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Oblivion

(Vergessenheit) Deadly Past

Ein Drama in 2 Akten

von Falk Stephan Fritze

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1

Inhalt: Der achtundzwanzigjährige Barclay ist auf Besuch in seinem Elternhaus irgendwo in Texas,

USA. Seit einem Jahr lebt er in London und arbeitet an einer Kellerbühne, wo er sich mit

Projekten des absurden Theaters beschäftigt. Er ist ein Verfechter der Abstraktion und seine

Helden sind Beckett, Joyce, Jacques Brel und viele andere. Nichts Besonderes also im Jahre

1969. Zuhause in Texas trifft er auf seine religiöse Mutter, seine Schwester Amy und seinen

Vater. Zu diesem hat er aus seiner Sicht ein traditionell schlechtes Verhältnis. Er sieht ihn als

Spießer, der Vater Barclay als Spinner. In seiner Kindheit war Barclay im Alter von 8 Jahren

schwer erkrankt. Acht Monate verbrachte er in einem Hospital. Seine Erinnerung an kurze

Zeit davor und den Aufenthalt im Hospital ist verloren. Er weiß, dass mit ihm etwas nicht

stimmt und läuft der Wahrheit hinterher. Mutter und Amy hoffen, dass Sohn und Vater wieder

zueinander finden und lassen sie allein. Weit gefehlt. Vater ist hochgradig aggressiv zu

seinem Sohn, und der sieht in seinem Vater einen erzkonservativen Spießer und einen

ausgemachten Philister. Jemanden also, der seine Avantgarde-Kunst direkt ablehnt. Es

kommt zu einem spannenden verbalen Schlagabtausch, der darin gipfelt, dass Vater Barclay,

halb ausgesprochen, den Selbstmord nahelegt. Barclay flüchtet dahin, wo er immer hinlief,

wenn er mit Vater Probleme hatte. Auf eine nahegelegene Lichtung.

Wieder zurück, später am Nachmittag, erzählt er Amy, dass er auf der Lichtung Schach

gespielt hat. Schach mit dem Tod. Darauf ein kurzes Gespräch mit der Mutter bis Amy wieder

auftaucht mit einem Fotoalbum. Sie stöbern darin, bis sie auf ein altes Klassenfoto von

Barclay stoßen, auf dem er zweimal zu sehen ist. Mutter ist entsetzt, Vater empört und Amy

verstört. Die Schlacht um die Wahrheit beginnt. Die Situation eskaliert und endet im

menschlichen Fiasko, untermalt mit der irren Musik aus Hitchcocks Duschszene und

theatralischem Glockengeläut.

Spieldauer: ca. 115 Min.

Personen: 4 (2m / 2w)

Barclay: (Sohn) Mittelgroß, hager, verklemmter Typ mit fast schulterlangen Haaren. Dunkle

Kleidung, Brille, 28 Jahre alt. Hat oft heftige Kopfschmerzen, ist nervös. In der Aufregung hat

er leichten Hang zum Stottern. Arbeitet in London am Theater. Will sich am „Absurden

Theater“ einen Namen machen und orientiert sich stark an Samuel Becketts „Endspiel“ und

an James Joyce sowie anderen aus dieser Zeit.

Vater: Groß, kräftig, graue Haare, ist 58 Jahre alt. Aggressiver, erzkonservativer Spießer der

seine „Werte“ vehement verteidigt. Im Beruf ein sehr erfolgreicher Vizepräsident einer Öl-

Company. Gut gebildet und starke Persönlichkeit. Ballt oft die Fäuste. Nennt seine Frau nur

„Mutter“ und Barclay bloß „Sohn“. Verlängert häufig das Ende von Sätzen mit der

Wiederholung eines Teils des Satzes oder des letzten Wortes. Ist eine eigenwillige Marotte

von ihm.

Mutter: Mittelgroß, 56 Jahre alt, blond und damenhaft. Sehr religiös, ihrem Mann ergeben,

aber dennoch energisch und selbstständig. Extravagant, richtet oft ihre Kleidung und legt

Wert auf Status.

Amy: Die Tochter, Schwester von Barclay. 22 Jahre alt. Zierlich, blond, Pferdeschwanz.

Nesthäkchen der Familie. Will Musicaldarstellerin werden - lässt öfters mal einen „Pfiff“ ab. Ist

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geschwätzig und weltoffen. Hat keine Ahnung vom Familienunglück. Ganz weit weg nur eine

schemenhafte Erinnerung an ein aufgeregtes Elternhaus. Macht manchmal kurze

Tanzübungen im Wohnzimmer.

Bühnenbild:

Die Bühne ist geteilt. Die linke Seite, zwei Drittel, stellen das spießbürgerliche Wohnzimmer

der Oberschicht dar. Rechts, abgetrennt durch eine dünne Wand, befindet sich die Küche.

Eine, für die Zeit, normale Küche mit einem Küchenschrank an der linken Seite und einem

hohen Kühlschrank. An der rechten Wand ist die Spüle sowie ein Gasherd. In der Mitte steht

ein rechteckiger Esstisch mit vier Stühlen. Dahinter, zur linken befindet sich noch eine

schmale Anrichte. Am Ende ein großes Fenster mit einer Tür, die in den Garten führt und in

den Flur.

Das Wohnzimmer glänzt durch Spießigkeit und wirkt altmodisch. Am Ende ein großes Fenster

mit Blick in den Garten. Sonnenlicht schimmert rein. Rechts am Ende ist die Tür zum kleinen

Flur.

Rechts an der Wand steht eine altmodische Schrankwand mit Bücherregal und Schubladen.

In einem Regal stehen ein altes Radio, ein Plattenspieler, sowie die obligatorischen

Familienfotos. Daneben steht auf einem kleinen Tischchen ein weißes Telefon mit

Wählscheibe. Der Stolz der „Moderne“ des Hausherrn. Darüber hängt ein Christukreuz. Links

davon, um einen Glastisch, gruppieren sich drei Sessel und auf der gegenüberliegenden

Seite ein langes Sofa. Dahinter an der Wand eine Standuhr, ein langweiliges Bild mit

Gebirgsmotiv und einer Stehlampe. Das ganze Zimmer strahlt überhebliches und gewolltes

Spießertum aus. Highlight der „Moderne“ ist das weiße Telefon.

Ab dem zweiten Akt steht hinter dem Sofa ein kleiner Tisch mit Schachbrett und Figuren

darauf und zwei Holzstühle.

Musik:

1. Bernhard Herrmann: „The Murder“,

Partitur für die Duschszene, aus Alfred Hitchcocks Film „Psycho“ (1960)

Nur die / den Streicher, keine menschlichen Schreie.

(Gema Genehmigung ist erforderlich)

2. My Death von Jaques Brel, Mort Shuman

Performed by Scott Walker

Album: Scott, August 1967

(Gema Genehmigung ist erforderlich)

3. Funeral Tango (optional nach Möglichkeit des Theaters)

Sänger: Scott Walker

Album: Scott 3 (März 1969)

Original: Le Tango Funebre

Komponist: Jaques Brel, Gerard Jouannest (Musik)

Lyrics: Mort Shuman, Eric Blau

Accompaniment directed by: Peter Knight, 1964

(Der Scott Walker Version)

Ein “Deliciously” macabre Brel Song

(Gema Genehmigung ist erforderlich)

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1. Akt

Der Philister

(Klaviergeklimper ist zu hören. Der Vorhang geht auf. Die Mutter hantiert in der Küche. Sie

zupft Blätter von einer Pflanze im Topf. Sie nimmt die Pflanze geht nach hinten zur Tür zum

Flur und verschwindet links. Das Licht in der Küche wird abgedunkelt. Im Zimmer geht es

sanft an. Aus der Tür hinten rechts tritt Mutter auf. Am Fenster bleibt sie stehen, stellt den

Blumentopf auf das Fensterbrett und wischt sich die Hände an der Schürze ab. Leicht genervt

blickt sie nach oben, von wo die Musik erklingt. Sie schüttelt den Kopf.)

Mutter: (leise vor sich hin)

Ach Kind, kannst du nicht einen normalen Beruf erlernen? (Das Klaviergeklimper hört auf)

Deo gratias! (blickt zur Decke und bekreuzigt sich; lautes Getrampel, wie jemand

Treppenstufen hinunterspringt. Amy tritt auf, sie springt fast in den Raum und macht sogleich

tänzerisch Gymnastikübungen.)

Amy:

Noch ein paar kleine Übungen und das war es dann für heute. (turnt ein wenig herum, summt

vor sich hin und stößt schließlich einen Pfiff aus) Weißt du, warum die Störche im Winter in

den Süden fliegen? (wartet keine Antwort ab) Weil laufen zu lange dauern würde. (Beide

lachen)

Amy: (atmet aus)

Genug für heute, schließlich will ich ja kein Nurejew werden.

Mutter:

Geht auch schlecht, ist ja schließlich ein Mann.

Amy: (lächelt schief)

Sicher? Mann? Na, da hab ich in einigen Belangen so meine Zweifel.

Mutter:

Kind, du versündigst dich.

Amy:

Gegen wen? Gott? Die Natur? Oder gar gegen diesen Tänzer?

Mutter:

Gegen einen Menschen. Und Schluss jetzt. Du redest schon wie dein Bruder… immer

dagegen sein, Widerspruch Tag ein, Tag aus. Gott nimmt das nicht ewig hin.

Amy:

Muss er auch nicht. Sollte sowieso enge Gespräche nicht belauschen. Geht ihn nichts an.

Schließlich bin ich ein freier Mensch, wobei wir bei der alten Frage wären: Ist der Mensch

frei? Oder…

Mutter: (unterbricht sie)

Bitte Amy, nicht schon wieder. Kannst es mit deinem Bruder philosophisch diskutieren.

Später, wenn er da ist.

Amy: (geht zur Mutter, hakt sich ein)

Apropos Barclay. Müsste doch bald da sein. Ob sein Flugzeug schon gelandet ist? Warum

hat Vater ihn denn nicht abgeholt? Hat ihn doch nun auch schon fast ein Jahr nicht gesehen.

Mutter: (löst sich von Amy)

Du weißt doch, wie er ist.

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Amy:

Wer? Vater oder Sohn? Zum Flughafen hätte er schon fahren können. So weit entfernt ist der

nicht.

Mutter: (abweisend)

Er hat das Taxigeld mit überwiesen.

Amy:

Wie überaus liebevoll von ihm. Manchmal denke ich, dass zwischen Vater und Barclay etwas

steht. Ein unsichtbares Gitter. Sie nehmen sich wahr, interessieren sich aber nicht für den

Anderen, und finden nicht zueinander.

Mutter: (etwas genervt)

Amy, bitte lass Vater aus dem Spiel. Ich mache mir sowieso schon Sorgen darüber, wie die

beiden die nächsten Tage miteinander auskommen.

Amy:

Oder ich mit ihm. Hab dir ja erzählt, als ich vor ein paar Monaten bei ihm in London war,

empfand ich ihn auch als schwierig und angespannt. Ich liebe Barclay, als Bruder, aber mit

ihm zusammenleben, in einer Behausung? Besser nicht.

Mutter:

Ja, Barclay ist schwierig, Vater konservativ, du bist extrovertiert und ich pflege unser

Standesdenken und meine Liebe zu Jesus.

Amy: (stößt einen Pfiff aus)

Kann ja lustig werden die nächsten Tage. Obwohl ich sicher mit Barclay gut auskommen

werde. Ich weiß ihn zu nehmen. Ich spiele die kleine „Schutzbedürftige“ Schwester, das

funktioniert bei Brüderchen fast immer.

Mutter: (seufzt)

Barclay hat sich völlig verändert. Es war richtig, dass er nach London ans Theater gegangen

ist.

Amy:

Ich habe es auch bemerkt. Barclay wurde so, will mal sagen, radikal, so überaus kritisch. Er

hat immer nur dagegengehalten.

Mutter:

Weißt du Amy, wenn Barclay sich politisch so verhalten würde, könnte ich das verstehen. Die

Zeit ist nun mal so. Die Jugend wackelt geistig hin und her, sie findet keinen Halt. Aber bei

ihm ist es anders. Politik mag er nicht. Er lebt, seit er diese Kopfschmerzen manchmal hat, in

einer völlig verdrehten Welt.

Amy:

Er nennt diese seine Welt sein „absurdes Sein“. Hat er selbst gesagt. Aber Mutter, als ich die

vierzehn Tage bei ihm war… (sie schüttelt den Kopf) keine Spur von Kopfschmerzen oder

Migräne. Nichts, gar nichts. War überhaupt kein Thema. Aber, richtig, absurd war da wirklich

alles. Alles! (Sie hampelt wieder ein wenig herum) Jedenfalls ist es sehr schön, dass er

kommt.

Mutter:

Er muss bald ankommen.

Amy:

Es ist so schönes Wetter, weißt du, ich setze mich auf die Veranda und erwarte ihn. (Sie geht

ab) Wenn er kommt pfeife ich laut. (sagt sie im Umdrehen)

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Mutter: (schaut ihr nach. Seufzt)

Hoffentlich geht das auch gut. (sie lauscht nach draußen)

(Vater tritt auf. Kommt durch die Tür)

Vater:

Ach, hier bist du (er schaut sich um) Ist er schon da, da? (Mutter schüttelt den Kopf) Du freust

dich auf ihn?

Mutter:

Natürlich, er ist doch mein Sohn, unser Sohn…

Vater:

Unser Sohn, mein Sohn, dein Sohn? Seit damals habe ich Probleme damit, damit. (geht in

sich) Tja, er hat mein Leben verändert. Also hab ich mich auf „der Sohn“ mit mir selbst

geeinigt. Und heute sehen wir ihn nach einem Jahr wieder. Aber das weißt du ja alles!

Mutter: (geht auf ihn zu, fasst ihn am Arm)

Es ist schwer für uns beide. Aber Gott hat ihm vergeben, also sollten wir es nun erst recht

tun. War denn nicht seine Schuld eigentlich unsere Schuld?

Vater: (löst sich von ihr)

Du mit deinem Gott, deinem Jesus. Wo waren die beiden denn vor zwanzig Jahren? Wo?

Sag es mir. Verhindert haben sie es nicht, und die Schuld läuft daher letztlich auf mich

hinaus, auf mich hinaus.

Mutter:

Ach, was!

Vater:

Nicht „ach was“! Ich weiß es selbst dass du mir innerlich Vorwürfe machst. Aber ich mache

mir keine. Aber es ist so wie es ist, und daher habe ich mit dem Begriff „Sohn“ so meine

deutlichen Schwierigkeiten.

Mutter: (bekreuzigt sich und atmet laut aus)

Versprich mir, dass du ruhig bleibst. Sind doch nur ein paar Tage. Die wirst du auch noch

überstehen. Vergiss doch einfach die Vergangenheit.

Vater:

Geb mir Mühe. Aber mit dem „Vergessen“ ist das so eine Sache. Wird schwer, schwer. Und

außerdem hat er neuerdings eigenartiges Verhalten und Denken.

Mutter:

Gib dir Mühe, aber ernsthaft. Barclay kann doch nichts dafür. Er spürt deine Abneigung, deine

Vorbehalte, deine sinnlose Kälte. Hat er immer gespürt und er kann es bis heute nicht

einordnen. Eigentlich ist er unschuldig wie ein Neugeborenes.

Vater: (energisch)

Unschuldig? Der? Nur weil er diese Amnesie hat ist er noch lange nicht raus aus der

Geschichte. Und unschuldig schon gar nicht. Unschuldig wie ein Neugeborenes sagst du?

(spöttisch) Ja, welch ein Glück für ihn. Neugeboren, beinahe acht Jahre nach seiner Geburt,

Geburt. (leise sind Motorengeräusche zu hören, ein Pfiff ertönt)

Vater: (man merkt ihm an, dass er diesen vernommen hat und zuordnen kann)

Ich geh dann mal wieder in den Garten. Ist noch viel zu tun, viel zu tun.

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Mutter:

Soll ich dich rufen, wenn er hier ist?

Vater: (missmutig)

Mich rufen? Soll ich vor ihm antreten? Oder muss er vor mir antreten? Was meinst du? Ich

bin weit hinten im Garten. Der Sohn darf zu mir kommen, kommen. (ab)

Mutter: (steht steif da, bekreuzigt sich nochmals, blickt zum Kreuz an der Wand)

Herr, steh mir bei. Steh Barclay bei. Steh Vater bei. Kyrie eleison! Christe eleison! (Und

wieder bekreuzigt sie sich, strafft den Körper und geht in die Küche)

(Von draußen ist Gejuchze und Gelächter zu hören. Amy stößt Freudenschreie aus. Das Licht

im Wohnzimmer wird abgedunkelt und in der Küche geht es langsam an. Mutter betritt die

Küche und gleich darauf treten Amy und Barclay, Arm in Arm, auf.)

Mutter: (herzlich)

Barclay, mein Junge! (sie drückt ihn liebevoll an sich)

Barclay: (lächelt, schiebt die Mutter etwas von sich, schaut ihr ins Gesicht, gibt ihr einen

Kuss auf die Wange) Wie schön dich wiederzusehen, hab dich sehr, sehr vermisst. Die olle

Tante hier aber auch (er zeigt auf Amy)

Amy: (spielt empört)

Blödmann! (schmiegt ihren Kopf an seine Schulter) Ich dich auch!

Barclay:

Wie geht es euch? Alles in Ordnung bei Biedermanns?

Mutter: (stupst ihn sanft an)

Du, lass das nicht Vater hören. Ja, uns geht es gut. Muss ja, sind ja noch nicht so alt.

Jedenfalls nicht so alt wie du uns mit deinen Sprüchen machst.

Amy: (schaut zu Barclay hoch)

Hat er alles in diesem komischen London gelernt. Ist dort ja total „en vogue“, so zu denken

und zu reden. Will er nun alles nach Texas importieren. Nicht wahr, Brüderchen?

Barclay: (lächelt geschmeichelt)

Habe ich alles im Gepäck verstaut. Ich bringe es nachher hoch auf mein Zimmer. Drin sind?

Sprüche, Weisheiten und Banalitäten. Meine Welt im Besonderen, und unser Texas werde

ich damit überfluten.

Mutter: (ernst)

Das wird Vater ganz sicher nicht zulassen.

Barclay:

Denke ich leider auch. Bin da immer zu voreilig. In meinem Denken hat sich immer noch nicht

etabliert wie er wirklich ist (er schaut sich gekünstelt um) Wo ist er überhaupt?

Amy: (kommt der Mutter zuvor)

Im Garten, ganz hinten, bei dem alten Kaninchengrab. Hat viel zu tun.

Barclay:

Also kein persönlicher Empfang von dem hohen Herrn, unserem Vizepräsidenten, dem

Mogul? (er geht etwas in sich) Hab ich leider auch nicht anders erwartet.

Mutter: (klopft ihm aufmunternd auf die Brust)

Nun sei mal nicht so. Er ist wie er ist.

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Barclay:

Er ist wie er ist, genau. Und er will, dass ich das akzeptiere. Und ich bin wie ich bin. Aber da

gibt er sich keine Mühe, das zu akzeptieren. Was soll ich also tun? Ihn nehmen wie er ist und

mich fallen lassen in die Arme der Kapitulation?

Mutter:

Wie du redest, Barclay. Es ist dein Vater und du bist der Sohn.

Barclay:

Ist ja gut Mutter. Die alte Geschichte von Ehrfurcht vor dem Alter und das ganze Gedöns.

Aber keine Sorge ich gebe mir alle Mühe… Ich sollte nicht allzu viel Zeit mit ihm verbringen…

Amy: (zupft an seinem Ärmel)

Bitte keinen Krieg im Haus. Stell dein radikales Wesen, diesen merkwürdigen Teil in dir, mal

ein paar Tage zurück. (sie zupft wieder energisch an seinen Ärmel) Wird das wohl gehen du

Theatervogel?

Barclay: (lacht)

Theatervogel? Gut gesagt du Ballettvogel.

Amy:

Nicht mehr Ballett mein Bester, Musical ist angesagt. Tja, ich gehe bald zum Musicaltheater.

(schnippisch) Ich habe nämlich richtiges Talent.

Mutter:

Ja, das hat sie wirklich.

Barclay:

Wenn ich das hier alles so richtig interpretiere, erwartet der Herr, dass ich zu ihm komme. Ist

er deshalb in den Garten geflüchtet?

Mutter:

Rede doch nicht so. Du versündigst dich.

Barclay:

Wie kann ich als Atheist mich versündigen, mein Mütterchen? (er drückt sie an sich)

Entschuldige Mutter, ich will nicht deine religiösen Gefühle torpedieren. Aber letztlich ist es

dein Glaube und nicht der meine. (er löst sich von ihr) Also was ist? Ich soll also vor meinem

Herrn antreten und meine Rolle als gefügiger Sohn spielen? (er dreht sich zu Amy) Los Amy,

lauf vor und kündige mich an. Aber nimm das Empfehlungsschreiben mit. Er fällt sonst aus

allen Wolken, wenn ich vor ihm stehe. Dieser Schock für ihn, mich zu sehen…

Amy: Ach Barc… (sie stockt. Laute Schritte sind zu hören. Vater steht plötzlich in der Küche)

Vater: (mit kaltem Blick)

Der Herr Sohn ist da. Er braucht nicht vor mir anzutreten. Sohn, das nehme ich dir ab. Das

kann ich wohl, obwohl du es nicht glauben kannst. Aber ordne es in deinen Kopf bitte richtig

ein, es gibt sonst ein Desaster. Desaster! (er geht ruhig und gelassen auf Barclay zu. Der

steht stocksteif und erschrocken da. Der Vater reicht ihm kühl die Hand, Barclay will ihn

umarmen, zieht aber zurück und nimmt die Hand des Vaters. Sie schütteln sie emotionslos.)

Barclay:

Vater!

Vater:

Sohn! Sohn! (er betrachtet ihn leicht abfällig) Wie war der Flug?

Barclay:

Langweilig. Zu lang. Danke!

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Vater: (betrachtet ihn von oben bis unten, schüttelt den Kopf)

Siehst ja aus wie Leichenbitter. Willst du heute noch zu einer Beerdigung oder ist dein

Äußeres, das europäische Aufbegehren der alternden Jugend?

(Barclay will etwas sagen, aber Mutter unterbricht ihn)

Mutter:

Vater, muss das jetzt sein? Der Junge ist eben erst angekommen und schon zickst du wieder

mit ihm rum.

Vater:

Man soll im Leben keine Zeit vergeuden. Was ist hier los? Er war gerade mal ein Jahr weg.

Soll ich für seine Ankunft extra eine Blaskapelle bestellen? (er beugt sich zu Barclay hinüber)

Oder hast du das erhofft, nachdem du letztes Jahr einfach von hier verschwunden bist?

(spitz) Oder soll ich sagen „geflüchtet bist“? Geflüchtet bist!

Barclay:

Danke Mutter für deine Fürsorge. Und dir Vater danke ich für den Empfang ganz nach

deinem Geschmack. Ich sehe, hier hat sich nichts verändert. Alles beim alten, so wie es in

der Hausordnung steht. Paragraph 1: Strammstehen; Paragraph 2: Vor dem Hausherrn

strammstehen, immer! Paragraph 3: Wegkriechen.

Amy: (schnappt nach Luft)

Das war gemein. Ihr seht euch noch nicht mal eine Minute und schon widert ihr euch

gegenseitig an. Warum ist das so? Was ist los mit euch? Manchmal denke ich, du bist nicht

der Vater (zeigt auf Vater) und du nicht der Sohn. (zeigt auf Barclay) Dann will ich nicht deine

Tochter sein und auch nicht deine Schwester (stürzt aus der Küche und setzt sich im

Wohnzimmer in den einen Sessel)

Mutter:

Ihr benehmt euch beide wie Kleinkinder

Barclay: (gebietet Mutter Einhalt, holt tief Luft)

Ist ja gut Mutter. Ich weiß ja, wie er ist, aber das er mich so schnell überrumpelt, tja damit

habe ich nicht gerechnet.

Vater:

So, so mein Lieber, nicht gerechnet. Hättest du aber sollen. Du weißt genau, was dich hier

erwartet… Rosenblüten? Wir sind verschieden, wir waren verschieden und werden es stets

sein. Richtig Sohn? Sohn.

Barclay:

Muss ich dir jetzt zustimmen? Steht aber so nicht in deiner selbstgefälligen Hausordnung.

Aber, (er winkt ab) sei´s drum. Ich habe dir auch etwas mitgebracht.

Vater:

Du, du hast mir etwas mitgebracht? (er spricht es gedehnt aus. Fassungslos) Mir? Mir?

Barclay:

Nur dir. Weil du es mir wert bist.

Vater:

Na, dann her damit!

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Barclay:

Gerne. Hier ist es: Widerspruch, Selbstbewusstsein, Rebellion und den Aufruhr gegen dein

Philistertum. Reicht das fürs erste? Keine Sorge, ich habe noch mehr im Gepäck. Argumente

im Kampf gegen das Langweilige und Spießige deiner Generation und hilfreiche Fakten für

die phänomenalen Neuerungen meiner ehrenwerten Altersgruppe. Na, wie findest du meine

Geschenke?

Vater: (lächelt überheblich)

Ich finde es toll von dir. Kaum zuhause und schon erklärst du mir den Krieg. Hast viel gelernt

in deinem Absurdistan. Absurdistan.

Barclay:

Nicht nur dort. Auch schon früher, von dir.

Mutter: (laut und klar)

Schluss jetzt. Fechtet das später aus. Denkt bitte auch mal an Amy und mich. Wir müssen

das alles ertragen. Dabei haben wir uns auf Barclay gefreut.

Barclay:

Kein Problem Mutter. Wer soll die Füße stillhalten. Er oder ich?

Mutter:

Beide! Ihr geht jetzt in die Stube und werdet gefälligst erwachsen. (sie beginnt

herumzuhantieren, Vater und Barclay gehen in die Stube. Amy geht in die Küche)

Vater:

Hast dir viel vorgenommen mir gegenüber. Richtig? Richtig. (bösartig) Sätze zurechtgelegt,

Selbstgespräche geführt, Situationen im Geiste durchgespielt. Ein Tipp von mir Sohn. Im

Dösen auf der Couch, so im Halbschlaf, wenn Körper und Geist entspannt sind, geht’s am

besten. Da sprudeln die Ideen und Sätze nur so. Nur so.

Barclay: (locker)

Weiß ich doch… Vater… hast du mir früher schon einmal eingetrichtert. Aber, es stimmt. Ich

mache es oft, und wirklich, die Ideen sprudeln nur so. Aber du liegst richtig. Ja, ich habe über

uns nachgedacht. Habe sogar eine Strategie entwickelt, aber ich befürchte die ist jetzt schon

hinfällig. Aber mir kommen da auch die besten Ideen für das Theater, Szenen, Monologe, ja

Monologe und nicht Dialoge, dann Bühnenbild und so. (er schaut sich lästerlich um)

Bühnenbild, ja, also wenn ich mich hier so umsehe. Spießig, langweilig, unmodern. Ist das

der Spiegel deines Innenlebens? Deines Denkens, deines Status als Vizepräsident einer

Ölbude? (er schlendert durch den Raum) Alles wie gehabt. Die Verbannung der Moderne

feiert hier Triumphe. (er stockt, bleibt bei einem weißen Telefon stehen) Oh, Entschuldigung,

Verzeihung, ich wusste doch nicht… Ein weißes Telefon! Meine Güte Vater, ein weißes

Telefon. Modern und teuer. Wie das? In Biedermanns Haushalt so ein Stück Aufbruch in die

Zukunft. Nein, nein, das geht so nicht. Fehlt ja nur noch ein Fernseher… aber bitte bloß

nicht. Ich erkenne meinen Vater dann nicht wieder. Der Zeitgeist holt dich ein, nein, nein das

geht nicht.

Vater: (trocken)

Mutter wollte es. Und was sagt uns das? Erst denken, dann sprechen. War aber noch nie

deine Stärke. Und da ich der Ältere bin, schlage ich einen Themenwechsel vor, wir setzen

uns gemütlich hin und tratschen wie zwei alte Waschweiber. Waschweiber.

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Barclay: (grinst)

Gut gesagt. Könnte glatt von mir sein, also kurz und knapp. Abstraktion gewissermaßen. Aber

eigentlich lag das dir ja noch nie.

Vater:

Was?

Barclay:

Die Fähigkeit der Abstraktion.

Vater:

Wieder so ein neumodisches Wort.

Barclay:

Die Reduzierung auf das Wesentliche. In Wort, in Bild und Schrift. Im täglichen Leben also.

Vater:

Muss es das? Ist es wichtig? Für mich? Für dich?

Barclay:

Für mich schon. Für dich ist es mir egal. Ich arbeite damit am Theater.

Vater:

Dem absurden

Barclay:

Meine Welt.

Vater:

Kurz und knapp.

Barclay:

So ist es. Kurz und knapp. Alles auf das Wesentliche reduziert. So wie im „Endspiel“. Kennst

du das Stück?

Vater:

Ja leider. Von Beckett. Haben es in Berlin gesehen. Als wir die Deutschlandtour gemacht

haben. Das war… das war (er dreht den Kopf zur Küche, laut) Mutter! Mutter!

Mutter: (steht auf, geht zur Tür)

Was ist? Wollt ihr Kaffee?

Vater:

Sag mal, wann haben wir dieses Stück von dem irren Iren gesehen? Wann war das?

Mutter:

Du meinst Endspiel, Fin de partie, Endgame von Beckett. (sie zieht die Augenbrauen hoch)

(Vater nickt mit dem Kopf)

Das war Anfang Oktober im Schlossparktheater in Berlin. War ein scheußliches Stück.

Langweilig. (geht wieder in die Küche, schüttelt den Kopf)

Vater:

Gut, gut. Richtig im Oktober 1957. In Berlin waren wir zu Besuch bei einem alten Kameraden

aus der Army. Der ist da stationiert und wollte uns was Gutes tun (er lacht laut auf) Viele

Zuschauer sind einfach aufgestanden und gegangen. Ein Reinfall war das, aber wir haben

durchgehalten. Durchgehalten.

Mutter: (sitzt am Küchentisch, schüttelt den Kopf, steht auf und geht wieder ins Wohnzimmer.

Amy schaut ihr ernst nach. Mutter bleibt in der Tür zum Wohnzimmer stehen)

Barclay dieses Stück fand ich einfach furchtbar. Das Bühnenbild war sicher nach deinem

Geschmack. Ein riesiger leerer Raum, hinten, weit oben zwei kleine Fenster davor eine

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Leiter, eine kleine Tür und an der Wand ein umgekehrtes Bild. (schnappt nach Luft und

schüttelt vehement den Kopf) In der Mitte ein Sessel auf Rollen und darin ein Mann, gelähmt

und blind.

Vater:

Hamm hieß der… Hamm

Mutter:

Genau, und sein Diener hieß… hieß?

Vater:

Clov.

Barclay:

Weiß ich doch! Warum sagt ihr das alles. Vermute mal, es hat euch nicht gefallen? Warum

seid ihr nicht auch raus?

Mutter:

Aus Höflichkeit, purer Höflichkeit unserem Gastgeber gegenüber.

Vater: (grinst)

Dem war der ganze Mist doch auch peinlich. Peinlich!

Mutter:

Gut, gut. Wäre aber alles nicht so schlimm, wenn auch nicht wirklich zu ertragen. Aber richtig

schlimm war, dass dieser Beckett, dieser Mensch, ich weiß gar nicht welche Worte ich wählen

soll, um den zu beleidigen. Ist sonst nicht meine Art.

Vater: (unterbricht sie)

Mutter meint die zwei Mülltonnen auf der Bühne, in der Hamms Eltern hausen… Eltern

hausen.

Mutter:

Vegetieren… sag‘s doch Vater. Nur mit Beinstrümpfen in Mülltonnen vegetieren.

Vater:

Nagg und Nell, so heißen die. (grinst schelmisch) “Meinen Brei! Ich will meinen Brei“, hat der

da gerufen. Brei.

Barclay: (steht auf, geht umher)

Genial, genial, dieses Stück ist eine Sternschnuppe des Theaters, großartig.

Mutter: (empört)

Großartig? Großartig nennst du das, wenn die Eltern in Mülltonnen hausen und nach Essen

jammern (geht auf Barclay zu)

Barclay:

Du verstehst das nicht Mutter. Das ist nun mal absurdes Theater.

Mutter:

Ach komm, Barclay. Nicht diese Masche. Immer wenn Menschen etwas nicht erklären können

sagen sie: „Du verstehst das nicht, es ist…“ und so weiter, und so weiter. Es ist eine Ausrede,

wird auch gerne in der Politik gebraucht. „Sie verstehen das nicht, ist eben Politik“. Oder

Firmen machen das auch gerne so, wenn Mitarbeiter Einwände gegen Entscheidungen

haben. Jetzt greift dieser Quatsch auch auf die Kunst über, nur um den größtmöglichen

Unsinn zu rechtfertigen.

Vater: (klatscht begeistert in die Hände)

Bravo Mutter. Mit diesen paar Sätzen hast du den Sohn, Beckett und Konsorten entlarvt.

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Barclay:

Klatscht nicht zu früh Beifall, ihr Ignoranten. (lacht in sich hinein) Lest mal „Murphy“. Dieser

fesselt sich selbst nackt in einen Schaukelstuhl und…

Mutter: (unterbricht ihn lautstark)

Genug jetzt. Es reicht. Ich will so etwas hier nicht hören, ist ja pervers. Ist das deine neue

Welt? Ist das London 1969? (dreht sich um und verschwindet wieder in der Küche)

Barclay: (schüttelt den Kopf)

So ist das nun mal. Keiner versteht es, mich. Das Stück „Endspiel“ ist seiner Zeit zehn Jahre

voraus.

Vater:

Kann nicht sein. Nicht sein.

Barclay:

Wieso?

Vater:

Na, wenn es seiner Zeit zehn Jahre voraus ist, dann müssten wir es ja jetzt verstehen.

Schließlich haben wir es 1957 ertragen müssen und nicht verstanden.

Barclay:

Womit bewiesen ist, dass es so stimmt.

Vater:

Wieso?

Barclay:

Ich verstehe es.

Vater:

Dann erklär es mir doch, doch.

Barclay:

Ich soll dir „Endspiel“ erklären? Nein Vater! Ich werde dir keinen Anlass geben, mich zu

demütigen. Leb weiter in deiner konservativen Scheinwelt.

Vater:

Womit wir beim Thema wären. Wolltest du doch darauf hinaus. Konservativismus, Spießer..

oder vornehm ausgedrückt Philistertum. Aber ich versichere dir, diese Welt, meine Welt, die

du in Frage stellst ist wenigstens normal, sicher und verlässlich. Ganz im Gegensatz zu

deiner neuen Welt. Der Welt des Existenzialismus wie es neumodern genannt wird. Die eines

Sartre, de Beauvoir, Camus.

Barclay: (tut begeistert)

So ist es! Lass es mich vollenden. Nicht nur die von den genannten auch Joyce und in der

Malerei Picasso, Dali, in der Musik Jacques Brel und, und, und. Ja, meine Vorbilder, meine

Helden.

Vater:

Absurde Helden. Nimm dir doch Picasso, versteht der denn selbst, was er rumschmiert? Als

Betrachter stehst du davor, dem Bild also, schüttelst verständnislos den Kopf, trittst ein paar

Schritte zurück, schaust wieder auf das Bild. Dann kneifst du die Augen zusammen, um zu

verstehen. Schließlich hast du genug davon, drehst dich genervt um und läufst kopfschüttelnd

davon, davon.

Barclay: (lacht überheblich)

Du verstehst gar nichts. Weil du nicht willst.

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Vater:

Weil ich nicht will? Richtig! Weil ich meine Gedanken nicht an eine Pseudowelt verschwende.

Nicht mit mir, mir. (holt tief Luft) Aber „Endspiel“ hat auch was Gutes. Die Zuschauer können

sich über das Stück aufregen und haben somit zwei Stunden keine Sorgen. Ist doch auch

was in dieser wirren Zeit.

Barclay:

Du bist gemein. Nicht mir gegenüber, sondern Beckett. Er hat sich mit dem Stück was

gedacht, wenn du es nicht verstehst, was kann er dafür?

Vater:

Der Arme, er wird nicht verstanden, verstanden. Traurig, traurig! Und du willst es mir nicht

erklären (spöttisch) Gemeiner Sohn, Sohn.

Barclay: (sieht den Vater streng an)

Gib es doch zu, du bist daran auch nicht sonderlich interessiert. Ich will dich mal mit

Schopenhauer bloßstellen: „Du willst diese andere Welt nicht, übersiehst aber, dass du die

Zukunft nicht ändern kannst. Deine stolzen Werte sind Vergangenheit und werden von meiner

aufgeschlossenen Generation in den Boden gestampft. Mit Hurra! Das schlimme an dieser,

deiner Generation ist ja, dass ihr nicht frei sein wollt, geistig sowieso nicht. Du bist ein

körperlich und geistiger Kleinbürger, auch wenn du herrschaftlich als „Vizepräsident“ firmierst.

Du kannst mit meiner Kunst, die ich auch der Avantgarde zurechne, nichts anfangen, weil du

neue geistige Werte verabscheust.

Vater: (amüsiert)

Biedermanns Leben also? Ja, ich bevorzuge es. Und ich bin stolz auf meine Weisheit als

Spießer und genieße die Arroganz des Philisters. Deine neuerlichen Kaprizen rauschen doch

mit Wucht am Leben vorbei. Und falls du mich nicht verstehst, Sohn, Kaprizen sind Launen,

Schrullen, Marotten und so weiter, aber dies alles trifft es nicht genau. Es drückt es nicht

richtig aus. Da muss ich wohl deutlicher werden. Bei dir ist dein neuerliches Denken wohl

eher die Schwankung eines unsteten Gemüts, Gemüts.

Barclay: (lächelt überheblich)

Hättest du jetzt „Geistes“ gesagt, so nähme ich es dir übel. Mit meinem Gemüt ist es ja auch

so eine Sache, die sich aber in London erheblich gebessert hat. Vater, warum weigerst du

dich, wenn auch nur versuchsweise, dich mal in diese, andere Welt, einzuklinken? Du

würdest viel Neues erleben. Als Philister bist du doch nur uninformiert, nach „Außen“ und

„Innen“! Gleichgeschaltet aus Rücksicht auf die Normen deiner kleingeistigen Gesellschaft.

Ich sage absichtlich „deiner“ denn es ist nicht die meine. Ich will es mal fortführen und ich

meine es nicht böse mit dir, vielleicht hilft es dir ja weiter. Du bist geistig unbeweglich,

engstirnig, unbelehrbar und abhängig von der Meinung der anderen. Deine Willensbildung ist

hinter der Angst um deine Existenz verschwunden. Mainstream ist dein unausgesprochenes

Zauberwort, dem folgst du auch ohne dich umzublicken.

Vater: (gebietet mit der Hand Einhalt)

Bitte lass mich deine Gedanken vollenden (zögert, geht in sich) Ich bin ein uniformiertes

Wesen, also gleichgeschaltet, welches es nicht schafft, die geistlosen Ketten zu sprengen.

Abhängig im Beruf und im Privaten. Dazu im Hintergrund die auch heute noch allmächtige

Kirche, Kirche.

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Barclay: (spielt begeistert)

Bravo Vater! Lass es mich vollenden. Dein Konservatismus, sag ich mal, hat doch seine

Wurzeln in Ideen längst vergangener Zeiten und… auch des Christentums. Du siehst dich in

deiner Meinung „Unantastbar“, bestätigt durch die ach so normale „Kaste“ in der du dich

bevorzugt bewegst. Deine Grundpositionen sind deutlich eine Abkehr von den Erfahrungen

aus der Geschichte…

Vater: (unterbricht ihn)

Werd bitte nicht politisch.

Barclay: (schüttelt den Kopf)

Ein irgendwie „Weiter so!“ Du forderst dazu noch Respekt vor dem Alter, den Eltern, der

Gesellschaft und den Errungenschaften allerseits. (er schüttelt sich angewidert) Aber nicht mit

mir. Nicht mit meiner Generation.

Vater: (springt auf und stellt sich drohend hin)

Genug jetzt. Schluss mit dem Geschwafel. (In der Küche blicken Mutter und Amy auf. Mutter

legt eine Hand auf Amy´s Arm) Diese, deine obskure und sinnlose leere Welt der

sogenannten geistigen Größen, deine Helden, will doch nur provozieren und der Schrecken

der Zivilisation sein. Für euch, und damit meine ich das Anführerpack, ist doch alles

Konservative eine Zumutung. Hervorgegangen ist es bei dir aus einem dir unbekannten

Ereignis. (Seine Sprache wird immer wütender) Dein Sein erscheint mir leblos und krank, leer

und sinnlos, genau wie deine absurden Vorbilder. Zieh dich doch zurück in die Mülltonne

deines verwirrten Denkens. Du hast keinerlei Chance in der realen Welt, die verschlingt dich

früher oder später. (ballt die Fäuste) Gegen das Ticken der Normaluhr kommst du niemals

an. Dein ominöses Verhalten ist begrenzt von der Wirklichkeit und nur begreifbar von einem

labilen Charakter, wenn du auf Distanz zu seinem Denken gehst. (starrt Barclay an) Du bist

der Bote des gewollten Untergangs der menschlichen Vernunft. Der Auslöser eines

Theaterkrieges…

Barclay: (unterbricht ihn begeistert)

Ja, eines Theaterkrieges. Untergang der Kunst, Literatur und jeder Form zwischen-

menschlichen Verständnisses. Genau, mir kann man sich nur nähern wie einem Bild von Dali.

Wie du schon über Picasso sagtest… aber zum Schluss wissend lächeln und mit dem Kopf

nicken.

Vater:

So, so, Sohn, bist doch ein Verfechter der Abstraktion wie du sagtest. Verstehst du das alles

überhaupt? Weißt du, was du deinem Geiste antust? Willst dich, deine Kunst immer weiter

reduzieren, so wie der Bursche, im Sessel, im Endspiel. Verlangst es doch auch von deiner

Umwelt. Bravo Sohn, so etwas nenne ich geistige Diktatur, und nicht Autorität, wie du es

gerne hättest, hättest. (setzt sich wieder hin) Aber, gut, ich will mal nicht so sein und zeigen,

dass Spießer auch menschliche Gefühle haben und den Egoismus kurzzeitig bei Seite

schieben können. Erzähl mir doch mal von dir, damit ich deinen Verstand besser analysieren

kann, kann.

Barclay: (spöttisch)

Zerfleddern meinst du wohl.

Vater:

Nein, nein! Warum so misstrauisch. Du bist doch wohl mein Sohn… und daher, daher.

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Barclay:

Wohl? Gleichwohl sag ich, du willst mehr von mir?

Vater:

Sag ich doch. Fühl dich frei und erzähl mir mehr von dir, ich bin dann mal interessiert.

Barclay: (zynisch)

Bist du wirklich?

Vater: (geht nicht darauf ein)

Erzähl schon. Los, nur Mut. Mut!

Barclay:

Okay! Auf deine Verantwortung, die ich letztlich wohl aber zu tragen habe.

(Vater zieht die Augenbrauen hoch)

Vorher aber eine Kleinigkeit, ein Witz, um die Situation ein klein wenig zu entspannen. Du bist

doch der Chef in deiner Firma?

(Vater nickt mit dem Kopf)

Und was trinkst du als Chef?

Vater:

Was wohl?

Barclay:

Leitungswasser (er hält sich den Bauch und lacht gackernd in sich hinein)

Vater: (trocken)

Ja, witzig, witzig! Leg schon los!

Barclay:

Das erfordert aber „spirituali competenci“

Vater: (gütig)

Ja ich weiß, du und dein Latein. Hör auf zu schwafeln, komm zur Sache. Los schon, was

machst du in London am Theater?

Barclay: (holt tief Luft)

Angefangen hab ich dort als Assistent. Es ist ein kleines Theater, ein sogenanntes

Kellertheater und wir führen Stücke der schon genannten, na du weißt schon, auf.

(provozierend) Wir machen absurdes Theater und haben viel Erfolg.

Vater:

Viel Erfolg? Hier in Amerika hab ich aber nicht viel gelesen über deine Kellerbühne. Sollte

aber so sein, denn Erfolg ist ein Produkt der Amerikaner, also…

Barclay:

Also was?

Vater:

Also weiter!

Barclay:

Ich habe ein Theaterstück geschrieben…

Vater: (unterbricht ihn)

Ein absurdes natürlich. Ganz im Sinne von deinen Helden?!

Barclay:

Vater, warum unterbrichst du mich dauernd? Ist das eine neue Taktik, die du ausprobierst,

weil du Bedenken hast, mir gegenüber?

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Vater:

Hab ich nicht, also die Bedenken, Bedenken. Erzähl mir von deinem Stück. Titel. Anzahl der

Darsteller, Bühnenbild, Handlung. Los doch.

Barclay:

Macht das Sinn? Du bist doch jetzt schon voreingenommen.

Vater:

Gegen dich vielleicht, aber dein Stück kann ich doch noch nicht bewerten.

Barclay: (geht umher)

Also gut! Silentium! Das Stück hat den Arbeitstitel … (bricht ab)

Vater: (flüstert leise in sich hinein)

Arbeitstitel. Ts!

Barclay:

Es spielt auf einem Friedhof.

(Vater richtet sich gespannt auf)

Ja, auf einem heruntergekommenen Friedhof. Eine alte Frau sitzt auf einem Grabstein vor

einem leeren Grab. Auf dem Stein ist nur ein Kreuz eingemeißelt. Die Frau redet mit sich

selbst. Aber nicht etwa wirres Zeug, sondern Banalitäten aus ihrem Leben. Sie gibt Floskeln

von sich. Manchmal murmelt sie nur Belangloses. Sie geht umher, steigt mal in das Grab,

macht eine Liegeprobe und redet vom Ende der Welt, dem Tod und auch Gott, weiter

lamentiert sie über die Sinnlosigkeit des Seins. (schaut den Vater fragend an)

Vater:

Ja, red weiter. Ich denke, dass ich verstehe.

Barclay:

Vergiss nicht, es ist ein absurdes Theater, reduziert auf das Wesentliche.

Vater:

Ist mir doch schon aufgefallen.

Barclay:

Im zweiten Akt taucht ein Junge mit einem JoJo auf. Sie unterhalten sich, banal, langweilig

und gegenseitig uninteressiert. Sie reden aneinander vorbei. Ganz am Ende legt die

namenlose Alte sich in das Grab und der namenlose Junge schaufelt es zu. Spielt mit dem

JoJo und summt ein Lied. Ende! (er schaut zu Vater) Erst wollte ich das Stück ja nur mit der

Frau, die zu ihrer toten Katze redet… Egal, ich habe alles auf das Wesentliche reduziert, und

gewidmet habe ich es Elisabeth. (wirkt etwas irre)

Vater:

Elisabeth?

Barclay:

Ja, du weißt doch, mein kleines Kaninchen dahinten im Garten, das kleine Grab.

Vater: (etwas verwirrt)

Dein Theaterstück hast du deinem toten Kaninchen gewidmet? Hm, guter Gedanke.

Gedanke.

Barclay:

Vater, das ist eben absurdes Theater. Das muss man verstehen, verstehen wollen.

Vater:

So, So!

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Barclay:

Das alles kommt doch vielfach aus Frankreich, dort nennt man es auch „Antitheater“. Der

Sinn besteht aus unlogischen Szenen, so die Frau im Grab. Aus absurden Handlungen. Also

der Junge, der das Grab zuschaufelt. Sein JoJo, das „Auf und Ab“. Die kurze Sprache mit

sinnfreien Monologen, vielleicht auch Dialogen der beiden.

Vater: (nickt fragend mit dem Kopf)

Abstraktion – Reduktion?

Barclay:

Beinahe. Es ist alles auf das Vergängliche reduziert. Es ist auch eine Art Mythentheater, mein

Stück geht auch in die Teile der Psychoanalyse.

Vater:

Deine oder meine?

Barclay:

Was?

Vater:

Na, die Psychoanalyse?

Barclay:

Vater! Deine, meine, die der Zuschauer.

Vater:

Bisschen wirr nicht wahr ?

Barclay:

Wirr? Nur für Unwissende oder Ignoranten

Vater:

Also mich!

Barclay: (geht nicht darauf ein)

Es ist absurd, versteh doch. Mir ist alles „Absurde“ sehr, sehr willkommen. Im Theater, Film,

Literatur und auch im Umgang mit Menschen. Das ist mir auch erst in London klar geworden.

Bin doch so aufgewachsen, hier in meinem Elternhaus. Durch dich bin ich doch erst so

geworden.

Vater: (knapp)

Durch mich? Mich?

Barclay:

Durch dich. So ist es! Wieso? Das finde ich noch heraus.

Vater: (spöttisch)

Na, dann such mal schön. Geh in dich und durchforste deinen Geist. Aber lass uns bitte nicht

abschweifen. Bist du bereit für Kritik oder willst du noch was hinzufügen?

Barclay: (unsicher)

Im Moment nicht.

Vater: (streicht sich mit der Hand über das Kinn)

Hast du das Stück mit der Schreibmaschine geschrieben?

Barclay: (flapsig)

Na klar! Warum?

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Vater:

Hat die Maschine auch eine Fragezeichentaste?

(Barclay nickt)

Die hättest du öfter mal anschlagen sollen!

Barclay:

Du magst das Stück nicht, verstehst es nicht?

Vater:

Wenn man volltrunken ist, ist es am nächsten Tag vorbei. Anders ist es mit der Intelligenz.

Barclay: (verschränkt die Arme vor der Brust)

Oh, je! Jetzt kommt´s!

Vater:

Du willst die Geschichte auf der Bühne auf „null“ reduzieren. Ja, ich denke mal das erreichst

du mit dem Stück.

(Barclay horcht auf, strafft seinen Oberkörper)

(Vater leiser, nach innen gerichtet) Es ist eben absurdes Theater. Theater. Aber warum?

Warum? Warum nennst du es nicht abstraktes Theater? (winkt ab) Ach, verstehe. Du selbst

willst absurd sein, erscheinen. Dein „Äußeres“ deutet ja schon darauf hin. Ist es der Sinn

deines Lebens?

Barclay: (nervös)

Du schweifst ab.

Vater:

Lass doch. Zu deinem Stück komme ich noch.

Barclay:

Na dann, bitte!

Vater:

Soll das der Sinn deines Lebens sein, als absurd zu gelten, zu sein? Zu sein?

Barclay:

Warum nicht? (in der Küche kommt Bewegung in Amy und Mutter. Beide halten je ein Tablett

mit Geschirr, Kaffeekanne und Gebäck in der Hand. Sie betreten das Wohnzimmer.)

Mutter/ Amy: (gemeinsam)

Kaffee! Kaffee und Kekse für die Herren!

Vater: (dreht sich ungehalten zu den beiden)

Muss das jetzt sein? (Mutter und Amy schauen sich an, zucken mit den Schultern)

Amy: (zickig)

Sind ja gleich wieder weg.

Mutter:

Wollten euch nur was Gutes tun.

Barclay:

Danke, kommt mir gerade recht, als Denkpause

Vater:

Brauch ich nicht, eine Denkpause. Denkpause!

(Mutter und Amy stellen alles auf den Couchtisch. Amy schneidet zu Barclay eine Grimasse

und verschwindet wieder in der Küche. Barclay bedient sich sofort mit Kaffee und Kuchen)

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Darf ich dann mal fortfahren? Ich war bei dem Sinn deines Lebens… ja, um es mal mit Proust

zu sagen: „ Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ Ich kann es nur so verstehen, dass deine

verlorene Zeit dich verändert hat, diese, deine unsägliche Krankheit. Krankheit.

Barclay:

Mag sein, ich weiß zu wenig darüber.

Vater:

Du suchst nach etwas, es ist aber nicht die Wahrheit, davor drückst du dich. Es ist nämlich

die Wahrheit deines Lebens, die magst du nicht erfahren, die willst du nicht. Du bastelst dir

aus deinem scheinbaren „Nichts“ eine intellektuelle Basis, die aber in der Realität keine

geistige Waffe ist. So schaffst du keinen Eindruck, im Gegenteil, du löst damit eine gewaltige

Welle Spott aus. (er atmet durch)

Barclay: (höhnisch)

Ist das so?

Vater:

Sohn, egal wer dir nahe im Geiste ist. Ob Beckett, Sartre, Joyce. Brel oder, oder…. Es ist

nichts weiter als der sogenannte erweiterte „Dadaismus“ vor mehr als fünfzig Jahren. Du

bringst so wenig „Neues“! Ihr, besser du, willst Zweifel säen an den Werten und Normen der

Vergangenheit und Gegenwart.

Barclay:

Ich glaube du verhedderst dich gerade geistig.

Vater: (ignoriert es)

Das, was du predigst, ist nichts weiter als Individualismus, der einer modernen Gesellschaft

nicht zugänglich ist. (Er lächelt überheblich) Es ist noch nicht einmal ein konsequenter Weg in

die Zukunft. Noch nicht einmal ein Beispiel für die Gegenwart, und schon gar nicht ein

Begleiter aus der Vergangenheit -

(Barclay will etwas erwidern, Vater blockt ihn ab)

Du willst dich immer weiter reduzieren und verlangst es auch von deiner Umwelt. Willst bis

auf null gehen… ist doch dein Ziel?

(Barclay nickt)

Versuch es, du wirst es nicht überleben. Null bedeutet alles weg! Oder willst du doch mehr?

Barclay:

Mehr? Vielleicht? Aber ich denke, du verstehst mein Ansinnen nicht. Ich mache Theater und

lebe es auch. Für mich ist es ein Gegenpol zu deiner Welt des Establishments. Meine Welt

verläuft nicht linear, so wie du es gewohnt bist. Ich will groteske Situationen in einer

verzerrten Welt aufzeigen. Es steht für das beidseitige Nichtverstehen. Mein absurdes

Theater hat keinen Anfang und kein Ende. Die Dialoge sind ganz bewusst floskelhaft,

inhaltsleer und einsam. (spitz) So wie hier in meinem Zuhause.

Vater:

Das musste jetzt nicht sein.

Barclay:

Doch! Da keimt nämlich die Sinnlosigkeit des Lebens in mir auf.

Vater:

Ich weiß ja nicht was du in Europa so treibst, aber ich denke, du hast zu viel Kontakt zu

belanglosen Menschen und zweifelhaften Vorbildern.