rückseite des Stadtentrees unaufgeräumt und ganzdem Güterverkehr gewidmet. Mit dem neuen Bahnhofwurden diese Flächen bereinigt. Nun ziert eine Wasser-treppe mit Lavendelbeeten den Eintritt zum 1906 ein-gemeindeten Stadtteil.

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Am 8. November 2010 geschah das, was sich eigentlichkeiner in der Stadt hatte vorstellen können: Der Konventder Benediktinerabtei Michaelsberg gab in einer Erklä-rung bekannt, dass er sich auf Grund spiritueller Erloschen-heit auflösen würde. Zwar hatte bereits die auf eigenenWunsch des letzten Abtes Raphael Bahrs im Mai des Jah-res erfolgte Entpflichtung von seinem Amt erste Sig-nale gesetzt, dass es außer den wirtschaftlichen Schwie-rigkeiten, über die man zu sprechen bereit war, auchintern wohl Probleme gäbe, doch fast 950 Jahre einfachso wegwerfen? Keine Rückbesinnung auf den Wahl-spruch „In der Stärke liegt die Kraft“, wie es noch AbtIldefons nach den Kriegszerstörungen tat und mit Hilfeder Menschen in der gesamten Region ein beispiellosesAufbauwerk in die Tat umsetzte – nein, ein resignieren-des Schulterzucken ohne Kampfgeist und Verantwor-tungsbewusstsein, dem Neudeutschen „und Tschüss!“alle Ehre machend, stimmte die Mehrzahl der Kon-ventsmitglieder für das Ende, das dann auch noch ineiner großen Feier am 19. Juni 2011 begangen wurde.

Während der Pontifikalmesse versprach allerdings Erz-bischof Kardinal Joachim Meißner: „Der Michaelsbergwird nicht verweltlicht. Es ist Chefsache, hier obenwird wieder klösterliches Leben einziehen!“ Man warskeptisch am Fuße des Berges, doch der Nachfolger deshl. Annos hielt sein Versprechen. Am 23. Januar 2012gab er bekannt, dass ein Konvent der Gemeinschaft derUnbeschuhten Karmeliten auf dem Michaelsberg ein-ziehen würde. Wieder gab es eine große Feier, aber nunwar es ein Fest des Aufbruchs.

Seit dem 19. September 2013 beten und feiern 6 jungeindische Priester wieder auf dem Berg, getreu ihres Wahl-spruchs: „Berührt vom Herrn, um zu berühren!“ IhreHeimstatt ist aber nicht der große Gebäudekomplex,wo einst die Benediktiner residierten, sondern sie rich-teten ihren Karmel im ehemaligen Jugendgästehaus ein.

Mit einem zusätzlichen großen Neubau in Höhe desRosengartens wird voraussichtlich 2016 das Katholisch-Sozialen Institut seine Arbeit in den Räumen der Abteiaufnehmen und zusammen mit dem Karmel Michaels-berg gewährleisten, dass der Michaelsberg auch wei-terhin ein geistliches Zentrum bleibt, das nicht nur aufdie Stadt sondern weit darüber hinaus ausstrahlen wird.

Ein neues 1064

Erzbischof Kardinal Joachim Meißner konstituiert den Karmel Michaelsberg am 19. September 2013 erst in der Servatius-, dann in der Klosterkirche St. Michael, der ehemaligen Abteikirche.

Bildnachweis

Archiv der Stadt SiegburgHistorisches Archiv der Stadt SiegburgHolger ArndtRheinisches Bildarchiv KölnArchiv der Edition Blattwelt

Die Grafiken und Bilder von Reinhard Zado wurden für das Buch illustrativ verwendet. Die meisten Orginale sind danach noch weiter bearbeitet worden.