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SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 49 Landschaftsfoto Bruno Petroni / Berner Oberländer Erstmals in der Schweiz ist wegen des Klimawandels ein Dorf in Gefahr. Weil das ewige Eis auf den Bergen schmilzt, wird GUTTANNEN BE von Murgängen bedroht. Zwei Häuser sind schon weg. Die nächsten folgen bestimmt. 30 Menschen suchen ein neues Daheim. Ein Dorf versch windet KLIMAERWäRMUNG IM HASLITAL Oben: Die Häuser im Guttanner Ortsteil Boden sind von Murgängen bedroht. Links: Peter von Bergen steht auf dem 20 Meter hohen Schuttkegel. Auf dem Foto, das er zeigt, sieht man das Geburts- haus seiner Mutter, das genau hier stand und 2011 abgebrochen wurde. TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS MARCUS GYGER D er Hasli-Adler jedenfalls, der steht schon mal auf Halbmast. Im Guttanner Dorfteil Boden, wo die Aare noch Bach ist, wo wettergrau melierte Holzhäuser stehen, eine Steinbrücke, ein Schuelhüsli und wo 50 Menschen wohnen, da trieft die gelbe Fahne mit dem Haslitaler Adler so schwer vom Regen der letzten Tage, dass sie an der Stange herunterrutscht. Und auf Halbmast klebt. Was Trauerbe- flaggung bedeutet. Zwar ist das nur eine Folge der widrigen Witterung, Schaber- nack der Natur und wirkt doch auch wie ein böser Wink: Die Menschen hier wissen, dass die Zukunft nichts Gutes bringt, weil es für sie hier keine Zukunft gibt. Sie müssen weg. Der Berg kommt. Das Ritzlihorn ist Guttannens Hausberg, 3282 Meter hoch, Grimsel- Granit; seit Jahrhunderten hält er sich still. 2009 beobachtet man am Ritzli erste kleinere Murgänge, Ströme aus Schlamm und Gestein. 2010 und 2011, nach starken Niederschlägen, stürzen gewaltige Murgänge zu Tal, Ferien- chalet-grosse Brocken wälzen sich ins u

Oben: Die H¤user im Guttanner Ortsteil Boden sind von

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Page 1: Oben: Die H¤user im Guttanner Ortsteil Boden sind von

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Erstmals in der Schweiz ist wegen des Klimawandels ein Dorf in Gefahr. Weil das ewige Eis auf den Bergen schmilzt, wird Guttannen BE von Murgängen bedroht. Zwei Häuser sind schon weg. Die nächsten folgen bestimmt. 30 Menschen suchen ein neues Daheim.

ein Dorf verschwindet

KlimaerwärmunG im haslital

Oben: Die Häuser im Guttanner Ortsteil Boden sind von Murgängen bedroht.Links: Peter von Bergen steht auf dem 20 Meter hohen Schuttkegel. Auf dem Foto, das er zeigt, sieht man das Geburts-haus seiner Mutter, das genau hier stand und 2011 abgebrochen wurde.

TexT marcel huwyler FOTOs marcus GyGer

Der Hasli-Adler jedenfalls,

der steht schon mal auf

Halbmast. Im Guttanner

Dorfteil Boden, wo die

Aare noch Bach ist, wo

wettergrau melierte Holzhäuser stehen,

eine Steinbrücke, ein Schuelhüsli und

wo 50 Menschen wohnen, da trieft die

gelbe Fahne mit dem Haslitaler Adler so

schwer vom Regen der letzten Tage,

dass sie an der Stange herunterrutscht.

Und auf Halbmast klebt. Was Trauerbe-

flaggung bedeutet. Zwar ist das nur eine

Folge der widrigen Witterung, Schaber-

nack der Natur und wirkt doch auch

wie ein böser Wink: Die Menschen hier

wissen, dass die Zukunft nichts Gutes

bringt, weil es für sie hier keine Zukunft

gibt. Sie müssen weg. Der Berg kommt.

Das Ritzlihorn ist Guttannens

Hausberg, 3282 Meter hoch, Grimsel-

Granit; seit Jahrhunderten hält er sich

still. 2009 beobachtet man am Ritzli

erste kleinere Murgänge, Ströme aus

Schlamm und Gestein. 2010 und 2011,

nach starken Niederschlägen, stürzen

gewaltige Murgänge zu Tal, Ferien-

chalet-grosse Brocken wälzen sich ins u

Page 2: Oben: Die H¤user im Guttanner Ortsteil Boden sind von

schweizer illustrierte schweizer illustrierte50 51

so ein murgang schaut aus wie ein brauner tsunami. Das Geröll kommt immer näher. wir

müssen weg anDrea von BerGen

Aare-Bett, schütten das Ufergebiet 20

Meter hoch zu und kommen dem Dorfteil

Boden bedrohlich nahe. Der Permafrost

am Ritzlihorn taut auf, das ewige Eis,

welches das Gestein am Berg wie Kitt zu-

sammenhält, schmilzt. Auslöser ist – die

Klimaerwärmung. Ein globales Wort, das

in der Schweiz bisher bloss lauwarmes

Zukunftszenario war, und wenn über-

haupt, so dachte man, weit weg, an exo-

tischeren Orten, stattfindet, in Grönland

etwa, wo das Eis dünner wird, oder in

Kiribati, wo die Südsee insulaner vom an-

steigenden Pazifik vertrieben werden.

Aber doch nicht Guttannen.

Erstmals in der Schweiz ist ein Dorf

vom Klimawandel bedroht. Die Häuser

im Ortsteil Boden, drei Kilometer aus-

serhalb von Guttannen, werden vom

Geröll allmählich verschüttet. Von den

zum Ritzlihorn. Beide mussten weg.

Nutzungsverbot, schrieben die Behör-

den, dann Abbruchverfügung. Wenn wir

das Haus schon zerstören müssen, ma-

chen wir das selber, sagten sich die von

Bergens. Trotz und Stolz im Schmerz.

Im Frühling 2011 brechen sie das 262

Jahre alte Hohfluhhaus ab. Der Berg

hält nicht still, will noch mehr, weitere

Häuser sind gefährdet. Und wieder trifft

es Familie von Bergen. «Mitkommen»,

gebietet Peter von Bergen, zu ihm heim,

das bald nicht mehr sein Heim sein soll.

Ein paar Hundert Meter talab-

wärts, ebenfalls im Ortsteil Boden, steht

sein Haus, vor 22 Jahren gebaut, mit

Garten, in dem besagter Hasli-Adler auf

Halbmast schlenkert. Die Fussmatte

vor der Haustür grüsst «Willkommen»,

ein Büsi umschmeichelt alle neuen

Beine, und Peters Frau, Lisa von

Bergen, 59, schenkt erst mal Kaffee

ein, bevor sie von ihrem Kummer be-

richtet. Auch das Ehepaar muss hier

weg, in zwei, drei, «mit etwas Glück erst

in fünf Jahren». Die Ungewissheit sei

zermürbend, sagt die Frau. Ihr Mann

erwähnt das Gartenhäuschen, das

ein neues Dach, und das WC, das eine

Renovation bräuchte. «Ob sich das

noch lohnt?» Wohin sie gehen, wenn es

so weit ist, darüber will das Ehepaar

nicht nachdenken. «Wir sind optimis-

tisch», beteuern sie. Ein Satz, der

mehr nach Verdrängung denn nach

Zuversicht klingt.

Auch zwei ihrer Söhne möchten in

Boden bleiben, wollen hier gar ein Haus

bauen, die Frage ist nur, wo. Denn aus-

gerechnet da, wo es möglich wäre, wo

man vor den Murgängen sicher ist,

droht eine andere Gefahr: Lawinen.

Hans Abplanalp, Gemeindepräsi-

dent von Guttannen, beugt sich über die

Gefahren-Karten des Ortsteils Boden.

Aggressive Farben verdeutlichen, wo

Lawinen- und wo Murgang-Zonen sind.

Die Menschen hier, sagt der 61-Jährige,

lebten seit Jahrhunderten mit den

Schneelawinen und seien sich gewohnt,

im Winter tagelang von der Aussenwelt

abgeschnitten zu sein. «Aber diese gi-

gantischen Murgänge jetzt, die sind neu

und unberechenbar», Abplanalp zupft

sich am Schnauz, spricht von einer

«gschponnegi Situa tion». Immer wieder

schielt er auf sein Handy. Seit zwei Ta-

gen regnet es ohne Unterlass. Im Gefah-

rengebiet sind Si gnaldrähte gespannt,

bewegt sich der Berg, wird automatisch

die Hauptstrasse, die zum Grimselpass

führt, gesperrt, und Abplanalp bekommt

ein Warn-SMS aufs Handy.

320 Einwohner hat Guttannen, 30

Menschen in Boden sollen wegen der

Murgänge ihre Häuser aufgeben. «Wir

müssen also zehn Prozent unserer

Bevölkerung umsiedeln», rechnet Ab-

planalp vor. Ein Grossteil der Kosten

ihre häuser sinD BeDroht

Bild oben und links: Peter von Bergen geht auf der vom Murgang zerstörten Strasse nach Hause, wo er mit seiner Frau Lisa wohnt. Auch das Ehepaar muss sein Heim wohl bald verlassen und abbrechen.Bild rechts: Andrea von Bergen lebt mit ihrer Familie (hier mit Sämi) im hintersten Haus. Sie hat bereits Ersatzwohnungen im Unterland besichtigt, «falls wir hier schnell wegmüssen». Im vorderen Haus wohnen die Nachbarn Peter und Lisa.

50 Bewohnern müssen 30 in den nächs-

ten zwei bis zehn Jahren ihr Heim

ver lassen. Der erste Hof wurde bereits

abgerissen.

Peter von Bergen, 57, mit blauer

Regenjacke und weissem Haarkranz,

stakst auf der Geröllhalde herum. Hier

stand letztes Jahr noch das Geburts-

haus seiner Mutter. Er zeigt ein Foto,

zeigt was einst war, «s Hohfluhhaus»,

Baujahr 1749, dazu ein Stall, am Rande

des Ortsteils Boden gelegen. «Jahrhun-

derte ist hier nie etwas passiert», sagt

von Bergen, doch in den letzten zwei

Jahren seis immer ärger geworden, die

Murgänge kamen näher, 650 000 Kubik-

meter Geröll liegen hier, 20 Meter hoch,

das Volumen von 8000 Postautos. Von

allen Häusern in Boden lagen das Hoh-

fluhhaus und sein Stall am nächsten u

u

Page 3: Oben: Die H¤user im Guttanner Ortsteil Boden sind von

Guttannen unD seine Gefahren

Oben: Mit ihrem Handy fotografierte Lisa von Bergen den gewaltigen Murgang vor ihrem Haus im Oktober 2011.Links: Guttannens Gemeindepräsident Hans Abplanalp zeigt Lawinen- und Mur-gang-Zonen (violett) im Ortsteil Boden.

30 menschen in Boden müssen

fort, das sind zehn Prozent unserer Bevölkerung

GemeinDePräsiDent hans aBPlanalP

übernimmt die Gebäudeversicherung,

man versuche den Vertriebenen eine

Alternative im Dorf anzubieten, sagt der

Gemeindepräsident, «wir wollen doch

niemanden verlieren».

Andrea und Andreas von Bergen

(es gibt verwirrend viele von Bergens

im Ortsteil Boden) haben sich bereits

Häuser im Unterland angeschaut. «Man

weiss nie, wie schnell wir hier fortmüs-

sen», sagt Andrea von Bergen, 38, Mut-

ter zweier Buben. Diesen Frühling über-

legte sie, ob sich ein Frühlingsputz

überhaupt noch lohne. Im erst zwölfjäh-

rigen Haus duftet es würzig nach Arve,

Ehemann Andreas hat das Holz eigen-

händig geschlagen. In der Stube spielt

der fünfjährige Sämi mit seiner Post-

auto-Flotte, Bus-Chauffeur will er mal

werden. So ein «Gutsch», ein Murgang,

schaue aus wie ein Tsunami, erzählt An-

drea von Bergen, «dazu ein höllisches

Poltern und Donnern, es macht schon

Angst.» Die Mineralien-Sammlung ihres

Mannes hat sie vorsorglich in Kisten

verpackt. «Manchmal habe ich Hoff-

nung, dass wir bleiben können, dann

wieder bin ich verzweifelt und denke,

es geht alles unter.» Im Flur hängt ein

altes Poster – es zeigt die «Titanic».

Guttannen und sein schmelzen-

der Permafrost gilt bei Geologen mitt-

lerweile als Modellfall in den Alpen. In

diesem Jahr, resümiert Gemeindepräsi-

dent Abplanalp, habe man hier keine

Murgänge registriert. Er kontrolliert er-

neut sein Handy, blickt aus dem Fens-

ter, hinaus in die Regensuppe, hinauf

zum Ritzlihorn. Ja, doch, ein ruhiges

und darum gutes 2012 sei das gewesen.

Bisher. Fahrig nestelt er am Schnauz,

äugt wieder hinaus, hinauf, bergauf.

Das Jahr ist noch nicht zu Ende.

u