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Markus Finke Nikolaj Vasil’evič Gogol’ und seine Darstellung in der deutschsprachigen Literaturgeschichtsschreibung 1. Einleitung Nikolaj Vasil’evič Gogol’ (1809 1852) war schon zu Lebzeiten umstritten, nicht etwa wegen seines Erfolges, sondern wegen der Wirkung seiner Werke, v.a. des Dramas „Revizor (Der Revisor)“ und des Romans „Mertvye duši (Die toten Seelen)“. Hinzu kommt die innere Entwicklung seines Schaffens, das mit der erfolgreichen frühen Erzählungssammlung „Večera na chutore bliz Dikan’ki (Abende auf dem Vorwerk bei Dikan’ka)“ noch deutlich an romantische Vorstellungen anknüpft. Andererseits gilt er als der Kronzeuge des russischen Frührealismus, der „Natürlichen Schule“ (russ.: Natural’naja škola), obwohl bestimmte Elemente romantischer Provenienz in seinen Werken fortleben und allenfalls eine eigenartige Verbindung mit „realistisch“ zu nennenden Strategien eingehen. So wäre also zu prüfen, wie weit die Literaturgeschichten das Problem „Gogol’“ berücksichtigen. 1 Der Vergleich der Gogol’Darstellung in den verschiedenen Literaturgeschichten in deutscher Sprache soll sich daher auf vier Punkte konzentrieren: a) Wird Gogol’ in die Romantik, in den Realismus, in beide Epochen oder überhaupt nicht eingeordnet? Hierbei werden vorab die Inhaltsverzeichnisse miteinander verglichen. Danach wird auf die Gogol’ betreffenden Textstellen in den Literaturgeschichten Bezug genommen. b) Worin liegt nach Meinung der Autoren die Hauptbedeutung von Gogol’s Schaffen? c) Ergeben sich Unterschiede bei der Behandlung eines konkreten Werkes? Hierfür werden die einzelnen Darstellungen von „Šinel’ (Der Mantel)“ verglichen. d) Inwieweit wird dem Problem von Gogol’s Stil Rechnung getragen? 1 Vgl. zum Forschungsstand bzw. zu grundlegenden Fragen zu Gogol’ und seinem Werk die im Anhang genannte Sekundärliteratur.

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Markus Finke  

Nikolaj Vasil’evič Gogol’ und seine Darstellung in der deutschsprachigen Literaturgeschichtsschreibung 

1. Einleitung 

Nikolaj Vasil’evič Gogol’  (1809  ‐  1852) war  schon  zu Lebzeiten um‐stritten,  nicht  etwa wegen  seines Erfolges,  sondern wegen der Wir‐kung seiner Werke, v.a. des Dramas „Revizor (Der Revisor)“ und des Romans „Mertvye duši  (Die  toten Seelen)“. Hinzu kommt die  innere Entwicklung seines Schaffens, das mit der erfolgreichen frühen Erzäh‐lungssammlung  „Večera na  chutore  bliz Dikan’ki  (Abende  auf dem Vorwerk bei Dikan’ka)“ noch deutlich an romantische Vorstellungen anknüpft. Andererseits gilt er als der Kronzeuge des russischen Früh‐realismus,  der  „Natürlichen  Schule“  (russ.: Natural’naja  škola),  ob‐wohl bestimmte Elemente romantischer Provenienz in seinen Werken fortleben und allenfalls eine eigenartige Verbindung mit „realistisch“ zu nennenden Strategien eingehen. So wäre also zu prüfen, wie weit die Literaturgeschichten das Problem „Gogol’“ berücksichtigen.1   Der Vergleich der Gogol’‐Darstellung in den verschiedenen Litera‐turgeschichten  in deutscher  Sprache  soll  sich daher  auf vier Punkte konzentrieren: a) Wird Gogol’  in die Romantik,  in den Realismus,  in beide Epochen oder überhaupt nicht eingeordnet? Hierbei werden vorab die Inhalts‐verzeichnisse  miteinander  verglichen.  Danach  wird  auf  die  Gogol’ betreffenden  Textstellen  in  den  Literaturgeschichten  Bezug  genom‐men. b) Worin  liegt nach Meinung der Autoren die Hauptbedeutung von Gogol’s Schaffen? c)  Ergeben  sich  Unterschiede  bei  der  Behandlung  eines  konkreten Werkes? Hierfür werden die einzelnen Darstellungen von „Šinel’ (Der Mantel)“ verglichen. d) Inwieweit wird dem Problem von Gogol’s Stil Rechnung getragen? 

 

1   Vgl. zum Forschungsstand bzw. zu grundlegenden Fragen zu Gogol’ und sei‐

nem Werk die im Anhang genannte Sekundärliteratur. 

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2. Zur Einordnung von Gogol’s Werk 

a) Gogol’s Literatur zwischen Romantik und Realismus 

In  den  Inhaltsverzeichnissen  rechnet  von  den  19  verglichenen  Lite‐raturgeschichten  lediglich  Polonskij  1902 Gogol’  dem  Realismus  zu (11. Kapitel. Gogolj und der russische Realismus). Drei Autoren entschei‐den sich dafür, Gogol’  in die Romantik einzugliedern: Stender‐Peter‐sen 1993 (zwei Gogol’ betreffende Kapitel in Die Romantische Periode), Tschižewskij  1964  (sieben Gogol’  betreffende Abschnitte  im Kapitel Prosadichtung der Romantik im Buch Romantik) und Lauer 2000 (Gogol’ im  Kapitel  Die  Puškin‐Zeit  (1820‐1840)).  Zwei  Literaturgeschichten kennzeichnen Gogol’s Werk  im  Inhaltsverzeichnis als Übergang von der Romantik zu Realismus: von Reinholdt 1886 (26. Kapitel. Übergang von  der  Romantik  zum  Realismus: Gogol. Die  progressive  Bewegung  der dreissiger  und  vierziger  Jahre:  Čaadajew,  Belinskij  und  seine  idealistische Kritik) und Waegemans 1998  (Gogol’  in: Von der Romantik zum Realis‐mus).   Die  anderen Autoren  vermeiden  im  Inhaltsverzeichnis  eine  Ein‐ordnung Gogol’s in Romantik, Realismus oder Übergang von der Ro‐mantik  zum  Realismus.  Zwei Autoren  ordnen Gogol’  in  die  so  ge‐nannte klassische Zeit  ein: Luther  1924  (Gogol  in: Die  klassische Zeit) und Braun  1947  (ein Gogol’ gewidmetes Kapitel  im Teil: Die  großen Klassiker). Drei weitere Autoren  teilen Gogol’  im  Inhaltsverzeichnis lediglich in eine von Jahreszahlen markierte Periode ein: Brodski 1954 behandelt Gogol’  in Die dreißiger und vierziger Jahre, Lettenbauer 1958 in Die Literatur von 1800 – 1850 und Düwel 1965 in Die russische Litera‐tur  von  1816‐42.  Graßhoff  1974  und  Düwel/Graßhoff  1986  widmen Gogol’ ein Einzelkapitel und vermeiden  jegliche Einordnung. Ebenso bekommt Gogol’ bei Eliasberg 1925 ein Einzelkapitel, wobei Eliasberg die russische Literatur nur in personengebundenen Einzelkapiteln be‐handelt. Die übrigen vier Autoren sind  in  ihrer Einteilung ebenso ei‐gen: Brückner 1905 benennt ein Kapitel Der Roman und Gogol. Sakulin 1927 behandelt Gogol’  im Abschnitt Die künstlerische Prosa des Kapi‐tels Die Adelsliteratur, welches wiederum in den Teil Dritte Periode der neuen russischen Literatur eingegliedert ist. Von Guenther 1964 behan‐delt Gogol’ im Kapitel Russische Polarität und Mirskij 1964 benennt ei‐ne ganze Periode Die Zeit Gogols und behandelt dessen Werk darin.   Darüber, dass Gogol’s Werk die Natürliche Schule bzw. den Rea‐lismus begründet hat, herrscht Einigkeit bei den Autoren der Litera‐turgeschichten. Uneinig  sind  sie  sich  aber  bei  der  Behandlung  von Gogol’s Werk an sich. Hier lassen sich drei Tendenzen erkennen: 

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  Eine häufig anzutreffende Einordnung ist, dass Gogol’ erst Roman‐tiker war und dann  zum Realisten wurde. So  äußert  sich von Rein‐holdt: „In  seinen  ersten Novellen  [...]  ist Gogolj übrigens noch ganz Romantiker“  (von Reinholdt 1886, 611). Mit den Petersburger Erzäh‐lungen vollziehe  sich dann der Schritt  in den Realismus, wobei von Reinholdt von „minutiösem Realismus“ und „photographischer Treue der Darstellung“ spricht (von Reinholdt 1886, 613). Für Brückner zeigt sich  schon  in  Gogol’s  ukrainischen  Erzählungen  eine  Doppelnatur: einerseits  eine  „sich bis  zur Phantastik  steigernde Romantik“,  ande‐rerseits  „ein Realismus,  eine wunderbar  treue und  scharfe Beobach‐tungsgabe“ (Brückner 1905, 236). Fortan setzte sich, laut Brückner, der Realismus in Gogol’s Werk immer mehr durch. Im „Revizor“ habe er [der Realismus] sich schließlich behauptet: 

Der Realismus,  ja der Naturalismus  feiert  seinen höchsten Triumph: die ge‐naueste Beobachtung und die schärfste Wiedergabe des Gesehenen  [...]. Den Romantiker  verrät  nur  noch  einiges Wenige, wie  im  ,Revisor‘ der  Stich  ins Groteske [...]. (Brückner 1905, 244) 

Auch für die an der marxistischen Ideologie orientierten Literaturge‐schichten (Sakulin 1927, Brodski 1954, Düwel 1965, Graßhoff 1974 und Düwel/Graßhoff 1986) ist Gogol’ zunächst Romantiker, später wird er zum Realisten. Als Wendepunkt werden zumeist die „Peterburgskie rasskazy (Petersburger Erzählungen)“ angesehen.   Andere Autoren bezeichnen Gogol’ zwar als Begründer des Rea‐lismus, Gogol’ selbst aber wollen sie nicht Realist nennen. Für Elias‐berg ist Gogol’ nur im gleichen Maße zu den Realisten zu rechnen wie Homer  (Eliasberg  1925,  31f.):  „Seine  Art  ist  phantastisch,  zuweilen romantisch,  aber  niemals  realistisch.“  (Eliasberg  1925,  32)  Eliasberg verweist auf eine Entdeckung der russischen Kritik von 1909 zur Feier von Gogol’s 100. Geburtstag, als man sein ganzes Werk durchforschte und keine einzige Zeile fand, „die die Wirklichkeit einfach und natür‐lich wiedergäbe;  alles  ist  ins Maßlose übertrieben oder  ins Groteske verzerrt.“ (ebenda) Für Setschkareff ist das Werk Gogol’s „eine groß‐artige Synthese aller Richtungen“ (Setschkareff 1949, 89). Setschkareff argumentiert,  dass man  Gogol’s Werk  nur  verstehen  könne, wenn man  seine Verwurzelung  in der Religion kennt und  bezeichnet den Teufel  als  Hauptgestalt  von  Gogol’s Werk  (Setschkareff  1949,  90). Weiterhin sei es 

das Bild unversöhnlicher Gegensätze. Schon der Widerstreit zwischen Gogol dem Realisten und Gogol dem Romantiker ist nicht gelöst. Scheinbar unmög‐liche  Verbindungen  werden  bei  ihm  großartige Wirklichkeit.  (Setschkareff 1949, 92) 

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Auf  religiöse Einflüsse verweist auch Braun,  indem er Gogol’ als „I‐dealist[en] und Wahrheitssucher“ bezeichnet und als „vielleicht de[n] erste[n]  der  vielen  Gottsucher  in  der  russischen  Literatur“  (Braun 1947, 111). An einer anderen Stelle bezeichnet Braun Gogol’ als „ex‐pressionistischen  Tendenzdichter“  (Braun  1949,  117).  Für  Stender‐Petersen bietet Gogol’ ähnlich wie bei Setschkareff „das Bild seltsam kontrastierender,  paradoxer  Tendenzen“  (Stender‐Petersen  1993,  II, 165). Mit der  bereits  erwähnten Zweiteilung der Gogol’‐Darstellung (Der  romantische  Stil  Gogol’s  und  Der  groteske  Stil  Gogol’s)  versucht Stender‐Petersen diese Tendenzen aufzuschlüsseln. Für ihn überwiegt das Romantische bei Gogol’ bis  in die „Peterburgskie rasskazy“. Das Groteske  bestimmt  Gogol’s  Werk  im  „Revizor“  und  in  „Mertvye duši“. Für Lettenbauer kann Gogol’s Werk nicht  realistisch verstan‐den werden, weil  er  nicht  die Wirklichkeit widerspiegelte,  sondern seine  eigene,  groteske Welt  schuf  (Lettenbauer  1958,  120f.). Warum Gogol’  realistisch  verstanden  wurde,  hat  mit  der  Darstellung  der „kleinen Leute“ zu tun, die bei ihm zum ersten Mal zu bemerken war und  an  der  sich  die  Realisten  orientierten  (Lettenbauer  1958,  122). Auch  für Waegemans gilt Gogol’ zwar als Vorbild der Realisten, „er war jedoch außerdem noch ein Phantast, der phantastischste aller rus‐sischen Schriftsteller, und ein Mystiker.“ (Waegemans 1998, 104) Mir‐skij  hingegen  betont  zwar  auch die  romantischen und  fantastischen Elemente bei Gogol’  (Mirskij  1964,  148). Für  ihn  ist Gogol’  aber vor allen Dingen ein Satiriker  (Mirskij 1964, 143f.), der ebenso durch sei‐nen besonderen Stil und durch seine Originalität Bedeutung erlangte (Mirskij 1964, 145). Zu einer ähnlichen Meinung kommt Tschižewskij, der auch das Romantische  in den Frühwerken Gogol’s  (Tschižewskij 1964, 99f.) und das Groteske in den Spätwerken diskutiert (Tschižew‐skij 1964, 108). Für  ihn  ist Gogol’ aber hauptsächlich ein Stilkünstler (Tschižewskij 1964, 108‐113).   Für manche Autoren, die Gogol’ zwar ebenso wie alle anderen als Begründer der  realistischen Literatur bezeichnen,  ist er  selbst  jedoch ein Romantiker. Für Luther hat Gogol’ die realistische Literatur stark beeinflusst, weil u.a. das soziale Mitleid in den „Peterburgskie rasska‐zy“ zum ersten Mal zum Vorschein kommt, „aber  trotz alledem war er selbst weit mehr Bekenner als Ankläger und kein Realist, sondern ein Romantiker,  ja vielleicht der echteste und eigenartigste Romanti‐ker, den Rußland besessen hat.“  (Luther 1924, 195f.). Luther begrün‐det  seine Meinung mit  der  Problematisierung  der Wirklichkeit  als Grundzug der Romantik. So habe auch Gogol’ nie  ein getreues Bild der Wirklichkeit gegeben und immer ins Maßlose übertrieben (Luther 

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1924, 196). Auch  für von Guenther 1964  ist Gogol’ eindeutig ein Ro‐mantiker. Das Gogol’  oft  zugeschriebene  „Lachen unter Tränen“  ist für von Guenther romantisch, denn, so der Autor, „gerade in der Ver‐schmelzung der Gefühle, im Ineinanderfließen der Empfindungen, im Zueinandergleiten  von  Traum  und  Wirklichkeit,  von  Vision  und Wahrheit liegt ja das Essentielle der Romantik. ,Lachen durch Tränen‘ kann  man  als  Kronbeispiel  romantischer  Empfindungen  ansehen.“ (von Guenther 1964, 45) Auch das für Gogol’ angeblich bezeichnende Mitleid mit den „Erniedrigten und Beleidigten“  ist für von Guenther romantisch  (von Guenther  1964,  45). Zu  einer  ähnlichen Charakteri‐sierung Gogol’s kommt Lauer: 

Er  [Gogol’]  bewies,  daß  das  Prosamedium  ebensogut wie  die Verssprache, wenn nicht besser, romantische Wortgespinste einfangen kann. So wurde Go‐gol’ der  reine Romantiker der  russischen Literatur und  ihr erster großer Er‐zähler. (Lauer 2000, 227) 

b) Zur Bedeutung von Gogol’s Werk 

Nach  den Autoren  der  Literaturgeschichten  liegt  eine Hauptbedeu‐tung von Gogol’s Werk darin, dass er die Natürliche Schule und den Realismus begründet hat  (unabhängig davon, ob man  ihn nun selbst als Realisten  bezeichnet  oder  nicht). Darauf  verweisen  alle Autoren entweder in den Gogol’ betreffenden Kapiteln oder in späteren Kapi‐teln, wenn es um die Natürliche Schule oder um den Realismus geht. Übereinstimmend mit anderen begründet Braun dies damit, dass Go‐gol’ Fragen der russischen Gegenwart  in die Literatur eingeführt hat und „ihr die Richtung zur weltanschaulichen und ethischen Problem‐stellung gewiesen“ hat (Braun 1947 S.126). Manche Autoren bestehen aber  auch  auf  eine  andere,  für  sie wichtige  Bedeutung,  die Gogol’s Werk  hatte. Hierbei  lassen  sich wiederum  drei Haupttendenzen  er‐kennen.   Einige  Autoren  bezeichnen  Gogol’s Werk  als  unerlässlichen  Be‐standteil der russischen Literatur überhaupt, ohne welches sie in ihrer weiteren Entwicklung nicht denkbar gewesen wäre und dessen Aus‐wirkungen bis  in die  (jeweils zugehörige) Gegenwart zu  spüren  sei. So äußert sich Braun wie folgt: 

Nikolai Gogol  [...]  ist  neben  Puschkin  der  zweite Grundpfeiler  des  literari‐schen  Schaffens  in Rußland und  in  seiner unmittelbaren Auswirkung  sogar der stärkere Pfeiler. Während Puschkins Einfluß sich mit der Zeit immer mehr auf  das  schwer  erfaßbare Gebiet  allgemeiner  dichterischer Grundlagen  be‐schränkte,  ist der Einfluß von Gogol bis auf den heutigen Tag mit einer  fast 

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handgreiflichen Deutlichkeit zu spüren. Puschkin hat die  russische Literatur geschaffen, Gogol sie auf ihren endgültigen Weg gebracht. (Braun 1947, 100) 

Für Setschkareff  ist Gogol’ ein Schriftsteller, „dem  in Stoff und Tech‐nik  fast alle großen Russen des 19. und 20. Jahrhunderts verpflichtet sind“ (Setschkareff 1949, 89). Auch Lettenbauer äußert sich ähnlich: 

So gewaltig die Bedeutung Puškins für das Aufblühen einer nationalen Litera‐tur  war,  so  stark  diese  in  ihren  Grundlagen  auch  weiterhin  durch  ihn beeinflußt worden ist, so ist doch die Wirkung, die von Nikolaj Gogol [...] auf die  russische Literatur  bis  ins  20. Jahrhundert  hinein  ausgegangen  ist,  noch bestimmender,  zumindest  augenfälliger,  greifbarer  gewesen,  eine Wirkung, die sich auch auf die Literatursprache erstreckt. (Lettenbauer 1958, 112f.) 

Ebenso meint Tschižewskij  in seinem Kapitel über die Prosaisten der Romantik: „Ohne Zweifel überragt die hier dargestellten und  später zu  erwähnenden  Prosaschriftsteller  [...]  durch  seine  Begabung,  aber auch durch seinen bis jetzt noch anhaltenden Einfluß auf die russische Literatur Nikolaj  Vasiljevič Gogol’  [...].“  (Tschižewskij  1964,  98) Nach von Guenthers Meinung „schuf Gogol als der größte Menschenschil‐derer  eine  russische Prosa, deren Nachhall noch weit bis  in die Ge‐genwart hinein zu spüren  ist. Die großen russischen Erzähler Dosto‐jewski, Melnikow, Lesskow und Saltykow, aber auch Prosaiker unter den Symbolisten, wie Remisow, Andrei Bjely und Samjatin, sind ohne Gogol nicht denkbar.“ (von Guenther 1964, 48)   In verschiedenen Literaturgeschichten wird zuweilen auch auf die gattungsspezifische  Bedeutung Gogol’s  Bezug  genommen. Wie  sich schon aus dem Inhaltsverzeichnis (s.o.) ableiten lässt, betont Brückner die außerordentliche Bedeutung Gogol’s für die Entwicklung des rus‐sischen Romans. Gogol’  habe dasselbe  für den Roman  geleistet wie Puškin für die Poesie,  indem sie „nach Sprache und Inhalt von  ihren Stelzen herabsteigen“. Beide zeigten, „was  für Schätze  im einfachen, umgebenden Leben, unter Bauern, auf der einförmigen weiten Ebene zu  heben  sind“  (Brückner  1905,  250).  Ebenso  sei  die  erste  russische Komödie  nach  der  Satire  Griboedovs  das Werk  Gogol’s  (Brückner 1905,  229). Auch Düwel betont gleich  zu Beginn  seines Kapitels die Bedeutung Gogol’s für die Entwicklung bzw. Weiterentwicklung der literarischen Gattungen: 

Mit seinen Zyklen volkstümlicher und satirischer Erzählungen schuf er Meis‐terwerke  russischer Novellistik,  die  Turgenjew  und Dostojewski,  Saltykow‐Schtschedrin, Tschechow u.a.  inspirierten. Mit seiner größten Prosadichtung, den Toten Seelen, legte er den Grundstein für das russische Romanepos, das in L. Tolstoj und Scholochow  seine bedeutendsten Schöpfer gefunden hat und einen eigenen Platz  in der Weltliteratur einnimmt. Mit seinem dramatischen Schaffen  trug  Gogol  in  hervorragendem Maße  zur  Entwicklung  des  russi‐

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schen  realistischen Theaters  bei. Er  nahm die Tradition der  sozialkritischen Komödie, wie besonders Fonwisin und Gribojedow sie begründet hatten, auf und  führte  sie  zur  künstlerischen Vollendung. Der  russischen Charakterkö‐modie wies er neue Wege, die von A. Ostrowski, Suchowo‐Kobylin u.a. weiter beschritten wurden. (Düwel 1965, 304) 

Mirskij  bezeichnet  den  „Revizor“  als  beste  Komödie  in  russischer Sprache  und  begründet  dies mit  überragender Charakterzeichnung, Dialogführung  und  dem  auffallenden  Kunstverstand, mit  dem  das Stück geschaffen sei (Mirskij 1964, 151). Für Lettenbauer ist der „Revi‐zor“  sogar eine der bedeutendsten Komödien der Weltliteratur  (Let‐tenbauer 1958, 118). Die gattungsspezifische Bedeutung der „Mertvye duši“ versucht Lettenbauer zu erläutern,  indem er auf frühere Aben‐teuerromane aus dem 17. und 19. Jahrhundert  (Narežnyj und Bulga‐rin)  hinweist,  in  deren  Tradition  Gogol’s  Roman  steht.  Ebenso  be‐nennt  er wie viele  andere Autoren die Beziehung dieses Werkes  zu Dantes  „Göttlicher  Komödie“  (Lettenbauer  1958,  119).  Lauer  nennt den „Revizor“ übereinstimmend mit Lettenbauer eine der besten Ko‐mödien „des gesamten Weltrepertoires“  (Lauer 2000, 235f.). Genauer auf die gattungsgeschichtlichen Aspekte v.a. beim „Revizor“ und den „Mertvye  duši“  geht  auch  Stender‐Petersen  ein  (Stender‐Petersen 1993, II, 174‐182).   Einige Autoren halten  auch  andere Aspekte  in Gogol’s Werk  für wesentlich.  Für  Eliasberg  beginnt  die  große  russische  Literatur,  die auch außerhalb Russlands bekannt geworden ist, erst mit Gogol’: „Er ist der Vater des  auch dem Nichtrussen bekannten Teiles der  russi‐schen  Literatur,  nämlich  der  russischen  Prosa.“  (Eliasberg  1925,  27) Für Luther  ist Gogol’  einer der  „genialsten Karikaturenzeichner der Weltliteratur“ (Luther 1924, 196). Mirskij sieht die Bedeutung von Go‐gol’s Werk v.a. in seiner Originalität begründet: 

Es  stellt  eine  der  unfassbarsten,  überraschendsten  und  originellsten Welten dar, die  je von einem Wortkünstler geschaffen wurden. Wenn die schöpferi‐sche Kraft einziger Wertmaßstab wäre, müßte Gogol als der größte russische Schriftsteller gelten. In dieser Hinsicht hält er den Vergleich mit Shakespeare oder Rabelais aus. (Mirskij 1964, 146) 

Wie  Luther  hält Mirskij Gogol’  für  einen  bedeutenden  literarischen Karikaturisten, wie  im  folgenden  Zitat  zum Ausdruck  kommt:  „Er zeichnet  seine Figuren wie  ein Karikaturist  – hervorstechende Züge werden  übertrieben  und  auf  geometrische  Grundformen  reduziert. Dabei sind die Karikaturen von einer Überzeugungskraft und Lebens‐treue – meist erzielt er das mit einem Hauch völlig unerwarteter Reali‐tät  –,  daß  sie  selbst  die  sichtbare  Welt  zu  übertreffen  scheinen.“ (Mirskij  1964,  147)  Braun  hingegen  verweist  auf  einen  anderen As‐

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Die Geschichte der russischen Literatur 

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pekt: „Gogol  ist der erste  russische Dichter und einer der ersten der Weltliteratur, der die  lebendige Beziehung zwischen dem Menschen und den Dingen seiner Umgebung entdeckt hat und mit unheimlicher Sicherheit  zum  Ausdruck  bringt,  daß  Hauseinrichtungen,  Kleider usw.  ein  Bestandteil  der menschlichen  Persönlichkeit  sein  können“ (Braun 1947, 114). U.a. wegen dieses Aspekts habe sich sein Einfluss auf spätere Literaten ausgewirkt: „Diese Entdeckung  ist aus der  jün‐geren russischen Dichtung nicht mehr wegzudenken.“ (ebenda) Laut Braun war Gogol’ auch „der  erste  russische Dichter, der das Wetter und die Landschaft in den Dienst dieser indirekten Charakterisierung durch  scheinbar  belanglose Kleinigkeiten  gestellt  hat.“  (Braun  1947, 114f.) Wie Lettenbauer (s.o.) hebt auch Brodski die Bedeutung für die Entwicklung  der  Literatursprache  seiner  Zeit  hervor  (Brodski  1954, 82f.). Darüber hinaus bringt er Lenin und Stalin mit Gogol’s Werken in Verbindung (Brodski 1954, 84), wie auch bei den anderen sozialis‐tisch  orientierten  Literaturgeschichten Querverbindungen  zu  Perso‐nen der marxistischen Lehre nicht  ausbleiben. Überhaupt überwiegt in diesen Literaturgeschichten die Tendenz einer sozialpolitischen Be‐deutung Gogol’s. Beispielsweise schreibt Graßhoff: 

Schonungslos deckte Gogol die Klassengegensätze der feudalabsolutistischen Ordnung auf. Indem er die parasitäre Lebensweise der herrschenden Klassen der Lächerlichkeit preisgab, versinnbildlichte  er die historische Überlebtheit des zaristischen Rußlands. (Graßhoff 1974, 137) 

c) Zur Behandlung von „Šinel’“ 

Bei der Behandlung dieses Werkes in den Literaturgeschichten lassen sich vier verschiedene Darstellungsweisen erkennen:   Unter  den  verglichenen Werken  ist  es  lediglich  die  Literaturge‐schichte  von  Polonskij,  die  „Šinel’“ mit  keinem Wort  bedenkt. Von Reinholdt erwähnt die Erzählung nur beiläufig,  indem er sie  im Zu‐sammenhang mit den anderen „Peterburgskie rasskazy“ als Werk be‐handelt,  worin  viel  Fantastisches  aber  auch  Lebensnahes  sei. Man könne das Elend  der  lächerlichen Menschen, das Manko der  Ideale und  die  Verkrüppelung  der Menschennatur  fühlen  (von  Reinholdt 1886,  613). Bei  Sakulin wird  „Šinel’“  im Gogol’ gewidmeten Kapitel nicht explizit erwähnt, dafür aber an zwei anderen Stellen, wo es um Zusammenhänge mit Puškin bzw. Dostoevskij geht (Sakulin 1927, 136 u. 154). 

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Markus Finke: Gogol’ in der Literaturgeschichtsschreibung 

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  Die  anderen  ideologisch  bestimmten  Literaturgeschichten  (Brod‐ski, Graßhoff, Düwel)  gehen  ausführlich  auf die Erzählung  ein und deuten sie sozialkritisch. Graßhoff schreibt: 

Der Mantel gilt zu Recht als das programmatische Werk des klassischen russi‐schen Humanismus [...]. Die Geschichte vom gestohlenen Mantel verwandelt sich bei Gogol  in eine ergreifende Geschichte vom gestohlenen Menschenle‐ben  in  der  zaristischen Gesellschaft. Das  Schicksal  des  armseligen  Beamten Akaki Akakjewitsch Baschmatschkin, dieses stillen Opfers einer unmenschli‐chen Gesellschaft, wird zur scharfen Anklage gegen das aristokratisch‐büro‐kratische System. Der soziale Humanismus der Novelle trägt aktiven Charak‐ter. (Graßhoff 1974, 147) 

Zu  einer  sozialkritischen  Deutung  tendiert  auch  Luther:  „Aber  er [Gogol’] sieht diese  lächerlichen Geschöpfe nicht nur als Erzeugnisse ihrer Umgebung, sondern auch als Opfer dieser Umwelt. Zur sozialen Satire gesellt sich das soziale Mitleid und macht, daß wir das Mensch‐liche, die  lebendige Seele  in diesen verachteten Wesen erkennen, mit ihnen leiden und sie lieb gewinnen.“ (Luther 1924, 201)   Andere  Autoren  legen  „Šinel’“  völlig  anders  aus.  Setschkareff schreibt: „Die berühmte Novelle Gogol’s ‚Der Mantel‘ [...] soll nur zei‐gen,  wie  der  Teufel  auch  den  geringsten  Gegenstand  nicht  ver‐schmäht, um seine Opfer zu stürzen. Die Menschen hängen am Ober‐flächlichen,  so  geht  Gott  in  ihrem  Inneren  verloren.“  (Setschkareff 1949, 91). Stender‐Petersen erwähnt zwar einen gewissen „humanitä‐ren  Zweck“  (Stender‐Petersen  1993,  II,  173)  des  „Šinel’“,  indem  er darauf  aufmerksam macht,  „daß  auch  kleine  Schreiber  das Anrecht auf eine menschenwürdige Existenz haben.“ (Ebenda) Daneben habe „Šinel’“ aber noch einen anderen Zweck „und zwar den, die verachte‐ten kleinen Existenzen dadurch den Sieg über die brutale Wirklichkeit davontragen  zu  lassen, daß  sie  ihr Dasein  jenseits des  irdischen Le‐bens im Namen des Ideals fortsetzen, entweder in einer selbstgestalte‐ten Welt  oder  als Werkzeug  einer  höheren  Gerechtigkeit  in  einer Phantomwelt.“  (Ebenda)  Auch Waegemans  erwähnt  soziales  Enga‐gement in „Šinel’“. Dahinter aber erkenne man „die eigenartige Kraft unlogischer Mächte“ (Waegemans 1998, 101). Für Tschižewskij ist „Ši‐nel’“ hauptsächlich aus  stilistischen Gründen bedeutsam  (vgl. Punkt d).   Die  übrigen  Autoren  beschränken  sich  zumeist  darauf,  auf  die Wirkung des „Šinel’“ hinzuweisen (was auch die zuvor besprochenen tun) und  lassen  sich  im Wesentlichen  nicht  auf  einen  eigenen Deu‐tungsversuch ein. Von Guenther schreibt: „Der ‚Mantel‘ ist eine Urzel‐le, aus der  sich das königliche Gebäude der  russischen Epik empor‐gewölbt hat.“  (Von Guenther 1964, 48) Mirskij meint dazu: „Gerade 

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Die Geschichte der russischen Literatur 

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das heftige Mitleid mit dem armen und unbedeutenden Helden hat die zeitgenössischen Leser so ungeheuer beeindruckt. Der Mantel war der Anlaß für eine ganze Serie philantropischer Geschichten über den kleine  Beamten,  deren  bedeutendste  Dostoevskijs  Arme  Leute  ist.“ (Mirskij  1964,  151) Braun  schreibt über  „Šinel’“, dass die Erzählung die russische Literatur geradezu aufgewühlt habe: 

„Es war  eigentlich  alles  neu  und  aufrüttelnd  an  ihr:  die  Erzähltechnik,  die psychologische Durcharbeitung, die einzelnen Menschentypen und vor allem das Thema [...]. Zum ersten Mal erscheint hier der ganz kleine Mann – ‚einer der Erniedrigten und Beleidigten‘, um mit Dostojewski zu reden – im Schein‐werferlicht der Dichtung. [...] Es ist nicht sicher, ob Gogol wirklich die Absicht hatte, eine Lanze für Humanität und soziale Gerechtigkeit zu brechen; mögli‐cherweise ergab sich dieser Unterton halb von selbst aus dem Handlungsab‐lauf  seiner  tragikomischen Groteske. Aber  jedenfalls hat die  literarische Öf‐fentlichkeit  seine Novelle gerade  in diesem Sinne verstanden und  so  ist der ‚Mantel‘  tatsächlich  zum  Ausgangspunkt  der  gesamten  sozial‐humanitären Literatur in Rußland geworden [...].“ (Braun 1947, 104f.) 

d) Zur Behandlung von Gogol’s Stil 

Auch bei der Behandlung von Gogol’s Stil lassen sich wieder vier ver‐schiedene Arten der Darstellung  (bzw. Nichtdarstellung) unterschei‐den:   Von Reinholdt  1886, Polonskij  1902, Brückner  1905, Luther  1924, Sakulin  1927, Graßhoff  1974  und Düwel/Graßhoff  1986  gehen  nicht auf Gogol’s Stil ein.   Andere Autoren  (Eliasberg 1925, Setschkareff 1949, von Guenther 1964, Düwel 1965 und Waegemans 1998) äußern sich sehr allgemein zu Besonderheiten von Gogol’s Stil. Eliasberg charakterisiert  ihn bei‐spielsweise als „klug berechnete Vermischung  feinster Ziselierarbeit, unvergleichlich  poetischer  Stellen mit  bewußten  Plattheiten“  (Elias‐berg 1925, 33). Eine ähnliche Charakterisierung nimmt auch Setschka‐reff vor: „Im Gegensatz zu der klassisch‐präzisen Prosa Puschkins, die nach einer klaren Einheitssprache strebt, vermischt Gogol bewußt die verschiedenen Sprachstile und bringt durch das Nebeneinander  ‚ho‐her‘ und  ‚niedriger‘ Wörter stilistische Wirkungen hervor, die  in der ‚klassischen‘ Prosa durch die üblichen Stilmittel der Rhetorik erreicht wurden“  (Setschkareff 1949, 89). Von Guenther würdigt Gogol’s Stil, bleibt darin aber relativ abstrakt: „Gogols Stil ist von einer (manchmal etwas kauzigen) Eleganz und Vollendung [...]; er ist gewählt und fun‐kelnd,  er  ist  voll  glanzvollem Rhythmus,  bewegt und  in  sich  heiter 

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Markus Finke: Gogol’ in der Literaturgeschichtsschreibung 

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und kann  sich dabei doch ganz einfach geben“  (von Guenther 1964, 51).   Vier Autoren beschäftigen sich ausführlicher mit den stilistischen Besonderheiten des Schriftstellers. Lettenbauer, der an einigen Stellen auf  den  Stil  Gogol’s  eingeht,  schreibt  beispielsweise  in  Bezug  auf Mertvye duši: „Die hinreißende Komik, in die die Handlung meist ge‐stellt  ist,  beruht  auf mannigfachen  Kunstgriffen;  so  erzielen  neben Hyperbeln  und Alogismen  kleine  grammatikalische Veränderungen und Besonderheiten  in der Wortstellung  starke Wirkungen“  (Letten‐bauer  1958,  120). Wie  schon  an der Einteilung  Stender‐Petersens  zu erkennen ist (Der romantische Stil Gogol’s, Der groteske Stil Gogol’s), legt er Wert auf die stilistische Betrachtung der Werke des Schriftstellers. Stender‐Petersen geht bei der Behandlung der einzelnen Werke  folg‐lich  immer wieder  auf den Stil Gogol’s  ein. Zu  „Taras Bul’ba“  (von Stender‐Petersen als Novelle bezeichnet) schreibt er in Der romantische Stil Gogol’s: „Sie [die Novelle] war in einer gehobenen Sprache erzählt, die mit allen Mitteln der Kunst geschmückt war, mit Antithesen und Parallelismen, mit Vergleichen und Metaphern, mit Beiwörtern und bildlichen Ausdrücken.“  (Stender‐Petersen  1993,  II,  168) Gogol’s  Stil in den frühen Werken, den Stender‐Petersen als „lyrische, ekstatische Poesie“ bezeichnet (ebenda), führt den Autor zu der Suggestion, „daß die wahre Romantik  [...]  hier  plötzlich Wirklichkeit  geworden war“, was die Einteilung (Der romantische Stil Gogol’s) begründet. In Der gro‐teske Stil Gogol’s behandelt der Autor „Revizor“ und „Mertvye duši“, wobei  er mit  dem  Ausdruck  „grotesk“  die  jeweiligen  Themen  der Werke und deren Umsetzung meint und nicht wie zuvor die Sprache. Gogol’s  Scheitern  beim  zweiten  Teil  der  „Mertvye  duši“  begründet Stender‐Petersen mit der Unvereinbarkeit beider Stile, obwohl deren Kombination  von Gogol’  offenbar  angestrebt worden war  (Stender‐Petersen  1993,  II,  184). Mirskij  äußert  sich  ähnlich wie  Lettenbauer und  Stender‐Petersen  an mehreren  Stellen  zu Gogol’s  Stil  und  ver‐weist  auf  dessen  außergewöhnliche  Besonderheit  (z.B. Mirskij  1964, 147). Ebenso geschieht dies bei Lauer bei der Behandlung von „Šinel’“ (Lauer 2000, 234f.).   Drei  Autoren  gehen  in  ihrer  Darstellung  des  Schaffens  Gogol’s sehr ausführlich auf dessen Stil ein. Braun äußert sich auf sechs seiner 27 Gogol’ gewidmeten Seiten explizit zum Stil des Schriftstellers, wo‐bei er einige  längere Textbeispiele anführt. Für Braun  ist Gogol’ „ein Meister der schwierigen Satzperiode“ und „ein Meister des scheinbar ungezwungenen  Plauderstils“  (Braun  1947,  119).  Weiterhin  unter‐scheidet er bei Gogol’ zwei Stilarten: „die humoristische und die pa‐

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thetische“ (ebenda), die er  im Folgenden beide erläutert. Die Teilung des Gogol’schen  Stils  in diese  zwei Richtungen  ist mit der  Stender‐Petersens vergleichbar. Sehr ausführlich behandelt auch Brodski die‐sen Aspekt des  Schaffens Gogol’s. Hierbei  versucht Brodski die Be‐sonderheiten in der Sprache Gogol’s zu benennen und mit Beispielen zu belegen. Als hervorstechendste Merkmale der Sprache des Schrift‐stellers  nennt  Brodski:  „häufige  Hyperbeln“,  „weit  ausgesponnene Vergleiche“, „detaillierte Schilderungen und Aufzählungen von Ein‐zelheiten“,  „viele  Synonyme“,  „periodische  Wiederholungen  von Wörtern oder ganzen Sätzen“ und „die Durchsetzung der Sprache mit unliterarischen Wörtern“  (Brodski  1954,  81f).  Der  dritte  Autor,  der sehr ausführlich auf Gogol’s Stil eingeht ist Tschižewskij. In seiner 13 Seiten umfassenden Gogol’‐Darstellung verweist er immer wieder auf stilistische Besonderheiten Gogol’s und widmet  ihm außerdem noch explizit  die  letzten  drei  Seiten.  Hierbei  ist  beachtenswert,  dass  bei Tschižewskij zum ersten Mal  in den Literaturgeschichten der Begriff „skaz“ auftaucht  (z.B.  im Zusammenhang mit „Šinel’“ bei Tschižew‐skij 1964, 108), den Tschižewskij  im Folgenden  charakterisiert. Auch andere Autoren  (wie z.B. Braun  s.o.) weisen auf diese Erzähltechnik als  Eigenheit  des Gogol’schen  Stils  hin,  doch  nur  Tschižewskij  und Lauer (S.234) verwenden den Begriff „skaz“. Als „Lieblingskunstgrif‐fe“ des Schriftstellers bezeichnet Tschižewskij „Hyperbel und Oxymo‐ron“  (Tschižewskij  1964,  111).  Eine  auffallende  Besonderheit  seien auch die zahlreichen aus dem Ukrainischen abgeleiteten Wörter, „die weder  in  der  russischen  noch  in  irgendeiner  anderen  Sprache  vor‐kommen“  (Tschižewskij  1964,  114), was  der  Autor mit  zahlreichen Beispielen belegt. 

3. Zusammenfassung 

Nach  der  Lektüre  von  jeder  Gogol’‐Darstellung  in  19  Literaturge‐schichten ergibt sich ein ziemlich unterschiedliches Bild vom Schaffen dieses  Schriftstellers.  Schon  beim Vergleich  der  Inhaltsverzeichnisse ergaben  sich  gravierende  Unterschiede  zwischen  den  Literaturge‐schichten. Drei Autoren behandeln Gogol’  in der Romantik, zwei  im Übergang von der Romantik zum Realismus und einer im Realismus. Die restlichen dreizehn Autoren wählen andere, nicht auf Epochenbe‐zeichnungen bezogene Einteilungen.   Auch bei der Frage, ob Gogol’ selbst als Romantiker und/oder Rea‐list  zu  gelten  habe, waren  unterschiedliche Ansichten  festzustellen. Der Meinung,  dass  Gogol’  erst  Romantiker  war  und  dann  Realist 

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wurde, steht die Ansicht anderer Literaturhistoriker gegenüber, dass Gogol’s Werk  von  seinen  Zeitgenossen  zwar  realistisch  aufgefasst wurde, es aber eigentlich auf andere Deutungen zielte. Weiterhin gibt es Autoren, die Gogol’ ausschließlich als Romantiker betrachten, ob‐wohl er doch den Realismus begründet hat.   Bei  der  Frage  nach  der  Hauptbedeutung  von  Gogol’s  Schaffen herrscht Einigkeit darin, dass Gogol’ Werk den entscheidenden Schritt in den Realismus bedeutete. Darüber hinaus  sind manchen Autoren andere Aspekte wichtig. So betonen die einen Autoren die Bedeutung Gogol’s  für  die  Literatur  insgesamt,  andere  wiederum  heben  die Wichtigkeit der Werke des Schriftstellers für die Entwicklung einzel‐ner Gattungen hervor.   Bei der Untersuchung der Behandlung von „Šinel’“ gab es ebenso weit auseinander gehende Darstellungen. Manche Autoren erwähnen die Erzählung nicht bzw. nur beiläufig oder beschränken sich darauf, auf die Wirkung des Werkes hinzuweisen. In den meisten marxistisch orientierten Literaturgeschichten dominiert die  sozialkritische Lesart des „Šinel’“. Von den übrigen Autoren werden andere, zumeist in ei‐ne metaphysische Richtung  tendierende  Interpretationen vorgeschla‐gen.   Bei der Behandlung des Stils des Schriftstellers  setzt  sich das un‐terschiedliche  Bild, welches  die  Literaturgeschichten  zeichnen,  fort. Der Stil Gogol’s wird entweder überhaupt nicht gewürdigt, nur abs‐trakt geschildert oder aber ausführlich bzw. sehr detailliert behandelt, wobei die Autoren hier versuchen, dessen Besonderheiten zu benen‐nen und mit Beispielen zu belegen.    Ein Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass Gogol’s Werk die Ver‐fasser  von  Literaturgeschichten  vor  erhebliche  Probleme  bezüglich einer  Einteilung  in  Epochen,  der  Einschätzung  der  Bedeutung  der Texte, der  Interpretation einzelner Werke und auch der Behandlung des Stils stellt. Die vielen unterschiedlichen Ansichten der Autoren zu Gogol’s Werk haben aber wohl als  Indiz  für dessen Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit zu gelten.    

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Literaturverzeichnis 

1. Literaturgeschichten 

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Markus Finke: Gogol’ in der Literaturgeschichtsschreibung 

102                                                                    © Institut für Slawistik der FSU Jena, 2008 

Waegemans, E.  1998: Geschichte der  russischen Literatur  von Peter  dem Großen bis zur Gegenwart (1700‐1995). Konstanz. 

2. Weitere Literatur 

Amberg, L. 1986: Kirche, Liturgie und Frömmigkeit  im Schaffen von N.V. Gogol. Bern u.a. Jenness, R. K.  1995: Gogol’s Aesthetics Compared  to Major  Elements  of German Romanticism. New York u.a. Seidel‐Dreffke, B. 1992: Die Haupttendenzen der  internationalen Gogol’‐forschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Deutschsprachiges Ge‐biet, USA, Grossbritannien, Sowjetunion. Frankfurt a.M. Setschkareff, V. 1953: N.V. Gogol. Leben und Schaffen. Wiesbaden. Vinogradov, V. V. 1987: Gogol and the Natural School. Ann Arbor.