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40 PORTRAIT  Nicole Niquille Nicole Niquille PORTRAIT 41 Ihr unbändiger Wille und ihre Leidenschaft haben sie zur ersten Bergführerin der Schweiz gemacht. Und ihr geholfen, ihr zweites Leben im Rollstuhl zu meistern. Nicole Niquille, 55, sagt: «Ich liebe es zu kämpfen.» Die Geschichte einer aussergewöhnlichen Frau. Nicole Niquille, erste Bergführerin der Schweiz DIE KäMPFERIN Nicole Niquille lebt mit Blick auf ihren Schicksalsberg. Vor ihrem Wohnzimmerfenster in Charmey im Kanton Freiburg bauen sich «Les Dents Vertes» auf, die «grünen Zähne», ein Felsmassiv, knapp 1700 Meter hoch. Kein Berg, an dem man sich bergsteigerische Meriten verdie- nen kann. An jenem Tag vor 17 Jahren, als sich das Le- ben von Nicole Niquille für immer veränderte, war sie auch nicht als Bergsteigerin unterwegs. Es war Sonntag, Muttertag, sie sammelte Pilze mit ihrem Ehemann und einem Freund. Das Waldstück am Fuss der «grünen Zäh- ne» galt als Geheimtipp für Morchel-Jäger. Immer wieder mal lösten sich Steine in der Wand, eine grosse Gefahr sah damals niemand darin. Deshalb trug auch keiner der drei Sammler einen Helm. Als der Daumen erwachte Der Stein, der Nicole Niquille am Kopf traf, war so gross wie eine Nuss und 50 Gramm schwer. Sie überlebte nur dank der Soforthilfe eines Arztes, der zufälligerweise in der Nähe kletterte. Während sechs Monaten lag sie mit offenem Schädel im Zentrum für Hirnverletzte in Basel. Insgesamt verbrachte sie 21 Monate im Kranken- bett. Während der ersten Woche nach dem Unfall war sie komplett gelähmt und konnte nicht sprechen. Sie dachte: «Sobald ich dazu fähig bin, bringe ich mich um.» Es kam anders: Als erstes erwachte der linke Daumen und mit ihm kehrte der Lebenswille zurück. Heute sagt sie: «Am Anfang war ich aggressiv und wütend. Dann entschied ich mich für ein neues Leben und neue Ziele, habe im- mer gesehen, was ich noch erreichen kann und nicht das, was nicht mehr möglich ist.» Sie trennte sich von ihrem damaligen Mann, der sie während den 21 Monaten der Rehabilitation betreut hatte, «weil er in mir eine Patien- tin sah, weil er wusste, wie ich früher war.» Sie wollte einen Schlussstrich ziehen. Sie blieb querschnittgelähmt und ihre rechte Hand ist nicht mehr voll funktionsfähig. Am Holztisch in ihrem Wohnzimmer sagt sie: «Ich mag alles, was neu und schwer zu erreichen ist. Ich bin eine Kämpferin.» Und eine Rebellin. Zumindest in jungen Jahren. Sie wuchs in Charmey auf – dort, wo sie heute wieder lebt – mit einer Zwillingsschwester, einem jüngeren Bruder und einer jüngeren Schwester. Die Mutter war Laboran- tin und später Hausfrau, der Vater Lehrer, Musiker und Zauberkünstler – von ihm hat sie die Lust auf das pralle Leben. Sie flog von der Schule, weil sie lieber per Auto- stopp nach Genf fuhr und in Flohmärkten stöberte als die Schulbank zu drücken. Trotzdem wurde sie Lehrerin für Französisch, Deutsch und Spanisch. Sie hatte einen guten Draht zu den jungen Leuten, wusste aus eigener

Nicole Niquille, erste Bergführerin der Schweiz DIe … · Freiburg bauen sich «Les Dents Vertes» auf, die «grünen Zähne», ein Felsmassiv, knapp 1700 Meter hoch. Kein ... die

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PORTRAIT  Nicole Niquille Nicole Niquille  PORTRAIT

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Ihr unbändiger Wille und ihre Leidenschaft haben sie zur ersten Berg führerin

der Schweiz gemacht. Und ihr geholfen, ihr zweites Leben im Rollstuhl

zu meistern. Nicole Niquille, 55, sagt: «Ich liebe es zu kämpfen.» Die Geschichte

einer aussergewöhnlichen Frau.

Nicole Niquille, erste Bergführerin der Schweiz

DIe KämPfeRIn

Nicole Niquille lebt mit Blick auf ihren Schicksalsberg. Vor ihrem Wohnzimmerfenster in Charmey im Kanton Freiburg bauen sich «Les Dents Vertes» auf, die «grünen Zähne», ein Felsmassiv, knapp 1700 Meter hoch. Kein Berg, an dem man sich bergsteigerische Meriten verdie-nen kann. An jenem Tag vor 17 Jahren, als sich das Le-ben von Nicole Niquille für immer veränderte, war sie auch nicht als Bergsteigerin unterwegs. Es war Sonntag, Muttertag, sie sammelte Pilze mit ihrem Ehemann und einem Freund. Das Waldstück am Fuss der «grünen Zäh-ne» galt als Geheimtipp für Morchel-Jäger. Immer wieder mal lösten sich Steine in der Wand, eine grosse Gefahr sah damals niemand darin. Deshalb trug auch keiner der drei Sammler einen Helm.

Als der Daumen erwachte

Der Stein, der Nicole Niquille am Kopf traf, war so gross wie eine Nuss und 50 Gramm schwer. Sie überlebte nur dank der Soforthilfe eines Arztes, der zufälligerweise in der Nähe kletterte. Während sechs Monaten lag sie mit offenem Schädel im Zentrum für Hirnverletzte in Basel. Insgesamt verbrachte sie 21 Monate im Kranken-bett. Während der ersten Woche nach dem Unfall war sie komplett gelähmt und konnte nicht sprechen. Sie dachte:

«Sobald ich dazu fähig bin, bringe ich mich um.» Es kam anders: Als erstes erwachte der linke Daumen und mit ihm kehrte der Lebenswille zurück. Heute sagt sie: «Am Anfang war ich aggressiv und wütend. Dann entschied ich mich für ein neues Leben und neue Ziele, habe im-mer gesehen, was ich noch erreichen kann und nicht das, was nicht mehr möglich ist.» Sie trennte sich von ihrem damaligen Mann, der sie während den 21 Monaten der Rehabilitation betreut hatte, «weil er in mir eine Patien-tin sah, weil er wusste, wie ich früher war.» Sie wollte einen Schlussstrich ziehen. Sie blieb querschnittgelähmt und ihre rechte Hand ist nicht mehr voll funktionsfähig. Am Holztisch in ihrem Wohnzimmer sagt sie: «Ich mag alles, was neu und schwer zu erreichen ist. Ich bin eine Kämpferin.»

Und eine Rebellin. Zumindest in jungen Jahren. Sie wuchs in Charmey auf – dort, wo sie heute wieder lebt – mit einer Zwillingsschwester, einem jüngeren Bruder und einer jüngeren Schwester. Die Mutter war Laboran-tin und später Hausfrau, der Vater Lehrer, Musiker und Zauberkünstler – von ihm hat sie die Lust auf das pralle Leben. Sie flog von der Schule, weil sie lieber per Auto-stopp nach Genf fuhr und in Flohmärkten stöberte als die Schulbank zu drücken. Trotzdem wurde sie Lehrerin für Französisch, Deutsch und Spanisch. Sie hatte einen guten Draht zu den jungen Leuten, wusste aus eigener

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Erfahrung, dass ihnen Auflehnung gegen Eltern und Lehrer oftmals wichtiger sind als die Noten im Zeugnis. Trotzdem war nach fünf Jahren Schluss mit der Schule. Sie wollte ein Leben in den Bergen und beschloss mit 27, Bergführerin zu werden. Die erste in der Schweiz.

Zufalls-Liebe zur Natur

Allerdings: Dass Nicole Niquille ihr Leben der Natur und den Bergen verschrieben hat, ist zu einem beträchtlichen Teil dem Zufall geschuldet. Genauer: dem ersten Schick-salsschlag, der sie mit 19 traf. Bei einem Motorrad-Unfall verletzte sie sich schwer. Als sie ins Spital eingeliefert wurde, hing der linke Fuss nur noch an einem Muskel. Mit mehreren Operationen retteten ihn die Ärzte. Sie konnte wieder gehen. Nur die Beweglichkeit des Fusses war fortan eingeschränkt. Einzig in den Bergschuhen merkte sie davon nichts. Obwohl sie mit ihrem Vater schon als Kind oft in den Bergen unterwegs gewesen war, hatte sie da die ganz grosse Leidenschaft noch nicht gepackt. Nun, nach dem Unfall, konnte sie ihren Bewe-gungsdrang am besten in Bergschuhen ausleben. Sie habe sich ins Klettern verliebt, weil es für sie «ein guter Grund war, um zu kämpfen – gegen den eigenen Körper, gegen den und mit dem Berg.»

Und sie hatte einen guten Lehrmeister: Erhard Loretan, einer der besten Schweizer Höhenbergsteiger, war ihr erster Freund. Mit ihm unternahm sie viele Touren, trai-nierte Ausdauer und Technik in Fels und Eis, sammelte viele Berge in ihrem Tourenbuch. Heute lebt sie wieder in der Nähe von Erhard Loretan. Sie sehe ihn «ab und zu», sagt Nicole Niquille, es gehe ihm gut, er lebe aber «sehr zurückgezogen».

Das «Maskottchen der Männer»

1986 legte sie ihre Prüfung als erste Bergführerin der Schweiz ab. Man kann sich vorstellen, dass das nicht einfach war in einem Land, das erst 15 Jahre zuvor das Frauen stimmrecht eingeführt hatte. Bis zu jener Zeit stand dieser Beruf ausschliesslich militärdiensttaugli-chen Männern offen. Natürlich, blickt sie zurück, seien sie und ihre Prüfungsgruppe damals härter und intensi-ver getestet worden: «Das tut mir für die anderen heute noch leid». Aber die Männer hätten sie insgesamt sehr wohlwollend aufgenommen, sie sei so etwas wie das «Maskottchen» der Truppe gewesen. Allerdings hatte sie sich diese Rolle auch verdient: Bei einem Marsch über einen Grat («auf beiden Seiten ging es 500 Meter ins Tal») ging ein Kollege voran, sie folgte nach ihm in der Seil-schaft. Der Kollege stürzte, mit einem beherzten Sprung auf die andere Seite des Grats rettete sie sein Leben – und hatte den Respekt der anderen Bergführer-Aspiranten gewonnen.

Nach dem Erhalt des Bergführerdiploms begann für Nicole Niquille eine mehr oder weniger unbeschwerte Zeit. Die Popularität als erste Bergführerin verschaffte

« WeR Den GIPfel eRReIchT,  hAT Den WeG nOch nIchT beenDeT.»Nicole Niquille, erste Bergführerin der Schweiz

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ihr Aufträge. Sie arbeitete unter anderem im Berner Oberland, in Charmey und in Südfrankreich, unternahm Expeditionen in die Berge des Himalaya, reiste in die Sa-hara, betrieb daneben ein Kleidergeschäft. Sie war char-mant, eine exzellente Bergführerin, eine Attraktion. Und sie erhielt mehrere Preise: darunter jenen des Panathlon-Klubs Freiburg, der Menschen auszeichnet, die sich in besonderer Weise um Ethik im Sport verdient machen. Sie hatte gefunden, was sie wollte in ihrem Leben. Eine Bergtour, sagt sie, sei ein «Gesamtkunstwerk» gewesen: Planung, Aufstieg, Aussicht, Naturerlebnis, Abstieg. Und eine gute Lebensschule: «Wer den Gipfel erreicht, hat den Weg noch nicht beendet.»

Beraterin in Bergfragen

Sie selber wurde aus ihren Gipfel-Träumen mit jenem Un-fall beim Pilze-Sammeln jäh herausgerissen. 38 war sie da. In der Zeit danach war ihr nicht nur ihr damaliger Mann eine grosse Stütze, sondern auch ihre Zwillings-schwester Françoise. Beide pflegen ein symbiotisches Verhältnis, wenn man mit Françoise Repond spricht, will sie erst gar keine Auskunft über ihre Schwester geben. «Wissen Sie, das geht gar nicht, wir sind eins, ich kenne sie zu gut», wehrt sie ab. Dann erzählt sie trotzdem eine Geschichte aus ihrer gemeinsamen Jugend: Nicole und sie seien als junge Mädchen ohne Wissen der Eltern zu

einer kleinen Expedition in das Gebiet der «Dents Vertes» (ja genau, die spätere Unfallstelle) aufgebrochen. Das sei eine wilde Gegend, für Kinder viel zu gefährlich. Aber die Mädchen waren entschlossen. Ein Mann aus dem Dorf sah sie zufällig auf den Berg zumarschieren und alar-mierte die Mutter. Die beiden jungen Damen konnten zu-rückgehalten werden und waren für einige Tage das Dorf-gespräch. So sei Nicole, sagt ihre Schwester: «Zupackend, mutig, zielgerichtet. Sie braucht ein Projekt, sie braucht Träume, dann geht sie den Weg bis zum Schluss, dann lebt sie.» Heute sei sie ruhig, habe ihr Schicksal akzep-tiert. «Dazu hat ihr zweiter Ehemann viel beigetragen.»

Nach dem Unfall fand Nicole Niquille ihr neues Pro-jekt wieder in den Bergen. Am Lac de Taney im Wallis. Dort steht eine kleine Auberge, die sie bis 2010 führte.

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Dort war sie die Gastgeberin im Rollstuhl, Aufpasserin, Beraterin in Bergfragen. Und sie fand die Liebe ihres Le-bens, ihren zweiten Ehemann Marco Vuadens. Wenn sie von ihm spricht, werden ihre Gesichtszüge ganz weich. Sie hatte ihn beim Umbau der Auberge als Elektroinstal-lateur angeheuert – schliesslich blieb er und half mit, die Herberge zu führen.

«Jeden zweiten Tag wieder laufen können»

Nicole Niquille hatte wieder eine Herausforderung, einen Traum. Dass sie trotzdem schwierige Phasen zu überstehen hatte, versteht sich von selbst – physisch wie psychisch. Und obwohl sie sich als Gefangene ihres Körpers sieht, glaubt sie, dass Behinderte eigentlich ein reicheres Leben führten als die «Normalen». Die Hinder-nisse in ihrem Leben hätten sie dazu gebracht, inner-lich weiter zu kommen, innerlich auf Reisen zu gehen. Darum sagt sie auch: «Könnte ich mir etwas wünschen, dann möchte ich natürlich wieder gehen können. Aber nur jeden zweiten Tag. Ich möchte keine der beiden Wel-ten missen.» Sie schmunzelt zwar, aber man merkt, dass sie es ernst meint. 2010 verkaufte sie die Auberge und zog mit ihrem Mann zurück nach Charmey, in das Dorf ihrer Jugend. Was nicht heisst, dass sie sich aufs Altenteil zurückziehen will. Natürlich hat sie immer noch Ziele: Nach wie vor ist sie verbunden mit ihrem Spitalprojekt in Nepal (siehe Kasten). Und bald wird sie zu einer Ex-pedition aufbrechen: Eine Gruppe von nepalesischen und europäischen Frauen will den Putha Hiunchuli er-klimmen, einen 7246 Meter hohen Gipfel in der Daulag-hiri-Region in Nepal. Nicole Niquille wird als Basecamp-Managerin arbeiten und ihre Erfahrungen weitergeben (www. sisters-expedition.com). Darauf freut sie sich. Und auch auf die Auszeichnung durch den Schweizerischen Bergführerverband. Der will sie zum ersten weiblichen Ehrenmitglied ernennen. Das macht sie stolz. Keine Fra-ge: Sie hat es verdient. ✸

«Das Kind, das ich nie hatte» 2001 reiste Nicole Niquille mit ihrem Mann für ein Film-projekt in die Mongolei. Sie teilte das Leben mit Noma-den, lebte in einer Jurte und war beeindruckt von der Gastfreundschaft der Einheimischen: «Sie haben nichts und geben alles.» Auf ihren Expeditionen hatte sie auch Freundschaften in Nepal geschlossen. Also entschied sie sich, ihre Invalidenrente von 200 000 Franken in ein huma-nitäres Projekt in Nepal zu investieren. Mit ihren nepale-sischen Freunden stellte sie das «Hôpital Pasang Lhamu et Nicole Niquille» auf die Beine. Dazu muss man wissen: Pasang Lhamu war eine nepa-lesische Bergsteigerin, die sich vehement für bessere Lebensbedingungen für Kinder und Frauen in ihrem Land einsetzte. Dafür bestieg sie 1993 symbolisch den Mount Everest – und kam beim Abstieg ums Leben. Genau des-halb war es Nicole Niquille wichtig, dass das Spital auch über eine Geburtenabteilung verfügt. 2005 öffnete es seine Tore und ist für rund 10 000 Menschen das einzige Spital, das in vernünftiger Distanz liegt – auch wenn das mitunter drei Tagesmärsche sind. Heute funktioniert das Spital weitgehend autonom, 1000 Patienten werden dort monatlich behandelt. Sie sagt: «Das Projekt ist wie das Kind, das ich nie hatte. Auch wenn das vielleicht ein biss-chen pathetisch klingt.»

www.hopital-lukla.ch

«Et soudain, une montagne dans le ciel …», Nicole Niquille, Verlag Favre, Lausanne (nur in Französisch).