6
HISTORISCHE NOTIZEN / HEINZ RUTISHAUSER } Numerik, ALGOL und die Schweizer Hochalpen. Zur Arbeit an der Biografie von Heinz Rutishauser (1918–1970) Hanna Rutishauser Als mein Vater Heinz Rutishauser 1970 in seinem 52. Lebensjahr starb wussten wir – seine Kinder, sein weiteres gesellschaftliches Umfeld und die Nachbar- schaft – nicht, welch eigenständige und nachhaltige Beiträge er zur Entwicklung der Informatik geleis- tet hatte. Als die Zürichsee-Zeitung einen Nachruf von Walter Saxer veröffentlichte mit dem Titel ,,Die Schweiz hat einen großen Mathematiker verloren“, erlitt ich, unter dem Schock des Verlustes stehend, einen zweiten Schock. Wie konnte es sein, dass wir davon keine Ahnung hatten? In vielen Nachrufen, besonders in der von Ru- tishausers Freund und ETH-Kollegen Peter Henrici zur Abdankung in der Kirche Meilen vorgetragenen Würdigung, wurde die Bedeutung unseres Vaters als Wissenschaftler und Mensch ausgeführt. Der Wie- ner Computerpionier Heinz Zemanek gab in seinem Nachruf eine ansatzweise Erklärung für die erstaun- liche Unwissenheit nicht nur von uns Kindern dem Verstorbenen gegenüber. Seine ,,Bescheidenheit und Güte“, schrieb er, ,,hielten ihn so sehr in der Unauffälligkeit, dass die Fachwelt erst allmählich bemerken wird, was sie an ihm verloren hat.“ Zwar schickte ein knappes Jahr nach seinem Tod Friedrich L. Bauer, einer von Rutishausers engsten und treuesten Kollegen, den Sonderdruck seines Nachrufs an Margrit Rutishauser und erwähnte eine Publikation, die er ihrem verstorbenen Ehegatten gewidmet habe. Er schloss mit den Worten: ,,Sie sehen, dass Ihr Mann in München unvergessen ist.“ Aber dann nahm die Entwicklung ihren Lauf. Die Programmiersprache ALGOL, die Rutishau- ser vor allem mit Friedrich L. Bauer und Klaus Samelson zusammen maßgeblich geprägt und in ,,Description of ALGOL 60“ [6] beschrieben hatte und die vornehmlich auf die Bedürfnisse des wis- senschaftlichen Rechnens ausgerichtet war, wurde schon kurz nach seinem Tod als Lehrsprache in der Computer-Ausbildung der ETH durch Pascal ab- gelöst. Das Bewusstsein für dessen Abstammung von ALGOL verblasste. Dazu trug wesentlich die zunehmende breite Verwendung von Computern für nichtnumerische Probleme bei. Heinz Rutishausers Arbeiten, neben den ver- öffentlichten Artikeln auch zahlreiche Notizen zu Projekten für Publikationen und Vorträge, Ver- arbeitungen von Ideen und Werkstücke seiner numerischen Kreativität, kamen teilweise ins Archiv der ETH, teilweise blieben sie bei Margrit Rutis- hauser. Die weitgehend ausgereiften, aber noch unfertigen Arbeiten wurden von seinem wissen- schaftlichen Nachlassverwalter Martin Gutknecht in Zusammenarbeit mit Kollegen aus dem Insti- tut herausgegeben. Unter anderem entstand so das zweibändige Lehrbuch ,,Vorlesungen über nume- rische Mathematik“ [4]. Als Hommage an Heinz Rutishauser sind einige Publikationen von Insti- tutsangehörigen zu verstehen, die Hinweise oder Programme Heinz Rutishausers aufnahmen bzw. weiter bearbeiteten, so die Publikation ,,Numerische Prozeduren aus Nachlass und Lehre von Prof. Heinz Rutishauser“ von Walter Gander, Luciano Molinari und Hana Svecova [2]. Das Rutishauser-Symposium, das Walter Gander zusammen mit ETH-Kollegen zum 10. Todestag Heinz Rutishausers im Jahr 1980 DOI 10.1007/s00287-013-0730-z © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 Hanna Rutishauser Istanbul, Türkei E-Mail: [email protected] Informatik_Spektrum_36_5_2013 463

Numerik, ALGOL und die Schweizer Hochalpen. Zur Arbeit an der Biografie von Heinz Rutishauser (1918–1970)

  • Upload
    hanna

  • View
    213

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

HISTORISCHE NOTIZEN / HEINZ RUTISHAUSER }

Numerik, ALGOL unddie Schweizer Hochalpen.Zur Arbeit an der Biografievon Heinz Rutishauser (1918–1970)

Hanna Rutishauser

Als mein Vater Heinz Rutishauser 1970 in seinem52. Lebensjahr starb wussten wir – seine Kinder, seinweiteres gesellschaftliches Umfeld und die Nachbar-schaft – nicht, welch eigenständige und nachhaltigeBeiträge er zur Entwicklung der Informatik geleis-tet hatte. Als die Zürichsee-Zeitung einen Nachrufvon Walter Saxer veröffentlichte mit dem Titel ,,DieSchweiz hat einen großen Mathematiker verloren“,erlitt ich, unter dem Schock des Verlustes stehend,einen zweiten Schock. Wie konnte es sein, dass wirdavon keine Ahnung hatten?

In vielen Nachrufen, besonders in der von Ru-tishausers Freund und ETH-Kollegen Peter Henricizur Abdankung in der Kirche Meilen vorgetragenenWürdigung, wurde die Bedeutung unseres Vaters alsWissenschaftler und Mensch ausgeführt. Der Wie-ner Computerpionier Heinz Zemanek gab in seinemNachruf eine ansatzweise Erklärung für die erstaun-liche Unwissenheit nicht nur von uns Kindern demVerstorbenen gegenüber. Seine ,,Bescheidenheitund Güte“, schrieb er, ,,hielten ihn so sehr in derUnauffälligkeit, dass die Fachwelt erst allmählichbemerken wird, was sie an ihm verloren hat.“

Zwar schickte ein knappes Jahr nach seinem TodFriedrich L. Bauer, einer von Rutishausers engstenund treuesten Kollegen, den Sonderdruck seinesNachrufs an Margrit Rutishauser und erwähnte einePublikation, die er ihrem verstorbenen Ehegattengewidmet habe. Er schloss mit den Worten: ,,Siesehen, dass Ihr Mann in München unvergessen ist.“

Aber dann nahm die Entwicklung ihren Lauf.Die Programmiersprache ALGOL, die Rutishau-ser vor allem mit Friedrich L. Bauer und KlausSamelson zusammen maßgeblich geprägt und in,,Description of ALGOL 60“ [6] beschrieben hatte

und die vornehmlich auf die Bedürfnisse des wis-senschaftlichen Rechnens ausgerichtet war, wurdeschon kurz nach seinem Tod als Lehrsprache in derComputer-Ausbildung der ETH durch Pascal ab-gelöst. Das Bewusstsein für dessen Abstammungvon ALGOL verblasste. Dazu trug wesentlich diezunehmende breite Verwendung von Computern fürnichtnumerische Probleme bei.

Heinz Rutishausers Arbeiten, neben den ver-öffentlichten Artikeln auch zahlreiche Notizen zuProjekten für Publikationen und Vorträge, Ver-arbeitungen von Ideen und Werkstücke seinernumerischen Kreativität, kamen teilweise ins Archivder ETH, teilweise blieben sie bei Margrit Rutis-hauser. Die weitgehend ausgereiften, aber nochunfertigen Arbeiten wurden von seinem wissen-schaftlichen Nachlassverwalter Martin Gutknechtin Zusammenarbeit mit Kollegen aus dem Insti-tut herausgegeben. Unter anderem entstand so daszweibändige Lehrbuch ,,Vorlesungen über nume-rische Mathematik“ [4]. Als Hommage an HeinzRutishauser sind einige Publikationen von Insti-tutsangehörigen zu verstehen, die Hinweise oderProgramme Heinz Rutishausers aufnahmen bzw.weiter bearbeiteten, so die Publikation ,,NumerischeProzeduren aus Nachlass und Lehre von Prof. HeinzRutishauser“ von Walter Gander, Luciano Molinariund Hana Svecova [2]. Das Rutishauser-Symposium,das Walter Gander zusammen mit ETH-Kollegenzum 10. Todestag Heinz Rutishausers im Jahr 1980

DOI 10.1007/s00287-013-0730-z© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Hanna RutishauserIstanbul, TürkeiE-Mail: [email protected]

Informatik_Spektrum_36_5_2013 463

{ HEINZ RUTISHAUSER

Heinz Rutishauser, Professor für AngewandteMathematik und Leiter der Fachgruppe fürComputerwissenschaften an der ETH Zürich,war massgeblich an der Entwicklung des erstenSchweizer Computers ERMETH beteiligt. Er warein Pionier auf dem Gebiet der Compiler, wirktebei der Definition der Programmiersprache Al-gol 60 mit und leistete wichtige Beiträge zu denGrundlagen der numerischen Mathematik.

ausrichtete, vereinigte nochmals Mathematiker, dieRutishauser würdigten [3].

Als 2008 die Jubiläumsfeier ,,Informatik gestern,heute und morgen – 40 Jahre Informatik ETH“ ausAnlass der 1968 erfolgten Gründung der Fachgruppefür Computerwissenschaften durchgeführt wurdeund dabei Rutishausers Beitrag zur Entwicklungvon Rechenmaschinen und Programmiersprachenin einer Ansprache von Walter Gander erwähntwurde, markierten die anwesenden StudierendenErstaunen. Wer war das?

Eine mindestens teilweise Abkoppelung derGeschichtsschreibung von der Kontrolle durch dienoch lebenden Pioniere der Informatik und somitauch von der Überlieferung durch die Oral Historyfand anlässlich der Feierlichkeiten zum 150-jährigenBestehen der ETH Zürich statt. Man beauftragte di-verse Historiker, die Geschichte der EidgenössischenTechnischen Hochschule und ihrer Abteilungen auf-zuarbeiten. Diese wandten sich zwar auch an dieerwähnten Zeitzeugen, benutzten aber anderseitsschriftliche Quellen. Dabei kam es zu einer Ver-schiebung der Wahrnehmung, bedingt durch dieQuellenlage und die Darstellungen in der Literaturder Rückblicke und Erinnerungen.

Aus verschiedenen Gründen hat Heinz Rutis-hauser außer seinem wissenschaftlichen Werkkeine schriftlichen Arbeiten hinterlassen. Insbe-sondere hat er, abgesehen von einem oder zweiformalisierten Lebensläufen, nichts über sichselbst geschrieben. Der Hauptgrund dafür istwohl die knappe Lebenszeit, die ihm zur Verfü-gung stand. Spätestens seit seinem ersten schwerenHerzinfarkt 1964 wusste er, dass er nicht langeleben würde. Er investierte seine ganze Energiein seine wissenschaftliche Arbeit. Öffentlich-keit war ihm zudem seit jeher ein Gräuel, undauch wenn er alt geworden wäre, hätte er mög-

Abb. 1 ALGOL-Konferenz, California-Hotel, Paris 1960

licherweise nichts über ,,sich und seine Zeit“geschrieben.

Chancenreichere Wissenschaftler wie KonradZuse, Friedrich L. Bauer, Ambros Speiser, PeterLäuchli, Urs Hochstrasser, Hans-Rudolf Schwarz,Martin Gutknecht und andere nutzten und nut-zen die ihnen gewährte Lebenszeit vor allem alsEmeritierte auch zur Abfassung von persönlichenRückblicken und wissenschaftshistorischen Arbei-ten, wertvollem Quellenmaterial aus erster Hand,Belege für die Anfänge der europäischen Informatik.In ihren Arbeiten kommt Heinz Rutishauser zwarstets vor, für die Nachgeborenen wirkt er jedoch oftblass und wenig profiliert. Dies hängt nicht mit einerVernachlässigung durch die erwähnten Autoren zu-sammen, unter denen übrigens Friedrich L. Bauermit mehreren ausdrücklich Rutishauser gewid-meten Arbeiten eine Sonderstellung einnimmt, alsvielmehr damit, dass ihre Arbeiten eher auf Phäno-mene oder Zeitabschnitte fokussieren. So kommt es,dass jüngere Wissenschaftshistoriker mit Rutishau-ser manchmal wenig anfangen können. So wenig,dass er in gewissen, den Pionieren der SchweizerInformatik gewidmeten Arbeiten als Schlusslicht er-

464 Informatik_Spektrum_36_5_2013

scheint, eine Art Mitarbeiter, Kollege oder Assistentder Koryphäen Stiefel oder Speiser.

Dass man in der Hinsicht ,,nun endlich etwasmachen sollte“, entschied sich wenige Jahre nachdem Tod meiner Mutter Margrit Rutishauser-Wirzim Jahr 2004, als in ihrem Nachlass ein Ordnermit Papieren aus dem beruflichen Leben HeinzRutishausers auftauchte. Darunter waren Briefeverschiedenster Provenienz, auch aus seiner Zeitals Assistent. Da aus dieser Zeit im ETH-Archivzu Rutishausers Berufsleben kaum etwas zu fin-den ist, freute sich an dem Fund besonders WalterGander, der 1968 bei der Gründung der Abteilungfür Computerwissenschaften als erster Assistentund Numeriker zur Truppe Rutishausers gestoßenwar. Auf seine Initiative hin beschloss das Departe-ment Informatik der ETH Zürich als Nachfolgerinder 1968 gegründeten Abteilung für Computerwis-senschaften, die Biografie des früh verstorbenenund außerhalb eines engen Kreises nach wie vorwenig bekannten Heinz Rutishausers in Auftragzu geben, und seit einiger Zeit ist nun die Arbeitim Gange.

Die Textsorte Biografie, seit der Antike gepflegtund geschätzt, war über lange Zeit der Panegyrik,der lobenden Abfassung, verpflichtet. Der zu por-trätierende Mensch war ein außergewöhnlicher,der sich aus der Masse hervorhob. In seiner Be-schreibung wurde damit indirekt auch die Distanzgreifbar, die ihn von den umgebenden Niederun-gen trennte. Die Persönlichkeit, so die Annahme,wurde geformt und geleitet in ihren Entscheidun-gen und ihrem moralischen Verhalten allein vomfreien Willen. Milieu und Umwelt interessiertennicht.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts än-derte sich dies. Die neuen Sozialwissenschaftenbelegten die Biografie mit den Prädikaten ,,histori-sierend“, ,,theoretisch nicht relevant“, ,,unkritisch“und gingen vorerst auf Distanz. Erst um die Jahrtau-sendwende wurde die Biografie neu entdeckt undaufgewertet als Zweig der Geschichtsschreibung.Ein eigentlicher Boom setzte ein; Lebensgeschichtenrückten und rücken ins Rampenlicht. Diese Wendeist insgesamt fruchtbar geworden. Sie hatte unter an-derem zur Folge, dass der zu beschreibende Menschnicht länger aus seinem Umfeld herausgeschnit-ten und auf dem silbernen Tablett als grandioserEinzelfall präsentiert werden kann. Bedingtheiten,Konjunkturen und Sozialisierungen finden nunmehr

Abb. 2 Heinz Rutishauser mit Ambros Speiser an der Konsoleder Z4

als unabdingbarer Teil jedes Lebens Eingang in dieTextsorte Biografie.1

Bereits beim Erstellen des Konzeptes zur Bio-grafie wurde mir klar, wie sehr unsere Familie inder Zeit, die mich interessiert, in den Jahrzehntenzwischen 1900 und 1970, eine typische Vertreterinihrer Epoche war. In sehr vielen Zeitströmungen wa-ren wir ganz direkt eingebunden, sodass das Projektsehr bald auch Kapitel über Phänomene bekam, dieüber Heinz Rutishausers Leben hinausführen. Ausdiesem Grund lasse ich die Biografie auch bereitsmit der Generation seiner Großeltern beginnen,denn schon sie waren, sowohl mütterlicher- als auchväterlicherseits, fast prototypische Vertreter derschweizerischen Bevölkerung ihrer Zeit. Emma Hu-ber, Heinz Rutishausers Mutter, stammte aus einerbegüterten ostschweizer Bauernfamilie, währendsein Vater Emil Rutishauser Sohn einer Klein- bzw.Heimindustriellenfamilie am Bodensee war. Schrittfür Schritt begaben sich nun sowohl die Rutishauser-

1 Siehe dazu z. B. die Biografie ,,Mozart“ mit dem Untertitel ,,Zur Soziologie einesGenies“ von Norbert Elias, 1991.

Informatik_Spektrum_36_5_2013 465

{ HEINZ RUTISHAUSER

als auch die Huber-Familie auf den Weg in die Stadtund vollzogen damit eine Bewegung mehr oderweniger parallel zum Untergang der ländlichen,landwirtschaftlichen Schweiz. Sie wurden Lehrer,Erzieherin und Hauswirtschaftsfachfrau, Rechen-führer des Konvikts. Heinz Rutishausers Geschwisterund ein Teil ihrer Kinder blieben zwar mehr oderweniger entschieden dem heimatlichen KantonThurgau verbunden oder kehrten nach Jahren in derStadt dorthin zurück. Heinz jedoch wurde mit demBeginn des Studiums an der ETH Zürich zum Bin-nenmigranten und löste sich definitiv. Damit wurdenwir, seine Kinder, in der Terminologie des Migrati-onsdiskurses vorerst zu Zürchern und Zürcherinnender zweiten Generation, in der ,,Großstadt“ geborenund aufgewachsen und des Thurgauerdeutschen,Heinz Rutishausers Mutterdialekts, zu keiner Zeitunseres Lebens mächtig, im Gegensatz zu unserenCousins und unserer Cousine.

Dass auch wir später mit dem Mobilitätszuwachsder ganzen Gesellschaft wiederum aus dem KantonZürich weiterzogen, hatte mit den neuen Möglich-keiten der vielkulturellen, beweglichen Schweiz, mitder globalisierten Welt zu tun, die Heinz Rutishausernicht mehr gesehen hat.

Von der Bewegung des genossenschaftli-chen Wohnens im Zürich der 1950er-Jahre bis zurEinfamilienhäuschen-, Fernseh- und Autowelle, dieüber die Schweiz hinschwappte, kam mein Vater imVerlauf seines Lebens noch mit zahlreichen weiterenzeitgenössischen Phänomenen hautnah in Kontakt.Wie hunderte anderer Familien marschierten auchwir eines Sonntags über den harten Asphalt derAutobahn A3 zwischen Zürich und Zug, als sie fertig-gestellt, aber noch autofrei war, kilometerweit unterbrennender Sonne, dieses Wunder des Straßenbausbestaunend. Noch näher war Rutishausers Kontaktzur P16-Geschichte; sie soll hier als wissenschaftsna-hes Beispiel erwähnt werden. Das entsprechendeKapitel habe ich mit ,,Eine Schweizer Heimatge-schichte“ überschrieben. Rutishauser war zur Zeitdieses sehr ernsthaft betriebenen Flugzeugbau-Projekts von Bundesrat und Schweizer Armee inden 1950er-Jahren zwar am Institut für angewandteMathematik der ETH tätig. Er war aber nicht in dengroßen Berechnungsauftrag der Fahr- und Flug-zeugwerke Altenrhein FFA am Bodensee an die ETHeingebunden, welche die Flugzeuge vom Typ P16baute. Daran waren in erster Linie Urs Hochstras-ser, Hans-Rudolf Schwarz und Heinz Waldburger

beteiligt. Da aber ein großer Teil der Berechnungenauf der Z4, dem Zuse-Rechner an der ETH, getätigtwurde, ist es kaum denkbar, dass er, wie das ganzeTeam um die Zuse-Maschine, nicht Anteil nahm andem Unterfangen.

Später gab der Bundesrat das Projekt auf, dennzwei der drei Prototypen des Düsenflugzeugs stürz-ten in den Bodensee. Die beiden betroffenen Pilotenkonnten allerdings mit dem Schleudersitz ihr Lebenretten, was eine Premiere für die Schweizer Luftwaffedarstellte. Daran nahm die ganze Bevölkerung regenAnteil, und dies zu einer Zeit, als das Fernsehen nochkein Massenmedium war. Es sei angefügt, dass dieBerechnungen zur Flatterproblematik bei Flugzeug-flügeln, welche der ETH aufgetragen waren, nicht fürdie Abstürze verantwortlich waren.

Rutishausers Haltung zu Fragen außerhalb sei-nes beruflichen Bereiches waren konservativ geprägt.So machte er sich, wie viele andere, Sorgen um die,,überfremdete Schweiz“ und verfolgte den Verlaufder Schwarzenbach-Initiative zur Begrenzung derausländischen Wohnbevölkerung aus der Nähe.Anderseits setzte er sich aktiv dafür ein, dass dietschechoslowakische Mathematikerin Hana Svecova1968 mit ihrer Familie Asyl in der Schweiz erhielt. Derkalte Krieg belastete ihn, anderseits fand er eine per-sönliche Strategie, damit umzugehen. Hier liegt einesder Scharniere, die aus dem gesamtgesellschaftlichenUmfeld in den individuellen Bereich Heinz Rutis-hausers und zu seinem eigenständigen Umgang mitvielen Phänomenen überleiten. Eines Tages kam ermit einem Russischlehrbuch nach Hause; zu meinemErstaunen betrat mein Mathematiker-Vater das Ter-ritorium des Fremdsprachenlernens. Wenn der Feindkommt, muss man mit ihm reden können, sagte er;alles wird voller russischer Soldaten sein. Auch besaßer einen russischen Weltatlas, und wir sahen ihn hieund da darüber gebeugt, sich Namen und Gegendeneinprägend. Fast immer war sein Zugang ein origi-närer und origineller und unabhängig von dem, ,,wasdie Leute sagen“.

Dass diese Eigenschaft mit seiner außerordentli-chen Begabung Hand in Hand ging, ist anzunehmen.Menschen mit herausragenden Fähigkeiten könnensich von zahlreichen sozialen und psychologischenEinschränkungen frei machen, um die Energie undKonzentrationsfähigkeit für ihr wissenschaftlichesoder künstlerisches Werk aufzubringen, auch aufdie Gefahr hin, als ,,eigenbrötlerisch“, ,,komisch“und ,,absonderlich“ bezeichnet zu werden. Dieses

466 Informatik_Spektrum_36_5_2013

Abb. 3 Bergwanderung im September 1967.Im Hintergrund Drusberg und Glärnischkette

Freimachen gelang Heinz offenbar schon als Kind.Im Kindergarten beklagte er sich bei seiner Mutterdarüber, dass es nicht vorwärts gehe mit Französischund Mathematik und man nur spiele. Im Konvikt,dem Internat der Frauenfelder Kantonsschule, gaber sich am liebsten mit den großen Buben ab, dieschulisch schon weit voraus waren. Im Gymnasiumsagte sein Mathematiklehrer ohne Neid, Heinz wisseeiniges mehr als er. Nach dem frühen Tod seinerEltern zog er sich zeitweise aus der Gesellschaftzurück mit einsamen Nachtmärschen, Velotourenüber Alpenpassstraßen und Skiwanderungen in dieSchneewelten des Hochgebirges. Bald war in Frau-enfeld bekannt, dass er Nächte in der damals neuerbauten Sternwarte verbrachte, wo er sich zeit-weise mehr zu Hause fühlte als in der Wohnungseines Onkels und Pflegevaters Jean Huber. In die-ser Zeit beschäftigte er sich möglicherweise schonmit mathematischen Problemen, die er später inseinen Arbeiten weiter entwickelte. Zwar wurde ihmdie Astronomie nie zu einem wissenschaftlichenArbeitsbereich, aber seine Faszination für den Ster-nenhimmel blieb ihm erhalten; er gab sie auch anseine Familie weiter.

Als er mit knapp dreißig Jahren die LehrerinMargrit Wirz aus Erlenbach am Zürichsee kennen-lernte, rettete ihn dies womöglich aus einem Lebenam Rand der Gesellschaft. Die extrovertierte jungeFrau holte den verschlossenen, scheuen und melan-cholischen Mann immer wieder zu sich und in seingesellschaftliches Umfeld zurück.

Als Assistent am von Professor Eduard Stiefel mitder Unterstützung des Schulrates neu gegründeten

Institut für angewandte Mathematik der ETH Zü-rich geriet Heinz Rutishauser in eine Bewegung, diesein Leben von da an bestimmte. Mehrere Faktorenschafften eine Koinzidenz von günstigen Umständen,ohne die die kollektiven und individuellen Leis-tungen der Folgezeit – und nicht nur seine eigenen– nicht möglich geworden wären. Der wichtigstewar vermutlich das Zusammentreffen des begabten,,Rahmenbauers“ und scharfsinnigen PragmatikersStiefel mit dem genialen Numeriker Rutishauser.Stiefel, ein extrovertierter, mit zahlreichen Kontak-ten ausgestatteter Beziehungskünstler, der sich inmilitärischen, akademischen und politischen Krei-sen gleichermaßen agil bewegte, war ein Visionär,der die allermeisten seiner wissenschaftspolitischenZiele von der Institutsgründung bis zum Eigenbaueines Großrechners für die Schweiz, der ERMETH,erreichte. Die Infrastruktur, die er anlegte, wurdefür Heinz Rutishauser zum Fundament für seinegrundlegenden wissenschaftlichen Arbeiten. DieseKoinzidenz ist wohl ein Beispiel dafür, wie ein Einzel-mensch Überdurchschnittliches zu leisten vermag.Auf Rutishausers Beiträgen fußte zu einem großenTeil der Ruf, den sich das Institut schon bald nachseinen Anfängen bis weit über die Landesgrenzenhinaus erwarb und es für rund eineinhalb Jahrzehnteeuropaweit zu einer Referenz für Fragen der ange-wandten Mathematik, des Maschinenrechnens undder Programmierung machte. Dass Rutishauser dieVorleistungen seines Chefs fast täglich damit abzu-gelten hatte, dass er dessen autoritäres Vorgehen,seine oft arrogante Dominanz ertrug, gehört zu dendunklen Seiten in seinem Leben.

Informatik_Spektrum_36_5_2013 467

{ HEINZ RUTISHAUSER

Jahrelang mühte er sich nicht nur mit diesemschwierigen Verhältnis ab. Der schwersten Belas-tung war er seit seinem 37. Lebensjahr ausgesetzt,der Herzkrankheit, die zusammen mit einer veran-lagten extremen Hypercholesterinämie zu seinemTod vor der Zeit führen musste, wie ihm sein Arztohne Schonung nach dem zweiten Infarkt mitteilte.Er arbeitete dennoch fast ohne Rücksicht auf seineGesundheit an seinen zahlreichen Projekten undwissenschaftlichen Plänen weiter, in Zürich, da erwegen der krankheitsbedingten Flugunfähigkeitauch an Kongresse und Tagungen immer wenigerging. Auch Rufe an mehrere Universitäten, darunterdie TU München, lehnte er ab, obwohl er an einemoder zweien ein ernsthaftes Interesse hatte. Er hieltes nicht für anständig, als gesundheitlich schwerBelasteter eine neue Stelle anzunehmen.

Dass er sich nach dem Fiasko von ALGOL 68von den höheren Programmiersprachen teilweiseabwandte und sich verstärkt und entschieden wiederseinem Stammgebiet, der Numerik zuwandte, findeteinen konkreten Ausdruck im weitgehend fertigge-stellten Manuskript zur eingangs erwähnten, 1976postum erschienenen Publikation ,,Vorlesungenüber numerische Mathematik“. Bis zuletzt arbeiteteer daran.

Seine Faszinationen herauszuarbeiten, seineLeidenschaft und Versessenheit auf den Entwurf vonAlgorithmen und eleganten Lösungen für numeri-sche Probleme, seine Neugier zur Zeit der Z4, dieein Glücksfall für ihn war und ihn auch zum Pröblerund Tüftler machte und zur spektakulären Entde-ckung des Konzepts des Compilers beitrug, seineUnvoreingenommenheit mathematischen Mög-lichkeiten gegenüber, die erstaunlich wirkt nebenseinem konservativen Grundcharakter, wobei aberihr Zusammengehen dennoch folgerichtig erscheint,sodann sein Anliegen, in ALGOL das Prinzip derUniversalität und vollkommenen Maschinenunab-hängigkeit verwirklicht zu sehen, auch sein Wunsch,Wissen zu vergesellschaften, was er mit dem vonihm initiierten Programmsammeldienst anstrebte:Diese Fragen aufzubereiten in einer Art, dass sieeinerseits auch für ein nichtakademisch gebildetesPublikum zugänglich sind und Heinz Rutishau-ser breiter bekannt machen, anderseits – und diesnicht minder – eine Grundlage für wissenschaftlichdetaillierte Studien zur mathematischen Persön-lichkeit von Heinz Rutishauser bilden, soll mit derentstehenden Biografie unternommen werden.

Abschließen möchte ich mit einem Beispiel ausder Numerik.

Das Rechnen mit programmierbaren Maschi-nen führte vielerorts zu neuen Fragestellungen,und dies auch in Bereichen, wo man sich auszu-kennen glaubte. So entdeckte Heinz Rutishauserschon in den frühen 1950er-Jahren durch Berech-nungen auf der Z4, dass sich gewisse Methoden zurLösung von Differenzialgleichungen auf der Ma-schine anders verhielten als erwartet. Er schriebzu dem Thema einen ,,kleinen“ Artikel [9], derindessen weithin Beachtung fand. Germund Dahl-quist griff die Entdeckung auf und analysierte sieweiter. Darauf fußt die Theorie der linearen Mehr-schrittverfahren, welche von Peter Henrici in seinemBuch über Differentialgleichungen aufgenommenwurde und von dort aus eine große Leserschaft er-reichte [5]. 1970 wurde Rutishausers Arbeit in dreiNachrufen gewürdigt. Von Heinz Zemanek: ,,SeineTheorie der numerischen Stabilität von Differenti-algleichungen ist ein Markstein der Geschichte“2,von Friedrich L. Bauer: ,,[...] er gehörte [...] zu denersten, die numerische Stabilitätsfragen eingehenduntersuchten“3 und von Peter Henrici: ,,Der Be-griff der numerischen Stabilität geht auf eine seinerkleinen Arbeiten zurück; die darüber in den letz-ten 20 Jahren erschienene Literatur würde Bändefüllen.“4

Hanna Rutishauser,14. Mai 2013

Literatur1. Bauer FL (2005) Rutishauser, Heinz. Neue Deutsche Biographie 22:305. http://www.

deutsche-biographie.de/pnd132374544.html,2. Gander W, Molinari L, Svecova H (1977) Numerische Prozeduren aus Nachlass und

Lehre von Prof. Heinz Rutishauser. Birkhäuser-Verlag, Basel3. Gander W et al (1980) Rutishauser-Symposium, Zurich, October 15–18. Z angew

Math Phys 31(2):3044. Rutishauser H (1976) Vorlesungen über numerische Mathematik. Unter Mitwirkung

von Peter Henrici, Peter Läuchli und Hans-Rudolf Schwarz. In: Gutknecht M (Hrsg)Bd. 1: Gleichungssysteme, Interpolation und Approximation. Mathematische Reihe,Bd. 50; Bd. 2: Differentialgleichungen und Eigenwertprobleme. MathematischeReihe, Bd. 57. Birkhäuser-Verlag, Basel

5. Henrici P (1962) Discrete Variable Methods in Ordinary Differential Equations.Wiley, New York

6. Rutishauser H (1967) Description of ALGOL 60. Springer-Verlag, Heidelberg7. Rutishauser H (1954) Quotienten-Differenzen-Algorithmus. Z angew Math Phys

5:233–2518. Rutishauser H (1958) Solution of eigenvalue Problems with the LR-Transformation.

Appl Math Ser 49:47–81, Nat. Bureau of Standards, Washington DC9. Rutishauser H (1952) Über die Instabilität von Methoden zur Integration gewöhnli-

cher Differentialgleichungen. Z angew Math Phys 3:65–74

2 Nachruf 1970, unveröffentlicht.3 Nachruf 1970, später in Computing 7, Springer-Verlag 1971, S. 129–130.4 Nachruf 1970, unveröffentlicht.

468 Informatik_Spektrum_36_5_2013