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Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
Deutschen Bundestages
1
Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa
I. Lehren aus der globalen Finanzkrise 2008ff und der Corona-Pandemie seit Ende 2019f
1. Die globale Finanzkrise 2008ff hat schmerzhaft gezeigt, dass zu wenig regulierte Banken und
zu weitgehend liberalisierte Finanzmärkte zu schweren wirtschaftlichen und sozialen
Zerwürfnissen führen können. Um den totalen Zusammenbruch der Finanzmärkte und damit
auch des Wirtschaftssystems zu verhindern, mussten viele Finanzinstitute mit öffentlichen
Geldern gerettet werden. Das hat das Haftungsprinzip – ein zentraler Grundpfeiler der
Marktwirtschaft – außer Kraft gesetzt. Selten wurden die Privatisierung der Gewinne und die
Sozialisierung der Verluste so augenfällig wie in der Finanzkrise.
2. Das seit Ende der 70er Jahre weltweit dominierende Credo der Liberalisierung,
Deregulierung und Privatisierung, das u.a. auf den Annahmen der Markteffizienzhypothese
und der Theorie der rationalen Erwartungen basiert, hat sich offensichtlich als sehr gefährlich
für die Volkswirtschaften dieser Welt erwiesen. Dieses Credo war darüber hinaus
verbunden mit einem allgemeinen Wachstums- und Wohlstandsversprechen, demzufolge
wie von Gottes Hand Wohlstand für Alle durch den „Trickle down Effekt“ (Automatisches
Durchsickern der Einkommenszuwächse von oben nach unten) bringen würde. Maßnahmen
zur Verringerung der Ungleichheit waren damit nicht nur unnötig, sondern wurden auch als
schädlich bezeichnet.
3. Ungleichheit wurde als Voraussetzung für erfolgreichen Wettbewerb, Innovationen und
mehr Wohlstand für Alle betrachtet. Umverteilende Eingriffe in das Marktgeschehen würden
hingegen nur zu einer Verzerrung der Leistungsanreize führen, zwangsläufig die
Arbeitsproduktivität senken und damit auch Investitionen reduzieren. Auch dieses
Glaubensbekenntnis hat sich als falsch erwiesen. Das Wachstum in Deutschland und Europa
war unterdurchschnittlich und die Ungleichheit in Deutschland und Europa hat
zugenommen: Allein in Deutschland hat die Ungleichheit der verfügbaren
Haushaltseinkommen seit Mitte der 90er Jahre bis zum Jahr 2015 deutlich zugenommen
(Anstieg des 90:10-Perzentilverhältnisses um fast 30%) und die Niedrigeinkommensquote hat
sich bis zum Jahr 2017 sogar von 10% auf über 15% erhöht1. Der langfristige Trend der
Spreizung der Markteinkommen konnte durch Steuern und Transfers zwar abgemildert, aber
nicht umgekehrt werden. Die Vermögenskonzentration gehört zu den höchsten in Europa.
Die regionalen Disparitäten in Deutschland zwischen dynamischen Groß- und Mittelstädten
mit Exklusionsgefahr, dem starken Umland, Deutschlands solider Mitte sowie den ländlich
geprägten Räumen in der dauerhaften Strukturkrise und den städtisch geprägten Regionen
im andauernden Strukturwandel nehmen ebenfalls zu2. Diese zunehmende Ungleichheit wird
mittlerweile – auch vom IMF, der OECD oder dem WEF – als Gefahr für die wirtschaftliche
Entwicklung gesehen3. Eine zunehmende Ungleichheit wirkt sich demnach deutlich negativ
1 DIW Wochenbericht, 19/2019, S.350
2 FES Disparitätenbericht – Ungleiches Deutschland, Für ein besseres Morgen, Bonn, 2019
3 Steffen Mau, Jan-Ocko Heuer, Wachsende Ungleichheit als Gefahr für nachhaltiges Wachstum – Wie die
Bevölkerung über soziale Unterschiede denkt, gute gesellschaft – soziale demokratie #2017 plus, FES, Bonn, 2016
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
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auf die Gesundheitsversorgung und die Bildungschancen der ärmeren Menschen aus. In
einer globalen, arbeitsteiligen Wissensökonomie wird der Talentepool Deutschlands –
insbesondere in Zeiten des demografischen Wandels – dadurch fahrlässig verkleinert. Die
höhere Ersparnisbildung der reicheren Haushalte führt – rückblickend – auch nicht zu mehr
Investitionen in die Realwirtschaft, sondern versandet eher in den renditeträchtigeren
internationalen Finanzmärkten. Dieser Trend schwächt gleichzeitig die gesamtwirtschaftliche
Nachfrage und bremst das Wachstum. Wachsende Ungleichheit ist auch politisch gefährlich,
denn viele wenden sich frustriert ab oder suchen nach vermeintlich einfachen, letztlich
radikalen politischen Alternativen. Aber nicht nur von unten wird die politische Stabilität und
der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet, sondern auch von oben: mit einer
zunehmenden Einkommensungleichheit und Vermögenskonzentration verschärft sich die
Gefahr der Herrschaft des Geldes. Die soziale Herkunft bestimmt zunehmend die Teilhabe-
und Aufstiegschancen der Menschen. Das ist sozial ungerecht.
4. Auch in Krisenzeiten verschlechtert dieses Credo eher die ökonomische und soziale Situation.
Entwicklungs- und Schwellenländer haben diese Erfahrung zur Genüge mit den
Strukturanpassungsprogrammen des IMF in der Vergangenheit gemacht: Kredite gab es nur,
wenn die Länder ein Sparprogramm auflegten, das am Anfang drastische staatliche
Ausgabenkürzungen: vor allem bei Gesundheit, Bildung und sonstigen Sozialausgaben und
Steuererhöhungen (front loading) vorsah, gefolgt von Liberalisierungs-, Deregulierungs- und
Privatisierungsmaßnahmen. Auch Griechenland musste im Rahmen des von der Troika (IMF,
EZB und Europäische Kommission) gesteuerten Griechenland-Rettungspaktes seit Mai 2010
ähnliche Erfahrungen machen. In der aktuellen Krise sollten diese Fehler nicht wiederholt
werden: Es ist offensichtlich nicht möglich, sich aus der Krise zu sparen. Es kann nur darum
gehen, aus der Krise herauszuwachsen. Denn bereits jetzt ist schon in der aktuellen Krise
klar, welche unverzichtbare, systemrelevante Bedeutung die öffentliche Daseinsvorsorge und
funktionierende sozialstaatliche Strukturen – als kollektiver Rettungsschirm – zum Schutz
gegen die großen Lebensrisiken Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter haben. Die Länder, die
auch ihren Gesundheits- und Pflegesektor in der Vergangenheit diesem Credo unterworfen
haben, leiden jetzt besonders stark unter dieser Krise (z.B. USA). Die Länder in Europa, die
als Folge der globalen Finanzkrise harte Austeritätspolitiken (Sparpolitiken) umsetzen
mussten, haben vor allem im Gesundheits- und Pflegesektor Kürzungen vorgenommen, die
sich jetzt rächen (z.B. Italien, UK)4.
II. Erste Schlussfolgerungen für den Neustart der Wirtschaft in Deutschland und Europa
1. Um den Neustart der Wirtschaft in Deutschland und Europa erfolgreich zu gestalten, ist es
erforderlich, eine neue Balance zwischen den Märkten und dem Staat zu finden, die oftmals
blinde Marktgläubigkeit kritisch zu hinterfragen und die wichtige Rolle des Staates in der
Wirtschaft anzuerkennen. Effiziente und regulierte Märkte und ein aktiver, handlungsfähiger
Staat sind nämlich zwei Seiten einer Medaille. Sie stehen – im Zusammenspiel mit einer
teilhabenden Zivilgesellschaft - für Wohlstand und Innovation für die Vielen und nicht die
Wenigen.
4 Transnational Institute (TNI), The Future is Public: Towards Democratic Ownership of Public Services,
Amsterdam, Paris, 2020. Seit dem Jahr 2000 gab es bereits insgesamt 1408 Rekommunalisierungen öffentlicher Dienstleistungen weltweit mit dem Ziel, den jahrzehntelangen Trend der Ökonomisierung (auf der Basis reiner Profitmaximierung) der öffentlichen Daseinsvorsorge zu brechen..
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
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2. Innovationen sind eine zentrale Triebfeder für wirtschaftliches Wachstum, Wohlstand,
Produktivität und Lebensqualität. Neue oder verbesserte Produkte und Dienstleistungen
können wirtschaftliche oder gesellschaftliche Bedarfe oft besser befriedigen und steigern
daher die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt. Die Produktion wird immer kapital- und
technologieintensiver, auch auf Kosten der Arbeit. Das allgemein steigende
Wohlstandsniveau brachte deshalb auch neue soziale Konflikte mit sich. Technische
Neuerungen sind zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für sozialen
Fortschritt. Erst durch soziale Innovationen5 wie den Aufbau von Gewerkschaften, der
Einführung sozialer Sicherungssysteme sowie betrieblicher und gesellschaftlicher
Vereinbarungen zur Humanisierung und Demokratisierung der Arbeitswelt, werden die
Vielen auch an den Produktivitäts- und Wohlstandsgewinnen beteiligt.
3. Ca. zwei Drittel aller Forschungsausgaben werden in Deutschland von privaten Unternehmen
getätigt, ca. ein Drittel vom Staat. Das staatliche Fördersystem ist sehr ausdifferenziert und
reicht von den thematischen Förderfeldern der Hightech-Strategie (missionsgetrieben) über
zahlreiche themenoffene Programme bis hin zu Maßnahmen zur Vernetzung und zum
Technologietransfer sowie der steuerlichen Förderung von FuE-Personalkosten. Generell gilt,
dass themenoffene und missionsgetriebene Innovationspolitik keine sich ausschließende
Alternativen, sondern ergänzende Ansätze sind. Eine strategische Innovationsförderung
nach dem Vorbild der amerikanischen Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) ,
die Technologien wie GPS, Touchscreens usw. hervorbrachte und von Google, Apple,
Facebook, Amazon (GAFA) verwertet und weiterentwickelt wurden6, ist bei der deutschen
und europäischen Innovationspolitik bislang nur in Ansätzen zu erkennen (u.a. , Horizon 2020
Programm). Auch im Vergleich zu den ambitionierten Zielvorgaben und der selektiven
Technologieförderung der chinesischen Innovationspolitik (z.B. Made in China 2025)
erscheint die deutsche und europäische Innovationsförderung als sehr themenoffen und zu
wenig strategisch.
III. Ziele für den Neustart der Wirtschaft in Deutschland und Europa
Eine nachhaltige Wirtschaftspolitik7 hält vier unterschiedliche Ziele im Blick:
1. Ökologische Nachhaltigkeit (Indikatoren: Treibhausgasemissionen, Primärenergieverbrauch,
Anteil der Erneuerbaren Energien am Endenergieverbrauch, Vogelindex): der CO2-neutrale
und ressourcenschonende Umbau unserer Wirtschaft, z.B. durch eine gesteigerte Energie-
und Rohstoffeffizienz, durch den Ausbau erneuerbarer Energien und klimaverträglicher
Antriebssysteme, durch Kreislaufwirtschaft und den Rückbau klimaschädlicher Produkte und
Subventionen;
2. Materieller Wohlstand und ökonomische Nachhaltigkeit (Indikatoren: Wachstum BIP pro
Kopf, Wachstum privater und öffentlicher Konsum, Erwerbstätigenquote der 20- bis 64-
Jährigen, Leistungsbilanzsaldo, Innovations- und Wettbewerbsindex): eine innovative und
stabile Entwicklung der Wirtschaft, die sich durch ein modernes Wettbewerbs- und
5 Daniel Buhr, Soziale Innovationspolitik für sozialen Fortschritt, FES, Bonn, April 2014
6 Mariana Mazzucato, Das Kapital des Staates: Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum,
München 2014. Die Autorin beschreibt umfassend den langen Atem und die Risikobereitschaft der staatlichen strategischen Innovationsförderung in den USA.. 7 IMK Report 153, Dezember 2019
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
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Beihilferecht, einer ökologischen Industriepolitik und strategische, langfristige Investitionen
in Dienste eines sozial-ökologischen Wandels auszeichnet.
3. Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und Staatsfinanzen (Indikatoren: struktureller Saldo des
potenziellen BIP, Schuldenstandsquote, Nettoinvestitionen in % des BIP): der Staat darf bei
der Erreichung der anderen drei Ziele weder seine langfristige Zahlungsfähigkeit noch die
öffentlichen Investitionen oder den öffentlichen Kapitalstock auf Kosten künftiger
Generationen gefährden.
4. Soziale Nachhaltigkeit (Indikatoren: Armutsrisikoquote in % der Bevölkerung, Verhältnis der
Einkommen der reichsten 20% zu den ärmsten 20%, Schulabgänger ohne Sek-II-Abschluss
oder weitere Ausbildung in %): die Stärkung des sozialen Zusammenhalts und der Abbau der
Ungleichheit durch die Schaffung von guter Arbeit, mehr demokratischen
Beteiligungsformen, starken und zugänglichen öffentlichen Diensten und Infrastrukturen;
Die Ziele in diesem neuen „magischen Viereck“ sind gleichberechtigt. Sie fassen Wohlstand deutlich
breiter als bisher und werden so zur Richtschnur für eine nachhaltige Wirtschaftspolitik. Alle
Maßnahmen, die jetzt für den Neustart der Wirtschaft in Deutschland und Europa ergriffen werden,
müssen sich an diesen Zielen messen lassen.
IV. Erste Empfehlungen für den Neustart der Wirtschaft in Deutschland und Europa
1. Das kurzfristige Stabilisierungs- und Rettungsprogramm in Deutschland als Reaktion auf die
Pandemie hat der Erhaltung der ökonomischen Substanz und der individuellen Kaufkraft
sowie der Funktionsfähigkeit der medizinischen Versorgung zu Recht oberste Priorität
verliehen. Das 540 Milliarden Euro schwere kurzfristige europäische Hilfspaket zur
Absicherung gegen Arbeitslosigkeit (SURE), für einen Garantiefonds bei der Europäischen
Investitionsbank (EIB) und erweiterte Kreditlinien für den Europäischen
Stabilitätsmechanismus (ESM) ist ein wichtiger Schritt auf europäischer Ebene zur
Stabilisierung der Wirtschaft in Europa. Die ergriffenen kurzfristigen Rettungsmaßnahmen in
Deutschland und Europa sind grundsätzlich richtig und zielführend gewesen, da sie
gleichzeitig und schnell auf den durch die Pandemie ausgelösten, simultanen Angebots- und
Nachfrageschock reagiert haben8.
2. Nun geht es darum, möglichst schnell ein Konjunktur-, Investitions- und
Transformationsprogramm zu entwickeln, das im Rahmen der Agenda 2030 für nachhaltige
Entwicklung und des Pariser Klimavertrages positive mittel- und langfristige Impulse für alle
oben dargestellten Nachhaltigkeitsziele gibt. Den Megatrends Digitalisierung,
Dekarbonisierung, Globalisierung, Migration, dem demografischen Wandel und veränderten
Lebensentwürfen wohnt jedem für sich genommen ein großes Veränderungspotenzial für
die Umwelt, Wirtschaft, Arbeit und Beschäftigung inne. Die durch die Coronavirus-
8 Bofinger et. al, Wirtschaftliche Implikationen der Corona-Krise und wirtschaftspolitische Maßnahmen,
10.03.2020: Der Angebotsschock führte zur Störung der globalen Wertschöpfungs- und Lieferketten, Störung der just-in-time-Produktion mit extrem niedrigen Lagerbeständen, der Nachfrageschock zur Störung der globalen Nachfrage nach deutschen Gütern, Störung des inländischen sozialen Konsums (Restaurantbesuche, Kultur usw.) und des inländischen Tourismus sowie zur Verunsicherung und Vorratssparen.
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
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Pandemie ausgelöste weltweite Krise ist auch eine Chance, diese Megatrends für eine neue
nachhaltige Wirtschaftspolitik zu nutzen.
3. Es liegt bereits eine Vielzahl von konkreten Maßnahmenvorschlägen vor, um das Konjunktur-
, Investitions- und Transformationsprogramm rechtzeitig, befristet und zielorientiert
anzustoßen. Sie reichen von Liquiditätshilfen (u.a. Abschreibungserleichterungen,
Gewährung von Investitionsabzugsbeträgen, Stundung fälliger Steuerzahlungen, Verlustvor-
und -rückträge) und Solvenzhilfen (u.a. Kosten der Sozialversicherungsbeiträge bei
Kurzarbeitergeld (teilweise) zu erlassen, Kurzarbeitergeld für Auszubildende, Teilabschaffung
des Solidaritätszuschlags, Senkung der Mehrwertsteuersätze) für Unternehmen im
allgemeinen über spezifische Hilfen für Branchen (u.a. Kaufprämien in der
Automobilindustrie, Beteiligung an strategischen Unternehmen der Luftfahrtindustrie), die
Senkung der Energiesteuern, die Stärkung der privaten und öffentlichen Investitionen etwa
in Bildung und Verkehrsinfrastruktur sowie die Ausweitung der digitalen Aus- und
Weiterbildung („e-learning“), um die Zeit von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit sinnvoll zu
nutzen, bis zur Stärkung des Konsums (u.a. Vor-Ort-Konsumgutscheine, gerechtere
Bezahlung im Niedriglohnbereich, höherer Mindestlohn, längere Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes), Ausweitung der Unterstützung von einkommensschwachen Familien
(u.a. Familiengeld, Erhöhung der Grundsicherungsleistungen)9. Diese konkreten
Maßnahmenvorschläge können im Sinne des hier skizzierten neuen magischen Vierecks
geordnet und priorisiert werden.
4. Auch die nachfolgenden Vorschläge sind natürlich unter Unsicherheit formuliert, da zum
einen die notwendigen Daten zur Entwicklung von Prognosen nur mit deutlichem Zeitverzug
zur Verfügung stehen und zum anderen der weitere Verlauf der Pandemie – zwischen
gesundheitspolitisch verantwortbaren Lockerungen des Lockdowns und dem Hochfahren der
Wirtschaft – ungewiss ist. Die weitere wirtschaftliche Entwicklung – nach dem bereits
absehbaren historischen Einbruch im ersten Halbjahr 2020 – kann deshalb von einer
schnellen Erholung bis zu einer lang anhaltenden Rezession reichen. Sie stellen aber
gleichzeitig sicher, dass eine grundlegende Modernisierung und Transformation der
Wirtschaft in Deutschland und Europa möglich ist.
4.1. Ökologische Nachhaltigkeit in Zeiten der Corona-Krise und Megatrends
1. Die Weichen für eine ökologische Industriepolitik in Deutschland und Europa, die auf
Schlüsseltechnologien wie z.B. die Batteriezellforschung10, Bioökonomie, Künstliche
Intelligenz, Wasserstoffforschung, Luft- und Raumfahrt sowie Speicher- und
Quantentechnologie der zukünftigen strategischen Leitmärkte setzt, müssen jetzt gestellt
werden, mit dem Ziel einer größtmöglichen Marktdurchdringung von wirksamen
Umweltinnovationen. Durch gezielte Berücksichtigung von innovativen Produkten oder
Dienstleistungen im öffentlichen Beschaffungsprozess kann die Einführung und
Weiterentwicklung neuer Technologien auch nachfrageseitig gesteigert werden. Auf
9 Spiegel online, 22.5.2020, Kampf gegen Corona-Folgen, Wirtschaftsweise lehnen Autokaufprämie ab.
10 Wirtschaftsforum der SPD, Wege in den Neustart – Weichen für die Zukunft stellen, Berlin April/Mai 2020.
Die Europäische Batterieallianz ist Teil des Programmes „Important Projects of Common European Interests (IPCEI) und ermöglicht eine beihilfefreie finanzielle Unterstützung von Unternehmen und Clustern europäischer Technologiekooperation.
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
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europäischer Ebene muss es das Ziel sein, durch gemeinsame, koordinierte
industriepolitische Projekte zu Umwelttechnologien sowohl zu einer gleichmäßigeren
Verteilung der technologischen Kapazitäten beizutragen als auch zukunftsfähige Industrien
insgesamt zu fördern.
2. Der Ausbau der erneuerbaren Energien muss beschleunigt werden, insbesondere aber der
Ausbau des Leitungssystems und von Speichermöglichkeiten. Außerdem muss in die
Wasserstoffwirtschaft investiert werden, vor allem weil synthetische Energieträger in großen
Mengen auch langfristig gespeichert werden können. Mit Blick auf die Sektorenkopplung,
also die Nutzung von Strom aus erneuerbarer Energie im Wärme- und Verkehrsbereich,
sollten die rechtlichen Rahmenbedingungen so verändert werden, dass die bereits jetzt
verfügbaren Technologien wirtschaftlich rentabel werden. Durch Bürgerwindparks soll auch
eine größere Teilhabe an „Windrenditen“ für Kommunen und Anwohner_innen ermöglicht
werden, um die Akzeptanz der Windenergie zu fördern
3. Die Mobilitätswende11 muss endlich eingeleitet werden: u.a. durch den beschleunigten
Umstieg vom PKW auf ÖPNV und den Radverkehr, die Verlagerung von der Straße auf die
Schiene; den Ausbau des europäischen Schienenfernverkehrsnetzes, um Alternativen für
Kurzstreckenflüge zu schaffen, den Umstieg auf umweltfreundliche Antriebssysteme, wie die
rasche Elektrifizierung des Individual- und Lieferverkehrs und die Erprobung der
Wasserstofftechnologie im Schwerlastverkehr; durch die Einrichtung eines Zukunftsfonds für
eine neue Mobilitätsinfrastruktur mit denen die Kommunen bei der Mobilitätswende
unterstützt werden. Und schließlich muss ein Strategiedialog in der Automobilbranche
zwischen Gewerkschaften, Unternehmen und Verbänden sowie dem Staat mit dem Ziel
initiiert werden, Eckpunkte für den Umbau der Fahrzeugindustrie festzulegen, um die
Wettbewerbsfähigkeit und arbeitsmarktpolitische Bedeutung dieser Schlüsselindustrie zu
erhalten und sie gleichzeitig in die Mobilitätswende einzupassen.
4. Die Wärmewende im Gebäudesektor muss mit geeigneten Maßnahmen flankiert werden.
Um zu verhindern, dass die energetische Modernisierung des Wohnungsbestandes zu
weiteren Verdrängungsprozessen auf den Mietmärkten führt, soll eine sozial gerechtere
Umgestaltung der Modernisierungsumlage erreicht werden.
5. Die Emissionen in der Landwirtschaft sollen durch die gezielte Förderung einer ökologischen
Produktionsweise aber durch die Vermeidung von Lebensmittelabfällen reduziert werden.
Die gemeinsame Agrarpolitik der EU muss konsequent auf eine ökologische Landwirtschaft
ausgerichtet werden.
6. Die Digitalisierung muss auch ökologisch gestaltet werden, d.h. nicht nur die schädlichen
(Rebound)-Effekte sind einzudämmen, sondern durch eine offensive „öko-digitale“ Strategie
vor allem in den Sektoren Energie (intelligente Netzsteuerung, Effizienz, Integration
erneuerbare Energie), Verkehr (Sharing, Kombinierbarkeit von Verkehrsmitteln, Leitsysteme)
und Landwirtschaft (Reduzierung des Schadstoffeintrags, Anbau von Mischkulturen,
Förderung des Tierwohls) gezielt digitale Innovation und ökologischer Wandel miteinander
zu verknüpfen.
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Ingo Kollosche, Oliver Schwedes, Mobilität im Wandel, Transformationen und Entwicklungen im Personenverkehr, FES, Bonn 2016
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
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7. Mittelfristig sollte der europäische Emissionshandel auf alle Sektoren ausgeweitet werden,
verbunden mit der Abschaffung der bestehenden Ausnahmen (z.B. für den Flugverkehr) und
kurzfristig eine europaweite C02-Abgabe in allen Sektoren eingeführt werden. Ein
Abwandern industrieller Wertschöpfung (Carbon Leakage) muss ggf. durch die Einführung
eines CO2-Grenzsteuerausgleichs an den Außengrenzen der EU verhindert werden. In dieses
Paket gehört auch eine grundlegende Reform des Energiesteuersystems in Deutschland. Die
aktuell hohe Belastung von Strom aus erneuerbaren Energien mit Steuern und Umlagen im
Vergleich zu fossilen Energieträgern steht einer sektorenübergreifenden Energiewende im
Weg und belastet die einkommensschwachen Haushalte überproportional.
4.2. Ökonomische Nachhaltigkeit in Zeiten der Corona-Krise und Megatrends
1. In internationalen Rankings zur Innovationsfähigkeit von Volkswirtschaften landet
Deutschland regelmäßig auf einem Spitzenplatz12. Ein wichtiger Indikator für
Innovationserfolge ist die Patentintensität. Die deutschen Patentanmeldungen nehmen
ebenfalls weltweit einen Spitzenplatz ein. Allerdings stagnieren die Patentanmeldungen
Deutschlands seit Mitte der 2000er Jahre. Demgegenüber weisen insbesondere China, Japan
und Südkorea hohe Wachstumsraten auf. Schaut man genauer hin, zeigt sich, dass die guten
Ergebnisse ganz wesentlich von hohen FuE-Ausgaben im verarbeitenden Gewerbe
beeinflusst werden. Ein Drittel der Ausgaben für Forschung und Entwicklung aller
Unternehmen fällt dabei allein auf die Automobilindustrie. Bei digitalen Innovationen, die
als besonders zukunftsträchtig gelten, hinkt Deutschland dagegen hinterher. Bei den
Investitionen und Forschungsausgaben in Informations- und Kommunikationstechnologie
belegt Deutschland einen hinteren Platz unter den OECD-Ländern.
2. Besorgniserregend ist, dass immer weniger kleine und mittlere Unternehmen (KMU)
Innovationen hervorbringen. Fast 90 % der internen FuE-Ausgaben entfallen auf
Großunternehmen. Gegenüber dem Höchststand 2004/2006 hat sich der Anteil innovativer
Mittelständler mehr als halbiert. Nur eine Spitzengruppe von mittelständischen
Unternehmen, oftmals Hidden Champions, die Technologieführer in ihrer Nische sind, hält
oder steigert ihre Innovationstätigkeit. Da KMU vielfach im ländlichen Raum angesiedelt sind,
ist die Verbesserung der digitalen Infrastruktur und mithin der flächendeckende und
technologisch auf dem höchsten Stand befindliche Ausbau des Zugangs zu Breitband und
Mobilfunk, eine entscheidende Stellschraube, um digitale Innovationen anzureizen bzw.
überhaupt zu ermöglichen. Mittelfristig sollte die digitale Infrastruktur auch als öffentliches
Gut begriffen werden, um den Ausbau regulatorisch vorantreiben zu können. Zudem zählen
bürokratische Hürden für diese Unternehmen zu den stärksten Hemmnissen. Eine
konsequente Entbürokratisierung der Förderpolitik, etwa durch mehr „e-government“,
könnte daher einen wichtigen Impuls geben.
3. Die Gründungsrate (Verhältnis Neugründungen/aktive Unternehmen) ist in Deutschland seit
2004 kontinuierlich gesunken, von 10 Prozent auf 6,8 Prozent im Jahr 2017. Während das
Durchschnittsalter der fünf wertvollsten Unternehmen in Deutschland 114 Jahre beträgt,
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Bloomberg Innovation Index, Germany Breaks Korea’s Six-Year Streak as Most Innovative Nation, January 18, 2020,
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
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sind die wertvollsten US-Unternehmen nur 30, chinesische Unternehmen 34 Jahre alt. Im
Verhältnis zu anderen Ländern hat Deutschland also eine weniger dynamische
Gründungskultur. Während die Ausstattung mit Wagniskapital in der Gründungsphase in
Deutschland vergleichsweise gut ist, mangelt es an Beteiligungskapital für die
Wachstumsphase junger, innovativer Unternehmen. Eine Folge ist, dass aussichtsreiche
heimische Startups im Wettbewerb zurückfallen oder durch US-amerikanische oder
asiatische Investoren übernommen werden. In den letzten Jahren wurden bereits einige
positive Impulse gesetzt (u.a. High-Tech Gründerfonds). Ein wichtiger Impuls könnte darüber
hinaus von der Schaffung eines deutschen oder europäischen Zukunftsfonds für
Beteiligungskapital ausgehen, der sich aus Geldern staatlicher und institutioneller Investoren
speisen könnte. So können auch durch staatliche Bürgschaften Hochrisikoinvestitionen in
digitale Technologien abgesichert werden („Digital-Hermes“). Staatliche Beteiligungen als
Anteilseigner in Tech-Start-Ups können zudem ein schnelles Aufkaufen durch
Großunternehmen verhindern. Mit einem digitalen Genossenschaftsfonds sollte man den
Aufbau kommunaler IT-Dienste fördern. Die wichtigste und grundlegendste Maßnahme zur
Steigerung der Gründungsdynamik ist es, ein positives Bild von Selbständigkeit und
Unternehmertum (incl. sozialem Unternehmertum) in allen Bildungsstufen stärker zu
verankern. Auch sollten die bürokratischen Hürden für Existenzgründer reduziert werden,
u.a. mit „One-Stop-Shops“. Zudem ist das Gründungspotenzial von Migranten sowie Frauen
noch lange nicht ausgeschöpft. Nur 15,1 Prozent der Startup-Gründer sind weiblich. Im
Umfeld von wissenschaftlichen Instituten sollten Startup-Hubs und Inkubatoren von der
Politik systematisch gefördert werden. Eine zentrale Rolle für einen verbesserten Transfer
spielen dabei die Kooperationen von Akteuren aus Wirtschaft und Wissenschaft. Bisher
machen solche Kooperationen jedoch weniger als fünf Prozent der Hochschulbudgets aus.
4. 34% aller Unternehmen in Deutschland werden weiterhin durch einen Mangel an
geeignetem Fachpersonal bei der Durchführung von Innovationsaktivitäten behindert13. Der
Fachkräftemangel betrifft dabei insbesondere die MINT-Berufe, die als Motor der
innovationsstarken Branchen Deutschlands gelten. Die Sicherung der Fachkräftebasis durch
Verbesserung des schulischen, beruflichen und akademischen Aus- und
Weiterbildungssystems gehört zu den zentralen Stellschrauben zur Sicherung der
Innovationsfähigkeit Deutschlands. Auch durch hochqualifizierte Zuwanderung kann der
Fachkräftemangel gemildert werden. Das Ziel der Bundesregierung, den Anteil der FuE-
Ausgaben am BIP auf 3,5% zu erhöhen, erzeugt langfristig einen zusätzlichen Bedarf von
220.000 MINT-Kräften. Aspekte des EU-Rahmenprogramms „Horizon 2020“ sind deswegen
auch u.a. die Einführung von bildungspolitischen Maßnahmen, um Absolvent_innen in den
MINT-Fachrichtungen und ganz allgemein in der Forschung zu fördern. Dabei spielt die
Gleichstellung der Geschlechter in Forschung und Innovation eine zentrale Rolle.
4.3. Soziale Nachhaltigkeit in Zeiten der Corona-Krise und Megatrends
1. Obwohl die beschäftigungspolitische Bilanz der Megatrends Digitalisierung und
Dekarbonisierung14 langfristig für Deutschland „unterm Strich“ wohl positiv ausfallen wird,
13
ZEW et. al., INNOVATIONEN IN DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT, Indikatorenbericht zur Innovationserhebung 2019, Mannheim, 2020 14
Markus Hoch et. al, Jobwende, Effekte der Energiewende auf Arbeit und Beschäftigung, Für ein besseres Morgen, FES, Bonn, 2019
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
Deutschen Bundestages
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wird der dadurch bedingte Strukturwandel in einigen Branchen viele Arbeitsplätze kosten
(z.B. verarbeitendes Gewerbe, Handel, konventionelle Energieerzeugung), in anderen wird
die Nachfrage nach Arbeit stark steigen (z.B. soziale Dienstleistungen, IT-Sektor oder
klimafreundliche Mobilität). Insgesamt dürften von den Auswirkungen des Strukturwandels
bis 2035 über 7 Millionen Arbeitsplätze unmittelbar betroffen sein. Das bedeutet, dass sich
viele Menschen beruflich neu orientieren oder in ihrem bestehenden Beruf neue Tätigkeiten
erlernen und zusätzliche Qualifikationen erwerben müssen. Dieser Wandel der Arbeitswelt
gelingt nur, wenn er Ungleichheiten nicht verschärft, sondern reduziert.
2. Die Corona-Krise hat Beschäftigten wie Unternehmen gleichermaßen vor Augen geführt, dass
orts- und zeitflexibles Arbeiten funktionieren kann. Mit einem Recht auf Homeoffice
könnten mehr Beschäftigte als bisher dauerhaft die Vorteile nutzen: Rund 40% der
Tätigkeiten lassen sich mobil verrichten. In der Corona-Krise hat sich die Zahl der
Beschäftigten im Homeoffice auf rund 26% verdoppelt. Das orts- und zeitflexible Arbeiten
muss aber das ganze Leben in den Blick nehmen und die sich kaum verringernde Differenz in
der Teilzeitquote zwischen den Geschlechtern, die aktuell bei 37 Prozentpunkten (48% der
abhängig beschäftigten Frauen, 11% der Männer) liegt, abbauen. Wo es keine Tarifbindung
oder Betriebsräte gibt, kann die Arbeitszeitsouveränität über ein Wahlarbeitszeitgesetz
unterstützt werden. Wo keine Arbeitszeitflexibilität möglich ist (z.B. Schichtarbeit) kann eine
Kompensation in Form von Arbeitszeitverkürzung verhandelt werden. Vorschläge wie die
Familienarbeitszeit mit Familiengeld oder das 1000-Stunden-Modell zur Vereinbarkeit von
Pflege und Beruf15 sollen ermöglichen, die Arbeitszeit für Sorgearbeit bei (teilweisem)
Entgeltausgleich zu reduzieren. Das „Optionszeitenmodell“ oder das
„Lebensarbeitszeitkonto“ gehen noch weiter.
3. Solange „Karriere bei einer 20-Stunden-Woche“ nach einer Utopie klingt, werden die oben
beschriebenen „atmenden Lebensläufe“ nur um den Preis von beruflichen Nachteilen
realisierbar sein. Modelle wie „Führen in Teilzeit“ und Quotenregelungen für die Erhöhung
des Frauenanteils in Führungspositionen sind erste Schritte, um das Denken in klassischen
Karrierewegen und eine mangelnde Anerkennung von Sorgearbeit zu durchbrechen.
4. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) gilt als „game changer“ am Arbeitsplatz. Von KI
versprechen sich viele Unternehmen hohe Produktivitätsgewinne. Auf
Arbeitnehmer_innenseite lösen jedoch gerade diese Szenarien die Befürchtung aus, durch KI
ersetzt zu werden. Um Vertrauen in Arbeitskontexten zu schaffen, braucht es klare
rechtliche Regeln (z.B. beim Beschäftigtendatenschutz), Transparenz über Ziele und
Funktionsweise von KI-Anwendungen und vor allem die Beteiligung der Betroffenen.
5. Plattformarbeit ist zwar in Deutschland und Europa zumindest als Haupterwerbsquelle noch
gering verbreitet, sie wird aber in Zukunft deutlich an Bedeutung gewinnen. Plattformen
verstehen sich bislang zumeist nicht als Arbeitgeber, sondern als Vermittler von Tätigkeiten,
die von (Solo-)Selbstständigen erbracht werden und damit nicht unter den
Arbeitnehmerschutz und das Sozialversicherungsrecht fallen. Ein Ansatz, um diesen Risiken
zu begegnen, ist die Verankerung individueller und kollektiver Schutzrechte für
Plattformtätige. Vorschläge für einen neuen Arbeitnehmerbegriff zielen darauf ab,
15
Barbara Stiegler, Vereinbarkeit von Pflege und Beruf: Das 1000-Stunden-Modell :ein flexibles Zeitbudget mit Lohnersatz, FES, Berlin, 2019
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
Deutschen Bundestages
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Plattformbeschäftigte leichter als Arbeitnehmer_innen oder arbeitnehmerähnliche Personen
einzustufen16. Um Augenhöhe zwischen Plattformen und Plattformtätigen herzustellen,
sollten auch Ansätze eines kollektiven Interessenausgleichs gestärkt werden. Diese reichen
von einem digitalen Zugangsrecht für Gewerkschaften, damit sie in Kontakt mit Gig- und
Crowdworker_innen treten können, über eine Kontrolle der Allgemeinen
Geschäftsbedingungen, über die Plattformen die Tätigkeits- und Vertragsbedingungen
einseitig gestalten, bis zu Fragen des Zugangs zu Daten, die im Kontext von Plattformarbeit
entstehen. Digitale Geschäftsmodelle dürfen sich grundsätzlich ihrer Verantwortung für die
Finanzierung des Sozialstaates nicht entziehen können. Es bedarf daher Ansätze, um
Plattformarbeit in die Sozialversicherung einzubeziehen. Wie dies bei global agierenden
Plattformen möglich werden könnte, skizziert das Konzept der Digitalen Sozialen Sicherung.
Neben einem Wettbewerbsrecht 4.0, das die dem System Plattform inhärenten
Monopoltendenzen bekämpft, wird auch die Stärkung nicht-kommerzieller
Plattformangebote benötigt (öffentliche Plattformen und genossenschaftliche
Plattformmodelle). Ähnlich wie bei der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) könnte
Europa über EU-weite Regulierungsansätze für plattformbasierte Geschäftsmodelle
Standards setzen.
6. Die Corona-Krise zeigt, wie unverzichtbar die Arbeit ist, die in Krankenhäusern, in der
Altenpflege, in der öffentlichen Sicherheit oder etwa im Lebensmitteleinzelhandel geleistet
wird. Gerade in systemrelevanten Berufen sind die Einkommen aber meist
unterdurchschnittlich. Vor allem soziale Dienstleistungen sind nicht nur ein unverzichtbarer
Teil der gesellschaftlichen Infrastruktur, sondern auch ein Jobmotor. Mehr als die Hälfte der
Jobs, die zwischen 1995 und 2015 in Deutschland neu entstanden sind, entfallen auf diesen
Sektor (1,9 von insgesamt 3,7 Millionen). Soziale Berufe müssen aufgewertet werden und
zwar nicht nur beim Entgelt, sondern auch bei der Personalbemessung, der Arbeitszeit und
der beruflichen Entwicklung.
7. Lebensbegleitendes Lernen wird angesichts der aktuellen Krise und des Strukturwandels
nicht nur zum Schlüssel für individuelle Beschäftigungssicherung, sondern ist auch zur
Bekämpfung des Fachkräftemangels von elementarer Bedeutung. Niedrigqualifizierte, prekär
Beschäftigte, Arbeitnehmer_innen mit einem hohen Anteil an Routinetätigkeiten und
Teilzeitbeschäftigte (somit also vor allem Frauen) haben bereits heute deutlich geringere
Teilhabemöglichkeiten an betrieblichen und individuellen beruflichen Fortbildungen als
Höherqualifizierte. Der Vorschlag, die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung
weiterzuentwickeln, ist Ausdruck einer solchen präventiven und investiven Sozialpolitik. Auch
staatlich geförderte Bildungs(teil-)zeiten können ein wichtiger Baustein sein, um die auf
betrieblicher oder Branchenebene bestehenden Qualifizierungsansätze durch individuelle
Weiterbildungsmöglichkeiten zu ergänzen. Flankierend hierzu gibt es weitere Ideen, wie z.B.
das „Perspektiven-BAföG“17, das den Bedarf an hochschulischer Weiterbildung adressiert,
indem es das bisherige BAföG erweitert. Transfergesellschaften sind (ungeachtet punktueller
Reformbedarfe) ein bewährtes Instrument, um Arbeitnehmer_innen nach der Entlassung zu
16
In diesem Zusammenhang wird u.a. die Forderung nach Mindesthonoraren für Selbstständige und die Stärkung der kollektiven Interessenvertretung von Solo-Selbstständigen diskutiert. Letzteres würde u.a. eine Reform des europäischen Kartellrechts erfordern, da dieses die kollektive Interessenorganisation von Selbstständigen nach Auffassung vieler Jurist_innen unterbindet. 17
Michael Cordes, Dieter Dohmen, Ein BAföG für das 21. Jahrhundert, Perspektiven für die Weiterbildung, Für ein besseres Morgen, FES, Berlin 2020
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
Deutschen Bundestages
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unterstützen, zu beraten und in neue Arbeit zu vermitteln. Die berufliche Übergangsphase
bietet aber auch ein wichtiges Zeitfenster für Qualifizierung. Die Unterstützung von
Weiterbildung sollte daher im Beschäftigtentransfer gestärkt werden. Das Recht auf
Beratung sowie der Aufbau einer Informationsplattform im Rahmen der Nationalen
Weiterbildungsstrategie sind wichtige Schritte hin zu mehr Transparenz und Orientierung.
8. Die Sozialpartnerschaft von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in Deutschland gilt
als Erfolgsmodell. Doch die Tarifbindung ist in den vergangenen 20 Jahren ständig
zurückgegangen und insbesondere im Dienstleistungssektor, in kleinen und mittleren
Unternehmen und in Ostdeutschland schwach. Hier sind die Sozialpartner, aber auch die
Politik gefordert: Neben der Forderung, die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen zu
erleichtern, gibt es weitere Vorschläge, wie Teile des Tariflohns von
Gewerkschaftsmitgliedern steuerlich zu begünstigen oder eine Tariftreuereglung des Bundes,
die Unternehmen, die sich für öffentliche Aufträge bewerben, dazu verpflichtet, nach Tarif zu
zahlen.
9. Auch die betriebliche Mitbestimmung ist rückläufig. Damit Betriebsräte dort gegründet
werden, wo bisher keine sind, könnte z.B. das vereinfachte Wahlverfahren ausgeweitet
werden. Noch spannender könnte es sein, ein neues digitales Wahlverfahren für Betriebsräte
– in einem neuen Betriebsverfassungsgesetz 4.0 verankert – einzuführen. Um die
Arbeitswelt der Zukunft gestalten zu können, müssen vor allem aber die Rechte des
Betriebsrats erweitert werden, z.B. in Gestalt eines Mitbestimmungsrechts auf Datenschutz
oder der Ausweitung der Zuständigkeit von Betriebsräten auf Crowdworking.
10. Unternehmen mit einem paritätisch besetzten Aufsichtsrat verfolgen eher
innovationsorientierte Strategien und sind hierbei zudem erfolgreicher als
nichtmitbestimmte Unternehmen. Die Unternehmensmitbestimmung kann gestärkt werden,
indem Schlupflöcher, insbesondere im Bereich des europäischen Gesellschaftsrechts
geschlossen, aber auch indem die paritätische Mitbestimmung auf Unternehmen ab 1000
Mitarbeiter ausgeweitet wird. Nicht zuletzt die Förderung genossenschaftlicher Strukturen
bietet hier gerade mit Blick auf digitale Unternehmen großes Potenzial.
11. Genossenschaften beteiligen Beschäftigte zudem auch materiell am Unternehmen. Die
finanzielle Beteiligung von Arbeitnehmer_innen am Produktivvermögen ist in Deutschland
bisher wenig etabliert. Neben einer Stärkung der Mitarbeiterkapitalbeteiligung, also der
direkten finanziellen Beteiligung des Beschäftigten am eigenen Unternehmen, gibt es sehr
spannende Vorschläge zu Fondsmodellen wie das Vorsorgekonto18, der Deutschlandfonds
oder strategische Staatsfonds. Die Beteiligung von Beschäftigten (und Bürger_innen) am
Produktivvermögen bietet die Chance, der wachsenden Ungleichheit entgegenzuwirken und
Vermögen gerechter zu verteilen.
12. Die soziale Dimension der EU muss gestärkt werden, indem die beschlossene Europäische
Säule sozialer Rechte in ein verbindliches soziales Aktionsprogramm der EU überführt und in
einem sozialen Stabilitätspakt mündet. Hierzu zählen z.B. gemeinsame Standards für die
Festlegung nationaler Mindestlöhne, gemeinsame Grundsätze für Systeme der nationalen
18
Stellpflug, Jürgen; Sternberger-Frey, Barbara; Tuchscherer, Claudia, Das Vorsorgekonto, Basisprodukt für die private Altersvorsorge, FES, Bonn, 2019
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
Deutschen Bundestages
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Grundsicherung, die Einführung einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung, die
Bekämpfung von Sozial- und Lohndumping sowie die Sicherung von Gewerkschaftsrechten.
4.4. Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und Staatsfinanzen in Zeiten der Corona-Krise und
Megatrends
1. Angesichts der aktuellen tiefen Krise sind die Regeln der Schuldenbremse sowie des
europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes zeitlich befristet und völlig zu Recht
ausgesetzt. Beide Regime sollten angesichts der großen Investitionsherausforderungen19
grundsätzlich reformiert werden. Insbesondere staatliche Investitionen sollten nicht mehr
auf die Schuldenstandquote angerechnet werden (Goldene Finanzregel). Schuldenfinanzierte
Investitionen erhöhen grundsätzlich – insbesondere in dem historisch günstigen, aktuellen
Zinsumfeld – die gesamtwirtschaftliche Rendite, schaffen das Vermögen von morgen und
sind damit auch generationengerecht. Wie die KfW ist auch die EIB über eine Aufstockung
ihres Eigenkapitals in der Lage, europaweite Investitionen über EIB-Projektbonds zu
finanzieren.
2. Der im Rahmen der deutsch-französischen Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas
vorgeschlagene Fonds zur wirtschaftlichen Erholung Europas stellt zweifelsohne einen
Paradigmenwechsel dar. Erstmalig soll die Europäische Kommission 500 Milliarden Euro als
EU-Ausgaben an den Finanzmärkten aufnehmen können, um allen betroffenen Regionen
Europas mit Finanzhilfen die Perspektive zur wirtschaftlichen Erholung aus der Krise zu
eröffnen, die Widerstandsfähigkeit, Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit Europas
steigern, Investitionen in den ökologischen und digitalen Wandel erhöhen sowie Forschung
und Innovationen stärken. Die Finanzierung des Fonds soll auf einer soliden rechtlichen
Grundlage basieren, die das Mitspracherecht der Mitgliedstaaten und das Haushaltsrecht der
nationalen Parlamente uneingeschränkt achtet. Die rechtliche Verankerung der
Verschuldungsmöglichkeit auf europäischer Ebene soll im sogenannten Eigenmittelbeschluss
erfolgen. Sie soll gleichzeitig eine einmalige Ausnahmemöglichkeit bleiben, mit klar
festgelegtem Umfang, zeitlich befristet und verknüpft mit einem verbindlichen
Rückzahlungsplan aus dem EU-Haushalt. Die Umsetzung dieses Vorschlages wäre ein
entscheidender Schritt zur Vollendung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion,
der neben der europäischen Geldpolitik endlich den Weg zu einer europäischen Fiskalpolitik
öffnet20.
3. Ziel muss es sein, die unter enormen Gewerbesteuerausfällen leidenden Kommunen in der
aktuellen Krise zu stärken. Sie schultern den Großteil der staatlichen Investitionen und
bauen regionale Ungleichheiten ab. Die Altschulden der am meisten belasteten Kommunen
19
IW Policy Paper 10/2019 und IMK Report 152/2019 Für eine solide Finanzpolitik: Investitionen ermöglichen!. Die zusätzlichen Investitionsbedarfe für die öffentliche Hand in Deutschland über die kommenden 10 Jahre werden von den mit dem Sonderpreis des Matthöfer-Preises-für-Wirtschaftspublizistik Wirtschaft.Weiter.Denken.2020 ausgezeichneten Forscher_innen auf 457 Milliarden EURO geschätzt. 20
BMF, Die Europäische Union gestärkt aus der Krise führen, Berlin, 20.05.2020. Dieser Vorschlag wurde bereits von den genügsamen Vier: Österreich, Niederlande, Dänemark und Schweden abgelehnt. Sie wollen bestenfalls zeitlich befristete Kredite und keine Finanzhilfen an die betroffenen Mitgliedsländer vergeben. Weitere Kredite sind aber für die bereits hochverschuldeten Länder wie Italien und Spanien nicht wirklich hilfreich.
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
Deutschen Bundestages
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sollten in einem gemeinsamen Entschuldungsfonds des Bundes und der Länder gebündelt
werden. Die vom Bund bestellten Leistungen (u.a. die Kosten der Unterkunft) müssen auch
von ihm bezahlt werden (Konnexitätsprinzip). Nicht zuletzt muss eine neue, auf Indikatoren
gestützte regionale Strukturpolitik erlauben, Ungleiches ungleich zu behandeln.
4. Die Planungs- und Investitionskapazitäten in Deutschland müssen erhöht werden. Mit einer
“Investitionsgesellschaft Deutschland”, die über eine Deutschlandanleihe finanziert und von
Bund, Ländern und Kommunen beauftragt wird, werden auch Ausschreibungen deutlich
verkürzt, Planungen und Umsetzung größerer Projekte erleichtert und so Investitionseffekte
schneller erzielt. Entsprechend würde beispielsweise auch die Baubranche ihre Kapazitäten
erhöhen und die dringend benötigten Infrastrukturprojekte (Schulen, Straßen usw.)
umsetzen können. Durch nachhaltige Bundesanleihen (Ökoanleihen) kann darüber hinaus
privates Kapital gezielt für Projekte des ökologischen Wandels gewonnen werden. Dies
verbunden mit einer „Sustainable-Finance“-Strategie, die festlegt, wie
Nachhaltigkeitsaspekte bei Anlagen des Bundes integriert werden können.
5. Die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen kann über mehrere Wege erreicht werden. Die globale
Initiative der OECD zu BEPS („Base Erosion and Profit shifting“) zielt darauf ab, eine
harmonisierte Körperschaftssteuerbemessungsgrundlage zu erreichen und eine globale
Mindestbesteuerung einzuführen, um den für Staaten oftmals ruinösen Steuerwettbewerb
zu begrenzen und Gewinnverlagerungen weniger attraktiv zu machen. Eine öffentliche
länderbezogene Berichterstattung sowie die Einführung einer Gesamtkonzernsteuer sind
langfristig dafür zielführend. Mit effektiven europäischen Instrumenten gegen
Steuervermeidung, Steuerflucht und Steuerbetrug kann darüber hinaus die Ungleichheit
bekämpft und den Staaten eine solide Einnahmebasis verschafft werden. In Deutschland
wäre beispielsweise der Steuervollzug und mithin das Steueraufkommen deutlich durch eine
bundesweite Vereinheitlichung bei Praktiken der Steuerfahndung und Betriebsprüfung (z.B.
verpflichtende Prüfungsquoten: Angleichung BIP/Betriebsprüfer und Steuerfahnder pro
Bundesland) zu verbessern. Darüber hinaus müssen im Rahmen des ökologischen Umbaus
der Wirtschaft auch klimaschädliche Subventionen und Steuerbegünstigungen Schritt für
Schritt abgeschafft werden. Allein in Deutschland belaufen sich die umweltschädlichen
Subventionen im Energiebereich auf bis zu 17 Milliarden EURO21 pro Jahr. Höhere
Lohnabschlüsse, die Anpassung des Mindestlohns, das Absenken der Mini-Job-Schwelle, die
Anreize zur Umwandlung von Teilzeit- in Vollzeitbeschäftigung helfen beim Abbau der
Einkommensspreizung von unten und erhöhen auch das Steueraufkommen. Die Anpassung
des Spitzensteuersatzes für hohe Einkommen in einem reformierten und
aufkommensneutralen Einkommensteuertarif, das niedrige und mittlere Einkommen
gleichzeitig entlastet, verringert die Einkommensspreizung von oben. Der Abbau der
Vermögenskonzentration von unten mit Hilfe einer besseren Vermögensbildung durch ein
Vorsorgekonto oder einem staatlich gefördertem Mietkauf stärkt die private Vorsorge und
entlastet die gesetzliche Rentenversicherung. Die Wiedereinführung der Vermögensteuer
wäre sehr hilfreich, um die Untererfassung der Vermögenskonzentration in Deutschland
endlich zu korrigieren und den Abbau der Vermögenskonzentration von oben einzuleiten.
21
Bislang noch nicht veröffentlichte, aber bereits vorliegende Berechnungen des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft im Auftrag der FES. Die Subventionen sind deutlich höher als die im Subventionsbericht der Bundesregierung angegebenen 10 Milliarden EURO pro Jahr, weil sie neben Finanzhilfen und Steuervergünstigungen auch Regelungen mit Subventionswirkung (z.B. Vorteile durch Emissionshandel) und nicht internalisierte externe Kosten (z.B. lokale Luftverschmutzung) umfassen.
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
Deutschen Bundestages
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Die aufkommensschwache und regressiv wirkende Erbschaftssteuer muss ebenfalls
reformiert werden. Die Besteuerung leistungsloser Einkommen durch Erbschaften erhöht
ebenfalls das Steueraufkommen.
6. Um die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen langfristig zu sichern, muss darüber hinaus der
Teufelskreis aus Banken- und Finanzkrise sowie Staatsschuldenkrise (Bankenrettung durch
den Staat verschlechtert die Finanzsituation der öffentlichen Haushalte, der Ausfall von
Staatsanleihen verschlechtert die Bilanz- und Kapitalposition der Banken und wieder beginnt
der Teufelskreis) dauerhaft durchbrochen werden. Die Vollendung der Europäischen
Bankenunion und Kapitalmarktunion ist daher von entscheidender Bedeutung. Banken
müssen noch widerstandsfähiger werden, z.B. durch die weitere Verschärfung der
Eigenkapital- und Liquiditätsvorschriften, die die Hebeleffekte deutlich begrenzen. Auch
relevante Hedgefonds und andere Schattenbanken müssen verbindlichen
Eigenkapitalanforderungen und einer (europäischen) Aufsicht unterliegen. Alle
Geschäftsbeziehungen zwischen Banken und Schattenbanken müssen transparent sein. Eine
klare Trennung von Investment- und Geschäftsbanking und eine deutliche Einschränkung des
Eigenhandels von Banken muss hergestellt werden, damit hochriskante Spekulationen die
Stabilität von Geschäftsbanken weniger gefährden. Beim Derivatehandel ist die Regulierung
von unbesicherten „over the counter“-Geschäften zügig zu vollenden und bank- und
börseninterne Handelsplattformen für den anonymen Handel mit Finanzprodukten der
Aufsicht zu unterstellen. Mindesthaltefristen zur Begrenzung des Hochfrequenzhandels sind
ein sinnvolles Instrument – ebenso wie die Einführung einer europaweiten
Finanztransaktionssteuer auf den Aktien- und Derivatehandel. Die Rolle von Rating-
Agenturen bei der Prüfung und Einschätzung von Risiken ist einzuschränken und besser zu
regulieren, z.B. in dem das Ratinggeschäft klar von der Beratung getrennt wird und sich
staatliches Handeln seltener auf private Ratings bezieht. Durch neue Vergütungssysteme für
Manager aber auch durch eine bessere Strafverfolgung sind die Anreize sowie die Haftung
für nachhaltigeres Handeln zu verbessern.
V. Fazit
1. Die EU – als Wertegemeinschaft – kann ihre globale politische Gestaltungskraft und
Wirtschaftsmacht nur erhalten, wenn die Mitgliedstaaten bereit sind, mehr Souveränität auf
die europäische Ebene zu verlagern. Mit dem Prinzip „Lieber eine Regel für Alle als eine
Regierung für Alle“ (fiskalische Überwachung durch den Fiskalpakt sowie Wachstums- und
Stabilitätspakt, Wettbewerbsaufsicht, Beihilfskontrolle und Grundfreiheiten des
Binnenmarkts) ist die EU an ihre Grenzen gestoßen. Die EU muss den Panthersprung wagen
und endlich in den Bereichen, wo die EU einen nachweislichen Mehrwert hat (u.a.
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik(GASP), Gemeinsame Sicherheits- und
Verteidigungspolitik (GSVP), Gemeinsame Flüchtlings- und Migrationspolitik), durch zügige
Vertragsänderungen das bislang geltende Einstimmigkeitsprinzip durch
Mehrheitsentscheidungen im Rat der EU ersetzen. Dies gilt auch für den Aufbau einer
europäischen Fiskalpolitik, um die europäische Wirtschafts- und Währungsunion vollenden
zu können. Sie muss darüber hinaus eine strategisch positionierte Gesundheitsindustrie
(Impfstoffe, Arzneimittel, Medizinprodukte) entwickeln, die die Abhängigkeiten der EU beim
Gesundheitsschutz verringert. Sie muss den freien und fairen Welthandel – mit der WTO im
Zentrum – fördern und die Lieferketten diversifizieren sowie die Regeln für das
Grundsätzliche schriftliche Stellungnahme von Dr. Andrä Gärber, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Rahmen der öffentlichen Anhörung „Neustart für die Wirtschaft in Deutschland und Europa“ am 27. Mai 2020, 11.00 bis 13.00 Uhr im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des
Deutschen Bundestages
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Wettbewerbsrecht und die staatlichen Beihilfen modernisieren22. Ziel muss es angesichts
des sich zuspitzenden Großmächtewettbewerbs zwischen dem „laissez faire“-Kapitalismus
der USA und dem autoritären China, in und durch Europa einen alternativen Weg in der
Innovation, Digitalisierung und Dekarbonisierung einzuschlagen, der auf fairen Wettbewerb,
demokratische Beteiligung und Gemeinwohl setzt. Mit der DSGVO, die die Rechte des
Einzelnen in der Digitalisierung stärkt, hat die EU bereits gezeigt, dass sie in der Lage ist,
einen eigenständigen Ansatz neben dem „Winner takes all“-Prinzip der USA und dem „Daten
für den Staat“-Ansatz Chinas zu verfolgen. Europa, seine Bürger_innen und Unternehmen
müssen digitale Souveränität besitzen und in der Lage sein, eigene Spielregeln und
Rahmenbedingungen zu setzen und über ihre Daten zu verfügen. Dazu gehört auch der
Aufbau einer europäischen Cloud (Gaia-X).
2. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist die Basis der europäischen Demokratien und
kontinentaleuropäischen Wirtschaftsmodelle. Die Finanzkrise von 2008 und auch die Corona-
Krise zeigen, dass Länder, die den Ausgleich zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen
Gruppen suchen, Interessen konstruktiv koordinieren und in diesem Sinne auch die
ökonomische und soziale Existenz aller Gesellschaftsmitglieder absichern, besser durch
schwierige Zeiten kommen als solche, die auf die Polarisierung und Spaltung ihrer
Gesellschaften und das ungezügelte „freie Spiel“ der Marktkräfte setzen. Eine nachhaltige
(Wirtschafts-)Politik, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert, hat sowohl die
Stärkung des politischen Zusammenhaltes (Vertrauen in die Demokratie, gerechte
Teilhabemöglichkeiten) als auch des sozialen Zusammenhaltes (Abbau der Ungleichheit) zum
Ziel. Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen wachsender sozialer Ungleichheit
und einem sinkenden Demokratievertrauen: sozial schlechter gestellte Menschen haben
weniger Vertrauen in Staat und Politik23. Tatsächlich wurden die sozialen und ökonomischen
Forderungen einkommensschwacher oder auf Grundsicherung angewiesener
Bevölkerungsgruppen in der politischen Debatte der Bundesrepublik seit langer Zeit
marginalisiert und haben damit die Unzufriedenheit dieser Gruppen in Bezug auf die Politik
befeuert24. Dies gilt es zu ändern – in Deutschland und Europa.
22
BMF, Die Europäische Union gestärkt aus der Krise führen, Berlin, 20.05.2020 23
Frank Decker, Volker Best,, Sandra Fischer, Anne Küppers, Vertrauen in Demokratie, Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik?, Für ein besseres Morgen, FES, Bonn, 2019 24
Lea Elsässer, Wessen Stimme zählt? Soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Frankfurt, 2018