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Odo Marquard Skepsis und Zustimmung Philosophische Studien Reclam

Odo Marquard-Skepsis Und Zustimmung. Philosophische Studien -Reclam (1994)

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Odo Marquard-Skepsis Und Zustimmung. Philosophische Studien -Reclam (1994)

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  • Odo Marquard Skepsis

    und Zustimmung Philosophische Studien

    Reclam

  • Universal-Bibliothek Skepsis und Zustimmung Zukunft und Herkunft. Bemerkungen

    zu Joachim Ritters Philosophie der Entzweiung

    Einheit und Vielheit Zeit und Endlichkeit Moratorium des Alltags. Eine kleine

    Philosophie des Festes Loriot laureat Medizinerfolg und Medizinkritik.

    Die modernen Menschen als Prinzessinnen auf der Erbse

    Pldoyer fr die Einsamkeitsfhigkeit Zivilcourage

    ISBN 3-15-009334-1

    911~11~11!1~11~~~IJm I [0] 3,10

  • Marquard Skepsis und Zustimmung

  • Odo Marquard Skepsis und Zustimmung

    Philosophische Studien

    Philipp Reclam jun. Stuttgart

  • Universal-Bibliothek Nr. 9334 Alle Rechte vorbehalten 1994 Philipp Redam jun. GmbH & Co., Stuttgart Gesamtherstellung: Redam, Ditzingen. Printed in Germany 1995 RECLAM und UNIVERsALBIBLIOTHEK sind eingetragene Warenzeichen der Philipp Redam jun. GmbH & Co., Stuttgart ISBN 3-15-009334-1

  • Inhalt

    Vorbemerkung . . . . . . .

    Skepsis und Zustimmung Dankrede fr den Erwin-Stein-Preis Zukunft und Herkunft Bemerkungen zu Joachim Ritters Philosophie

    7

    9

    der Entzweiung . . . . 15

    Einheit und Vielheit . 30

    Zeit und Endlichkeit 45

    Moratorium des Alltags Eine kleine Philosophie des Festes

    Krise der Erwartung - Stunde der Erfahrung Zur sthetischen Kompensation des modernen

    59

    Erfahrungsverlustes . . . . . . . . . . . . . . . .. 70 Loriot laureat Laudatio auf Bernhard-Viktor von Blow bei der Verleihung des Kasseler Literaturpreises fr grotesken Humor 1985 . . . . . . . . . . . . . . 93

    Medizinerfolg und Medizinkritik Die modernen Menschen als Prinzessinnen auf der Erbse. . . . . . . . . . . . . . . . . 99

    Pldoyer fr die Einsamkeitsfhigkeit ..... 110

  • 6 Inhalt.

    Zivilcourage In memoriam Erwin Stein 123

    Textnachweise . . . . . 133 Biographische Notiz. 135 Verffentlichungen von Odo Marquard 136

  • Vorbemerkung

    Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt.! Die Trotzdem-denkereien dieses Bndchens sind zwischen 1981 und 1993 entstanden. In durchaus verschiedener Form untersttzen sie eine skeptische Anthropologie mitsamt ihrer These: Der Mensch ist endlich, sein Leben ist kurz und zum Tode. Darum - weil die knappste unserer knappen Ressourcen unsere Lebenszeit ist - ist der Mensch das Zeitmangel-We-sen, das seinen Zeitmangel kompensieren mu und kom-pensiert: durch Schnelligkeit, durch Langsamkeit, durch die Multitemporalitt seiner Mitmenschen, durch Universalisie-rungen und Pluralisierungen, durch Rationalittskultur und Kontinuittskultur und durch die sthetische und humori-stische Einbeziehung des Ausgeschlossenen. Diese Kom-pensationen - deren Philosophie rehabilitiert werden mu, sobald die Philosophie des emphatischen Einheitsfort-schritts in die Krise gert: also heute - gehren zum Men-schen und in gesteigerter Weise zur modernen - zur brger-lichen - Welt, die gerade durch diese Kompensationen libe-ral und mehr Nichtkrise ist als Krise und also einigermaen zustimmungsfhig. Nicht die Moderne ist verhngnisvoll, sondern der Antimodernismus, gerade auch der futurisierte Antimodernismus. Nicht die Brgerlichkeit ist falsch, son-dern die Verweigerung der Brgerlichkeit: die - vor allem auch in der antibrgerlich revolutionsseligen Geschichts-finalisierung wirksame - Romantik des Ausnahmezustands. Vernnftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet. Diese brgerliche Vernnftigkeit untersttzt der skeptische Wi-derspruchsgeist, der statt fr die Utopie fr die menschliche Endlichkeit eintritt und fr die Kompensationen. Zu dieser Kritik gegenwrtig herrschender Negationskonformismen gehrt Zivilcourage: der Mut zur Brgerlichkeit. So trai-

  • 8 Vorbemerkung

    niert die Skepsis - als Nein zum groen Nein - die kleinen Jas und dadurch - in bescheidener Weise - die Zustimmung: justament das mchten die Beitrge dieses Bndchens doku-mentieren.

    Anmerkung

    Zum Erstgebrauch dieser Formel vgl. O. Marquard, Exile der Heiterkeit, in: W. Preisendanz / R. Warning (Hrsg.), Das Komi-sche, Mnchen 1976 (Poetik und Hermeneutik, 7), S. 133.

  • Skepsis und Zustimmung Dankrede fr den Erwin-Stein-Preis

    Sehr verehrter, lieber Herr Stein! Sehr zu verehrende offizielle Respektspersonen! Sehr verehrte Damen und Herren!

    Als Skeptiker bin ich skeptisch: habe ich diesen Preis wirk-lich verdient? Doch es wre Amtsanmaung, mich in das Votum derer einzumischen, die diese Ehrungsentscheidung getroffen haben. Jedenfalls habe ich mich ber die Zuerken-nung des Erwin-Stein-Preises auerordentlich gefreut; und - das ist der Ausdruck meiner Zustimmung - ich danke herzlich dafr.

    Vor allem danke ich Ihnen, verehrter und lieber Herr Stein, und ich danke der Erwin-Stein-Stiftung, die Sie ins Leben gerufen haben. Ich danke Herrn Avenarius fr seine freundlichen Worte, Frau Ueck fr ihre engagierte Frsorge und Frau Doktor Mitsuyu fr die Klnge, die sie dem fl-gel entlockt. Ich danke Hermann Lbbe fr seine freund-schaftlich laudationale Kritik. Zugleich mchte ich - da ich den Erwin-Stein-Preis, wie es formuliert ist, fr mein Werk erhalten habe, das freilich ein schmales Werk ist: ge-rade sechs oder, wenn ich die bersetzungen ins Englische und Italienische hinzuzhle, neun Bcher einstweilen, und sonst nur editorische, gelehrte, wissenschaftspolitische und essayistische Kleinigkeiten -, ich mchte zugleich, sage ich, die Gelegenheit benutzen, auch einmal ffentlich jener Per-son zu danken, ohne die dieses Werk - schon wegen der chaotisierenden Tendenzen seines Verfassers - niemals zu-stande gekommen wre: nmlich meiner Frau.

    Angesichts der genersen Dotierung des Preises ist mir klar: Ich kann diese Summe unmglich allein fr mich sel-ber behalten. Darum werde ich die Hlfte dieser 20 000 DM

  • 10 Skepsis .~nd Zustimmung

    an die Frderergesellschaft der Friedrich-Schiller-Universi-tt Jena weitergeben: Prorektor Meinhold wird, hoffe ich, mich beraten in der Frage der Formulierung einer angemes-senen philosophisch-geisteswissenschaftlichen Zweckbin-dung.

    Meine kurze Dankesrede gilt dem Thema, das schon an-klang: Skepsis und Zustimmung. Ich versuche dabei auf eine Frage zu antworten, die mir letzthin hufiger gestellt wird, und die ja auch naheliegt. Meine Philosophie ist - er-klrtermaen - Skepsis; und Skepsis: das ist - scheint es -die Zerstrung von Zustimmungen. Zugleich aber ist - und zwar in wachsendem Mae - meine Philosophie eine Philo-sophie der Zustimmungen: der Zustimmung zur Welt, der Zustimmung zur modernen Welt, der Zustimmung zu den lebens- und sterbensweltlichen Nahverhltnissen. Ist da nicht ein Bruch, ein Widerspruch? Ist Zustimmung nicht Verrat an der Skepsis? Meine Antwort lautet: Nein; da ist kein Bruch, kein Widerspruch, kein Verrat. Denn es gilt: In-dem die Skepsis illusionre und ruinse Zustimmungen zer-strt, macht sie menschliche Zustimmungen allererst mg-lich.

    Als ich philosophisch anfing, war auch meine Skepsis vor allem Zustimmungszerstrung; denn es war ja - unmittel-bar nach dem Zweiten Weltkrieg - angebracht und ntig, die Zustimmung zu jener totalitren Illusion zu zerstren, die - in Gestalt des Nationalsozialismus - nicht die brger-liche, sondern eine ganz andere Welt wollte und dadurch -fiat utopia, pereat mundus - die Unmenschlichkeit und also die Katastrophe herbeifhrte.

    Als ich philosophisch weiterging, blieb auch meine Skep-sis vor allem Zustimmungszerstrung; denn es war ja - sp-testens seit 1968 - angebracht und ntig, die Zustimmung zu jener revolutionren Illusion zu zerstren, die - in Ge-stalt der groen Weigerung zugunsten einer klassenlosen Gesellschaft jenseits des Realittsprinzips - nicht die br-gerliche, sondern eine ganz andere Welt wollte und dadurch

  • Skepsis und Zustimmung 11

    - fiat utopia, pereat mundus - die brgerlichen Menschen von ihren Freiheiten befreien wollte durch ihre pseudokriti-sche Wacht am Nein.

    Die Skepsis widersetzt sich also illusionren und ruin-sen Zustimmungen; aber gerade dadurch ermglicht sie menschliche Zustimmungen. Wir mssen uns - diese Erfah-rung macht die Skepsis geltend - hten, denen zuzustim-men, die uns - absolut und prinzipiell - den Himmel auf Erden versprechen; denn sie miachten unsere Endlichkeit. Wer den Himmel auf Erden will, erfhrt die vorhandene Wirklichkeit zwangslufig als Hlle auf Erden und ber-sieht, was sie wirklich ist: Erde auf Erden. Es kommt darauf an, die Erde auf Erden zu akzeptieren. Indem sie dies tut, ist die Skepsis der Sinn fr die menschliche Endlichkeit: bis hin zur Endlichkeit menschlicher Zustimmungen. Dabei mssen wir uns - diese Erfahrung gehrt fr die Skepsis dazu - auch davor hten, uns einer einzigen monopolisti-schen Diesseitszustimmung zu verschreiben, die alle ande-ren Zustimmungen verbietet und auslscht. Wir mssen -ganz im Gegenteil - viele und bunte und verschiedenartige Zustimmungen leben und pflegen, damit uns jede davon -durch Gewaltenteilung der Zustimmungen - vor dem AI-leinregiment einer einzigen totalitren Diesseitszustim-mung rettet und uns gerade dadurch individuelle Freiheit ermglicht. So ist die Skepsis zugleich der Sinn fr Gewal-tenteilung: bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die die Zustimmungen sind. Sie ist das Nein zum groen Nein zugunsten der kleinen Jas. So zerstrt die Skepsis ge-genmenschliche Zustimmungen, so ermglicht sie menschli-che Zustimmungen, etwa:

    a) die Zustimmung zur Welt. Wegen dieser Zustimmung - nota bene - haben mich seit langem Theodizeemotive in-teressiert; denn sie sind - wie problematisch sie im einzel-nen auch sein mgen - Versuche einer philosophischen Zu-stimmung zur Welt. Dabei haben mich mehr als die groen

  • 12 Skepsis und Zustimmung

    die kleinen Zustimmungsargumente beschftigt, etwa der Gedanke der Kompensation, der aus diesem Kontext stammt. Da bel oder Mngel durch Bonitten kompen-siert werden knnen, lt sich im brigen durchaus ver-schieden lesen; etwa emphatisch: wo aber Gefahr ist, wchst das Rettende auch; oder pragmatisch: wer Sorgen hat, hat auch Likr; oder sarkastisch: die Natur ist ge-recht: macht sie ein Bein kurz, macht sie das andere dafr um so lnger; und allemal ist das Kompensation. Dennoch erleichtert der Kompensationsgedanke philosophisch:

    b) die Zustimmung gerade zur modernen, zur brgerli-chen Welt. Hermann Lbbe hat eben von Grenzen der Kompensation gesprochen: die gibt es sicher, schon deswe-gen, weil es das Inkompensable gibt. Aber diesseits dieser Grenzen der Kompensation sind Kompensationen tatsch-lich und positiv wirksam, gerade in der modernen Welt, die ja nur halb wahrgenommen wird, wenn sie ausschlielich als Rationalisierung, Disziplinierung, Gleichschaltung, Uni-formisierung und traditionszerstrende Fortschrittsbe-schleunigung bemerkt wird. Darum gilt es, auch die andere - die kompensierende, die gegensteuernde - Hlfte der mo-dernen Welt wahrzunehmen: die Historisierung, Liberali-sierung, Individualisierung, Pluralisierung und die Ent-wicklung ihrer Bewahrungskultur. Wer in der modernen -der brgerlichen - Welt beide Tendenzen sieht, dem mten - meine ich - Antimodernismen schwerfallen und Zustim-mung zur brgerlichen Welt mglich sein: Zustimmung zu jener Welt der Emanzipation des Brgers, die zugleich die Welt der Einbrgerung des Proletairs durch die reformi-stische Arbeiterbewegung ist. Das gilt auch und gerade fr Deutschland als Bundesrepublik: Sie ist keine milungene Revolution, sondern eine gelungene Demokratie, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil sie eine brgerliche Welt ist, eine Zivilgesellschaft, wie man heute sagt. Denn in der Wirklichkeit steht es nicht deswegen schlimm, weil es zu

  • Skepsis und Zustimmung 13

    viel, sondern deswegen, weil es zu wenig brgerliche Ge-sellschaft in ihr gibt. Diese berzeugung ist zwar unpopu-lr bei unseren Jammerathleten und Kassandren vom Dienst, unseren Negationskonformisten und Verweigerern der Brgerlichkeit, die vor der Brgerlichkeit flchten statt durch sie standzuhalten. Es braucht Skepsis und also kriti-schen Mut, dieser Brgerlichkeitsverweigerung zu widerste-hen: durch mehr Zustimmung zur eigenen Brgerlichkeit. Schlielich ermglicht die Skepsis:

    c) die Zustimmung zu den lebens- und sterbensweltlichen Nahverhltnissen. Denn es gibt das Recht der nchsten Dinge gegenber den letzten. Fr mich impliziert das auch die Zustimmung zum Land und zur Stadt, in denen ich seit fast 27 Jahren lebe. Fr den gebrtigen Hinterpommern, ge-lernten Ostfriesen und studierten Westfalen, der ich bin, war es 1965 - als man um Rufe sich noch nicht bewarb, son-dern auf Rufe noch zchtig wartete - Zufall, hierher nach Gieen zu kommen. Ich bin dann geblieben, weil ich ber-wiegend gern hier bin: an der Justus-Liebig-Universitt, an ihrem Zentrum fr Philosophie, in Gieen, in Hessen. Das hat auch damit zu tun, da es Hessen gibt, die die demokra-tische Tradition dieses Landes zustimmungsfhig geprgt haben und vorbildhaft reprsentieren; und einer davon ist Erwin Stein. Er war - als Mitglied des Verfassungsaus-schusses und der Verfassungsberatenden . Landesver-sammlung einer der Vter der Hessischen Verfassung und so in eminenter Weise Mitglied der Legislative. Er war 1947 bis 1949 Hessischer Minister fr Kultus und Unterricht und 1949 bis 1951 Hessischer Minister fr Justiz, Erziehung und Volksbildung und so in eminenter Weise Mitglied der Exekutive. Er war von 1951 bis 1971 als Bundesverfas-sungsrichter in Karlsruhe Hter der Verfassung der Bun-desrepublik und so in eminenter Weise Mitglied der Juris-diktion. Das alles war er nicht gleichzeitig: im Zeichen der Gewaltenteilung geht das ja nicht. Aber durch diese emi-

  • 14 Skepsis .und Zustimmung

    nenten Engagements bei den verschiedenen - geteilten -Gewalten war und ist Erwin Stein fr mich - ich riskiere diese paradoxe Formulierung - die Inkarnation der Gewal-tenteilung. Auch deswegen also - gerade seinetwegen - Zu-stimmung zu Hessen: Im Land von Stein ist gut sein.

    Skepsis - ich wiederhole es - ist der Sinn fr Gewaltentei-lung. Darum kann gerade ein Skeptiker Zustimmung und Enthusiasmus entwickeln fr die Inkarnation der Gewal-

    tent~~lung. Erlauben Sie mir, lieber Herr Stein, im Schutz der Offentlichkeit zu sagen, was Ihnen unter vier Augen zu sagen ich mich noch nie getraut habe: da ich Sie tief und herzlich verehre. Darum ist, diesen Preis, den Ihre Stiftung vergibt und der Ihren Namen trgt, entgegenzunehmen eine Ehre, die mich auf besondere Weise stolz und glcklich macht. Haben Sie, verehrter Herr Stein, herzlichen Dank!

  • Zukunft und Herkunft Bemerkungen zu Joachim Ritters Philosophie der Entzweiung

    Meinen Versuch eines Kurzportraits von Joachim Ritters Philosophie der Entzweiung - also seiner Theorie der mo-dernen Welt - mchte ich von Anfang an mit Fragezeichen versehen; meine Darstellung soll stets gleichzeitig die Frage einschlieen: Ist diese Philosophie, so, wie ich sie darstelle, korrekt dargestellt und im Sinne Joachim Ritters angemes-sen verstanden?

    Denn ich bin unsicher. Wer wie ich - gerade nach gewis-sen Anfangsschwierigkeiten und auch Zwischenschwierig-keiten, Joachim Ritters Optik beizutreten - nun seinen Ansatz weiterzudenken sich bemht, hat vielleicht die Un-befangenheit verloren, die zur rein referierenden Darstel-lung befhigt. Dabei strt vielleicht nicht so sehr die eigene Originalittssucht, die ja mit zunehmendem Alter - soweit sie dort nicht endgltig habituell geworden ist - langweilig wird und abnimmt, sondern eher irritiert das fortdauernde Bedrfnis, einem prgenden Lehrer - gerade auch postum -immer noch zu beweisen, da man das doch kann, was er einem (vielleicht aus pdagogischer List) zu knnen nicht zugetraut hat: bei mir betraf das - bei meiner Art von Ver-spieltheit naheliegenderweise - wohl nicht nur die Fhigkeit zur Wahrnehmung institutioneller Pflichten und organisa-torischer Pensen, sondern wohl auch die Fhigkeit, wirklich in seinen philosophischen Spuren zu gehen. Ich werde also - bewut oder unbewut - philosophisch stets irgendwie zeigen wollen, da ich doch in Joachim Ritters Spuren gehe, und laufe dabei Gefahr, jene Spuren, in denen ich heute gehe, flugs zu den seinen zu erklren, und das kann ja un-zutreffend sein. Darum bedarf sie der Gegenkontrolle, meine Darstellung, die ich in vier Abschnitte gliedere, nm-lich die folgenden: 1. Verzgerte Konvergenz; 2. Zugehrig-

  • 16 Zukunft und Herkunft keit des Ausgeschlossenen; 3. Kompensation; 4. Positivierte Entzweiung. Ich beginne mit Abschnitt:

    1. Verzgerte Konvergenz

    Im Werbefernsehen gibt es seit einiger Zeit eine~ Spot der franzsischen Milchproduktefirma Danone: ein Lausbub it mit sichtlichem Vergngen ein Danone-Yoghurt und sagt an die Adresse jedes potentiellen Yoghurtessers, der noch nicht Danonist ist: Schlielich kriegen wir dich doch! Bei dieser Reklame mu ich regelmig an Joachim Ritter denken: nicht nur, weil auch er ja lausbbischen Charme hatte, sondern vor allem, weil er - nicht mit Yog-hurt, sondern mit seiner Philosophie - viele seiner Schler, wenn nicht gar alle, schlielich doch gekriegt hat. Er hatte es - auch darum konnte er es sich leisten, liberal zu sein -gar nicht ntig, seine Schler sofort auf seine Philosophie festzulegen; denn - obwohl das lange und sogar Jahrzehnte dauern konnte - schlielich kriegte er sie doch.

    Erlauben Sie mir, das durch ein Selbstzitat aus meinem Abschied vom Prinzipiellen zu unterstreichen: Dort! schrieb ich 1981 von jener bunten und standpunktkontroversen Gruppe, die in der spteren Institutionengeschichte der bundesrepublikanischen Philosophie als derjenige Flgel des hermeneutischen Denkens wirksam geworden ist, der die Praktische Philosophie rehabilitierte: eben als Ritter-Schule, deren Lebendigkeit auch aus der - wie Robert Spaemann es Mitte der fnfziger Jahre in einem in Paris ge-haltenen Vortrag formuliert har - >heterogenen Zusam-mensetzung des Collegium Philosophicum Ritters< resul-tierte, >das Thomisten, evangelische Theologen, Positivi-sten, Logiker, Marxisten und Skeptiker vereint(e)

  • Zukunft und Herkunft 17

    vorn anfangen kann, da jeder anknpfen mu: also den Sinn frs Geschichtliche; da Widersprche notfalls ausge-halten werden mssen gegen den Schein ihrer Auflsung; da solche Widersprche eindrucksvoller prsent sind durch Personen als durch Lektren und da dies verlangt: mit fremden Einstellungen leben und von ihnen lernen knnen; da also die buntere Philosophenkonstellation die bessere ist; im brigen den Sinn frs Institutionelle und seine pflichten; und schlielich: da Erfahrung - Lebenserfah-rung - unersetzlich ist fr die Philosophie. Erfahrung ohne Philosophie ist blind; Philosophie ohne Erfahrung ist leer: Man kann keine Philosophie wirklich haben, ohne die Er-fahrung zu haben, auf die sie die Antwort ist. Erfahrung aber braucht Zeit. Darum konvergierten die Ritter-Schler in ihren inhaltlichen Thesen nicht im Studium und in den Lehrjahren, sondern erst Jahrzehnte spter: als sie ihrerseits ber Erfahrungen verfgten, die ihnen nunmehr Ritters ei-gene philosophische Antworten plausibel machten; es exi-stiert - das bemerke ich heute [sc. Januar 1981] - in der Rit-ter-Schule eine Schulkonvergenz als langfristige Sptwir-kung.

    Auch diese Feststellung mchte ich in die Frage verwan-deln: Gab es diese spte Schulkonvergenz wirklich? Wenn es sie gab, entstand sie - falls ich es richtig sehe - durch eine von vielen (nicht von allen) von uns sehr hnlich absolvierte Form der Replik auf die durch das Jahr 1968 symbolisierte Infragestellung der demokratischen Struktur der Bundesre-publik. Dieser - marxistisch inspirierten - Infragestellung galt die Bundesrepublik nicht mehr als vertretbar gelungene Demokratie, sondern als milungene oder versumte Revo-lution: Damit - 1968 - begann die Geschichte der Verdrn-gung ihrer demokratischen Gelungenheiten. Um dieser In-fragestellung und Verdrngung entgegenzutreten, lag es nahe, verstrkt auf jene Philosophie zu rekurrieren, die un-ter anderem durch Lsung aus dem Marxismus in der Aus-einandersetzung mit dem Marxismus entstanden war: auf

  • 18 Zukunft. und Herkunft die Philosophie Joachim Ritters. Inzwischen habe ich aller-dings den Eindruck, da dieser Zeitraum der spten Schul-konvergenz der Ritter-Schule schon wieder vorbei ist, wo-bei die zunehmende Dominanz kologischer Probleme eine Rolle spielt: die Ritter-Schler sind inzwischen wieder -mehr oder weniger - auf verschiedenen Wegen.

    Gerade das ist - denke ich - jener Augenblick, in dem Be-mhungen zur Erinnerung an die Philosophie Joachim Rit-ters fllig und wichtig sind. Um es ganz subjektiv zu formu-lieren: mich interessiert einfach, was er - bei dem jedenfalls ich gelernt habe, da die Philosophie kein transzendentales Wolkentreten ist, sondern die Theorie ihrer Zeit - zur heu-tigen Situation philosophisch sagen wrde und zu sagen hat: welche Ratschlge er denen geben kann, die heute ihrer-seits Ratschlge geben sollen oder gar mssen. Das aber ver-langt, zu vergegenwrtigen, was Joachim Ritters gegen-wartstheoretische Grundgedanken waren: seine Philoso-phie der modernen Welt, die - um es kurz zu sagen - eine Philosophie der Entzweiungspositivierung war und ist. -Ich beginne diesen Vergegenwrtigungsversuch im Ab-schnitt:

    2. Zugehrigkeit des Ausgeschlossenen

    Fr mich ist die einschlgige Schlsselschrift von Joachim Ritter sein Aufsatz ber das Lachen, der zuerst 1940 im 14. Band der Bltter fr deutsche Philosophie erschienen ist und dann erst wieder 1974 im Bndchen Subjektivitt. Die-sen Aufsatz habe ich selber relativ spt gelesen, immerhin sptestens kurz nach dem Abschlu meines Studiums, also Mitte der fnfziger Jahre. Als ich 1966 zur Gruppe Poetik und Hermeneutik kam, war es dort Wolfgang Preisen-danz, der diesen Aufsatz fr diese Gruppe zur Pflichtlek-tre gemacht hat. Das, was in diesem Aufsatz ber die - um den Ausdruck Plessners von 1941 zu gebrauchen - Grenz-

  • Zukunft und Herkunft 19

    reaktion des Lachens von Joachim Ritter gesagt worden ist, reicht in seiner philosophischen Bedeutung weit ber die Analyse des Phnomens des Lachens hinaus, und zwar in Richtung auf eine Einsicht Joachim Ritters, die mir durch folgende Formulierung interpretierbar scheint: die mensch-liche Vernunft selber ist - gebaut wie das Lachen - eine Grenzreaktion; denn sie stellt Ausgrenzungen in Frage.

    Die entscheidende These von Joachim Ritter ber das La-chen ist nmlich diese: Weil und wo die offiziell herrschende und geltende Wirklichkeit Wirklichkeiten ausgrenzt oder ausschliet und als nichtig setzt, ist es das Lachen, das gel-tend macht, da dieses offiziell Nichtige dennoch zu unse-rer Wirklichkeit gehrt. Das Lachen - schreibt Ritter - hat die eigentmliche Funktion, die dem Ernst nicht zugngli-che Zugehrigkeit des Anderen zu der es ausgrenzenden Lebenswirklichkeit sichtbar zu machen (79), gleichgltig, ob dies nun in dem tieferen Sinn einer Kritik an der ernsten Welt selbst und ihrer Ordnung gemeint ist, oder ob dies der vitalen Freude am Reichtum des Lebens und am Recht des Unsinns und Unverstands entspringt (80). Denn dem -humoristischen - Lachen gelingt es, die Identitt eines ... Ausgegrenzten mit dem Ausgrenzenden herzustellen (78). Just darum ist in unserer Welt philosophisch, in der Er-scheinung des Humors, dem Lachen eine Bedeutung zuge-fallen ... , durch die es gleichsam in den philosophischen Mittelpunkt der Welt selbst geruckt ... ist (84). Im Lachen zeigt sich - auf diese Formel, denke ich, kann man das brin-gen - die Zugehrigkeit des Ausgeschlossenen.

    Der Blick auf Formen, in denen die Zugehrigkeit von Ausgeschlossenem sich geltend macht, ist - sagte ich - ber die Philosophie des Lachens hinaus von allgemeiner Bedeu-tung. Sie ist es deswegen, weil sie die Aufgabe der Philoso-phie, das Ganze zu denken, dort festhlt, wo es - mo-dern - Schwierigkeiten macht, dieses Ganze altmetaphysisch als jenen Kosmos, jene Schpfung, jenes System zu begrei-fen, in deren - hierarchischer - Ordnung Jegliches seinen

  • 20 Zukunft und Herkunft genau definierten Platz hat. Darum wird nun - neumeta-physisch - der Sinn fr das Ganze festgehalten in der Ver-pflichtung der Philosophie, nichts auszulassen, nichts ber-sehen und das Unbemerkte merken zu wollen. Philoso-phieren besteht dann darin, Bornierungen abzubauen und Sichtgrenzen kollabieren zu lassen, um - in dieser jetzt flli-gen Gestalt der Theorie - ungehindert sehen und sagen zu knnen: So ist es. In dieser Form also - als Sinn fr die Zu-gehrigkeit des Ausgeschlossenen - bleibt die Philosophie der Sinn fr das Ganze als Sinn fr Ergnzungen; und ihre Vernunft ist- just so, wie das Lachen, das uns ja ebendarum erleichtert - der Verzicht auf die Anstrengung, wegzusehen. Darum - weil dadurch der Sinn fr das Ganze wachgehalten bleibt - ist dieses Geltendmachen der Zugehrigkeit des Ausgeschlossenen - das Joachim Ritter 1945 in seinem T. S. Eliot-Aufsatz Dichtung und Gedanke5 erneut err-tert hat - zum Leitkonzept von Ritters weiterer Philoso-phie der modernen Welt geworden. - Das versuche ich an-zudeuten zunchst im Abschnitt:

    3. Kompensation

    Dieses Leitkonzept seiner Philosophie der modernen Welt hat Joachim Ritter nach 1945 - genauer gesagt, ab 1947 - in Mnster ausgefhrt: insbesondere in seinen Asthetik-Vorle-sungen und in anderen Vorlesungen, in denen er vor allem auch den historischen Sinn analysiert hat. Die Publikatio-nen, in denen einschlgige Ergebnisse von ihm dargelegt wurden, sind vor allem die Aufstze Die Aufgabe der Gei-steswissenschaften in der modernen Gesellschaft und Landschaft. Zur Funktion des sthetischen in der moder-nen Gesellschaft: beide wurden zuerst 1963 publiziert und dann 1974 im Bndchen Subjektivitt wiederabgedruckt.' Die These war dabei - abstrakt gesprochen - diese: in der modernen Welt etablieren die auf >Zukunft< bedachten Mo-

  • Zukunft und Herkunft 21 dernisierungen rationelle Wirklichkeiten, indem sie zu-gleich die Herkunftswirklichkeiten ausschlieen; diese aus-geschlossenen Wirklichkeiten jedoch machen zugleich ihre Zugehrigkeit zur modernen Wirklichkeit in verschieden-sten Formen geltend. Zur modernen Welt gehrt also bei-des: Realittsverluste und deren Kompensationen. Die mo-derne Welt ist geprgt also:

    a) durch den Proze der Rationalisierung ihrer >ZukunftZukunft< sich unabhngig macht von den geschichtlichen Traditionen der >HerkunftZukunft< grund-stzlich >geschichtslos

  • 22 Zukunft und Herkunft weil in der technischen Welt alles zum Artefakt wird, ent-steht - von der spezifisch modernen Entdeckung der >Land-schaft< an - gerade in ihr der Sinn fr die unberhrte Natur. Gerade weil die modernen Versachlichungen die Men-schen zu austauschbaren Funktionstrgern veruerlichen, ressiert gerade modern - gegenlufig - die Innerlichkeit: Subjektivitt und Individualitt. Gerade weil die modern rationalisierte Gesellschaft sich aus den geschichtlichen Her-kunftstraditionen empanzipiert, entsteht - um die Sittlich-keitIO, um diese geschichtlichen Herkunftstraditionen fest-zuhalten - wiederum spezifisch modern der historische Sinn: die konservatorischen Aktivitten, das Museum, die wissenschaftliche Erinnerung und historische Orientierung, also etwa die Geisteswissenschaften. Gerade weil die mo-derne Emanzipationskultur sogar die Geschichten weg-wirft, erzwingt sie im Gegenzug die Ausbildung dieser Bewahrungskultur als - so Ritter - Organ ihrer geistigen Kompensation 11.

    Das ist - so gewi nur ganz grob skizziert - Joachim Ritters Kompensationstheorie der modernen Welt, und zwar so, wie ich sie verstehe. Diese Kompensationstheorie blieb oder wurde zunehmend aktuell. 1976 gab Hermann Lbbe in Zukunft ohne Verheiung? Sozialer Wandel als Orientierungsproblem, die von ihm dann mehrfach wieder-holte Losung aus: Kompensation ist das entscheidende Stichwort.12 Im gleichen Jahr erschien mein Kompensa-tionsartikel im Band 4 des Historischen Wrterbuchs der Philosophie, und ich berarbeitete den Kompensationsauf-satz fr den zweiten Band der Theorie der Geschichte,1l in dem ich u. a. gezeigt habe: der Kompensationsgedanke k

  • Zukunft und Herkunft 23 Wissenschaftsadministratoren wurde allerdings beeintrch-tigt durch eine breite Kritik des sich progressiv verstehen-den Flgels der Kulturwissenschaften an dieser Kompen-sationstheorie, so da man sagen kann: Zur Zeit werden -bei denen, die ber Budgets entscheiden - die Geisteswis-senschaften unter Berufung auf Joachim Ritter, Hermann Lbbe, mich und andere gelobt, und es werden zugleich un-ter Berufung auf unsere Kritiker ihre Ressourcen gekrzt. b die Kritik dieser Kritiker an der Kompensationstheorie berechtigt ist, stehe dahin; der Zeitpunkt ihrer uerung war ganz sicher politisch schlecht gewhlt.

    Hier allerdings hat nur dieses zu interessieren: die Kom-pensationstheorie der modernen Welt ist derzeit zugleich aktuell und umstritten. Ich habe darum groes Verstndnis fr Versuche, Joachim Ritters eigene philosophische Posi-tion aus diesem aktuellen Streit herauszuhalten. So hat (um es holzschnittartig zu sagen) Henning Ritter - in seinem ebenso klugen wie liebenswrdigen Nachruf auf meine er-sten sechzig JahreIs - den Spie umzudrehen versucht: Die Ritter-Schule habe (bei ihrem durch Joachim Ritters >Hege-lianismus durch Lebenserfahrung< nicht gedeckten Wett-kampf, wer unter seinen Schlern den grten Bogen um Hegel zu machen in der Lage sei) Joachim Ritter den Kom-pensationsgedanken sozusagen aufgentigt. An jener einzi-gen Stelle seines gedruckten Werkes, an der Joachim Ritter von Kompensation wirklich gesprochen hat, in seinem Gei-steswissenschaftenaufsatz,16 sei der Kompensationsbegriff -ich zitiere - ein Marquard-Zitat. Die Anmerkung 41 die-ses Aufsatzes, auf die sich Henning Ritter dabei bezieht, war fr mich lebens geschichtlich extrem bedeutsam: durch sie bin ich aus einem unzitierten zu einem zitierten Philoso-phen geworden. Das freilich geschah durch Joachim Ritter aus reiner Frsorglichkeit. Die Kompensationstheorie der modernen Welt aber ist bei Joachim Ritter nach 1947 unbe-streitbar vorhanden: zunchst - vortrkisch-verfallstheore-tischl7 - mit eher kritischem Akzent, dann - nachtrkisch-

  • 24 Zukunft und Herkunft entzweiungstheoretisch - positiv gemeint. Trotzdem: str-ker als alle Kritik an der Kompensationstheorie hat mich dieser leise Einspruch durch Henning Ritter beeindruckt, der - wenn ich ihn richtig verstehe - nur die Bitte formu-liert, noch einmal zu berdenken, ob denn wirklich die Kompensationstheorie das letzte und entscheidende Wort der Philosophie Joachim Ritters ber die moderne Welt ge-wesen ist. Die Antwort auf diese Frage mu ehrlicherweise wohl lauten: nein. - Dies versuche ich nunmehr zu erlutern im abschlieenden Abschnitt:

    4. Positivierte Entzweiung

    Ich erinnere zunchst an den Gang meiner berlegung. Wenn ich Joachim Ritters Philosophie der modernen Welt angemessen verstehe, verhlt es sich mit ihr so: Ihr Leitkon-zept ist der Gedanke der Zugehrigkeit des Ausgeschlosse-nen, wie er uns im Aufsatz ber das Lachen zuerst ent-gegentritt. Dieser Gedanke wird dann - sptestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - generalisiert zu einer Kompensationstheorie der modernen Welt. Diese aber ist nicht die letzte und jedenfalls nicht die entscheidende Aus-sage von Joachim Ritter ber die moderne Welt; denn - das fge ich jetzt hinzu - diese entscheidende Aussage ist die Philosophie der positivierten Entzweiung.18 Ich finde sie -was ihre Publikation betrifft - vor allem in zwei Texten, die 1969 in Joachim Ritters Metaphysik und Politik wieder ab-gedruckt worden sind: nmlich Europisierung als europ-isches Problem (1956) und Hege! und die Franzsische Revolution (1957),1' die ich - und hier liegt natrlich ein gewisses philologisches Problem - deutlicher als nach-trkische Arbeiten Ritters empfinde als den Geisteswissen-schaftenaufsatz und den Landschaftsaufsatz, die spter er-schienen sind. Es ist hier nicht meine Aufgabe, Joachim Rit-ters Hegel-Interpretation zu referieren, sondern, die beiden

  • Zukunft und Herkunft 25

    entzweiungsphilosophischen Grundaussagen ber die mo-derne Welt zu unterstreichen, die sie enthlt, nmlich als These a: Die moderne Entzweiung von Zukunft und Her-kunft entzweit Zusammengehriges; und als These b: Die moderne Zusammengehrigkeit von Zukunft und Herkunft braucht die Entzweiung, um zu gelingen. Ich kann hier nur ganz kurz andeuten, was beide Thesen meinen.

    a) Hegels Philosophie - betont Joachim Ritter - ist bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolu-tion (192); Hegel hat - trotz seiner Kritik der terreur -zeitlebens die Notwendigkeit und das geschichtliche Recht (195) der Franzsischen Revolution bejaht: sie steht in der modernen Welt fr die Heraufkunft der emanzipato-rischen >Zukunftentzweit< ist, gehrt also - im Blick auf diese moderne Welt - bei Hegel und fr Joachim Ritter gerade zusammen: Revolution und Metaphysik, also - das reprsentieren Re-volution und Metaphysik - die >Zukunft< der geschichts-losen Egalittswelt und die geschichtliche >Herkunft< ihrer Traditionen. Die erste entscheidende These Joachim Ritters ber die moderne Welt ist also: die These der Zusammenge-hrigkeit des durch die moderne >Entzweiung< Auseinan-dergetretenen, der Zusammengehrigkeit also von >Zu-kunft< und >Herkunft

  • 26 ZUkuT,lft und Herkunft

    lose Zukunft. Vielmehr gilt: Herkunft braucht Zukunft; Zu-kunft braucht Herkunft. Die weitere Konsequenz dieser These ist: In der modernen Welt ist es die Aufgabe der s-thetischen Kunst, des historischen Sinns und der Geistes-wissenschaften und schlielich der Philosophie, unter Dis-kontinuitts bedingungen Kontinuittserfahrungen zu ma-chen und zu artikulieren. So bringen sie als zugehrig ins Spiel, was in der modernen Welt durch ihre >Entzweiung< ausgeschlossen scheint: die Zusammengehrigkeit des Aus-einandergetretenen, also da Zukunft und Herkunft zusam-mengehren.

    b) Hegels Philosophie - betont Joachim Ritter - positi-viert die >EntzweiungZukunft< und >Herkunft< - zusam-mengehrig - brauchen die Entzweiung, um erfolgreich zu existieren: die Entzweiung schtzt sie davor, identisch ge-setzt und gleichgeschaltet zu werden. So ist die moderne >Entzweiung< eine Art Gewaltenteilung: Sie bewahrt die >Zukunft< vor Alleinherrschaft der >Herkunft< und die >Her-kunft< vor Alleinherrschaft der >Zukunft< und ermglicht so beiden, sich in Eigenart zu verwirklichen und schtzt uns davor, in die totale Gesellschaft oder in die totale Substanz-nostalgie aufgelst zu werden. Dabei sind - so hat, wenn ich es richtig sehe, Joachim Ritter Hegel verstanden - vor allem die Philosophie und der Staat die Hter der Entzweiung: Sie sind - die eine geistig, der andere politisch - die Mchte, die verhindern, da die Zukunft die Herkunft oder die Her-kunft die Zukunft negiert. Es geht - in dieser modernen Welt, in der wir leben - also nicht um Identitt; vielmehr: wir mssen die Entzweiung von Herkunft und Zukunft er-tragen (oder zugespitzt: wir mssen das Doppelleben - das Zweifachleben - als Zukunftsmenschen und Herkunfts-menschen lernen). So wird Joachim Ritters Philosophie der modernen Welt zur Nichtidentittsphilosophie: zur Philo-sophie der positivierten Entzweiung. Die >Entzweiung< ist fr sie das Problem, das zugleich die Lsung ist: >Entzwei-

  • Zukunft und Herkunft 27 ung< ist das letzte Wort ber die moderne Welt, ein positi-ves Wort. Das ist weniger, als die Weltverbesserer fordern, es ist mehr, als die Kassandren frchten: die moderne - die brgerliche - Welt ist weder Paradies noch Inferno, sondern geschichtliche Wirklichkeit. Sie ist nicht der Himmel auf Er-den und nicht die Hlle auf Erden, sondern die Erde auf Erden. Indem sie das - diesseits der Illusionen - sichtbar werden lt, ist die Philosophie - die auch dadurch offiziell Gechtetes positiv geltend macht, d. h. offiziell Ausge-schlossenes hereinholt (>einholtbrgerlichen Lebenbrgerlichen LebensLesekreis< des Collegium Philosophicum wie blich vor Beginn der Arbeit plauderte, sagte Joachim Rit-ter pltzlich: Wenn ich uns hier so sitzen sehe: mit uns htte ich frher nicht verkehrt. Diese Bemerkung enthielt - mit Anspielung auf eine komplizierte Dimension - die Zustimmung zum Jetzt: zum >brgerlichen LebenEntzweiung< jene Vielheitsvokabel >zwei< enthlt, die auch im Ausdruck >Zweifel< steckt: das deutet den Grund an, aus dem ein Skeptiker - mit seinem Sinn fr Gewaltenteilung - Anhnger der Philosophie der positi-vierten Entzweiung sein kann.

  • 28 Zuku~ft und Herkunft

    Anmerkungen

    1 O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 7 f. 2 R. Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Ge-

    schichte, in: Neue Zeitschrift fr systematische Theologie 1 (1959) S. 313.

    3 Mit Marxisten meinte Spaemann damals Hermann Lbbe, der zwar nie einer war, uns aber damals so erschien: schon wegen seines starken Interesses an soziologischen, sozial- und politik-philosophischen Fragen. Auerdem nahm er whrend seiner Zeit als Assistent von Gerhard Krger in Frankfurt an Kollo-quien von Horkheimer und Adorno teil. Man knnte vielleicht sagen: Hermann Lbbe hat fast alle philosophischen Positionen durchlaufen, die auch die meisten Angehrigen seiner Studienge-neration durchlaufen haben, nur sehr viel schneller und dadurch sehr viel frher: als z. B. die Frankfurter Schule merkte, da sie die Frankfurter Schule war, hatte Hermann Lbbe sie schon hin-ter sich. Zur Zusammensetzung des Collegium Philosophieum vgl. H. Lbbe Eu. a.] (Hrsg.), Collegium Philosophicum. Studien, Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, BaseVStuttgart 1965.

    4 J. Ritter, Subjektivitt, Frankfurt a. M. 1974, S. 62-92. 5 Ebd., S. 93-104. 6 Ebd., S. 105-140 und 141-163. 7 Vgl. G. W. F. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts;

    Theorie Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1986, S. 339 H. 8 Ebd., S. 203 H. 9 J. Ritter (Anm. 4), S. 130 H.

    10 G. W. F. Hegel (Anm. 7), S. 292 H. 11 J. Ritter (Anm. 4), S. 132. 12 H. Lbbe, Zukunft ohne Verheiung? Sozialer Wandel als

    Orientierungsproblem, Zrich 1976, S.9. Vgl. H. Lbbe, Ge-schichtsbegriff und Geschichtsinteresse, BaseVStuttgart 1977, S. 22 und 304 H.

    13 O. Marquard, Kompensation. berlegungen zu einer Verlaufs-figur geschichtlicher Prozesse, in: K. G. Faber / Chr. Meier (Hrsg.), Historische Prozesse. Theorie der Geschichte, Bd.2, Mnchen 1978, S. 330-362; wiederabgedr. in: O. Marquard, Aes-thetica und Anaesthetica, Paderborn 1989, S. 64-81.

    14 Abgedr. u. a. in: O. Marquard, Apologie des Zuflligen, Stuttgart 1986, S. 98-116.

  • Zukunft und Herkunft 29

    15 H. Ritter, Enrwegt. Odo Marquard wird sechzig, in: Frankfur-ter Allgemeine Zeitung vom 26. 2. 1988, Feuilleton.

    16 J. Ritter (Anm. 4), S. 131/132. 17 Joachim Ritter lehrte 1952-55 als Profe~~or fr Philosophie in

    Istanbul: >vortrkisch< bedeutet hier die Zeit davor, >nachtr-kisch< die Zeit danach.

    18 Zum Begriff der Entzweiung vgl. G. W. F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie; Theorie Werkausgabe, Bd.2, Frankfurt a. M. 1986, S. 20 ff.; Grundlinien der Philosophie des Rechts, ebd., Bd. 7, S. 340.

    19 J. Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und He-gel, Frankfurt a. M. 1969, S. 321-340 und 183-255.

    20 Vgl. J. Ritter, Das brgerliche Leben. Zur aristotelischen Theo-rie des Glcks, in: J. R. (Anm. 19), S. 57-105.

  • Einheit und Vielheit

    Dieser 14. Deutsche Kongre fr Philosophie ist eine Ver-anstaltung im Namen der Philosophie. Die Philosophie -sagt man - ist die eine. Und doch gibt es viele Philosophien.

    Als Skeptiker finde ich das gut. Denn Skepsis ist der Sinn fr Gewaltenteilung bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die die Philosophien sind. Je bunter, desto bes-ser: auch wenn das manchem zu bunt wird. Doch gerade darin liegt das Problem: wieviel Einheit braucht man, um diese Vielheit haben zu knnen? Und: wieviel Vielheit braucht man, um jene Einheit aushalten zu knnen? Vor gut zweieinhalb Jahren wachte ich eines Nachts - der blichen Arbeitszeit der Philosophen - auf und wute: das mu das Thema dieses Kongresses werden, Einheit und Vielheit, und beruhigt schlief ich wieder ein.

    Infolge dieser damaligen Unterbrechung meines skepti-schen Schlummers habe ich als derzeit amtierender Prsi-dent der Allgemeinen Gesellschaft fr Philosophie in Deutschland, der diesen Kongre ausrichtet, heute die Pflicht, in das Kongrethema Einheit und Vielheit einzu-fhren. Ich tue das hier: nicht, indem ich ein Tableau mgli-cher Probleme entwerfe, sondern, indem ich - statt des-sen - berwiegend nur eine einzige These vertrete, zu der es sicher viele Alternativen gibt, die in den folgenden Tagen zur Sprache kommen werden. Meine These ist, grob gesagt, diese: Je erfolgreicher die Universalisierung, desto ntiger die Pluralisierung. Einheit mu durch Vielheit kompensiert werden und wird durch Vielheit kompensiert: Justament darum ist gerade die moderne - die brgerliche - Welt mehr Nichtkrise als Krise, also zustimmungsfhig. Diese These -deren Darlegung ich vor reichlich einem Jahr in vorlufiger und lngerer Form vor der Mitgliederversammlung des Stif-

  • Einheit und Vielheit 31

    terverbandes fr die Deutsche Wissenschaft schon einmal gebt habe - erlutere ich hier in folgenden vier Abschnit-ten: 1. Krise durch Vielheit oder Krise durch Einheit?; 2. Die moderne Welt als Balance von Einheit und Vielheit; 3. Schwierigkeiten beim Jasagen; 4. Die Lebenseinzigkeit und die Mitmenschen. Ich beginne - den blichkeiten ent-sprechend - mit Abschnitt:

    1. Krise durch Vielheit oder Krise durch Einheit?

    Die Philosophie scheint zur fundamentalen Suche nach Kri-sengrnden verpflichtet; und einschlgig fr diese Suche ist die Frage: Ist - in unserer Wirklichkeit - die Einheit durch die Vielheit bedroht oder die Vielheit durch die Einheit?

    Gerade diese Frage geht heute um in der Philosophie. Dennoch ist sie nur der moderne - einige sagen: der post-moderne - Aggregatzustand eines alten Streits altherge-brachter philosophischer Traditionen: der Tradition der Einheitsphilosophien und der Tradition der Vielheitsphilo-sophien. - Da ist:

    a) die Tradition der Einheits- oder Universalisierungsphi-losophien: sozusagen - ich bin nicht zimperlich - von Par-menides ber Platon und Kant bis Habermas. Diese Tradi-tion macht den Vorrang des Einen vor dem Vielen geltend: in der Antike ontologisch im Blick auf das eine alleinwirk-lich Seiende; im Mittelalter theologisch im Blick auf den einen Gott; in der Neuzeit transzendentalphilosophisch im Blick auf die intersubjektive Einheit des menschlichen Erkenntnis- und Handlungssubjekts oder geschichtsphilo-sophisch revolutionr oder diskursphilosophisch universa-listisch mit dem Ziel der emanzipatorisch egalitren Ein-heitsmenschheit. Die durchgngige Grundthese ist dabei -vergrbert - diese: Vollkommen ist - durch seine Vielheits-losigkeit - ausschlielich das Eine, hilfsweise das Eine im Vielen, das Allgemeine. Wo Vielheit herrscht, ist das ein

  • 32 Einhe~tund Vielheit

    Unglcksfall, der repariert werden mu: es mu universali-siert, totalisiert, globalisiert, egalisiert, emanzipiert; revolu-tioniert werden. Gelingt das nicht, kommt es zur Krise. So ist die Welt und - durch Blockade des Universellen und das zunehmende Regiment von Sonderinteressen - gerade die moderne, die brgerliche Welt Krise: nmlich Krise durch Vielheit aus Mangel an Einheit. - Da ist:

    b) die Tradition der Vielheits- oder Pluralisierungsphilo-sophien: sozusagen - auch hier bin ich nicht zimperlich -von der antiken Sophistik, Peripatetik und Skepsis ber die Moralistik, den Historismus und die Lebensphilosophie bis zur heutigen sogenannten Postmoderne und anderen Ab-schieden vom Prinzipiellen etwa durch Derrida, Lyotard, Rorty, Kockelmans und andere. Diese Tradition macht den Vorrang des Vielen vor dem Einen geltend. Die durchgn-gige Grundthese ist dabei - wiederum vergrbert - diese: Die wirkliche Wirklichkeit des Lebens - gerade auch die des menschlichen Lebens - ist unerschpflich vielgestaltig; ihr Grundcharakter ist die Vielheit. Einheit - Allgemeinheit, also auch Vergleichbarkeit und Gleichheit - gibt es nur durch Komplexittsreduktionen, durch Vereinfachungen; deren Herrschaft ist - insbesondere modern, wo die schrecklichen Vereinfacher am Werk sind, die terribles sim-plificateurs mit ihren Uniformisierungen und Gleichschal-tungen: mit der Einheitswissenschaft, der Einheitsge-schichte, der Einheitspartei, der Einheitsmeinung, der Ein-heitsmenschheit - ein Unglcksfall, der repariert werden mu: Es mu detotalisiert, dezentralisiert, differenziert, pluralisiert, traditionalisiert, regionalisiert, individualisiert werden. Gelingt das nicht, kommt es zur Krise. So ist die Welt und - durch den modernen Siegeszug der Uniformi-sierungen - gerade die moderne, die brgerliche Welt Krise: nmlich Krise durch Einheit aus Mangel an Vielheit.

    Durch diese ultrapauschalen Bemerkungen wollte ich hier nur andeuten: Beide philosophischen Traditionen - die der Einheitsphilosophien und die der Vielheitsphiloso-

  • Einheit und Vielheit 33

    phien - diagnostizieren die Welt und gegenwrtig vor allem die moderne - die brgerliche - Welt als Krise. Als Krisen-grund aber benennen sie Entgegengesetztes, so da es - vor allem angesichts der heutigen Gestalt dieser antithetischen Krisenaitiologie - zu jener Alternativfrage kommen mu, von der ich ausging, und deren aktuellen Stand man etwa folgendermaen formulieren kann: Kommt es zur Krise in der modernen Welt eher durch Mangel an Einheit (also da-durch, da die Vielheit die Einheit - die Tendenz zur Egali-sierung und Universalisierung - berwltigt), oder ganz im Gegenteil eher durch Mangel an Vielheit (also dadurch, da die Einheit - als Vereinfachung und Uniformisierung - ber die Vielheit siegt)? Oder anders und kurz gefragt: Wird die moderne - die brgerliche - Welt zur Krise, weil in ihr die Einheit an der Vielheit oder weil in ihr die Vielheit an der Einheit zugrunde geht?

    2. Die modeme Welt als Balance von Einheit und Vielheit

    Die nchste Aufgabe - scheint es - ist, diese Alternativfrage zu entscheiden. Aber - ich frage nicht nur aus Faulheit -mu das wirklich sein? Vielleicht sollte man eine These diesseits der einheitsphilosophischen und der vielheitsphi-losophischen Krisenaitiologie erwgen, etwa diese: Insbe-sondere in unserer gegenwrtigen Welt zerstrt weder die Vielheit die Einheit noch die Einheit die Vielheit, sondern ganz im Gegenteil; gerade der moderne Zuwachs an Uni-versalisierung frdert und erzwingt den modernen Zuwachs an Pluralisierung und umgekehrt, so da gilt: Die moderne - die brgerliche - Welt ist die Balance von Einheit und Vielheit.

    Freilich: wer - wie ich es hier tun mchte - diese These vertritt, der mu - auch und gerade, wenn er die Hrten und Wunden unserer Welt nicht wegretouchieren will- auf das groe Krisenpathos verzichten, und er mu - auch und

  • 34 Einhei~ und Vielheit

    gerade, wenn es Schwierigkeiten gibt beim Jasagen zu unse-rer Welt - sein Jammerbedrfnis und seine Negationslust zgeln. Denn wenn gilt: die moderne - die brgerliche -Welt ist die Balance von Einheit und Vielheit, gerade dann gilt auch: die moderne - die brgerliche - Welt ist mehr Nichtkrise als Krise. Dabei behaupte ich nicht, da diese Balance - das Gleichgewicht von Universalisierung und Pluralisierung - in der gegenwrtigen Welt ohne Strungen ist; ich behaupte nur: Diese Strungen sind oder werden -in dieser Welt - im groen und ganzen wieder ausgeglichen, oder, um es mit einer - durch meinen Lehrer Joachim Ritter inspirierten - philosophischen Lieblingsvokabel von mir zu sagen: sie werden kompensiert. So steckt in der These: Die moderne - die brgerliche - Welt ist die Balance von Ein-heit und Vielheit, ebenso die These: Die moderne - die br-gerliche - Welt ist als das Zeitalter der Vereinheitlichungen zugleich auch das Zeitalter der kompensatorischen Plurali-sierungen. Zur Konkretisierung dieser These weise ich hier nur auf zwei einschlgig exemplarische Vorgnge hin (a-b). - In der modernen Welt gibt es:

    a) die technologischen Vereinheitlichungen; sie werden kompensiert durch traditionale, historische und sthetische Pluralisierungen. Zur modernen Welt gehrt, da die Na-turwissenschaften exakt werden: Die Naturwissenschaftler machen sich unabhngig von ihren unterschiedlichen Herkunftstraditionen, indem sie nunmehr welteinheitlich messen, experimentieren und rechnen. Dadurch wird die Welt - ihrerseits immer einheitlicher - zunehmend tech-nisch verfgbar und standardisiert machbar: So - und das wird konomisch gesteigert durch die Konvertibilitt der technischen Waren in die Einheitsgre Geld - wird welt-weit immer mehr immer schneller immer gleichfrmiger; die Vereinheitlichungen, die Uniformisierungen siegen. -Aber das ist ber die moderne Welt nur die halbe Wahr-heit, deren andere Hlfte diese ist: es sterben - gerade weil sich ihre direkte Handlungsbedeutung fr die technologi-

  • Einheit und Vielheit 35

    sche Welt abschwcht - die vielfltigen Herkunftstraditio-nen religiser, sprachlicher, kultureller und familirer Art in der modernen Welt nicht nur nicht ab, sondern sie kn-nen justament dort - unverzichtbar fr die menschliche Lebenswelt - nun um so leichter - gegebenenfalls am sel-ben Ort - in bunter Vielfalt koexistieren: vom religisen Pantheon der Konfessionen bis hin zum kulinarischen Pantheon der Kchen. Dabei hilft diesen Traditionen die -spezifisch moderne - Genese des historischen Sinns, der - kompensatorisch zu den technologischen Uniformi-sierungen - gerade die Vielfalt der eigenen und fremden Traditionen geltend macht. Dafr entsteht jetzt, modern, was es vorher nie gegeben hat: das Museum, die kon-servatorischen Manahmen, die forschende Erinnerung, also die Geisteswissenschaften. Zugleich wird die ent-zaubernde Standardisierung der modernen Welt kompen-siert .. durch die spezif~~ch moderne Ersatzverzauberung des Asthetischen: Das Uberraschungsdefizit der gleichfr-mig werdenden Wirklichkeit wird ausg~.glichen durch die Vielheit der Kunstwerke, deren buntes Uberraschungs-und Faszinationspotential jetzt unverzichtbar wird. Kurz-um: keine Zeit zuvor hat so viel vereinheitlicht wie die Moderne; keine Zeit zuvor hat so viel pluralisiert wie die Moderne. Beides gehrt zusammen: die modernen Pluralisie-rungen kompensieren die modernen Vereinheitlichungen. -In der modernen Welt gibt es:

    b) die sozialen Vereinheitlichungen; sie werden kompen-siert durch gewaltenteilige und individualistische Pluralisie-rungen. In der modernen Welt kommt es - begrenswer-terweise - zum Siegeszug des Prinzips der Gleichheit aller Menschen. Das bringt - zunchst im Schutz jener Verein-heitlichungen, die die Staaten sind - jene Geschichte in eine Schlsselstellung, an der - als der einen - alle Menschen teilnehmen: die Universalgeschichte der Gleichheit, in der - wie Koselleck gezeigt hat - alles singularisiert wird: die Fortschritte zum Fortschritt, die Revolutionen zur Revolu-

  • 36 Einheit .und Vielheit

    tion, die Freiheiten zur Freiheit, die Sitten zur - universali-stischen - Moralitt des einen einzigen Sittengesetzes, die Geschichten zur einen einzigen Weltgeschichte, so da auch hier gilt: die Vereinheitlichungen, die Uniformisierungen siegen. - Doch auch das ist ber die moderne Welt nur die halbe Wahrheit, deren andere Hlfte diese ist: Kompensa-torisch und zum Schutz gegen diese Zentralisierungen und Vereinheitlichungen entstehen - spezifisch modern - die Grund- und Menschenrechte als juristisch operationali-sierte Lizenzen fr jeden, rechtfertigungsfrei und ohne Angst anders zu sein als die anderen, und es wird zu die-sem Schutz - spezifisch modern - die Gewaltenteilung ent-wickelt: von der politischen Gewaltenteilung ber die funktionale Differenzierung und Autonomisierung gesell-schaftlicher Teilsysteme bis zur Kultur der vielen Eigen-wege zur Humanitt, wobei gegen die globalen Uniformi-sierungen - kompensatorisch - zunchst die nationalen, dann die kulturellen, regionalen und individuellen Beson-derheiten mobilisiert werden. Dabei gilt: sola divisione individuum; denn: je mehr Gewaltenteilung, desto mehr In-dividuum, dessen jedes anders ist als alle anderen, so da -in der modernen Welt - diese gewaltenteilungsbedingte In-dividualisierung die entschiedenste Form der Pluralisierung ist. Darum also auch hier: keine Zeit zuvor hat so viel ver-einheitlicht wie die Moderne; keine Zeit zuvor hat so viel pluralisiert wie die Moderne. Beides gehrt zusammen: Die modernen Pluralisierungen kompensieren die modernen Vereinheitlichungen.

    Mit diesen beiden Hinweisen hoffe ich meine These ein wenig konkretisiert zu haben, die da lautet: Die moderne -die brgerliche - Welt ist die Balance von Einheit und Viel-heit; denn als das Zeitalter der Universalisierungen ist sie zugleich das Zeitalter der kompensatorischen Pluralisierun-gen und darum - als ra der Kompensationen - mehr Nichtkrise als Krise.

  • Einheit und Vielheit 37

    3. Schwierigkeiten beim Jasagen

    Wer diese These vertritt, sagte ich, mu - auch und gerade, wenn er die Hrten und Wunden unserer Welt nicht wegre-touchieren will - auf das groe Krisenpathos verzichten und seine Negationslust in bezug auf die moderne - die brgerliche, die vorhandene - Welt zgeln und auf den Konformismus mit der heute gngigen Meinung verzichten, das Neinsagen sei das authentische Verhltnis zur vorhan-denen Welt: also - vom Antimodernismus ber den futuri-sierten Antimodernismus bis hin zum Postmodernismus -die Antibrgerlichkeit, der Widerstand gegen die vorhan-dene Welt. Doch fllt es schwer, von dieser Negationsbeses-senheit zu lassen; denn wir haben - in bezug auf die moderne, die brgerliche, die vorhandene Welt - Schwierig-keiten beim Jasagen. Dafr - fr diesen Hang zum Nein -mchte ich - als Modernittstraditionalist skeptisch fr die Moderne pldierend - in diesem Abschnitt einige Ursachen anzugeben versuchen, nmlich die folgenden vier (a-d). -Da ist:

    a) die Negativierungswirkung von bererwartungen. Die Erfahrung von Mngeln - also auch und gerade die Krisen-erfahrung - kann stets zwei Grnde haben: entweder ist da zu wenig Erfllung, oder da ist zu viel Erw~rtung. Ich denke, unsere Krankheit vom Dienst ist die Ubererwar-tung: zum allgemeinen Anspruchsdenken gehrt auch das Anspruchsdenken in Dingen Vollkommenheit der Welt. Hegel- in seiner Sollenskritik - hat gezeigt: Perfektionisti-sche Sollforderungen wirken als Realittsvermiesung. Die-ser Negativierungsmechanismus ist bei uns heute am Werk: weil die vorhandene Wirklichkeit der Himmel auf Erden sein soll und nicht ist, gilt sie als Hlle auf Erden, als ob es dazwischen nichts gbe, um dessen Bestand zu zittern und den zu verteidigen sich lohnte: die Erde auf Erden. Wir -die sptkulturell Verwhnten, die daher auch durch perfekte Weltgelungenheit verwhnt sein wollen - produzieren un-

  • 38 Einheit ,und Vielheit

    sere Modernittsverdrossenheit - die Neigung zur Nega-tion der brgerlichen Welt - durch unsinnige Vollko'mmen-heitsansprche: durch bertriebene Einheitserwartungen ebenso wie durch bertriebene Vielheitserwartungen. Darum haben wir Schwierigkeiten beim Jasagen. - Da ist:

    b) die belstandsnostalgie der Wohlstandswelt. Die Kul-tur - auch die moderne, gerade die moderne - ist stets, wie Gehlen sagte, Entlastung vom Negativen: ihre Leistung ist, da die Menschen vergleichsweise unabhngig werden von Gefahr, Krankheit, Not, Mhe, Angst. Auf derlei Ne-gatives sind Menschen stndig gefat im Sinne einer Bereit-schaft, es wegzuarbeiten, zu negieren: zum Menschen ge-hrt seine Negationsbereitschaft. Wo das Negative - durch jene Entlastung von ihm, die die Kultur und moderne Kul-tur ist - aus der Wirklichkeit zunehmend verschwindet, ver-schwindet nicht gleichzeitig auch die menschliche Nega-tionsbereitschaft. Sie wird nur arbeitslos und sucht - bel-standsnostalgisch - neue Beschftigungen, d. h. bel, und findet sie auch, selbst wenn sie sie erfinden mu: schlielich in jener Kultur selber, die vom Negativen entla.~tet, gerade weil sie vom Negativen entlastet. Durch diese Ubelstands-nostalgie der Wohlstandswelt wird endlich - in Ermange-lung anderer .. Negationsmglichkeiten - der Wohlstand selber zum Ubelstand ernannt. Denn je besser es den Menschen geht, desto schlechter finden sie das, wodurch es ihnen besser geht. Oder anders und abstrakt gesagt: Die Entlastung vom Negativen - gerade sie - verfhrt zur Ne-gativierung des Entlastenden. Ich nenne einige Beispiele fr diese unbehagliche Inversion der Negationsbereitschaft: Je mehr Krankheiten die Medizin besiegt, um so grer wird die Neigung, die Medizin selber zur Krankheit zu erklren; je mehr Lebensvorteile die Chemie den Menschen bringt, desto mehr gert sie in den Verdacht, ausschlielich zur Ver-giftung der Menschen erfunden zu sein; je mehr die gewal-tenteilig liberale Mehrparteiendemokratie den Menschen Repressionen erspart, um so leichter proklamiert man sie

  • Einheit und Vielheit 39

    selber zur Repression; kurzum und allgemein: die Entla-stung vom Negativen - gerade sie - verfhrt zur Negativie-rung des Entlastenden. Das bedeutet: Gerade weil die mo-derne - die brgerliche, die vorhandene - Kultur Krisen be-siegt, wird sie selber zur Krise umerfahren: So - zumindest auch so - kommt es zum heutigen Hang zum Nein und also zu den Schwierigkeiten beim Jasagen. - Da ist:

    c) der nachtrgliche Ungehorsam, der - speziell in Deutschland - diesen Hang zum Nein verstrkt. Er hat mit unserer dunkelsten Vergangenheit zu tun: wir frchten uns vorm Jasagen, weil im zweiten Viertel unseres Jahrhunderts in unserem Lande zwlf Jahre lang zu viel ja gesagt worden ist. Darum wollen wir das damals versumte Neinsagen durch heutiges Neinsagen nachholen: den unterbliebenen Aufstand gegen die Diktatur durch chronische Aufsssig-keit gegen die Nichtdiktatur wettmachen. Das nenne ich -mit einem Gegenbegriff zu Freuds nachtrglichem Gehor-sam - den nachtrglichen Ungehorsam. Als Reaktion ist dieser nachtrgliche Ungehorsam zwar verstndlich, doch wohl kaum vernnftig, sondern eher absurd, wenn er das gegen unmenschliche Zustnde unterbliebene Nein durch ein Nein gegen menschliche Zustnde ausgleichen will und sich fr den Nichtwiderstand gegen die Tyrannei durch den Widerstand gegen die Nichttyrannei zu salvieren sucht. Auch wird hufig vergessen, da vor den zwlf Jahren des falschen Jasagens bei uns fnfzehn Jahre lang falsch nein ge-sagt worden ist: nmlich zur Weimarer Republik. So ent-steht statt des flligen Friedens mit der modernen, brgerli-chen, bei uns vorhandenen Liberalwelt eine Art Schweine-zyklus des Nein- und Jasagens; denn man sagt - nachdem man an der falschen Stelle, nmlich zu unmenschlichen Zu-stnden, ja gesagt hat und daraufhin an der falschen Stelle, nmlich zu menschlichen Zustnden, nein sagt - dann auch leicht wieder an der falschen Stelle, nmlich erneut zu un-menschlichen Zustnden, ja: darum keimen hierzulande ge-genwrtig so hufig romantische Sympathien fr Revolu-

  • 40 Einheit und Vielheit

    tionsdiktaturen. Dieser - so nur angedeutete - nachtrgliche Ungehorsam verstrkt die Neinwelle, die - im Umkreis der brgerlichen Moderne - ebendarum in der Bundesrepublik besonders heftig rollt. - Da ist - unter diesen Ursachen fr unsere Schwierigkeiten beim Jasagen - schlielich:

    d) ein Philosophiedefizit, nmlich das Fehlen einer Nichtkrisenphilosophie der Moderne, die von der emphati-schen Fortschrittsphilosophie verschieden ist. Bisher - sp-testens seit der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts - hing die Bejahung der modernen Welt an der berzeugung ihrer Fortgeschrittenheit: am Fortschrittsglauben. Doch gegen-wrtig wankt dieser Fortschrittsglaube: Darum kippt das an ihn gebundene emphatische Ja zur modernen Welt um in das emphatische Nein zur modernen Welt. Dagegen -denke ich - kann nur eine Nichtkrisenphilosophie der Mo-derne an, die von der emphatischen Fortschrittsphilosophie verschieden ist und ein unemphatisches Ja zur modernen -zur brgerlichen - Welt plausibel macht. Ich meine nun: Ein aussichtsreicher Kandidat fr eine solche nichtfortschritts-philosophische Nichtkrisenphilosophie der Moderne ist die Philosophie der Kompensation; darum habe ich hier die moderne Welt als Balance - speziell als Balance von Einheit und Vielheit - interpretiert und damit den Kompensations-gedanken geltend gemacht, der - mit Waage und Pendel als Metaphern - auf das Gleichgewichtsmodell rekurriert. Dieser Kompensationsgedanke kommt aus dem Argumenta-tionshaushalt der Theodizeen des beginnenden 18. Jahrhun-derts, wo man die Welt als zustimmungsfhig begreifen mute, um Gott als gut denken zu knnen: In der Welt -4.as war dort ein Gottesverteidigungsargument - sind die Ubel durch Gter kompensiert. Dieser Kompensationsge-danke - das hat jngsthin der Canguilhem-Schler Jean Svagelski gezeigt - wird seit Ende des 18. Jahrhunderts durch den emphatischen Fortschrittsgedanken verdrngt. Ich meine nun: Wo dieser emphatische Fortschrittsgedanke - wie es heute der Fall ist - seinerseits in Schwierigkeiten

  • Einheit und Vielheit 41

    gert, ist es fllig, den Kompensationsgedanken und das Modell der Balance wieder aufzugreifen. Das habe ich hier versucht. Die Philosophie der Kompensation - man mu das prfen; und das Prfungsergebnis ist noch durchaus un-gewi - und speziell die Philosophie der modernen Kom-pensation der Einheit durch Vielheit knnte zu jener Philo-sophie der modernen Welt als Nichtkrise beitragen, die von der emphatischen Fortschrittsphilosophie verschieden ist. Solange sie fehlt, haben wir Schwierigkeiten beim Jasagen.

    So werbe ich - ganz und gar nicht als Jubeldenker, son-dern durchaus als Skeptiker - fr ein unemphatisches Ja zur modernen, zur brgerlichen, zur vorhandenen Welt, also antipostmodernistisch fr ein Ja zu jenem Projekt Mo-derne, das die brgerliche Moderne ist: fr ein Ja durchaus zu Unvollkommenem. Meine Rekursinstanz ist die Ein-sicht: Menschen - auch und gerade die modernen - sind nicht so gut dran, um sich den Luxus des Krisenstolzes und der Totalnegativierung leisten zu knnen; sie sind viel zu zerbrechlich, um irgendeine Positivitt der Welt miachten und die Rose im Kreuz der Gegenwart bersehen zu dr-fen. So - mit solch ganz und gar nchternem Blick auf das, was in der modernen Welt Nichtkrise ist - ist die Skepsis die konsequent gemachte Verzweiflung. Die nicht konse-quent gemachte Verzweiflung bleibt nur Verzweiflung: Sie verkehrt die Philosophie zur Wacht am Nein und steigert allenfalls die Jammerrate, doch das fhrt zu nichts. Die kon-sequent gemachte Verzweiflung hingegen ist die Schule der Wahrnehmung des vorhandenen Positiven; sie ersetzt das leichte Neinsagen durch das schwierige Jasagen, das aller-dings etwas heute sehr Unpopulres verlangt, nmlich: mehr Mut zur eigenen Brgerlichkeit.

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    4. Die Lebenseinzigkeit und die Mitmenschen

    Mit all diesem ist das Problem der Einheit und Vielheit nicht aus dem Blick verloren. Denn - das war ja die These - die moderne Welt ist mehr Nichtkrise als Krise, weil sie Balance - speziell die Balance von Einheit und Viel-heit - ist. Dadurch ist das unemphatische Ja zu ihr mglich, also jener Friede, der heute am wenigsten diskutiert wird und vielleicht doch am wichtigsten ist: da man mit der ei-genen Wirklichkeit seinen Frieden macht.

    Aber was zwingt die Menschen dazu, sich so - diesseits der absoluten Attitden - mit dem Ja zum Unvollkomme-nen zu bescheiden? Es ist - meine ich - unsere Lebenskrze, die uns dazu zwingt. Wir Menschen - stets zugleich Sptge-borene - mssen sterben: wir sind zum Tode, oder (um es diesseits aller existenzialistischen Emphase zu sagen): die Natalitt und die Mortalitt der menschlichen Gesamtpopu-lation betrgt nach wie vor 100 Prozent. Wir kommen spt und gehen frh, und die Frist dazwischen, die unser Leben ist, ist, selbst wenn sie lang ist, stets zu kurz, um in ihr abso-lute Sprnge machen zu knnen. Vita brevis, das Leben ist kurz: darum hat kein Mensch die Zeit, sich - universalisie-rungsabsolutistisch - aus der Vielheit, in die er hineingebo-ren ist, beliebig weit in Richtung Einheit wegzubewegen. Vita brevis, das Leben ist kurz: darum hat zugleich kein Mensch die Zeit, seine vielheiclich-hyperkomplexe Wirk-lichkeit - pluralisierungsabsolutistisch - ohne Vereinfachun-gen, d. h. einheitslos, zu bewltigen. Unsere Lebenskrze zwingt uns zur - stets nur unvollkommenen - Balancierung von Einheit und Vielheit und zu einem nichtabsoluten Ja dazu. Zum Vollkommenen fehlt uns die Zeit: auch zum vollkommenen Ja und zum vollkommenen Nein. Denn un-ser Leben ist kurz: vita brevis.

    Dieses vita-brevis-Argument - darauf hat Eckhard Nord-hofen aufmerksam gemacht - ist ein vita-una-Argument. In der Tat: wir haben in dieser Welt - zwischen der einzigen Ge-

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    burt, durch die wir selber zur Welt kommen, und dem ein-zigen Tod, den wir selber sterben mssen - nur ein einziges Leben zur Verfgung. Hier taucht das Problem der Einheit und Vielheit in neuer Form noch einmal auf: weil wir nur ein Leben haben. Aber es trifft nicht zu, da diese Einheit, nunmehr im Sinne der Lebenseinzigkeit, die Vielheit besei-tigt; denn es gibt nicht nur den jeweils Einzelnen, sondern es gibt auch die Anderen, unsere Mitmenschen, die, weil sie viele sind, viele Leben leben, an denen wir teilnehmen kn-nen und dadurch - in gewisser Hinsicht - auch ihre Leben haben. Weil wir trotz unserer Lebenseinzigkeit mehrere -viele - Leben brauchen, brauchen wir unsere Mitmenschen: Die Kommunikation mit ihnen in all ihrer Vielheit ist fr uns die einzige Chance, trotz unserer Lebenseinzigkeit viele Leben zu leben. Dabei ist gerade die Vielheit dieser Mit-menschen - ihre bunte Verschiedenartigkeit - wichtig und darf durch die Kommunikation mit ihnen nicht getilgt, son-dern sie mu dabei gerade geschtzt und gesteigert werden.

    Darum mu - dies wenigstens meine ich, bis ich morgen abend durch Jrgen Habermas eines Besseren belehrt wer-den werde - es mu diese Kommunikation mehr sein als nur jener ideale Diskurs, den die Protagonisten der neuen Frankfurter Schule - also etwa Jrgen Habermas - uns empfehlen. In ihm nmlich lscht - ganz im Gegenteil - die Einheit des diskursiven Konsenses die Vielheit gerade aus, und es macht dort das Allgemeine das Besondere stumm: denn in diesem universalistischen Diskurs ist Vielheit - die Vielfalt der Meinungen - nur als Anfangskonstellation ge-stattet; Bewegung der Kommunikation ist nur als Abbau der Vielheit - der Vielfalt der Meinungen - gerechtfertigt; und sein Endzustand - der universalistische Konsens - ist einer, bei dem niemand mehr anders denkt als die anderen, so da dort die Vielheit der Teilnehmer gerade berflssig wird zugunsten jenes einen Teilnehmers, der dann gengt, um jene Meinung zu hegen, die dann sowieso als einzige herrscht. Der idealdiskursive Konsens ist die Rache des So-

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    lipsismus an seiner diskursiven berwindung. Demgegen-ber mu die Kommunikation, die uns mehrere Leben er-schliet, die Vielheit gerade bewahren und bekrftigen: Sie mu also die universalistische Optik auch noch von Kants kategorischem Imperativ - sei nur das, was auch alle ande-ren sein knnen! - ergnzen und berichtigen durch die plu-ralistische Optik dessen, was Max Mller den historischen Imperativ genannt hat: Sei das, was nur du sein kannst, und la auch die anderen das sein, was nur sie sein knnen! Es mu in dieser pluralisierenden Kommunikation gerade die Vielheit der Anderen mageblich bleiben: die Vielfalt ihrer Meinungen, Charaktere, Sitten, Geschichten, Sprachen. Von Tomas Masaryk stammt das schne Diktum: So viele Spra-chen man spricht, so viel mal ist man ein Mensch. Das ist variierbar und stimmt dann immer noch: Mit so vielen Mit-menschen man kommuniziert, so viel mal hat man sein Le-ben. Denn unsere Lebenseinzigkeit wird eben dadurch viel-heitlich kompensiert, da wir Mitmenschen haben.

    Ein spezieller Fall solch kompensatorischer Mitmensch-lichkeit ist ein Philosophenkongre, bei dem - trotz der Einheit der Philosophie - gilt: Mit so vielen - verschieden-artigen - Philosophen man sich ausspricht, so viel mal ist man ein Philosoph. Dabei mu - das war hier ich - einer mit dem philosophischen Reden anfangen; dann reden viele Andere, die das zuerst Gesagte - ich erwarte das zuversicht-lich - korrigieren und kompensieren. Es ist gut, da der

    Ausr!~ter dieses Kongresses ber Einheit und Vielheit -den Ublichkeiten entsprechend - zwar das erste Wort hat, aber nicht das letzte. Darum setzen wir morgen - denn heute Abend bleibt der Kongre wegen Erffnung ge-schlossen - und in den folgenden Tagen unsere Arbeit fort. Ich danke Ihnen fr Ihre Anwesenheit und Ihre Aufmerk-samkeit und wnsche Ihnen einen guten Abend.

  • Zeit und Endlichkeit

    Nur knapp 45 Minuten habe ich hier Zeit, um mich auf phi-losophische Weise ffentlich ber die Zeit zu uern; und diese Frist mchte ich einhalten, denn ich habe - mit beson-derer Bercksichtigung ihrer Endlichkeit - ja eben auf die Zeit zu achten.

    Drum auch mchte ich sofort - ohne Zeitverzug - ein Buch ber die Zeit ins Spiel bringen, das vor nicht allzulan-ger Zeit, nmlich 1986, erschienen ist und von Hans Blu-menberg stammt, betitelt Lebenszeit und Weltzeit.! Dort entwickelt Blumenberg - auf der Grundlage einer eigen-willigen und glanzvollen Interpretation der genetischen Phnomenologie des spten Husserl - als zentrales Zeit-problem die menschliche Lebenskrze: Je mehr die Men-schen - nach ihrer Vertreibung aus der Lebenswelt der unmittelbaren Selbstverstndlichkeiten - die objektive Welt mit ihrer unfalich riesigen Weltzeit entdecken, desto un-ausweichlicher entdecken sie zugleich, da ihre Lebens-zeit eine ultrakurze Episode ist, limitiert durch den Tod, der unerbittlichen Grenze fr ihren vital und kognitiv gren-zenlosen Weltappetit. Die Kongruenz von Lebenszeit und Weltzeit erweist sich als Wahn; die ffnung der Zeit-schere zwischen Lebenszeit und Weltzeit erweist sich als Wirklichkeit, bei der es - das fge nun ich hinzu - ganz und gar kein Zufall ist, da sie - die menschlich-endliche Le-benszeit im Kontrast zur Weltzeit - gerade modern und ge-genwrtig besondere philosophische Aufmerksamkeit auf sich zieht.

    Denn die wissenschaftliche Objektivierung und Entgren-zung der Weltzeit - das hat, wohl zuerst 1987 beim Giee-ner Philosophenkongre und dann mehrfach wieder, letzt-hin vor allem Johann Baptist Metz2 betont - diese wissen-

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    schaftliche Objektivierung und Entgrenzung der Weltzeit wird in der modernen Welt (vor dem Hintergrund jener Er-fahrung, die Nietzsche als den Tod Gottes beschrieb) mglich und ntig durch ihre - wie Metz das nennt - Ent-fristung. Erst wo sie ihre eschatologische Finalitt als Heilszeit - als befristeter Weg zum erlsenden Ende, als Frist zum Heil - verliert, kann die Weltzeit zu jener - wie Metz sagt - ziellos offenen und evolutionr entfristeten Zeit werden, die die moderne - physikalisch orientierte -Kosmologie geltend macht: Die Objektivierung und Entgrenzung der Weltzeit lebt von der Entfristung der Heilszeit, natrlich auch von der Entfristung ihrer modern skularisierten Surrogate: etwa von der Selbstzerstrung der finalisierenden Geschichtsphilosophien, zu denen der Marxismus gehrt. Jedenfalls: Die Weltzeit avanciert auch und gerade als philosophisches Thema durch die Entfri-stung der Heilszeit und ihrer Surrogate.

    Diese These von Johann Baptist Metz halte ich fr unge-mein plausibel: Sie scheint mir wahr zu sein, aber nicht die ganze Wahrheit. Darum mchte ich diese These von Johann Baptist Metz meinerseits durch folgende These ergnzen: Gerade die moderne Entdeckung der entfristeten, der offe-nen Weltzeit bringt den Fristcharakter der Zeit nicht etwa zum Verschwinden, sondern - im Gegenteil- gerade sie ra-dikalisiert zugleich diesen Fristcharakter, indem sie ihn nun ganz und gar auf jene Zeit verlagert und konzentriert, die fr uns Menschen am unvermeidlichsten Frist ist: die endli-che Lebenszeit unseres eigenen Lebens, das also, was Blu-menberg als jene Episode charakterisiert, die jeder von uns ist. Anders gesagt: Fr die Philosophie wird - kompen-satorisch zur modernen Entfristung der Heilszeit zur Welt-zeit - die Zeit gerade modern wie nie zuvor radikal zur Frist: als endliche Lebenszeit des einzelnen Menschen. Sie wird es in unserem Jahrhundert vor allem durch die Philo-sophie des menschlichen Seins zum Tode. Ich nehme hier diese Formel von Martin Heidegger auf, aber sie interessiert

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    mich hier weder als Formel des verstandenen Todes und Beitrag zur Thanatologie noch als Formel der Todessucht im Zeichen der Menschheitsdmmerung und Lebens-hrte, sondern als Formel einer nchternen Temporalph-nomenologie der menschlichen Lebenskrze, die philoso-phisch wichtig wird, wo - modern und heute - die befristete Zeit soteriologischer Finalitt thematisch ersetzt wird durch die befristete Zeit menschlicher Mortalitt. Als Beitrag zu einer solchen Phnomenologie - mit dem wesentlichen Be-fund: die Zeit eines jeden Menschen ist endlich und knapp, sie ist befristet, das Leben ist kurz - mchte ich hier einige berlegungen formulieren, und zwar in folgenden vier Ab-schnitten: 1. Vita brevis; 2. Forcierung der Schnelligkeit; 3. Kompensatorische Langsamkeit; 4. Multitemporalitt. Ich beginne - den blichkeiten entsprechend - mit Ab-schnitt:

    1. Vita brevis

    Seneca hat in seiner Schrift De brevitate vitae die Klagen ber die Krze unseres Lebens zurckgewiesen. Unser Le-ben - meinte er - ist nicht kurz, sondern wir machen es kurz, indem wir unsere Lebenszeit an Dinge verschwenden, die nicht der Mhe wert sind. Seine Beispiele sind beraus aktuell: Da ist der Patron, der fr seine Klienten von Ter-min zu Termin hetzt und darber sein eigenes Leben ver-git; da ist der Patrizier, der mit seinem Friseur stundenlang darber diskutiert, ob das einzige verbliebene Haar auf sei-nem Kopf zu einer Rechtslocke oder zu einer Linkslocke verarbeitet werden soll. Sie vergeuden ihre Zeit und versu-men ihr Leben: Das Leben ist nicht kurz, sondern wir ma-chen es kurz, durch Zeitvergeudungen. Aber gerade dieses Argument von Seneca - so zutreffend es ist - setzt die Krze unseres Lebens voraus. Htten wir beliebig viel Zeit, knnten wir beliebig viel Zeit vergeuden, ohne Zeit zu ver-

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    lieren; es gbe ja immer wieder neue. Die aber gibt es gerade nicht. Unsere Zeit besteht eben nicht aus beliebig viel Zeit, denn unsere Lebenszeit ist endlich, unser Leben ist kurz. Das bedeutet: Zeit ist - als originre Gegebenheit unserer Lebenserfahrung - gerade keine aus dem Unbestimmten ins Unbestimmte weiterflieende gleichfrmige Folge von Ge-genwarten (also auch keine Dauer a la Bergson), der es egal ist, ob einer von uns eine Strecke und welche Strecke er in ihr besetzt, sondern die Zeit ist endlich: sie wird immer we-niger, sie verrinnt, luft ab und aus, und niemand von uns kann sie anhalten und festhalten und ihren Schwund stop-pen. Die Zeit ist primr unsere Lebenszeit: sie ist, als die Zeit, die wir (bis zu unserem Tode) noch haben, stets nur derjenige knappe Aufschub, der uns noch gewhrt ist und bald - nach kurzer Frist - nicht mehr gewhrt sein wird; denn jedermanns gewisseste Zukunft ist sein Tod. Zeit ist also - entsprechend der wichtigsten Zeiterfahrung, die wir machen - endlich: Zeit ist Frist, und wir Menschen wissen das, denn wir sind zum Tode. Das - diese Endlichkeitser-fahrung unserer Zeit - ist kein nur subjektives Zeiterleb-nis; vielmehr: verglichen mit der objektiven und mebaren Weltzeit - die wir brauchen mindestens als Ferien von der Frist, als Entlastung von der Endlichkeit, als Urlaub vom Sein zum Tode - verglichen mit dieser objektiven und me-baren Weltzeit ist unsere todes begrenzte Lebensfrist die re-alere Zeit, weil wir sie selber wirklich durchleben und durchsterben mssen. Diese Zeit ist knapp: die knappste al-ler knappen Ressourcen ist unsere Lebenszeit. Wir kommen spt und gehen frh, und die Strecke dazwischen, die unser Leben ist, ist, wie lang sie auch sein mag, kurz. Denn wir Menschen sind stets Sptgeborene; wo wir anfangen ist nicht der Anfang: wir fangen nicht ab ova an, sondern a ga-lina (als Hermeneutiker, das merken Sie, bin ich bei der Frage nach Henne und Ei kein Ovist, sondern Galinist); und unser Tod, wie lang er auch zgert, kommt immer all-zubald. Wir sind geworfen, also geboren ins Sein zum

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    Tode, oder (um es diesseits aller existenzialistischen Em-phase zu sagen): Wie die Natalitt betrgt auch die Mortali-tt in der menschlichen Gesamtpopulation nach wie vor durchschnittlich 100 Prozent. Anders formuliert: Das menschliche Leben ist kurz, vita brevis.

    Es ist - darauf mchte ich nunmehr genauer hinweisen -stets so kurz, da es uns bestimmte temporale Lebensfor-men aufzwingt, vor allem jene Zeitverfassung, die ich nen-nen mchte: das temporale Doppelleben. Denn - wenn ich es richtig sehe - aus der Krze unseres Lebens folgt minde-stens dreierlei.

    Erstens: unsere Zeit ist Frist, das Leben ist kurz; darum knnen wir nicht beliebig lange warten, sonst verpassen wir unser Leben, denn unsere Zukunft ist - todesbedingt -kurz. So mssen wir also ungeduldig sein und eilen. Was wir - verndernd, verbessernd - an Neuem erreichen wol-len, mssen wir schnell erreichen. Wir mssen es schneller erreichen als der schnelle Tod uns erreicht, sonst erreichen wir es gar nicht. So gilt: Die Krze unseres Lebens - also da unsere Zeit endlich, da sie Frist ist - zwingt uns Men-schen zur Schnelligkeit.

    Zweitens: unsere Zeit ist Frist, das Leben ist kurz; darum knnen wir nicht beliebig viel Neues erreichen, uns fehlt-ganz elementar - die Zeit dazu; denn unser Tod - wie lange er auch zgert - kommt einfach zu schnell fr zu viele In-novationen. Das limitiert unsere Vernderungsfhigkeit -unsere Schnelligkeit - und bindet uns dadurch so fest an un-sere Vergangenheit, also an das, was wir schon waren und sind, da wir ihr nicht in beliebigem Umfang enteilen kn-nen. Weil wir - sozusagen - nicht beliebig schnell und nicht beliebig weit aus unserer Herkunftshaut hinausknnen, bleiben wir trotz aller Schnelligkeit langsam, so da gilt: Die Krze unseres Lebens - also da unsere Zeit endlich, da sie Frist ist - zwingt uns Menschen zur Langsamkeit.

    Drittens: unsere Zeit ist Frist, das Leben ist kurz; darum haben wir nicht die Wahl, ob wir schnell oder langsam le-

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    ben wollen, sondern wir mssen - unvermeidlicherweise -stets beides: schnell leben und langsam leben, Eiler und Z-gerer sein. Unsere Lebenskrze - die Endlichkeit unserer Lebenszeit - zwingt uns dazu, und das ist - meine ich - gut so; denn dieses temporale Doppelleben schtzt uns - als eine Art Gewaltenteilung der Zeit - vor temporalen Gleich-schaltungen: davor, nur - zukunftshungrig - schnell oder nur - herkunftsdominiert - langsam zu leben. Das gilt fr die Zeit jedes Menschen, und es gilt ebenso fr die moderne und gegenwrtige Zeit, die beides forciert: unsere Schnellig-keit und unsere Langsamkeit. Dadurch scheint sie uns zwar zu zerreien; aber gerade das mssen wir aushalten. Wir mssen - auch und gerade in der modernen Welt - beides leben, unsere Schnelligkeit und unsere Langsamkeit, unsere Zukunftsbegierde und unsere Herkunftsbezogenheit, sonst leben wir unser Leben nur halb. Dazu einige Hinweise in den beiden folgenden Abschnitten, zunchst - presto - im Abschnitt:

    2. Forcierung der Schnelligkeit

    Die Menschen - das ist die eine Seite ihres temporalen Dop-pellebens - sind durch ihre Lebenskrze - dadurch, da ihre Zeit endlich, da sie Frist ist - zur Schnelligkeit gezwungen. Die moderne Welt forciert diese Schnelligkeit. Sie verstrkt die Schnelligkeit so sehr, da dadurch die menschliche Langsamkeit besiegt zu werden und abzusterben scheint: Jetzt scheint allein das schnelle Leben brigzubleiben.

    Darum erfhrt sich - vor allem Reinhart Koselleck hat das begriffs geschichtlich gezeigt - die moderne Welt tempo-ral zunehmend als beschleunigter Proze: sie wird - durch ,. Verzeitlichung - zur Fortschrittswelt, deren Innovations-tempo wchst und deren Veraltungsgeschwindigkeit zu-nimmt, und zwar immer mehr; philosophisch hat das vor allem Hermann Lbbe geltend gemacht. Mglich wird diese

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    Steigerung der Vernderungs schnelligkeit durch ein spezi-fisch modernes Verfahren, nmlich durch die methodische Neutralisierung der menschlichen Langsamkeiten, vor al-lem der Traditionswelt. Die Modernisierungskrfte des Fortschritts operieren traditions neutral: Nur so - traditi-onsneutral- kann die moderne Naturwissenschaft (weltein-heitlich messend und experimentierend) immer schneller zu traditionsunabhngig berprfbaren Ergebnissen kommen; nur so - traditionsneutral - kann die moderne Technik ge-wachsene Traditionswirklichkeit immer schneller durch ar-tifizielle Funktionswirklichkeiten ersetzen; nur so - tradi-tionsneutral - kann die moderne Wirtschaft ihre Produkte immer schneller zu Waren des weltweiten Handels machen; nur so - durch traditionsneutrale Kommunikationssy-steme - kann die moderne Informationstechnologie immer schneller immer mehr Informationen global kommunizier-bar machen. Die moderne Fortschrittswelt ist Neutralisie-rungswelt: je konsequenter die Herkunftstraditionen - die menschliche Langsamkeiten sind - methodisch neutralisiert werden, desto schneller wird der Fortschritt, so da gerade dadurch eintritt: Die Menschen werden das, was Men-schen - getrieben durch die Endlichkeit ihrer Zeit, die Krze ihres Lebens - ohnehin sein mssen, modern in zu-nehmend verstrktem Mae, nmlich schnell, als immer schnellere Menschen in einer immer schnelleren Welt.

    Unbestreitbar bringt diese schnelle Welt uns Lebensvor-teile. Zugleich aber leben wir nicht behaglich in dieser im-mer schnelleren Neutralisierungswelt, die im brigen dazu neigt, das Neutralisierte auszurangieren: es zu vergessen oder wegzuwerfen, und zwar mit wachsender Fortschritts-geschwindigkeit in wachsendem Mae. Darum kommen wir mit dem Vernderungstempo dieser modernen Neutralisie-rungswelt - die sich zur Vergessensgesellschaft und Weg-werfgesellschaft steigert - immer weniger mit. Die Zeitkri-tiker - unsere Jammerathleten und Kassandren vom Dienst - beklagen das, ihrerseits mit zunehmender Emp-

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    rungsgeschwindigkeit: Sie halten - in bezug auf die mo-derne, die brgerliche Welt - die Wacht am Nein. Die einen wollen ihr die Schnelligkeit verbieten, die anderen die Lang-samkeit; in beiden Fllen wird der Mensch - der zeitknapp-heitsbedingt schnell >und< langsam sein mu - halbiert und seine Welt wird zur Halbwelt und seine Zeit wird zur Halb-zeit. Darum kommt es - zwecks Kritik der lamentierenden Halbvernnfte: also um die Halbierung der Wahrnehmung der modernen Welt und der modernen Menschen zu ver-meiden - darauf an, in dieser wandlungsbeschleunigten Welt nicht nur den schnellen, sondern auch den langsamen Menschen zu bemerken. Das versuche ich - lento - im Ab-schnitt:

    3. Kompensatorische Langsamkeit

    Denn - das ist die andere Seite ihres temporalen Doppelle-bens - die Menschen sind durch ihre Lebenskrze - da-durch, da ihre Zeit endlich, da sie Frist ist - zugleich zur Langsamkeit gezwungen. Die moderne Welt aber verndert sich schnell und immer schneller. In dieser schnellen - stn-dig neu und dadurch stndig fremd werdenden - Welt ms-sen die Menschen (endlichkeitsbedingt) dennoch langsam, herkunftsbezogen und in vertraut bleibenden Verhltnissen leben. Wie kann das gelingen?

    Ein sinnenflliges Beispiel, wie man das - dieses Mitneh-men der eigenen Langsamkeit ins Schnelle - macht, liefern uns die ganz jungen Kinder. Sie - fr die die Wirklichkeit unermelich neu und fremd ist - tragen ihre eiserne Ration an Vertrautem stndig bei sich und berall mit sich herum: ihren Teddybren. Kinder kompensieren ihr Vertrautheits-defizit durch Dauerprs~.nz des Vertrauten: durch - wie Freud das nannte - ein Ubergangsobjekt, ein transitional object, beispielsweise durch ihren Teddybren. In der wand-lungsbeschleunigten und ebendadurch stets aufs neue un-

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    vertrauten und fremd werdenden modernen Welt brauchen und haben auch die Erwachsenen - etwa die Bildungsbeflis-senen unter ihnen - ihre Teddybren, z. B. indem sie Klassi-ker mit sich fhren: die, bei denen man immer schon zu wissen glaubt, woran man mit ihnen ist; und so kommt man dann etwa: mit Goethe durchs Jahr; mit Beethoven durch Bonn; mit Habermas durchs Studium; mit Reich-Ranicki durch die Gegenwartsliteratur; und so fort.

    Das gilt allgemein: Je schneller die Zukunft modern fr uns das Neue - das Fremde - wird, desto mehr Vergangen-heit mssen wir - teddybrgleich - in die Zukunft mitneh-men und dafr immer mehr Altes auskundschaften und pflegen. Darum wird gegenwrtig zwar mehr vergessen und weggeworfen als je zuvor; aber es wird gegenwrtig auch mehr erinnert und respektvoll aufbewahrt als je zuvor: Das Zeitalter der Entsorgungsdeponien ist zugleich das Zeitalter der Verehrungsdeponien, der Museen, der Naturschutzge-biete und Kulturschutzmanahmen: der Denkmalpflege, der Hermeneutik als Altbausanierung im Reiche des Gei-stes, der kologie, der erinnernden Geisteswissenschaften. Weil die Menschen in der modernen - der wandlungsbe-schleunigten und dadurch zunehmend diskontinuierlichen-Welt ihre Kontinuitt besonders schtzen mssen, entsteht gerade und nur in ihr der historische Sinn, der mehr als die Vernderlichkeit von Wirklichkeiten die Grenzen dieser Vernderlichkeit erfhrt: Der historische Sinn ist - wenn ich das richtig sehe - vor allem der Sinn fr Kontinuitten, fr Langsamkeiten. Das gilt auch fr den sthetischen Sinn, zu dem es ebenfalls erst in der modernen Welt kommt, kom-pensatorisch zu ihren wachsenden Schnelligkeiten: Wichti-ger als das - im brigen ganz und gar unverzichtbare - In-novatorische ist auch und gerade bei der modernen, der s-thetischen Kunst, da sie sehr langlebig sensibilisiert und orientiert. Wenn Kunstwerke uns erst einmal fr sich einge-nommen haben, werden wir sie nicht oder nur sehr langsam wieder los. So kommt in die wandlungs beschleunigte, die

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    schnelle Welt die Langsamkeit hinein, die die Menschen in ihr brauchen. Vor allem aber sind da die Traditionen, die -ungeachtet ihrer Neutralisierung zugunsten der modernen, der schnellen Rationalisierungen - in der modernen Welt begrenswert bunt und vielgestaltig - sozusagen multikul-turell - und dadurch individualittsfreundlich vorhanden sind: in der Regel intakter, als wir es wahrhaben wollen. Unter ihnen haben alte blichkeiten einen besonderen Vor-teil: Gerade in einer Welt mit hoher Innovationsgeschwin-digkeit sind alte Lebensformen am wenigsten veraltungsan-fllig, weil sie schon alt sind. Mit einem Satz: die modernen Menschen bleiben - trotz der modern zunehmenden Schnelligkeit - das, was die Menschen - limitiert durch die Endlichkeit ihrer Zeit, die Krze ihres Lebens - ohnehin bleiben mssen, nmlich langsam; denn die modernen Men-schen - gerade sie - kompensieren die wachsende Schnellig-keit durch Langsamkeitspflege, durch Bewahrungskultur.

    Dabei kann die Fortschrittsschnelligkeit selber in den Dienst der menschlichen Langsamkeit treten. Wer schnell ist, gewinnt Zeit; und die so gewonnene Zeit kann als Mg-lichkeit genutzt werden, sich Zeit zu lassen, also nicht schnell sein zu mssen, sondern langsam zu leben. So erff-net z. B. die aus der Steigerung der Produktionsschnellig-keit resultierende Arbeitszeitverkrzung - von der tgli-chen ber die wchentliche und jhrliche bis zur Gesamtle-bensarbeitszeitverkrzung - dem modernen Menschen die Chance, nicht mehr nur schnell, sondern zugleich auch langsam zu leben. Im brigen gehrt zum wachsenden Ver-altungstempo der modernen Welt das wachsende Tempo der Veraltung auch ihrer Veraltungen. Je schneller das Neu-este zum Alten wird, desto schneller kann Altes wieder zum Neuesten werden: jeder wei das, der nur ein wenig lnger schon lebt. Darum darf man sich beim modernen Dauerlauf Geschichte - je schneller sein Tempo wird - zugleich unauf-geregt berholen lassen und warten, bis der Weltlauf - von hinten berrundend - wieder bei einem vorbeikommt. Im-

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    mer hufiger gilt man dann bei denen, die berhaupt mit Avantgarden rechnen, vorbergehend wieder als Spitzen-gruppe: So wchst - aufgrund der Wandlungsbeschleuni-gung in beschleunigtem Mae - modern gerade durch Langsamkeit die Chance, auf der Hhe der Zeit zu sein. Die Menschen: was sie in dieser schnellen und immer schneller werdenden modernen Zeit zugleich mssen, das knnen sie darum auch; nmlich langsam leben.

    Meine Betrachtungen ber die Endlichkeit der Zeit be-ende ich im abschlieenden Abschnitt:

    4. Multitemporalitt

    Die Menschen - das ist ihr temporales Doppelleben - sind zugleich zur Schnelligkeit und zur Langsamkeit gezwungen. Das hatte ich im ersten Abschnitt angedeutet. Im zweiten Abschnitt hatte ich betont: Gerade die modernen Menschen leben zunehmend schnell. Im dritten Abschnitt hatte ich be-tont: Gerade die modernen