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»Nimm und lies!«Theologische Quereinstiege für Neugierige

Herausgegeben von Ralf K. Wüstenberg

Mit Beiträgen von Jens Schröter, Hartmut Rosenau, ChristophMarkschies, Georg Plasger, Markus H. Wörner, Saskia Wendel,

Wilfried Härle, Michael Weinrich, Notger Slenczka, Christiane Tietz,Walter Schmithals, Ralf K. Wüstenberg, Christoph Schwöbel,

Renate Wind und Ulrike Link-Wieczorek

Gütersloher Verlagshaus

Page 4: »Nimm und lies!« - bücher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlagsgruppe Random HouseFSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendeteFSC-zertifizierte Papier Munken Premiumliefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

1. AuflageCopyright © 2008 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Verviel-fältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Ver-arbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Init GmbH, BielefeldUmschlagmotiv: Lebanese Courtyard Garden, Chelsea Flower Show 2006, Designer:Nada Habet, © mauritius images / Garden Picture LibrarySatz: SatzWeise, FöhrenDruck und Einband: Tešínská Tiskárna AG, Cesky TešínPrinted in Czech RepublicISBN 978-3-579-08039-0

www.gtvh.de

Page 5: »Nimm und lies!« - bücher.de

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Jens SchröterWie alles begann – Paulus, der erste christliche Theologe . . . 11

Hartmut RosenauGottes Versöhnung gilt allen –Origenes oder das Paradies als Hörsaal . . . . . . . . . . . . . 30

Christoph MarkschiesGott recht glauben –Augustin oder Theologie zwischen Erfahrung und Schrifttreue 45

Georg PlasgerGottes Eigenart verstehen – Anselm von Canterbury oderder Auftakt zur Scholastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Markus H. WörnerGott denken – Thomas von Aquin oderTheologie aus Liebe zur Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . 86

Saskia WendelGott im Grund der Seele – Meister Eckhart undder Beginn der Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

Wilfried HärleGott fürchten und lieben – Martin Luther unddie Kunst lebenswichtiger Unterscheidungen . . . . . . . . . . 110

Michael WeinrichGott die Ehre geben – Johannes Calvin unddie Wahrhaftigkeit des christlichen Lebens . . . . . . . . . . . 126

Notger SlenczkaGott über die Religion wieder hoffähig machen –Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . 145

Inhalt 5

Page 6: »Nimm und lies!« - bücher.de

Christiane TietzGott und Religion sind zweierlei – Karl Barth unddie dialektische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

Walter SchmithalsGottes Wort verstehen – Rudolf Bultmann unddie hermeneutische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

Ralf K. WüstenbergGott in einer religionslosen Zeit – Dietrich Bonhoeffer unddie Theologie des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Christoph SchwöbelVon Gott unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts reden –Paul Tillich und die Theologie der Kultur . . . . . . . . . . . . 230

Renate WindProvokationen Gottes? – Dorothee Sölle und die Anfänge derpolitischen Theologie im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 254

Ulrike Link-WieczorekKirche als global player – religiöser Pluralismus undTheologie der Ökumene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Der Herausgeber, die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . 301

6 Inhalt

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Vorwort

»Nimm und lies!« Was wie ein rauer Imperativ erscheinen mag, soll ei-gentlich eine zarte Kinderstimme gewesen sein, die der Kirchenvater Au-gustin (354–430) im Garten seines Hauses in Mailand im Sommer desJahres 386 vernommen haben will: »Tolle, lege!« Gemeint war die Bibel,genauer Paulus. »Nimm und lies!« – Das vorliegende Buch lädt zu seinereigenen Lektüre ein. Es richtet sich an alle, die an theologischen Frageninteressiert sind – in der Hoffnung, dass sie sich beim Lesen hier und dawie in einem Garten fühlen, in den man sich an einem milden Sommer-abend zur Lektüre zurückzieht.

Wie es zum Buch kam, ist schnell erzählt. Die Idee zum vorliegendenBuch steht in enger Verbindung zu meiner Lehrtätigkeit an der FreienUniversität Berlin. Die Wahrnehmung der einzigen Professur für Evan-gelische Theologie, der einstigen Gollwitzer-Professur für Hörer allerFakultäten, fordert die Vermittlung der Theologie über die fachdiszi-plinären Grenzen hinaus. Zu den großen theologischen Überblicksvor-lesungen strömen neben der überschaubaren Zahl der Theologiestudie-renden viele Hörerinnen und Hörer anderer Disziplinen sowie eine stetigwachsende Zahl von theologisch interessierten Gasthörern. Was lehrtenPaulus, Augustin, Luther? Was dachten moderne Theologen und wohinentwickelt sich die Theologie? Wer den Diskurs über die Bedeutung vonReligion in der Gesellschaft verstehen und mitgestalten will, braucht Wis-sen, vor allem eine christlich-theologische Grundbildung. Dieses Buchsoll zu einer anspruchsvollen theologischen Basisbildung beitragen, in-dem es in handhabbarer Form Quereinstiege zu den zentralen Stationentheologischen Denkens durch die großen Epochen hindurch anbietet.Dieser Anspruch stellt vor allem hinsichtlich der Auswahl der Epochenund der zu porträtierenden Theologen eine Herausforderung dar.

Für diesen Band sind mehrere Leitkriterien maßgebend: Wer sind dieImpulsgeber in der Theologie gewesen? Wer die großen Systemdenker?Welche Lebensläufe sind interessant, so dass sie sich für den biogra-fischen Quereinstieg über die ›Hintertreppe‹ eignen? Deutlich ist, dassdiese Kriterien nicht immer in Konvergenz zu bringen sind. So sind diegroßen Impulsgeber in der Theologie eher selten auch die Systemdenkergewesen, und die großen Systemdenker waren nicht immer mit einembiografisch packenden Leben gesegnet. Deshalb werden zu den einschlä-gigen Epochen der Alten Kirche (der sog. Patristik), der ›Schultheologie‹

Vorwort 7

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des Mittelalters (der sog. Scholastik), dann der Reformationszeit sowieder Neuzeit und Moderne in der Regel mehrere Theologen Quereinstiegebieten. Beispielsweise ist im Rahmen der Scholastik Anselm von Canter-bury (1033-1109) eher Impulsgeber und der große Thomas von Aquin(1225-1274) deutlich Systemdenker. Im 20. Jahrhundert wird man KarlBarth (1886-1968) und Paul Tillich (1886-1965) je auf ihre Weise als Sys-temdenker bezeichnen, während Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) undDorothee Sölle (1929-2003) Impulsgeber waren. Was das 19. Jahrhun-dert angeht, so trifft man nach der genannten Kriterienkonstellation aufden glücklichen Umstand, dass in Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher(1768-1834) eine theologische Größe Epoche prägend ist, die durch einpackendes Leben und eine auf System drängende Theologie zugleich be-stimmt ist. Ein Einblick in die reformatorische Theologie wird in diesemBand über Martin Luther (1483-1546) und Johannes Calvin (1509-1564), den reformierten Systematiker der zweiten Generation der Refor-mation, gewährt. Neben dem wohl alle Epochen prägenden Theologendes lateinischen Westens, dem Kirchenvater Augustin (354-430), wirdim Rahmen der Patristik eine Stimme des griechischen Ostens in demgroßen spekulativen Systemdenker Origenes (185-254) zu Wort kom-men.

Freilich könnten gegen diese Auswahl leicht Einwände geltend ge-macht werden. Man kann fragen, warum in der Patristik nicht die innereBewegung des Geistes nachgezeichnet wird, wonach neben Origenes aufder einen und Augustin auf der anderen Seite zumindest Theodor vonMopsuestia (392-428) behandelt werden müsste, bilden diese doch ge-meinsam eine altkirchliche Trias. Man kann weiter fragen, warum imRahmen der reformatorischen Theologie die beiden anderen Reformato-ren Ulrich Zwingli (1484-1531) und Philipp Melanchthon (1497-1560)nicht eigenständig behandelt werden: Zwingli, der seine Bildung eines imHorizont des von Erasmus von Rotterdam (1469-1536) geprägten Hu-manismus erhalten hat und nachhaltig der von Anselm von Canterburyaufgeworfenen Frage nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Barm-herzigkeit bei Gott nachgegangen ist, und Melanchthon, der Mitstreiterder lutherischen Reformation und Verfasser des Augsburger Bekenntnis-ses von 1530, dessen Einsichten in die Lehre von Jesu Heilswerk (der sog.Soteriologie) bis in die Theologie des 20. Jahrhunderts, namentlich Ru-dolf Bultmann (1884-1976) wirkungsgeschichtlich bedeutend waren. Andieser Stelle sei zu diesen und gewiss anderen berechtigten Fragen, die inähnlicher Richtung aufgeworfen werden könnten, an die Absicht diesesBandes erinnert: Es sollen Quereinstiege in die Theologie geboten wer-

8 Vorwort

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den, also Einstiege in die Theologie quer durch die große Geschichte derLehre von Gott – und keine geschlossene Theologiegeschichte.

Bleibt noch die weitere Herausforderung offen, die sich aus der schlich-ten Frage nach dem Anfangs- und Endpunkt des Buches ergibt: Wo be-ginnt die christliche Theologie eigentlich? Und wohin entwickelt sie sich?Wer wird das sagen können, ohne morgen bereits als überholt zu gelten?Und doch kann m. E. ein Buch, das theologische Quereinstiege liefernmöchte, nicht völlig auf eine Einschätzung der gegenwärtigen Lage derTheologie verzichten, es muss die eine oder andere Perspektive aufzeigen.Das geschieht vornehmlich in den Perspektivabschnitten der einzelnenBeiträge, in denen in unterschiedlicher Dichte die Wirkungsgeschichtesowie die Perspektiven der vorgestellten theologischen Entwürfe themati-siert werden. Bemerkenswert erscheint bereits die Beobachtung, dass esüberraschende Ähnlichkeiten zwischen unserer Situation und der des an-tiken Christentums gibt. Denn Christen im 21. Jahrhundert haben mitdem 2./3. Jahrhundert vieles gemeinsam: die Minoritätssituation der Kir-che, einen äußerst komplexen kulturellen und religiösen Pluralismus,Esoterik und Okkultismus, einen irritierenden Wertewandel in der Ethikund Moral, Großmächte und abhängige Staaten, kolonisierte Völker usw.Insofern dürfte es sich auch im Hinblick auf gegenwärtige Problemlagenlohnen, auf eine theologische Entdeckungsreise durch die Epochen zu ge-hen und der Einladung »Nimm und lies!« zu folgen. Zum Schluss nochein Lesehinweis: Wer nicht gleich die Muße zur gesamten Lektüre des Bu-ches findet, der mag eine in der Rezeptionsgeschichte beliebte ›Abkür-zung‹ einschlagen und zügig von Paulus zu Augustin und weiter zu Luthervoranschreiten, um rasch im 20. Jahrhundert bei Barth, Bonhoeffer undTillich anzukommen und später an manch einem lauen Sommerabendzur Gesamtlektüre zurückkehren!

Mein Dank gilt allen Autoren dieses Bandes, deren Sachkompetenz dievorliegenden theologischen Quereinstiege erlaubt. Weiter danke ichHerrn Dr. Rüdiger Sachau, der als Direktor der Evangelischen Akademiezu Berlin im Winter 2007/08 zu einem After Work Forum in die Franzö-sische Friedrichstadtkirche einlud: Hier wurden ein Teil der in diesemBuch abgedruckten Beiträge im Rahmen einer gut besuchten Vortrags-reihe präsentiert. Schließlich gilt mein Dank Herrn Diedrich Steen, derals verantwortlicher Ressortleiter des Gütersloher Verlagshauses das Pro-jekt mit anhaltendem Interesse begleitet hat, sowie meinen Mitarbeiternam Lehrstuhl, Frau Annegreth Strümpfel und Herrn René Koch, die sich

Vorwort 9

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um die Edition der Beiträge verdient gemacht haben, und Frau ChristianeSchröter, die die Last des Korrekturlesens auf sich genommen hat.

Berlin, im Juni 2008 Ralf K. Wüstenberg

10 Vorwort

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Wie alles begann – Paulus, der erste christliche Theologe

Jens Schröter

1. Annäherung

Paulus ist die prägende Gestalt des frühen Christentums. In seinen Brie-fen, den ältesten christlichen Schriften überhaupt, entwickelt er eineSicht auf Gott und den Menschen, die für den christlichen Glauben bisheute grundlegend ist. Im Mittelpunkt stehen dabei Tod und Auferwe-ckung von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Dieses Geschehen nötigtnach Paulus dazu, das Wesen des Gottes Israels und sein Verhältnis zurWelt von Grund auf neu zu durchdenken. In der Konsequenz führte dieszur Trennung der an Jesus Christus Glaubenden vom Judentum – eineKonsequenz, die nicht in der Absicht des Paulus lag und die für ihn, derselbst einst ein eifriger Verfechter des jüdischen Glaubens war, einschwerwiegendes theologisches Problem darstellte. Darauf wird am Ende

des Beitrags zurückzukommensein.

Einen Gekreuzigten insZentrum der Wirklichkeits-deutung zu rücken und ihnsogar anzubeten, hat demChristentum von Beginn anUnverständnis und Verachtungeingetragen. Die älteste Abbil-dung des gekreuzigten Jesusdient nicht seiner Verehrung,sondern ist eine heidnischeKarikatur, die einen gekreuzig-ten Esel darstellt (s. nebenste-hende Abbildung). Als eineReligion der Schwäche undOhnmacht ist das Christentum

auch von dem Philosophen Friedrich Nietzsche verspottet worden. Fürihn verdient der Gott des Paulus nicht »Gott« genannt zu werden, weilihm jede Erhabenheit und Würde fehlt. Nietzsche hat Paulus dabeidurchaus richtig verstanden. Das Ärgernis des Kreuzes gehört tatsäch-

Wie alles begann – Paulus, der erste christliche Theologe 11

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lich ins Zentrum des christlichen Glaubens. Nietzsche und viele anderevor und nach ihm haben sich daran gestoßen. Für Paulus stand dagegenunzweifelhaft fest, dass der Zugang zu Gott nur über den Gekreuzigtenführt.

Dabei sprachen die Umstände nicht dafür, dass ausgerechnet Pauluszum wichtigsten Theologen und Missionar des frühen Christentumswerden sollte. Das zeigt schon sein sprichwörtlich gewordenes Damas-kuserlebnis. »Vom Saulus zum Paulus werden« – das steht noch heutefür eine biographische Wende, die aus einem Schurken einen guten Men-schen macht. Bei Paulus ist sie der entscheidende Einschnitt in seinemLeben, auch wenn es mit einem Namenswechsel nichts zu tun hat. Daswird zu erklären sein.

Paulus ist Jesus nie persönlich begegnet. Als er von seinen Anhängernhörte, machte er sich auf, sie zu verfolgen und ins Gefängnis zu bringen.Dass ein von den Römern gekreuzigter Wanderprediger als Messias ver-kündigt wurde, erschien ihm, dem überzeugten Juden, als eine unerträg-liche Gotteslästerung. Später bringt er das pointiert auf den Punkt. Inseinem ersten Brief an die Gemeinde von Korinth bezeichnet er die Bot-schaft von Jesus Christus als »Wort vom Kreuz« und nennt sie einen»Skandal« für die Juden und eine »Torheit« für die Griechen.1 Da war erselbst freilich längst zum überzeugten Anhänger dieser Botschaft gewor-den. Ausgerechnet den Kreuzestod Jesu, der ihm zuvor so abstoßend er-schien, stellt er nun ins Zentrum seiner Theologie. Ein Kontrast, wie ergrößer kaum sein könnte und der nach Erklärung verlangt. Auch daraufwird einzugehen sein.

Im Neuen Testament tragen 13 Briefe den Namen des Paulus. Vermut-lich stammen aber nur sieben davon von ihm selbst, die übrigen gehörenbereits zu seiner Wirkungsgeschichte. Die meisten seiner eigenen Briefe,geschrieben etwa in den Jahren zwischen 50 und 56, sind an Gemeindengerichtet, die Paulus auf seinen Missionsreisen gegründet hat. Das sindder 1. Thessalonicher-, der Philipper- und der Galaterbrief sowie die bei-den Korintherbriefe. Dazu kommen der Römerbrief, mit dem sich Pau-lus einer ihm noch unbekannten Gemeinde vorstellt, sowie der Phile-monbrief, ein kleines Privatschreiben, in dem Paulus die Frage derSklaverei an einem konkreten Fall behandelt. Zu den späteren Briefen,die im Namen des Paulus geschrieben wurden, aber nicht von ihm selbststammen, gehören mit sehr großer Wahrscheinlichkeit der Epheserbrief,der 2. Thessalonicherbrief, die beiden Briefe an Timotheus sowie derje-

12 Jens Schröter

1. Vgl. 1 Kor 1,18-25.

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nige an Titus, vermutlich auch der Kolosserbrief. Diese Briefe zeigen,dass man bereits sehr früh damit begann, die Theologie des Paulus wei-terzuentwickeln und für neue Situationen fruchtbar zu machen. Dassman sich dabei sogar seines Namens bediente, ist ein Hinweis darauf,wie prägend die Person des Paulus gewesen ist.

In seinen Briefen entwickelt Paulus eine Theologie im Dialog. Er gehtauf konkrete Fragen und Probleme ein, entwirft eine urchristliche Ethikund denkt darüber nach, was es bedeutet, dass Gott sich ausgerechnetmit einem Gekreuzigten identifiziert hat. Dabei entsteht eine eigene Be-grifflichkeit, die für die christliche Theologie prägend wird. Die Botschaftvon Jesus Christus nennt er »Evangelium« oder »Wort vom Kreuz«2; diezu Jesus Christus Gehörenden heißen »die Glaubenden« oder »berufeneHeilige«3; sie bekennen sich nicht nur zum Gott Israels, sondern auch zuJesus Christus als ihrem Herrn.4 In Christus ist man eine »neue Schöp-fung«5; die Gerechtigkeit Gottes erhält eine ganz neue Bedeutung, undüber den Tod Jesu heißt es: »Christus ist für unsere Sünden gestorben«.6

Nicht immer stammen die Begriffe und Wendungen von Paulus selbst.Häufig greift er auf Traditionen zurück, die bereits vor ihm im Urchris-tentum geprägt wurden. Dazu gehören Herrenworte,7 aber auch ur-christliche Bekenntnisse und Hymnen.8 Bei den Einsetzungsworten zumAbendmahl und einem urchristlichen Bekenntnis über Tod und Auf-erweckung Christi weist er sogar ausdrücklich darauf hin, dass er Über-liefertes zitiert.9 Aber es ist Paulus, der diese Überlieferungen zu einereigenen Sicht vom Handeln Gottes in Jesus Christus zusammenführt.

Aus dem Verfolger christlicher Gemeinden wird so der Missionar undTheologe, ohne den das Christentum nicht wäre, was es heute ist. GroßeGestalten des Christentums wie Augustinus, Martin Luther und KarlBarth haben sich an Paulus orientiert, wenn es um das Zentrum deschristlichen Glaubens ging. Dabei war er oft umstritten, schon zu seinereigenen Zeit. Man hat ihm Verrat des jüdischen Gesetzes vorgeworfen,ihn als Verfälscher der Lehre Jesu bezeichnet und ihm eine abstoßende

Wie alles begann – Paulus, der erste christliche Theologe 13

2. Vgl. etwa Röm 1,16; 1 Kor 15,1; Gal 1,6-8 (Evangelium); 1 Kor 1,18 (Wortvom Kreuz).

3. 1 Thess 1,7; 1 Kor 1,2.4. 1 Kor 8,6.5. 2 Kor 5,17; Gal 6,15.6. 1 Kor 15,3.7. Vgl. 1 Kor 7,10-11; 9,14; 11,23-25.8. Vgl. etwa Röm 1,3-4; 3,25-26a; 1 Thess 1,9-10; 1 Kor 8,6; Phil 2,6-11.9. 1 Kor 11,23; 15,3.

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Theologie vorgehalten, die aus dem Gott der Liebe einen zornigen Des-poten mache, der den Tod seines eigenen Sohnes fordere.

Auch gegenwärtig gibt es eine intensive Diskussion über die Theologiedes Paulus. Dabei geht es vor allem darum, wie er innerhalb des Juden-tums seiner Zeit zu verstehen ist. Hat Paulus mit dem Judentum gebro-chen? Hat er es reformiert? Oder hat er zum jüdischen Glauben einfachdenjenigen an Jesus Christus hinzugefügt? Eine Entscheidung hierüberist von grundlegender Bedeutung für den christlichen Glauben und seinVerhältnis zum Judentum. Wenn es um Paulus geht, geht es deshalb im-mer auch um die Substanz des Christentums. Wie konnte er eine solcheBedeutung erlangen? Nähern wir uns seiner Person biographisch an.

2. Voraussetzungen

Paulus, vermutlich etwa fünf Jahre jünger als Jesus, wird in Tarsus gebo-ren, einer Stadt im Südosten der heutigen Türkei, damals die Hauptstadtder römischen Provinz Kilikien. Er selbst nennt seinen Geburtsort zwarnie, aber er wird in der Apostelgeschichte erwähnt.10 Die Apostel-geschichte ist die älteste christliche Geschichtsschreibung und schon des-halb eine überaus wichtige Schrift des Neuen Testaments. Sie berichtet inausführlicher Weise über Leben und Wirken des Paulus: seine Bekeh-rung, seine Gemeindegründungen und die Konflikte mit Juden und Hei-den, die sich dabei zugetragen haben. Hier erfährt man etliche Details,die den Briefen des Paulus nicht zu entnehmen sind – etwa, dass er dasrömische Bürgerrecht besaß, in Jerusalem ein Studium des jüdischen Ge-setzes absolvierte und bereits vor den Reisen, auf denen er seine Briefeverfasste, eine weitere Missionsreise unternommen hatte.11 Auch dassPaulus am Ende seines Wirkens als Gefangener nach Rom kam, wo erwahrscheinlich hingerichtet wurde, wissen wir nur aus der Apostel-geschichte. Sein Tod wird dort zwar nicht mehr berichtet, aber alle Indi-zien sprechen dafür, dass er aus dieser Gefangenschaft nicht mehr freige-kommen ist. Das Todesjahr liegt zwischen 62 und 64. Vielleicht wurdePaulus aufgrund einer Anklage verurteilt und hingerichtet, vielleichtwurde er auch Opfer einer Christenverfolgung unter dem römischen Kai-ser Nero. Genau lässt sich das nicht mehr feststellen. Die Apostel-geschichte ist demnach eine wichtige Quelle für Leben und Wirken des

14 Jens Schröter

10. Apg 21,39; 22,3.11. Der Bericht hierüber findet sich in Apg 13–14.

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Paulus. Eventuell wurde sie sogar von einem zeitweiligen Begleiter aufseinen Missionsreisen verfasst. Dafür könnte sprechen, dass einige Passa-gen im Wir-Stil verfasst sind, was auf eine Beteiligung des Autors an denberichteten Ereignissen hinzudeuten scheint.12

Auch wenn die Apostelgeschichte den Eindruck erweckt, die Entwick-lung der ersten Jahrzehnte des Christentums insgesamt zu berichten, istsie tatsächlich zu einem wesentlichen Teil am Weg des Paulus orientiert,der im Verlauf der Erzählung immer deutlicher in den Vordergrund tritt.Damit gehört sie, ebenso wie die oben genannten, im Namen des Paulusverfassten Briefe zu denjenigen Schriften des Neuen Testaments, die sichdem Erbe des Paulus verpflichtet wussten. Dabei zeichnet die Apostel-geschichte, die einige Jahrzehnte nach dem Wirken des Paulus entsteht,ein selbstständiges Bild von seiner Person und seinem Wirken. Dass erBriefe geschrieben hat, wird dabei gar nicht erwähnt. Stattdessen werdendes Öfteren Reden angeführt, die er an verschiedenen Orten gehalten ha-ben soll. Am bekanntesten ist die Rede auf dem Areopag in Athen, woPaulus an prominenter Stelle vor griechischen Philosophen die Botschaftvon Gott und Jesus verkündigt. Besonders bei dieser Rede ist deutlich,dass sie kaum tatsächlich von Paulus gehalten worden sein kann. Viel-mehr führt Lukas, der Verfasser der Apostelgeschichte, mit dieser Redevor Augen, wie das frühe Christentum durch das Wirken des Paulus inder griechisch-römischen Welt Fuß gefasst hat.

Mit seiner Paulusdarstellung erklärt Lukas zudem, wie es zur Tren-nung von Kirche und Israel gekommen ist. Seine Antwort lautet: Paulushat sich zeitlebens darum bemüht, seine jüdischen Brüder und Schwes-tern zum Glauben an Jesus Christus zu bewegen. Sie haben sich demaber – anders als die Heiden – in ihrer überwiegenden Mehrheit verwei-gert. Am Ende erkennt Paulus, dass die Ablehnung der Christusbotschaftdurch die Juden und ihre Annahme durch die Heiden im Heilsplan Got-tes selbst begründet ist. Lukas verdeutlicht demnach durch den Weg desPaulus, dass die Kirche dem Plan Gottes gemäß in ihrer Mehrheit hei-denchristlich geworden ist.

Die Briefe des Paulus vermitteln einen anderen Eindruck. Demnachhat sich Paulus von Beginn an zu den Heiden gewandt, nicht erst nachder Ablehnung durch die Juden. Bereits in seinem ersten Brief, dem umdas Jahr 50 verfassten 1. Thessalonicherbrief, lobt Paulus die Gemeindedafür, dass sie sich von den Götzen abgewandt hat, um dem wahren und

Wie alles begann – Paulus, der erste christliche Theologe 15

12. Apg 16,10-17; 20,5-15; 21,1-18; 27,1–28,16.

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lebendigen Gott zu dienen.13 Eine solche Aussage kann sich nur an be-kehrte Heiden richten, ebenso wie die Mahnung im 1. Korintherbrief,nicht mehr an Götzenopfermählern teilzunehmen.14

Zurück nach Tarsus. Zur Zeit des Paulus war Tarsus eine wohlhaben-de, weltoffene Stadt, in der Philosophen und Rhetoren wirkten und inder natürlich Griechisch gesprochen wurde, die Weltsprache, mit derman sich zu jener Zeit im gesamten Mittelmeerraum verständigen konn-te. Griechisch wurde auch von den meisten Juden gesprochen, es warauch die Muttersprache des Paulus, die er in seinen Briefen souverän zubeherrschen weiß.

Aus Tarsus bringt Paulus sein Selbstverständnis als Bürger des Römi-schen Reiches mit. Sein geographischer Horizont erstreckt sich bis an dieWestgrenze des Römischen Reiches, nach Spanien, das er im Römerbriefals Ziel seiner nächsten Missionsreise nennt.15 Dazu ist es zwar nichtmehr gekommen. Das Vorhaben zeigt jedoch, dass Paulus in weiten geo-graphischen Räumen denkt, in die er das Evangelium bringen will. Auchseine Selbstvorstellung weist in diese Richtung. Paulus nennt sich immermit seinem griechisch-römischen Namen »Paulus«, das hebräische »Sau-lus« kennt dagegen wiederum nur die Apostelgeschichte. Ein solcherDoppelname war nicht ungewöhnlich. Juden legten sich häufiger zusätz-lich zu ihrem Geburtsnamen einen griechischen-römischen Namen zu,der für die Umwelt vertrauter war. So ist es auch bei Saulus/Paulus. DieApostelgeschichte verwendet den Namen »Saulus« so lange, wie er sichim jüdischen Kontext bewegt. Das griechische »Paulus« wird dagegen er-gänzt, als er zum ersten Mal als selbstständiger Missionar auftritt: »Sau-lus, der auch Paulus heißt«, heißt es dort.16 Der zweite Name hat alsonichts mit seiner Bekehrung zu tun. Paulus hieß er auch schon zuvor,unter diesem Namen wird er künftig als christlicher Missionar auftreten.

In seinen Briefen zeigt sich Paulus vertraut mit griechisch-römischerRhetorik und popularphilosophischen Traditionen. So kann er etwa inkatalogartiger Form Leiden und Misshelligkeiten aufzählen, die er beiseinen Missionsreisen zu ertragen hatte: Gefangenschaften, Mühsale,Schläge, Todesgefahren, Hunger, Schiffbrüche, Überfälle. In ähnlicherWeise haben auch Wanderphilosophen ihre Bedürfnislosigkeit und dasErtragen von Entbehrungen betont. Damit brachten sie zum Ausdruck,

16 Jens Schröter

13. 1 Thess 1,9-10.14. 1 Kor 10,21-22.15. Röm 15,28.16. Vgl. Apg 13,9.

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dass es dem wahren Philosophen nicht um Annehmlichkeiten, sondernum Wahrhaftigkeit geht. Wenn Paulus in Städten des griechisch-römi-schen Mittelmeerraums auftrat, wird er seinen Zuhörern wie einer dieserWanderphilosophen vorgekommen sein, die durch die Lande zogen undsich ihren Lebensunterhalt als Redner und freie Lehrer verdienten. DerInhalt seiner Lehre war freilich ein ganz anderer. Paulus verkündete denGott Israels und den gekreuzigten Jesus Christus. Sein dürftiges Auftretenwar Ausdruck dieser Botschaft: Der Verkünder des Wortes vom Kreuztritt nicht wortgewaltig und selbstsicher auf, sondern verkörpert in sei-ner schwachen Erscheinung den Inhalt seiner Rede.

Grundlegend für das Selbstverständnis des Paulus ist jedoch vor allemseine jüdische Herkunft. Das zeigt sich schon daran, dass er niemalseinen heidnischen Autor – etwa Plato oder Homer – zitiert, wogegendie Schriften Israels eine grundlegende Bedeutung für sein Denken undsein Selbstverständnis besitzen. Die Apostelgeschichte berichtet, dassPaulus in Jerusalem, im Zentrum des jüdischen Glaubens, seine Ausbil-dung erhielt. Hier absolvierte er ein intensives Studium der jüdischenSchriften. Im Zentrum stand dabei das Gesetz als Inhalt des Bundes zwi-schen Gott und Israel. Der Bund mit Gott und die Gabe des Gesetzes sinddie Auszeichnungen, die Israel gegenüber allen anderen Völkern besaß –und nach jüdischem Glauben natürlich bis heute besitzt. Sie bedeutenzugleich, dass Israel als auserwähltes Volk auf ein Leben nach dem WillenGottes verpflichtet ist. Das war auch die feste Überzeugung des Paulus. Ervertrat sie sogar mit großem Nachdruck, denn er gehörte zu den Phari-säern, einer jüdischen Partei, die sich in besonderer Weise der Beachtungdes Gesetzes und der Bewahrung der Reinheit im täglichen Leben ver-pflichtet wusste.

Die jüdische Herkunft wird auch zum Ausgangspunkt für den Glau-ben an Jesus Christus. Die Schriften Israels werden nunmehr zur Basisseiner neuen Überzeugung. Hier findet Paulus die Erklärung für das Ge-schehen um Jesus Christus. Christus ist die Erfüllung der Verheißung anAbraham, er solle zum Vater vieler Völker werden; über die Gerechtigkeitaus Glauben heißt es bereits beim Propheten Habakuk »Der aus GlaubenGerechte wird leben«, und selbst für die schmerzliche Tatsache, dass dasEvangelium von der Mehrheit Israels abgelehnt wird, findet Paulus eineErklärung in den Schriften Israels: die freie Erwählung Gottes, der Men-schen aus Juden und Heiden zu seinem Volk beruft.17

Im Glauben an Christus ist nach Paulus die Trennung der Menschheit

Wie alles begann – Paulus, der erste christliche Theologe 17

17. Röm 9,24.

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in Juden und Heiden, Beschnittene und Unbeschnittene, überwunden.Wenn er sich mit seinen Gegnern auseinandersetzt, nimmt auch derchristliche Paulus für sich in Anspruch, wie sie Hebräer, Israelit undNachkomme Abrahams zu sein. Im Gegensatz zu ihnen ist er allerdingsüberzeugt, dass in Jesus Christus Beschneidung und Gesetz keine Voraus-setzungen für die Zugehörigkeit zu Gott mehr sind. Aus dem überzeug-ten Anhänger des jüdischen Gesetzes ist so der Heidenmissionar gewor-den, für den es keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden mehrgibt.

Das Bekenntnis zum Gott Israels bleibt dabei Basis auch für den christ-lichen Glauben. Die Götter der Heiden, die Paulus nicht einmal mit Na-men nennt, sind in Wahrheit tote Götzen und dürfen nicht verehrt wer-den. Wenn Paulus Heiden zu Jesus Christus bekehrt, bekehrt er siedeshalb immer auch zum Glauben an den einzigen Gott. In einem derzentralen Bekenntnisse des Urchristentums stellt er dem Glauben anden einen Gott den Glauben an den einen Herrn Jesus Christus an dieSeite: »Mag es auch viele sogenannte Götter und Herren geben – für unsgibt es nur den einen Gott und den einen Herrn Jesus Christus«.18 Wer anChristus glaubt, muss auch an den Gott Israels glauben. Das ist so geblie-ben bis heute. Dass Christen und Juden denselben Gott anbeten und sichauf dieselben Schriften berufen, hat seinen Ursprung nicht zuletzt in derTheologie des Paulus.

Für Paulus und das Christentum insgesamt gilt dabei freilich: DerGlaube an Jesus Christus gehört unverzichtbar zum Glauben an Gott hin-zu. Die wahre Bedeutung der Schriften Israels – in christlicher Sicht: das»Alte Testament« – erschließt sich erst, wenn sie von Jesus Christus hergelesen werden. Die Schriften Israels haben so eine zweifache Fortsetzunggefunden, eine jüdische und eine christliche. Diese doppelte Geschichtehat im Kern mit der Wende im Leben des Paulus zu tun. Ausgerechnet mitihm, dem einstigen Eiferer für die jüdischen Überlieferungen, beginnteine Entwicklung, die zur Trennung von Judentum und Christentumführt. Was hat es mit dieser Wende des Paulus auf sich?

3. Von der Bekehrung bis zum Apostelkonzil

Wenige Jahre nach dem Tod Jesu, Paulus hatte sich von Jerusalem auf-gemacht, um in Damaskus Jesusanhänger zu verfolgen, ereignet sich die

18 Jens Schröter

18. 1 Kor 8,5-6.

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grundlegende Wende in seinem Leben. Seine bisherige Existenz erscheintihm fortan in gänzlich neuem Licht. Im Philipperbrief schreibt er dazu:»Ich bin am achten Tag beschnitten worden, stamme aus dem GeschlechtIsraels, dem Stamm Benjamin, habe den Pharisäern angehört, voll Eiferdie Gemeinde verfolgt … Aber was mir einst Gewinn war, betrachte ichwegen Christus als Schaden«.19 Im Galaterbrief heißt es, er sei »im Judais-mus« gewandelt, einer sehr strengen Richtung des Judentums, sei »Eife-rer für die väterlichen Überlieferungen« gewesen, dann habe Gott ihmseinen Sohn offenbart, damit er ihn unter den Heiden verkünde.20

Von solchen jüdischen »Eiferern« hören wir gelegentlich in jüdischenTexten. So ist im 4. Buch Mose von einem Pinehas die Rede, der im EiferGottes dagegen vorgeht, dass sich Israeliten mit heidnischen Frauen ein-lassen, und der dadurch die Strafe Gottes von Israel abwendet.21 In spä-teren jüdischen Schriften, bei Jesus Sirach und im 1. Makkabäerbuch,wird hierauf Bezug genommen und das Verhalten des Pinehas als vor-bildlicher Einsatz für sein Volk gewürdigt.22 »Eiferer« sind also Juden,die um der Bewahrung der jüdischen Identität willen gegen Abweichlervorgingen. Als solche Abweichler, als abtrünnige Juden also, verfolgtePaulus die Jesusanhänger, denn deren Verkündigung stellte das GesetzIsraels als Lebensnorm in Frage. Bereits vor seiner Bekehrung hat Paulusdemnach deutlich erkannt, dass der am Kreuz gestorbene Gottessohnbisherige Maßstäbe außer Kraft setzt. Nach seiner Bekehrung wird erkonsequent durchdenken, was dies bedeutet.

Die Wende vom Pharisäer und Christenverfolger zum Heidenmissio-nar kam für die Christen – und auch für die Juden – völlig überraschend.Schon früh hat sich darum eine Legende gebildet. Paulus spielt selbstdarauf an, wenn er im Galaterbrief schreibt, man habe von ihm gehört:»Der uns einst verfolgt hat, verkündigt jetzt das Evangelium«.23

Die Apostelgeschichte malt die Wende des Paulus zu einem spektaku-lären Bekehrungsereignis aus.24 Ein Licht vom Himmel erstrahlt, Paulusfällt zu Boden und hört eine Himmelsstimme, die sich als diejenige Jesuentpuppt, er erhält den Auftrag, nach Damaskus zu gehen. Er erblindet,geht in die Stadt, fastet drei Tage und wird von einem Jünger Jesu mitNamen Hananias getauft. Fortan verkündet er Jesus als den Sohn Gottes.

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19. Phil 3,6-7.20. Gal 1,13-16.21. Num 25,6-15.22. Sir 45,23-24; 1 Makk 2,26.54.23. Gal 1,23.24. Apg 9,1-19.

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Paulus selbst erwähnt keine derartigen wunderhaften Begleitumstän-de. Er spricht vielmehr davon, dass Gott ihm seinen Sohn offenbart hat,damit er ihn unter den Heiden verkünde, dass er den Herrn gesehen hatoder dass ihm die Erkenntnis Jesu Christi aufgeleuchtet ist. Für ihn stehtalso die neue Einsicht im Zentrum, die Gott ihm zuteil werden ließ. Wasgenau sich zugetragen hat, damit es zu dieser Einsicht kam, schildertPaulus nicht. Die Formulierungen deuten allerdings auf ein visionäresErlebnis hin, etwa wenn es heißt: »Habe ich nicht den Herrn gesehen?«,»Gott hat mir seinen Sohn offenbart« oder »Gott hat in unseren Herzendie Erkenntnis Jesu Christi aufstrahlen lassen«. Deutlich ist jedenfalls,dass Paulus nach diesem Erlebnis in grundsätzlich neuer Weise über Jesusdenkt und sein Leben fortan der Botschaft des gekreuzigten und auf-erweckten Gottessohnes widmet.

Das tut er zunächst in Antiochia in Syrien. Zu der dortigen Gemeindehat er in seiner ersten Zeit als christlicher Apostel gehört. Antiochia istneben Jerusalem die wichtigste Gemeinde der Frühzeit des Christentums.Ihre Besonderheit liegt darin, dass hier zum ersten Mal Juden und Hei-den eine Gemeinschaft bildeten. Die Grenzen zwischen beiden Gruppenwurden also programmatisch außer Kraft gesetzt. Für Juden war das be-sonders provozierend. Schon zur Zeit von Jesus und Paulus lebten diemeisten Juden außerhalb Palästinas in der Diaspora. Deshalb war es be-sonders wichtig, die eigene Identität zu bewahren, um nicht in den Völ-kern aufzugehen. Der Glaube an den einen Gott, seinen Bund und seinGesetz war und ist dabei für das Judentum dasjenige Merkmal, mit demes sich von den übrigen Völkern unterscheidet. Wie provokant musste esda sein, wenn ausgerechnet Juden nicht nur einen Gekreuzigten als Mes-sias verkündigten, sondern noch dazu die Grenzen zu den Heiden pro-grammatisch überschritten! Paulus, einst selbst erbitterter Gegner einersolchen Praxis, hat sie nunmehr aktiv gefördert und theologisch begrün-det. Dazu ist er von Antiochia aus gemeinsam mit Barnabas zu seinerersten Missionsreise aufgebrochen, die ihn nach Zypern und ins südöst-liche Kleinasien führte. Das war der Anfang der von Antiochia ausgehen-den Heidenmission.

Über die Heidenmission kam es zu scharfen Kontroversen, nicht nurzwischen Juden und Christen, sondern auch unter den Christen selbst.War die Auflösung der Grenze zwischen Juden und Heiden tatsächlicheine notwendige Konsequenz des neuen Glaubens? Mussten Heiden, diezum Glauben an den Gott Israels bekehrt wurden, sich nicht auch an dasjüdische Gesetz halten, also die Speisegebote beachten, den Sabbat haltenund, sofern sie männlich waren, sich beschneiden lassen? Diese Fragen

20 Jens Schröter

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waren Gegenstand eines Treffens, das etwa im Jahr 49 in Jerusalem statt-fand.25

An diesem Treffen, dem sogenannten »Apostelkonzil«, nahmen dieführenden Köpfe der ersten christlichen Generation teil. Auf JerusalemerSeite waren dies Jakobus, der Bruder Jesu, Petrus und Johannes, ein wei-teres Mitglied aus dem Kreis der zwölf Jünger. Aus Antiochia kamen Bar-nabas, Paulus und Titus, ein unbeschnittener Heide. Man einigte sichdarauf, dass auch Heiden zur Gemeinschaft der Glaubenden kommendürfen, ohne dass sie sich beschneiden lassen müssen. Es gab also fortanein Evangelium für die Beschnittenen und eines für die Unbeschnitte-nen.26 Damit war der Weg frei für die Heidenmission des Paulus. Ermusste sich allerdings dazu verpflichten, für die Gemeinde in Jerusalemeine Kollekte zu sammeln. Davon ist in seinen Briefen häufiger die Rede.Paulus hat die Sammlung dieser Kollekte sehr ernst genommen und sieschließlich auch selbst nach Jerusalem überbracht. Darin kommt seinebleibende Verbundenheit mit der Gemeinde zu Jerusalem und den dor-tigen Aposteln zum Ausdruck.

Nicht geklärt war mit dem Jerusalemer Abkommen allerdings, wie dasZusammenleben von Juden und Heiden in einer Gemeinde zu gestaltenist. Darum hat es auch nach dem Apostelkonzil immer wieder Konfliktegegeben. Sie haben letztlich dazu geführt, dass sich Paulus von der Ge-meinde in Antiochia trennte und zu eigenen Missionsreisen aufbrach, fürdie er sich neue Mitarbeiter suchte und die ihn in diejenigen Regionenführen sollten, in denen er seine Gemeinden gründete.

4. Mission in Kleinasien und Griechenland

Bei seinen Missionsreisen steuert Paulus gezielt Städte an. Zuerst kommter in die römische Kolonie Philippi, wo er die erste eigene Gemeindegründet. Mit Thessaloniki, Korinth und Ephesus treten sodann Haupt-städte römischer Provinzen in den Blick. Auch hier gründet Paulus Ge-meinden und vertraut darauf, dass von diesen das Evangelium in dieumliegenden Regionen ausstrahlt. In Korinth und Ephesus hält er sichlängere Zeit auf und lebt mit den dortigen Gemeinden zusammen. DieApostelgeschichte stellt es so dar, dass Paulus, wenn er in eine Stadt kam,

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25. Über dieses Treffen berichten in je eigener Weise Paulus in Gal 2,1-10, undLukas in Apg 15,1-29.

26. Gal 2,9.

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immer zuerst in die Synagoge ging, um Juden von seiner Botschaft zuüberzeugen. Erst aufgrund von Misserfolgen habe er sich dann den Hei-den zugewandt. Das dürfte aber kaum zutreffen. Paulus wusste sich im-mer auch zu den Heiden gesandt, die deshalb von Beginn an Adressatenseiner Evangeliumsverkündigung waren. Kein allmählicher Übergang,sondern die Botschaft des Evangeliums, das Grenzen überschreitet undzur Freiheit in Jesus Christus führt, war das Programm des Paulus.

Wie muss man sich sein Wirken als Apostel konkret vorstellen? In denStädten, in die er kam, lebten Menschen un-terschiedlicher sozialer und religiöser Her-kunft. In den römischen Kolonien Philippiund Korinth hatten sich zusätzlich zur einhei-mischen Bevölkerung freigelassene Sklavenund Kriegsveteranen niedergelassen. In Thes-saloniki und Ephesus war die Bevölkerungvornehmlich griechisch. Überall gab es jüdi-sche Gemeinden, oft auch eine Synagoge.Die Mehrheit der Bevölkerung war aber heid-nisch und verehrte viele Götter. So gab es et-wa in Korinth eine Stätte für den Heilgott As-klepios, dem in vielen Städten GriechenlandsKultstätten gewidmet waren, an denen Kran-ke geheilt wurden. Daneben wurde in Korinthder ägyptische Gott Sarapis verehrt, es gabeinen Tempel der Liebesgöttin Aphrodite,auch Artemis, Demeter und zahlreiche wei-tere Gottheiten hatten Tempel und Statuenauf dem Forum, an denen man täglich vor-beiging. Für griechisch-römische Religiositätwar es völlig selbstverständlich, viele Götterund Göttinnen zu verehren. Sie standen auch

nicht in Konkurrenz zueinander, sondern waren für unterschiedliche Be-reiche zuständig, etwa für die Gesundheit, die Jagd oder die Liebe.

Führt man sich dies vor Augen, wird deutlich, wie merkwürdig es denBewohnern dieser Städte vorgekommen sein muss, wenn Paulus mit derVerkündigung auftrat, es gebe nur einen einzigen Gott. Zwar war fürGriechen und Römer eine solche Vorstellung nicht gänzlich neu. Siekannten sie etwa von den Juden, die aber eher als Sonderlinge galten.Sie kannten sie auch von den Philosophen, die den Glauben an einenGott oder ein göttliches Prinzip als höherstehende Erkenntnis propagier-

22 Jens Schröter

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ten. Dieser »philosophische Monotheismus« war aber nur eine Religionder Gebildeten und bestimmte nicht den Alltag. Anders Paulus. Er ver-langte eine radikale Abkehr von den vielen Göttern, die er verächtlich»Götzen« nennt, und erwartete, dass die christliche Gemeinde nur nochden Gott Israels und seinen Sohn anbetet.

Wie hat er diese Botschaft unter die Leute gebracht? Vielleicht hat ergelegentlich in Synagogen mit Juden disputiert, aber Heiden hätte er dortkaum getroffen. Eher dürfte er wie ein Wanderphilosoph aufgetretensein, eine Art Sokrates, der auf dem Marktplatz Menschen in Diskussio-nen verwickelt und sie zu vertiefenden Gesprächen am Abend einlädt, woim Anschluss an ein gemeinsames Essen debattiert wird. Diese Traditionkannten Griechen und Römer. Plato und andere berichten von derarti-gen Symposien, und die Häuser der sozial Bessergestellten boten Räumefür solche Treffen.

Paulus war darauf angewiesen, dort aufgenommen zu werden, woman ihm wohl gesonnen war. Mitunter treten Personen als Unterstützerund Gönner in den Blick. Paulus selbst und auch die Apostelgeschichteerwähnen das Ehepaar Aquila und Priscilla, bei dem Paulus während sei-nes Aufenthaltes in Korinth gewohnt hat. Er bestellt Grüße von ihnenoder trägt welche an sie auf, er lobt sie dafür, dass sie ihm in gefährlicherLage beigestanden haben. Im Römerbrief, geschrieben in Korinth, grüßter die Gemeinde von »Gajus, meinem Gastgeber und dem der ganzenGemeinde«. Offenbar hatte der hier erwähnte Gajus ein Haus, das alsVersammlungsort der christlichen Gemeinde von Korinth diente. DieZusammenkünfte der frühen christlichen Gemeinden fanden in Privat-häusern statt. In der Synagoge konnte und wollte man sich nicht versam-meln, in heidnischen Tempeln erst recht nicht, Kirchen gab es natürlichnoch nicht. So entstanden Hausgemeinden, von denen Paulus mitunterausdrücklich spricht.

Hielt Paulus sich länger an einem Ort auf, lebte er von seiner eigenenArbeit. Darauf legte er großen Wert. »Wir haben Tag und Nacht gearbei-tet, um keinem von euch zur Last zu fallen« hält er der Gemeinde vonThessaloniki stolz vor, und auch in Korinth war es nicht anders. Das hatsicher mit der Sozialstruktur der frühen Gemeinden zu tun. »Es gibt un-ter euch nicht viele Weise, jedenfalls an irdischer Weisheit gemessen,nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme« gibt Paulus der Gemeindein Korinth zu bedenken, um dann fortzufahren: »Aber gerade das, wastöricht ist in der Welt, hat Gott erwählt, um die Weisen zu beschämen«.Das Christentum war keine Elitereligion für die Reichen und Gebildeten.Die Gemeinden bestanden mehrheitlich aus einfachen Leuten, die für

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Ralf K. Wüstenberg

"Nimm und lies!"Theologische Quereinstiege für Neugierige

Gebundenes Buch, Pappband, 304 Seiten, 13,5 x 21,5 cmISBN: 978-3-579-08039-0

Gütersloher Verlagshaus

Erscheinungstermin: September 2008

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