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II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung A. AUSWEITUNG UND DIFFERENZIERUNG DER WIRTSCHAFTSWELT 1. Zur Stellung des Hochmittelalters in der AgRAR- und wirtschaftsgeschichte In IA 2 (oben S. 3) wurde M. Blochs [433] Stichwort von der „Revolution econo- mique du second äge feodal" aufgenommen. Als Forscher steht Bloch mit den Vätern der „Annales" (M. Erbe, Zur neueren französischen Sozialgeschichtsfor- schung. Die Gruppe um die ,Annales', 1979) nach oder neben K. Lamprecht, R. Kötzschke, H. Pirenne, A. Dopsch, H. Aubin u. a. in einer Ahnenreihe, die über ökonomische Geschichtslehren des 19. Jh. bis zur Zivilisationsgeschichts- schreibung der Aufklärung hinaufreicht. Ihre Erben wirkten zuerst in wissen- schaftlichen Schulen, die auf Landes- oder Regionalgeschichte aufbauten (I. Veit- Brause, The place of local and regional history in German and French historio- graphy: some general reflections, in: Australian Journal of French Studies 16, 1979, 447 ff.; F. Irsigler, Zu den gemeinsamen Wurzeln von ,histoire regionale comparative' und vergleichender Landesgeschichte' in Frankreich und Deutsch- land [in: 435]); sie unterstellten die Gleichwertigkeit historischer Methoden und erhoben Synthese aller geschichtlichen Lebensgebiete zum Programm. Fossier ist mit seinem zweibändigen Werk „Enfance de l'Europe" [285] als ein herausra- gender Autor unter den Erben der „Annales" ausgewiesen. „Marc Bloch aujourd'hui" [435] war 1986 ein Tagungsthema, unter dem alle historischen Diszi- plinen hätten Orientierung suchen können. A.Burguiere nannte als Hauptthe- men des internationalen Kolloquiums: „les representations du pouvoir, l'histoire rurale, le comparatisme, l'histoire des techniques, l'histoire sociale, l'histoire des mentalites et ce que l'on designe aujourd'hui, dans le prolongement de la voie tra- cee par Marc Bloch, sous le nom d'Anthropologie historique" (S. 12). Die Bewertung des 11. / 12. Jh. als einer wirtschaftsgeschichtlichen Schwellen- Stadt und Land: zeit Europas wird damit begründet, daß der Anteil städtischer Bewohner an der P'R™ne-Bloch Gesamtbevölkerung absolut wie relativ zu anderen Bevölkerungsgruppen vom 11. bis 13. Jh. angestiegen ist, daß agrarische Produkte wie Getreide, Wolle und Wein zu Großhandelswaren geworden, überregionale Wirtschaftssysteme for- miert und damit Politik und Wirtschaft in ein neuartiges Verhältnis zueinander gerückt worden sind. Aus einer äußerst produktiven Gelehrtengeneration, die Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Librar Authenticated Download Date | 10/19/14 1:44 AM

[Oldenbourg Grundriss der Geschichte] Kirchenreform und Hochmittelalter 1046–1215 Volume 7 || A. AUSWEITUNG UND DIFFERENZIERUNG DER WIRTSCHAFTSWELT

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II. Grundprobleme und Tendenzen der ForschungA. AUSWEITUNG UND DIFFERENZIERUNG

DER WIRTSCHAFTSWELT

1. Zur Stellung des Hochmittelaltersin der AgRAR- und wirtschaftsgeschichte

In IA 2 (oben S. 3) wurde M. Blochs [433] Stichwort von der „Revolution econo-

mique du second äge feodal" aufgenommen. Als Forscher steht Bloch mit denVätern der „Annales" (M. Erbe, Zur neueren französischen Sozialgeschichtsfor-schung. Die Gruppe um die ,Annales', 1979) nach oder neben K. Lamprecht, R.Kötzschke, H. Pirenne, A. Dopsch, H. Aubin u. a. in einer Ahnenreihe, dieüber ökonomische Geschichtslehren des 19. Jh. bis zur Zivilisationsgeschichts-schreibung der Aufklärung hinaufreicht. Ihre Erben wirkten zuerst in wissen-schaftlichen Schulen, die auf Landes- oder Regionalgeschichte aufbauten (I. Veit-Brause, The place of local and regional history in German and French historio-graphy: some general reflections, in: Australian Journal of French Studies 16,1979, 447 ff.; F. Irsigler, Zu den gemeinsamen Wurzeln von ,histoire regionalecomparative' und vergleichender Landesgeschichte' in Frankreich und Deutsch-land [in: 435]); sie unterstellten die Gleichwertigkeit historischer Methoden underhoben Synthese aller geschichtlichen Lebensgebiete zum Programm. Fossierist mit seinem zweibändigen Werk „Enfance de l'Europe" [285] als ein herausra-gender Autor unter den Erben der „Annales" ausgewiesen. „Marc Blochaujourd'hui" [435] war 1986 ein Tagungsthema, unter dem alle historischen Diszi-plinen hätten Orientierung suchen können. A.Burguiere nannte als Hauptthe-men des internationalen Kolloquiums: „les representations du pouvoir, l'histoirerurale, le comparatisme, l'histoire des techniques, l'histoire sociale, l'histoire desmentalites et ce que l'on designe aujourd'hui, dans le prolongement de la voie tra-cee par Marc Bloch, sous le nom d'Anthropologie historique" (S. 12).Die Bewertung des 11. / 12. Jh. als einer wirtschaftsgeschichtlichen Schwellen- Stadt und Land:

zeit Europas wird damit begründet, daß der Anteil städtischer Bewohner an der P'R™ne-Bloch

Gesamtbevölkerung absolut wie relativ zu anderen Bevölkerungsgruppen vom

11. bis 13. Jh. angestiegen ist, daß agrarische Produkte wie Getreide, Wolle undWein zu Großhandelswaren geworden, überregionale Wirtschaftssysteme for-miert und damit Politik und Wirtschaft in ein neuartiges Verhältnis zueinandergerückt worden sind. Aus einer äußerst produktiven Gelehrtengeneration, die

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der Agrar- und Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters ein neues Profil verliehenhat, ragen der Belgier H. Pirenne und der Franzose M. Bloch durch besondereFähigkeit zur Synthese heraus. Pirenne entwickelte die Hauptlinien der Wirt-schafts- und Sozialgeschichte des 11./12. Jh. [205] aus der „Renaissance du com-

merce" und dem „Renouveau de la vie urbaine" sowie den „Transformations dePagriculture". In Blochs Verständnis des Mittelalters behielt hingegen die Agrar-geschichte den Vorrang. Als einer der führenden Schüler Blochs erklärte Duby[735] die genossenschaftlichen Bewegungen des Hochmittelalters primär aus derBevölkerungsvermehrung auf dem Lande und der Neulandgewinnung und erst

die von den italischen Kommunen ausgegangene Forcierung der Bewegungen aus

den Veränderungen der Wirtschaftsgeschichte. Dem PiRENNEschen Primat desFernhandels blieb hinwiederum Lopez verpflichtet, wenn er die Rolle der itali-schen Städte in der ..Commercial revolution of 950-1350" [384] mit derjenigender englischen Städte in der industriellen Revolution des 19. Jh. verglich. AlsAnschauungsmaterial dienten Pirenne in der Hauptsache die flandrischenStädte. Die von Ch. Verlinden vertretene Auffassung [426], in Flandern habedie Einführung des mechanischen Webstuhls mit Pedalen den Aufschwung derStädte wesentlich mitgetragen, ergänzt die PiRENNEsche These. In diese Diskus-sion fügt sich als Illustration der Rückgang der grundherrlichen Gynäzeen im11. /12. Jh., durch den Tuchfabrikation zur Männersache und die Frau um einenBeruf ärmer gemacht wurde [454: Herlihy].

Genese der Städte Zusammenfassungen neuerer Vorstellungen von den Anfängen des nachanti-ken Städtewesens haben in regionaler [361: A. Verhulst betr. Nordwest-Europa] und okzidentaler [352: Stoob] und selbst in eurasischer [350: Goehrke]Perspektive vieles gemeinsam. Das Gemeinsame interessiert hier zunächst,soweit es die funktionale Trennung von Stadt und Land gewissermaßen unterhalbdes Begriffs von der europäischen Stadt als „Rechtsstadt" (vgl. unten, S. 139) pro-blematisiert. Der Horizont Goehrkes istweit, wenn er eine „erstaunliche Gleich-zeitigkeit" der Urbanisierungsphasen „im größten Teil Eurasiens" ausmacht unddie Urbanisierung als Teil der inneren Konsolidierung des weiten Raumes nachJahrhunderten der Wanderungen versteht. Regional gewinnt demgegenüber auchKontinuität städtischer Siedlungen, sowohl die vom späten Altertum zum frühenMittelalter als auch die über die Normanneneinfälle des 9./10. Jh. hinweg, an

Gewicht zur Erklärung. Allgemein aber wird in der Beurteilung der Kontinuitäts-träger wie der traditionslosen präurbanen Siedlungen an Handelsplätzen oder beiBurgen der wirtschaftliche Bedarf am Ort (Markt und Industrie) und weniger diefeudale Schutzleistung für die Entwicklung zur „(Voll-)Stadt" als ursächlich her-vorgekehrt; und generell

-

nicht nur nach marxistischer Interpretation-

gilt, daßohne die „arbeitsteilige" Verbindung von Stadt und Hinterland auch der Fernhan-del keine Stadt hätte entstehen lassen. Gegenteilige Auffassungen wurden nachBefunden des slawisch-warägischen Raumes vorgetragen [Filipowiak betr. Wol-lin, in: 349, II 190 ff.; Rüss betr. die Städte am Wasserweg „von den Warägern zu

den Griechen", in 1372: Handb. d. Gesch. Rußlands I 376]; ihnen kann man mit

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A. Ausweitung und Differenzierung der Wirtschaftswelt 91

einem weiter gefaßten Begriff von Hinterland entgegentreten, davon abgesehen,daß auf das werdende Wollin hin ein Teilstamm geeint wurde, der den Zugang zurStadt sicherte [1366: Leciejewicz, Gli Slavi occidentali S. 191]. Die angedeuteteKritik ist allerdings kein Spezifikum außersowjetischer Rußlandforschung, dashat Mühle [1375, S. 5-15] in seinem Forschungsbericht über „Stadtbegriff undStadtentstehung in der alten Rus'" deutlich gemacht. Mängel der (ehedem) sowje-tischen Forschung konstatiertMühle aber insbesondere darin, daß sie nicht nachden Auswirkungen von Herrschaftsbildung und Christianisierung für die Geneseder altrussischen Städte gefragt habe.Die 2. Auflage des zentralen Bandes der CEHE [202] über „Trade and indu- Neue Handbücher

stry" besticht mit den überarbeiteten wie mit den neuen Beiträgen, die Osteuropa(Gieysztor), Geldgeschichte (Spufford) und den Handel mit Asien und Afrika(Abulafia) betreffen. Das erste deutschsprachige, unter der Leitung von Kellen-benz aber international erarbeitete „Handbuch der europäischen Wirtschafts-und Sozialgeschichte" [203: HEWSG] ist in der Aufarbeitung der Fachliteraturgewiß vorbildlich, in der Darstellung großer Zusammenhänge allerdings oft naiv.Objektiv bleibt auch die Anordnung der Stoffülle als Summe von „nationalen"Wirtschaftsgeschichten ein Mangel, und die römische Kurie [865: Pfaff] kommtzu kurz. Immerhin zieht die Einleitung, mit der van Houtte als Herausgeber desMittelalterbandes den Benutzer in die gesamte Materie einführt, Konturen derGesamtentwicklung aus. Den einfacheren, freilich auf wenige Hauptthemenbegrenzten und von aller Ereignisgeschichte abgehobenen Durchblick findenNichtSpezialisten in der vonCipolla betreuten „FontanaWirtschaftsgeschichte"[204]. Der sehr persönliche Duktus prominenter Autoren vermittelt bezeich-nende Einblicke in moderne Bemühungen, die mittelalterliche Gesellschaft als insich zusammenhängende Struktur zu verstehen.

-

Das von F.W. Henning erarbei-tete „Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands" (Bd. I,1991) ist

-

zumindest mit den das Hochmittelalter betreffenden Teilen -allenfallseine Ergänzung zu dem älteren, von Zorn betreuten Gegenstück [206].

2. Raum und Klima

Ökumene ist die bewohnte und bewirtschaftete Erde, das Land im Gegensatz zur Land und Unland

Wildnis, zum „Unland". Uber „Land und Unland" im Weltbild des Mittelaltersund als prägende Faktoren mittelalterlicher Mentalität handelt eine originelle Stu-die von Berges [286]. Der tiefste Eingriff in die europäische Landschaft seit demNeolithikum, die europaweite Attacke auf das „Unland" und die „Kolonisation"über alle Grenzen hinaus, hat auch das Denken über die Natur verändert. InBlochs Vorstellungen von der „Revolution economique" war diese „Expan-sion" fundamental. Moderne Klimaforschung [294: Lamb] kehrt aber auch her-vor, daß eben diese Periode, „in der die Kathedralen des Mittelalters erbaut wur-den", mit einerWarmphase zusammenfalle, deren positive Auswirkungen u. a. inder Vergrößerung der Getreide- und Weinbaugebiete (in größerer Höhe, Minde-

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92 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

rung der Frostrisiken) oder der Intensivierung des Bergbaus (Absinken desGrundwassers, Nutzung von Gletscherschmelzen) gesehen werden.

Siedlung und Kolo- Handbuchartige Aufstellungen über die Landerschließung bietet der „Bevölke-msation mtigs-Ploetz" [290]. Hauptsächlich von der älteren deutschen Forschung

gespeist, aber auf Europa und das Mittelalter insgesamt gerichtet, war der wohlerste Versuch zu einem Abriß über ..Settlement and Colonization" des ehedemBreslauer, dann Jerusalemer Historikers R. Koebner [202: CEHE I]. In dieneuere Forschung über die europäischen Siedlungsbewegungen leiteten zwei Sam-melbände über, von denen einer dem herausragenden französischen Siedlungshi-storiker [321: Higounet], der andere dem Konstanzer Arbeitskreis für mittelal-terliche Geschichte aus einer Initiative von Schlesinger [324] verdankt wird.Der europäische Horizont ist bei Fossier [285,1 B.C] abgesteckt; ein Musterbei-spiel einer regionalen Siedlungsgeschichte wurde von Schulze vorgelegt [1284:Mark Brandenburg]. Methodisch noch einmal in Neuland vorgestoßen ist das„Havelland-Projekt", das die Uberlagerung slawischer Bevölkerung in der Ost-siedlung mit allen möglichen Fragen angeht [1285]: nach Herkunft und Entwick-lung des Adels, nach den Verhältnissen zwischen slawischem, präkommunalemStädtewesen und hochmittelalterlicher Rechtsstadt, nach der Bedeutung des slawi-schen Elements in Wirtschaftsweisen und Sozialstruktur u. a. Als Beispiel fürEroberung und Überlagerung der (griechischen) Bevölkerung durch eine neue

Klasse zentraleuropäischer Landbesitzer ist das Königreich Zypern unter demHause Lusignan aufgearbeitet [1454: Edbury].Der Bogen der Bewegung spannt sich von den frühesten innerspanischen repo-

blaciones des 8. / 9. Jh. [Claude in: 324] bis zur Siedlung des 13. Jh. im Baltikum.Die sozialen und rechtlichen Auswirkungen des Siedeins sind erheblich [373:Medieval frontier societies]. Vom Begriff der „ostdeutschen Kolonisation" derälteren grundlegenden Forschung (Kötzschke

-

Ebert) oder auch der „Ostbe-wegung" (Aubin) ist die Nachkriegszeit abgerückt. Auf den Reichenautagungender Jahre 1970/72 wurde die „Deutsche Ostsiedlung" vergleichend als ein „Pro-blem der europäischen Geschichte" angegangen, und als solche sucht sie im „allge-meinen Geschichtsbewußtsein" [325: Boockmann] Platz zu finden. Segl [212]gibt dennoch

-

auch in Abwägung der einschlägigen Forschung in der ehemali-gen DDR

-

dem Begriff „Ostexpansion" den Vorzug, weil dieser der Komplexi-tät des Gesamtvorganges besser gerecht werde; vgl. auch die Diskrepanz zwi-schen französischem Titel und dem der deutschen Übersetzung in dem Orientie-rung gebenden Buch von Higounet [323].

3. Demographie-

Technikgeschichte-

Metrologie-

Realienkunde

Ausweitung und Neugestaltung der europäischen Kulturlandschaft werden inder Hauptsache aus der „Bevölkerungsexplosion", die Verbesserung der Lebens-bedingungen wird aus neuen technischen Möglichkeiten erklärt. Auf dem For-

Bevölkerungsver-mehrung und techni-

sche Erfindungen

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schungsstand von 1941 gab es für Koebner [202: CEHE I 71] „no decisive evi-dence for the view that the age of great clearings was conditioned by an unusualgrowth of population, a revolution demographique", und es verbieten sich auchheute noch Verallgemeinerungen der Befunde [sehr ausgewogen 322: Higou-net]. Abwanderung in die Stadt oder nach Osten [362: Epperlein] ist kein siche-res Indiz für absolute Bevölkerungsvermehrung. Als Determinante der wirt-schaftlichen Entwicklung sind „Population movements" am besten für Englandgesichert [H.E. Hallam in: 327, Chapter 5]. Die Picardie ist ein Beispiel dafür,daß die Bevölkerungsvermehrung der Kolonisation erst folgte [329: Fossier].Die demographische Erklärung des incastellamento im Kirchenstaat durch Tou-bert [1223; dazu auch K. Pomian in: 213, S. 529 ff.] wurde von H. Hoffmanndahingehend bewertet, daß sie die Bevölkerungsvermehrung zu so etwas wie dendeus ex machina mache [QFIAB 57, 1977, 42].Einführungen in die Probleme der „demographie sans chiffres" [285: Fossier I

92] und der Technikgeschichte auch des frühen und hohen Mittelalters bieten J.C.Russell und L. White jr. in der Fontana Wirtschaftsgeschichte [204; vgl. auch290, insb. Fossier]. Russells Schätzungen für den europäischen Raum, der ein-schließlich des europäischen Rußland heute gegen 650 Millionen Menschen zählt,laufen für die Jahrtausendwende auf 38, für 1200 auf 60 und für 1340 auf 73 Millio-nen hinaus und rechnen dann mit einem Absinken nach der großen Pest auf etwa50 Millionen (bis 1450). Gesicherte statistische Aufstellungen über das 11./12. Jh.gibt es nur für England (vgl. S. 185)

-

hier sogar mit ethnischen und sozialen Klas-sifizierungen [292: Fuchs]. Mit 200 000 Neusiedlern jenseits von Elbe und Saalerechnete W. Kuhn bereits für das 12. Jh.; damit könnten die Zahlen bei Blaschke[326, S. 80 f.] vereinbar sein. Die im Mittelalter höchste Dichte von 80 Menschenpro km2 wurde in der Lombardei und in der Toskana erreicht [333: Beloch].Genauere Einblicke in die Sozialstruktur einer Städtelandschaft nördlich derAlpen sind vor dem 13. Jh. nicht möglich; vgl. die von Nicholas [331] für Flan-dern vorgelegte Fallstudie. Uber das ganze Mittelalter aber behielt die ländlicheBevölkerung einen Anteil von mehr als 80%. Im 11./ 12. Jh. scheint sich ein Über-gewicht der Jugend herausgebildet [G. Duby, Les ,jeunes' dans la societe aristocra-tique, in: 445] und erstmals einen „Frauenüberschuß" im Gefolge gehabt zu

haben. Es ist auch plausibel, daß sich mit der Bevölkerung die Ernährung differen-zierte (M. Montanari in: LMA III 2163 f.) und die Armut vermehrte [L.K.Little, Evangelical poverty, the new money economy and violence, in: 533; auch537]. Vertiefung der demographischen Forschung wurde zuletzt in fächerüber-greifende Diskussionen über „Umwelt" [298] und andere „Determinanten derBevölkerungsentwicklung" [291] gerückt. In die sehr abstrakten Aufstellungenkönnen auch so interessante Bücher wie das über die Verkürzung der kirchlichverordneten Tabu-Zeiten sexuellen Verkehrs [293: Flandrin] kaum einen Kausal-nexus einbringen. Von ganz anderem Zuschnitt ist ein Sammelband über den„Wald" [299], der nach einem grundlegenden Referat von A. Gerstenhauerüber „Die Stellung des Waldes in der deutschen Kulturlandschaft des Mittelalters

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und der frühen Neuzeit" auch rechts-, sozial- und kulturgeschichtliche Themenangeht.Ein weites Forschungsfeld ist das der technischen Erfindungen und Verbesse-

rungen [301: White jr.; 435: Marc Bloch aujourd'hui, darin u. a. der Forschungs-bericht von D. Lohrmann, L'histoire du moulin ä eau, avant et apres MarcBloch]. Den Forschungsstand seiner Zeit (1965) in ein Gesamtbild einzufügen, istvielleicht am besten Le Goff gelungen [169: „Das Hochmittelalter", das sonst einsehr subjektives Buch ist]. Eine ältere bildliche Darstellung des gepolsterten Kum-mets als die bereits von Lefebvre de Noettes aus dem Fiortus deliciamm (c.1170) der Äbtissin Herrad von Hohenburg [40] beigebrachte scheint noch nichtgefunden zu sein. Die Nutzung tierischer Zugkraft [304: Langdon] wie auch derKraft des Windes [307: Kealey] ist neuerlich für England untersucht. Historische

Metrologie Metrologie [302: Witthöft] vermag das 12. /13. Jh. auch nach seinen praktischenHandhabungen von Maß und Gewicht als Zäsur zu erweisen. „Voll genutzt wur-den die Chancen des Dezimalsystems 1171 von dem Paderborner Domdekan Rei-ner in seinem ,Compotus emendatus', einer ebenso bewegenden wie vergessenenGlanzleistung mittelalterlicher Wissenschaft" [303: A. Borst, S. 63].

Realienkunde Realienkunde und Alltagsgeschichte, wesentlich gefördert von einer neu orien-tierten Archäologie (führend der englischen), haben in den letzten zwanzig Jah-ren geradezu einen Boom erlebt. Die „Veröffentlichungen des Instituts für mittel-alterliche Realienkunde Österreichs" unter ihrem Leiter H. Kühnel [z. B. 310]verhelfen zu gutem Uberblick, auch über die Literatur mit ihren Definitions- undAbgrenzungsdebatten; betr. Archäologie und Geschichte [338: de Laet] insbe-sondere auch die

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im Kartenmaterial reichen-

„Actes" eines internationalen Kol-loquiums [339: Archeologie urbaine]. Im deutschsprachigen Raum ist neben demauch für das 12. Jh. ergiebigen Fall Lübeck [G.P. Fehring in: 1396; zuletzt in: 297]die Grabung der Jahre 1977/78 auf dem „Münsterhof in Zürich" [340] an derNahtstelle zwischen karolingischer Abtei und frühstädtischer Flußsiedlung eingutes Beispiel, weil die Befunde einen Friedhof, zwei frühmittelalterliche Holz-häuser sowie drei hochmittelalterliche Steinbauten mit Abfall- und Latrinengru-ben umfassen und von den Verantwortlichen über die Topographie hinaus bemer-kenswerte Erkenntnisse über Lebensweisen und Gerätschaften bei arm und reichsowie über Altersverhältnisse, Ernährung, Krankheit und Tod vorgetragen wur-den. Die Rekonstruktion eines Stadtteilmodells wurde am Beispiel Basel gewagt[P. Lavicka, D. Rippmann, J. Tauber in 288: Siedlungen II]. Mit ihren über 6000stratifizierten und datierten Objekten dürften die Winchester-Grabungen 1961bis 1971 unter Leitung von Biddle [340a] das reichhaltigste Anschauungsmate-rial zur Wirtschafts-, Kultur- und Sozialgeschichte einer mittelalterlichen Stadtbereitgestellt haben.Als quellenkundliche Studie zur Erforschung der Sachkultur fällt die von Din-

zelbacher [312] über die Bewaffnung mit ihrer Bereitstellung literarischer Quel-len auf. Vielfach ausgewiesener Kenner des Schiffbaus ist D. Ellmers [zuletzt in:297]. Das Literaturverzeichnis gibt sodann technikgeschichtliche Hinweise auf

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Salinen und Bergwerke [145; 305: Hägermann-

K.H. Ludwig; 304: Wander-witz], Wassernetze für Mühlenbetrieb und Entwässerung [306: Lohrmann], Rei-segeschwindigkeit (des Königshofes, die im 11./12. Jh. nach wie vor bei 20-35km pro Tag liegt und 50-60 km nur als außergewöhnliche Leistungen kennt [380:Reinke]), Mauerbau [358: Binding] und auf die in der Kriegführung des 12. Jh.vor allem im Mittelmeerraum hochentwickelte Belagerung [309: Rogers].

4. Land und Stadt

Landgewinnung, Burgenbau, Dorfbildung, Stadtentwicklung und -gründung Territorialisierung,erscheinen als Elemente einer Herrschafts-, Siedlungs- und Wirtschaftskonzen- yl^"^™ng und

tration, die im Europa des 11./12. Jh. Züge einer innerlich zusammenhängendenBewegung gewann. Diese Ära politischer Neugliederung Europas gestaltete sichzunehmend auch als ein Kampf um ökonomische Macht, der auf breiterem undniedrigerem sozialen Niveau freigesetzt worden war. Neue Bezugssysteme ent-

standen zwischen Siedlungen mit überwiegend agrarischem (Dorf) und mehrgewerblich-händlerischem Charakter (Stadt). In diesem Prozeß wurde der Hofals herrschaftliche Größe weiterentwickelt. Vielfach war er ein Stadtzentrum,öfter noch entfaltete er sich von einem Kloster oder einer Burg aus, er hatte

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auchals wandernder Hof

-

hinwiederum Pfalzen bzw. Burgen als seine Dependenzenim Land [374: Brühl, Fodrum; 376: Gardelles; W. Schlesinger, Bischofssitze,Pfalzen und Städte im deutschen Itinerar Friedrich Barbarossas, in: 234; F. Arensin: 179, III 129ff.; 377: Repertorium, dazu R. Schieffer]. Ein jüngeres Sammel-werk, das die politischen und kulturellen Zentren einer ganzen Landschaft unter-sucht, wurde von H. Maurer betreut [369: Der Bodensee; darin „bis zur Zeit derStädte" die vielschichtige Studie von K. Schmid]. Die Vielgestaltigkeit in den Ver-bindungen von Herrensitzen mit Kirchen und Klöstern wurde von G. Streich[378] unter dem Oberbegriff „Sakraltopographie" aufgearbeitet; das Opus mußsehr kritisch benutzt werden [Nonn], ist aber ein grundlegendes Werk. Ein Bei-trag von E. Müller-Mertens im Salier-Werk [1109,1] über „Reich und Haupt-orte der Salier" entwirft in einem Vorbericht aus gemeinsam mit W. Huschnerdurchgeführten Untersuchungen eine neue Konzeption von Itinerarforschung,mit deren Hilfe „statt Ortspunkte Gebietsareale" und diese als Fern-und Nahzo-nen der Königsherrschaft zu rekonstruieren seien. Diese sollen als „Stukturen lan-ger Dauer" über die ottonisch-salischen Jahrhunderte hinweg sehr stabil gewesensein.Die von der historischen Geographie herausgearbeiteten Vorgänge sind auf so Verdorfung

einprägsame Begriffsungetüme wie Verdorfung, Vergetreidung und Vermarkungmit Verzelgung gebracht worden. Hinweise darauf finden sich in allen Handbü-chern; in der deutschen Agrargeschichte konkurrierte ein von einer Stadthistori-kerin (Edith Ennen) und einem Siedlungsarchäologen (WalterJanssen) verfaß-ter und demgemäß stärker auf Fundmaterial denn auf schriftliche Quellen bezöge-

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ner Abriß [314] mit den altbewährten Darstellungen von Abel, die nun durchRösener [313] ersetzt sind; vgl. auch Born [316]. Spiegel modernster Forschungüber die Organisation der Landwirtschaft (zwischen Loire und Rhein, Spätantikebis 13. Jh.) ist der Tagungsband „Villa

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Curtis-

Grangia" [317]. Zu beachten ist,daß der in Frage stehende Prozeß weithin erst im 13. Jh. zu vollerWirkung gekom-men ist, daß die Grangienwirtschaft der Zisterzienser anfangs Verdorfunghemmte [320: C. H. Berman; 337: von Boetticher], daß Großgrundbesitz

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ins-besondere geistlicher

-

sich mit dem Vordringen der Geldwirtschaft in ländlicheBereiche regenerieren konnte [334: Herlihy]. In vielen Landschaften sind Einzel-hof und Weiler immer vorherrschend geblieben; und in manchen Zonen haben siesich nach 1200 sogar vermehrt, in Deutschland insbes. westlich der Weser, imMünsterland, auf dem Schwarzwald, im Alpenraum [318: Huppertz]. Orientie-rung auf Siedlungen zeigen hinwiederum die Anlagen von Monokulturen, insbe-sondere als Wein- und Gemüsebau rund um die Städte Frankreichs [381: Dion]und Italiens [382: Pini], sowie die Rindviehzucht in Flandern [322: Lohrmann,der neue Erkenntnisse über Siedlungsgeschichte, Betriebsorganisation und Wirt-schaftsformen aus den Güterlisten in Papsturkunden gewonnen hat].Der Quellenmangel, der für die Erforschung des 13. Jh. anhält, darf nicht zum

Argument gegen die Sache werden. Orts- und Flurnamen, archäologische, heuteauch durch Luftbild ausgemachte Reste, Formen der Dörfer, Fluren und ländli-chen Kirchen erlauben der Wüstungsforschung [Born wie oben; 341: Villagesdesertes; 343: Beresford; vgl. auch A. Haverkamp, HZ Sonderheft 7,1980, 85 ff.betr. Italien; J. Ehlers, HZ Sonderheft 11, 1982, 215 ff. betr. Frankreich] Rück-schlüsse für sonst quellenlose Zeiten [vgl. W. Schlesinger, Archäologie des Mit-telalters in der Sicht des Historikers, in: 234; 734: Dorf der Eisenzeit; 342: W. Jans-sen; 285: Fossier 1191 ff.]. Hinweise auf die archäologischen Beiträge zum Salier-werk [vor allem: 288] und erste Bewertungen finden sich bei Borgolte [s. unter1109, S. 464 ff.]. Einzigartig nach seiner Uberlieferung und demgemäß in der For-schung steht Domesday-England da [M.M. Postan in: 202, CEHE I 548 ff.; 327:Hallam]. Auf dem Kontinent vermitteln Urkundenüberlieferungen allerdingsebenfalls gute und z.T. viel weiter hinaufreichende siedlungs- und wirtschaftsge-schichtliche Erkenntnisse, beispielhaft so großer Abteien wie Farfa [1223: Tou-bert], St. Gallen [335: Rösener] oder St. Bavo in Gent [336: A.E. Verhulst].Aus Materialien der Kapitelsarchive von Lucca und Arezzo (u. a.) konnten ineiner auch methodisch anregenden „Landesgeschichte" die stadtbezogenen Patro-nagen mit ihren wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen auf die Bergtäler derGarfagna und des Casentino erarbeitet werden [1233: Wickham].

Verstädterung: All- Die Stadtgeschichtsforschung (vgl. auch oben S. 90 und unten S. 139) konntegememe Hinweise sjcn Djs VQr ejnem Jahrzehnt für den überregionalen oder gar internationalen Ver-

mischung gleich kaum mehr als Anthologien schaffen (z. B. F. Keutgen; darüber und überdie textkritischen Probleme vgl. B. Diestelkamp [in: 343a]); sie ist nunmehr aberauf vielen Arbeitsfeldern in die vergleichende Forschung vorgestoßen, vielleichtam weitesten in der Archäologie und Realienkunde (vgl. S. 94). Die Bemühungen

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der 1955 auf dem Internationalen Historikertag in Rom geschaffenen Kommissionfür Städtegeschichte haben zu nationalen Quellensammlungen [86: Elenchus] undBibliographien [Guide international d'histoire urbaine, I: Europe, ed. Ph.Wolff,Paris 1977] geführt. In der deutschen Forschung haben das „Institut für verglei-chende Städtegeschichte in Münster" [Vergleichende geschichtliche Städtefor-schung. Annotierte Gesamtbibliographie 1976-1988,Münster 1989] und der „Süd-westdeutsche Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung" mit eigenen Publika-tionsreihen Bedeutung gewonnen. Ein für alle Arbeit über deutsche Städte bleiben-des Nachschlagewerk ist das von E. Keyser begründete, nach Landschaften bzw.Ländern geordnete, 1939 bis 1974 erschienene „Deutsche Städtebuch".Historische Topographie ist ein Grundpfeiler stadtgeschichtlicher Forschung. Städte-Atlanten und

In der Publikation eines nationalen Städteatlas dürfte England einen Vorsprung Stadttopographiehaben [364: Lobel, seit 1969]. Der „Atlas historique des villes de France" [357]ist wiederum von Ch. Higounet auf den Weg gebracht worden. Seit 1973erscheinen Blätter des „Deutschen Städteatlas" [354] aus dem Münsteraner Insti-tut, seit 1972 ein „Rheinischer" [354a], seit 1982 ein „Österreichischer Städteat-las" [355]; vgl. überhaupt die Literaturberichte zur „Historischen Kartographie"von K. Fehn in: BDLG, zuletzt 127, 1991. Als Einführung in „MittelalterlicheStadtgrundrisse" sind die „Ubersicht der Entwicklung in Deutschland und Frank-reich" von Hall [346], die „Kleine Kunstgeschichte der deutschen Stadt" von

Meckseper [356] und für Italien ein Band von Guidoni [347] hilfreich. Beiträgezur Urbanistik der civitas in ihrer Entwicklung von der Spätantike zum Hochmit-telalter bieten zwei Bände einer Spoleto-Tagung [344] und Brühl [345]. Im Vor-dergrund stehen bei Brühl die Sitze weltlicher und geistlicher Herren, undihnen gilt auch eine Studie über „Königs-, Bischofs- und Stadtpfalz in den Städ-ten des ,Regnum Italiae' vom 9. bis zum 13. Jh." [345]. Wie die Stadtgründung sel-ber sind „Stadterweiterung und Vorstadt" [367] vom 11./12. Jh. an genausoAnzeichen der „Expansion" wie der „Strukturwandel" in den (wohl von H. Jan-kuhn zuerst so bezeichneten) „Seehandelszentren" an Ost- und Nordsee, fürden keineswegs erst die Hanse gesorgt hat [397, mit umsichtiger Einordnung derzumeist archäologischen Beiträge in die Stadtgeschichtsforschung durch H.W.Fritze, S. 277ff.]. Verf. reiht seine „Verfassungstopographischen Studien zur

Kölner Stadtgeschichte des 10. bis 12. Jh." [in: 731] hier an. Als „entlegenes" Bei-spiel für das Thema „Sakraltopographie", zu dem viele Bischofsstädte bereitsLiteratur beisteuern können, sei die Gründungsstadt Riga hier angeführt [B. Jäh-nig in: 1392].Vor dem geschärften Blick für die historisch gewachsenen Organismen sind

heute alle Schemata fragwürdig geworden [vgl. unten S. 139 über Stadtbegriffe;M. Schaab über Südwestdeutschland, in: 367a]: es gibt stark befestigte Dörfer,Städte mit leibeigener Bevölkerung und freie Dörfer, Städte ohne Markt und Dör-fer von ausgesprochener Marktbedeutung, Städte, die dem für Stadt und Landzuständigen Hochgericht unterstehen, und Dörfer, die ein eigenes Hochgerichthaben und Verwaltungssitz sind.

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98 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

„Zentralität als Pro- Ein allgemeines Kriterium, das einen sinnvollen Vergleich der Städte aller Zei-blem der mittelster- ten eriaubt, „das Phänomen ,Stadt' seines okzidentalen Mantels" entkleidet [350:liehen StadtEe^Schichtsforschung" Goehrke S. 194] scheint sich aber behaupten zu wollen. Mit der Aufstellung, daß

[367 a] die deutschen Städte in einem System zur Versorgung des Umlandes stünden, wel-ches sich nach Radien von 4-8 Stunden abgrenze, hatte G. Schmoller einerTheorie vorgearbeitet, die hernach in der Geographie für moderne Raumord-nungspolitik präpariert [W. Christaller, 1932] und verfeinert [Zentralitätsfor-schung, hrsg. v. P. Schöller, W.d.F. 301, 1972] und dann in die Geschichtsfor-schung [368: Mitterauer] übernommen wurde. Diese Richtung arbeitet inso-weit mit einer „Central Place Theory" (London 1977), als sie zumindest den hier-archischen Systemen der Gegenwart Gesetzmäßigkeit unterstellt.

Das 11./12. Jh. gewinnt auch in der Zentralitätsforschung das Profil einerSchwellenzeit. Das Stadt-Land-Verhältnis änderte sich mit der rechtlichen Aus-sonderung von städtischen districtus aus den Grafschaften oder civitates tiefgrei-fend. Privilegienrechtlich war der Eingriff im Verband des Reiches auf Bischofs-städte konzentriert [H. Jakobs in: 781] und in der Hauptsache bereits ottonisch,während beispielsweise in England die rechtliche Aussonderung der Boroughserst im 12. Jh. als Teil der nun allgemeineuropäischen kommunalen Bewegungbegann [719: Reynolds]. Den königlichen Anforderungen an die werdendenStädte ist für Deutschland zuletzt Opll [725] nachgegangen. In Spanien gliedertesich das Städtewesen nach Bedürfnissen der Reconquista, aber auch als Etappensy-stem derWallfahrtshospize an der Straße nach Santiago de Compostela [370: Nel-son; 371: Lacarra; 372: Irsigler]. Vergleichbares gilt für die Sauvetes des11./12. Jh. im gaskonischen „Aufmarschgebiet" vor den Pyrenäen [321: Higou-netS. 207 ff.].

5. Weltwirtschaftliche Perspektiven

Einführende Litera- In derWirtschaftsgeschichte des 11./12. Jh. ist die Ausformung von Wirtschafts-tur zonen und ihre Verbindung über Handelszentren ein Hauptthema. Sich einen

Einblick in das weite Forschungsfeld zu verschaffen, ist nicht leicht. Ein Abrißder wirtschaftlichen Entwicklung insgesamt von Bautier [383], das ganz aufunsere Epoche zugeschnittene Buch von Lilie [391] über „Handel und Politikzwischen dem byzantinischen Reich und den italienischen Kommunen", einExemplum auf diesem Feld [1239: P. Schreiner betr. Genua] und DollingersHansegeschichte [398; auch 398a: Friedland] halten die politische Geschichteam besten im Blick.

Das Mittelmeer Für den Mittelmeerraum (vgl. S. 4) ergeben sich durch die „nationale" Auftei-lung des Stoffs (sechs Autoren) im neuen HEWSG II [203] besondere Schwierig-keiten. Die Kreuzfahrerstaaten werden allein mit dem Hinweis auf das

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aller-dings meisterhafte

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Buch von Prawer [394] bedacht; und die entlang der syri-schen Küste, von S. Simeon bis Jaffa, eingerichteten Stapelplätze der italischen See-

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A, Ausweitung und Differenzierung der Wirtschaftswelt 99

Städte wie die Positionen des Islams in Nordafrika und Kleinasien konntenimmer nur gestreift werden. Ersatz bietet Ashtor [395]. Für eine erste Orientie-rung in den „grands problemes politiques et economiques de la Mediterraneemedievale" empfehlen sich ein Vortrag von Bautier [385], einschlägige Kapitel inKienitz' Buch „Das Mittelmeer" [386] und die Quelleninterpretationen von

Lopez und Raymond [90]. Das wissenschaftliche Fundament für alle Forschungüber den hochmittelalterlichen Mittelmeerhandel wurde von Schaube [387] undHeyd

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Rainaud gelegt [388; die deutsche Erstausgabe des Buches von 1879, dienachgedruckt wurde, ist unbrauchbar], deren Teile über den Handel zwischendem byzantinischen Reich und den italischen Kommunen bis zum 4. Kreuzzugallerdings durch das Buch von Lilie [391] überholt sind. Auch muß die Diskus-sion über Kontinuität oder Entwicklungsbruch im Mittelmeerhandel (Pirenne)wie auch die über Geld- und Metallströme und auf sie gegründete Theorien überHandels- und Zahlungsbilanzen (M. Bloch, Lombard, P. Grierson) zeitlichweit ausholen und kann nicht an dem Buch von Claude [389] vorbeisehen. Uberden oben (S. 4) hervorgehobenen Befund, daß der Ostseehandel der Skandinavier Ostseeunter mitteleuropäischen Konkurrenzdruck geriet und insbesondere in Lübeck(unter Ablösung Schleswigs) und auf Gotland von Deutschen beherrschteUmschlagplätze entstanden, an denen die Geschichte der Hanse beginnt, vgl. dieeine räumlich wie zeitlich weite Vorgeschichte auslotenden „Untersuchungen zu

Handel und Verkehr" [389] und E. Hoffmann [399].Die Wege, auf denen sich die Kaufleute der „Renaissance du commerce"

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Intensivierung derzuerst noch persönlich

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zu Schiff und in Karawanen bewegten, sind zu Trassenintensiver Kommunikation geworden. Ganshof [176] hat die Kaufleute den„Courants reformateurs dans l'Eglise" an die Seite gestellt. Wie die Differenzie-rung von Handel und Transport steckte auch die politische und rechtliche Absi-cherung der Handelsplätze noch in den Anfängen. Die für diese Phase einzigegenauere Untersuchung der westlichen Niederlassungen im byzantinischenReich von P. Schreiner [392] erweist viele Einzelangaben der Quellen über dieBevölkerungsfluktuation als überzogen. Uber die Organisation des Handelsver-kehrs in Mittel- und Nordeuropa sind aus dem 12. Jh. überhaupt nur wenigeAnhaltspunkte vorhanden, während die in italischen Häfen und für den Landhan-del üblichen, aus römischrechtlicher Tradition wieder belebten [404: Pryor] Kon-traktformen der commenda (colleganza), compagna u. a. (notarielle Beurkun-dung in Venedig seit den 1070erJahren) und überhaupt die „Methoden und Werk-zeuge der Handelsrevolution" gut bekannt sind [Lopez in 203: HEWSG II456 ff.]. Studien von H.C. Krueger [405] über die Assoziationsformen genuesi-scher Kaufleute und ihre Risiken sind sowohl methodisch als auch in ihren quanti-tativen Aufstellungen lehrreich. Eine Reihe von Befunden, die Band III derCEHE [202: Economic organization and policies] insbesondere in den Beiträgenvon R. de Roover (Organization of trade), O. Verlinden (Markets and fairs), E.Miller, H. van Werveke, E. Lönnroth und C.M. Cipolla (Economic policiesof governments) für die Frühzeit liefert, lassen vermuten, daß der Handelsauf-

Kommunikation-Handelsorganisation

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100 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

schwung nicht unter politischer Kontrolle litt, diese eher auf Förderung denn aufrücksichtslose fiskalische Abschöpfung gerichtet war. Die Zollbelastungen „vonStaats wegen" müssen vor dem 13. Jh. noch relativ niedrig gewesen sein, reichenbeispielsweise zur Erklärung von Verkehrsverlagerungen allein nicht hin [vgl. M.Mollat, Origines des douanes, in: 807; U. Dirlmeier und F. Irsigler in: 418].Die Nachrichten über Brückenbau [365: Maschke; 366: Boyer] liefern auchDaten für die Geschichte der Fernstraßen. Von der durchgreifenden Kommerziali-sierung wird auch die Kultur der Gastlichkeit verändert [467: Peyer].

Verbundsysteme Auf die politische Lenkung des Wirtschaftslebens deuten vorweg die neuen Ver-bundsysteme hin. Ein Beispiel ist das englisch-flämische von Wollerzeugung undTuchindustrie seit dem frühen 12. Jh. [vgl. J.A. van Houtte und A.E. Verhulstin 203: HEWSG II, insbes. die Lit. S. 61 f., 293 Anm. 28; 419: Bolton]. Es trugnicht nur die Rohstoffversorgung der Tuchindustrie, sondern half auch bei derLösung der Lebensmittelversorgung im bevölkerungsexpansiven Flandern, inso-fern hier der (vielfach gräfliche) Schaftrieb auf Rinderwirtschaft umgestellt wer-den konnte [421: A. Verhulst; 332: Lohrmann]. England hinwiederum vergrö-ßerte seine Weideflächen für Schafe durch Abholzung von Wäldern, reduziertedie Schweinetrift. Daran haben die Zisterzienser Anteil [420: Trow-Smith],deren Rolle in der Handelsgeschichte auch allgemein nicht mehr allein nach dennormativen Texten ihrer Generalkapitel bewertet wird [z. B. 431: Schicht; K.Schulz, Fernhandel und Zollpolitik großer rheinischer Zisterzen, in: 509; 432:Steinwascher]. Anders gelagert ist das Beispiel Italiens (vgl. S. 66). Hier wurdeim 12. Jh. eineWirtschafts-Trasse zwischen Lombardei/Toskana und Sizilien ein-gefahren und u.a. 1156 mit einem genuesisch-sizilischen Handelsvertrag gesi-chert. Nach einer These Abulafias [1256] verhinderte dieser Verbund auf Dauereine differenziertere Wirtschaftsstruktur des Südens, weil der Norden den Südenals Getreide- und Baumwollkammer gebraucht und zugleich als Absatzmarkt mithohem Bedarf zu erhalten getrachtet habe.

Wirtschaftslenkung Einer positiven Bewertung nicht nur städtischer, sondern auch fürstlicherpolitischer Hoheits- w/irtschaftSpolitik, jje ;m \2. Jh. neben der Champagne auch in Ostengland,

trager Westflandern und am Niederrhein ein Messesystem förderte [F. Irsigler,Grundherrschaft, Handel und Märkte zwischen Maas und Rhein, in: 352a], dieBautier [422] für die Champagne-Messen aber bis zur Jahrtausendwende hin-aufdatiert, hat in der deutschen Forschung Dirlmeier eine Bahn gebrochen[417; Friedrich Barbarossa

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auch ein Wirtschaftspolitiker? in: 1399]. Das am

Gemeinwohl orientierte Handeln konnte wirtschaftliche Zusammenhänge auchohne „nationalökonomische" Kriterien erfassen [vgl. auch 393: Rösch über„Politik und Kaiserpakta als Handlungsrahmen der Wirtschaftsbeziehungen"zwischen Venedig und dem Reich sowie J. Fried über Barbarossas Wirtschafts-politik in Deutschland in: 1405; dt. in: BDLG 120, 1984]. Ansätze zu einer ähnli-chen Beurteilung der kaiserlichen Regalienpolitik in Italien entwickelte von der

Nahmer [1179], der die moderne Formel von der „Monopolisierung der Regali-tät", an der Haverkamp [1416] die staufischen „Herrschaftsformen" als fort-

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A. Ausweitung und Differenzierung der Wirtschaftswelt 101

schrittlich bemaß, relativierte. Die Kritik ist berechtigt, geht aber nicht an dieverfassungsrechtliche Substanz des Buches. Hinweise auf die anhaltende Diskus-sion über die wirtschaftspolitischen Initiativen Heinrichs des Löwen gibt dieBiographie von Jordan [1422], der mit Münzregal und Salzhandel verknüpfteFall München ist von Wanderwitz [304] neu durchdacht worden. Räumlichübergreifende Beobachtungen zum Geleitsrecht bietet für das 11./12. Jh. Doe-haerd [423].Münz- und Geldgeschichte sind zweierlei. Die Numismatik steht auch für das Münz- und Geldge-

11. /12. Jh. auf dem allgemein hohen Niveau ihrer Disziplin [E. Wadle in: HRG scmcnte

III 770 ff.; 403: Kluge], aber eine Geldgeschichte der „Commercial Revolution",der ..Monetary explosion 950 /1100" [465: Murray S. 50 ff.] bleibt

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trotz Four-nial [400] und dem vorzüglichen P. Spufford [401; 202: CEHE 2II 788 ff.]

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einDesiderat; vgl. noch E. Nau [in 179: Zeit der Staufer III 87]. Sehr hilfreich neuer-

dings: G. Rösch, Wirtschaftsexpansion und Münze im 12. Jh. Ein Problem derGeldgeschichte, in: MIÖG 101, 1993, 17-36. Für das staufische Deutschlandgrundlegend geblieben ist eine ungedruckte Arbeit von Kamp [1431]. Auf erhöh-tem Niveau der Reflexion bewegt sich K. Petry [403a] mit einer Studie über denoberlothringischen Raum, deren Kapitel „Von der Statik bistumsorientierterUmlaufzonen bis zur Dynamik fluktuierender Währungsgebiete, ca. 980/90

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ca. 1150" seinesgleichen an regionaler Grundlagenforschung von fraglos exempla-rischer Bedeutung sucht. Für das Hochmittelalter wird der „Allgemeinhistori-ker" in besonderer Weise von Nicklis [402] bedient, der lateinische Literatur des12. / 13. Jh. (Geschichtsschreibung, Hagiographie u. a.) als numismatische Quel-len und die in ihr erkennbaren geldwirtschaftlichen Wahrnehmungsweisen behan-delt; vgl. auch R. Kaiser, Das Geld bei Abt Guibert von Nogent, in: AKuG 69,1987,289-314. „Geld gibt es nur dort, wo es gedacht wird". Verkehrsgebiete wur-den als Kommunikationsräume erfahren, Ober- und Unterwährungen erkannt,entlegene Währungsverhältnisse beschrieben, Schatzfunde analysiert

-

eine„Krise wirtschaftlicher Dingerkenntnis" um 1200 sprenge die „Grenzen mittelal-terlicher Umweltperzeption", um „geldwirtschaftlichen Erfahrungswerten histo-riographischen Rang zuzumessen" (NICKLIS).„Le probleme de l'or"

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für die Weltwirtschaft in der Zeit von rund 800 bis1252 (Florentiner) cum grano salis die Scheidung zwischen einem europäischenSilber- und einem byzantinisch-islamischen Goldwährungsgebiet

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wurde grund-legend wiederum von M. Bloch [434, II] zur Diskussion gestellt. Eine Theorievon Lombard [424], die rhythmische Zusammenhänge zwischen muselmani-schem Goldfluß und europäischer Stadtentwicklung unterstellt, hat ihre Grenzendarin, daß das „berieselnde" Gold im Abendland erst auf dem Zenit der Stadtent-wicklung nachweisbar ist [vgl. oben S. 99 mit 389: Claude; 401: SpuffordS. 163 ff. eröffnet Perspektiven ins Spätmittelalter]. Über die Bedeutung des Sil-berabbaus vgl. R. Sprandel in 206: HDWSG I 213 ff. (betr. den Harz) und Spuf-ford S. 109 ff. (betr. das „neue Silber" aus Freiberg im Erzgebirge und Friesach inKärnten seit ca. 1160). Der Silber-GrosjHS mit dem Wert von 12 Denaren (= 1 soli-

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102 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

dus), den Venedig seit 1193/94 ausgab (und nicht erst 1204 [vgl. 406: BuengerRobbert]), wurde Vorbild für viele Prägungen.

Grundlegende Faktoren sind für uns nur Größen der Theorie und nicht quanti-tativer Kenntnis: Gold- und Silberfluß, Minenausbeute, das Finanzgeschehen dermuselmanischen Millionenstädte in seinem Einfluß auf den Handel, Umlaufge-schwindigkeiten, Angebot und Nachfrage, Preise und Löhne, die Ausbildungvon Währungskreisen, die Bedeutung der Zölle, des Kredits und des Tauschs imWarenverkehr u. a. Q. Blanchard, ,Real Money' and ,Money of Account':Reflections upon medieval European monetary systems, in: 302]. Daß auf denKreuzzügen „Kriegskassen" mitgeschleppt wurden [betr. den sog. Barbarossa-Fund, der keineswegs Kriegskasse des Kaisers gewesen sein kann, vgl. 1452: U.Klein und Hiestand], im Fernhandel jedoch angesichts der geringwertigen Prä-gungen des umlaufenden Geldes in der Hauptsache durch Warentausch, allenfallsgelegentlich mit Edelmetallbarren ausgeglichen wurde [425: van Werveke], isteinsichtig. Daß Kredit als das eigentliche Geld den Handelsboom des Westenserkläre, wurde schon von Lopez vertreten und daran verdeutlicht, daß trotz Geld-mangels die Preise stiegen; und er beurteilte die Entwicklung des Ost-West-Ver-hältnisses am Verfall der byzantinischen „Leitwährung" [407: The Dollar of theMiddle Ages].

„Hochfinanz" Ein Unsicherheitsfaktor in diesen Aufstellungen sind auch die Anfänge derBankgeschichte. Kreditgeschäfte mit Pfandsicherung im Grundbesitz nehmen ingeldwirtschaftlich entwickelten Zonen wie dem Mailänder [408: Violante] oderKölner Raum [E. Ennen, C. von Looz, beide in: 409] seit dem 11. Jh. rapide zu.

Die bancherii in West und Ost sind im 12. Jh. wohl hauptsächlich noch als Geld-wechsler tätig; und wenn man von den frühesten „Beihilfen" der Templer (fürLudwig VI.) im zweiten Kreuzzug absieht [128: Epp. Sugerii Nr. 45.52.69], haltenerst genuesische Notare seit 1200 regelrechte Bankgeschäfte fest [410: Lopez; vgl.auch de Roover in 202: CEHE III 66ff.]. In der Erfassung der Geldströme stehtdie Forschung vor den Befunden, daß trotz enormer Zunahme der Münztätigkeiteinerseits das Geld im allgemeinen knapp blieb, anderseits große Kapitalansamm-lungen nachweisbar sind. Mit einer Studie über Bernardus Teotonicus [414], derals Pionier in den deutsch-venezianischen Handelsbeziehungen im Silbergeschäftreich geworden war und Barbarossa als Finanzier für den Kreuzzug diente, ver-suchte von Stromer die in der Erforschung früh- und hochmittelalterlicherWirt-schaftsgeschichte erprobte prosopographische Methode [vgl. R. de Roover in202: CEHE III 46 ff.] erneut unter Beweis zu stellen. Er hat dann ein Forschungs-programm „Hochfinanz im 12. Jh." inauguriert, das sich u. a. auf Venedig [415:Fees über die Familie Ziani], Genua [R. Holbach über die Venti, in: 416], Köln(S. Zöller über die Familie des „guten Gerhart" [63] Unmaze: eb.; vgl unten S.307 [415a]) und London (N. Fryde, An den Schalthebeln der Kronfinanzen Eng-lands unter den ersten fünf Plantagenets: eb.) richtet.

Hoffinanz Unsere Vorstellungen von den Einkünften der großen europäischen Höfe blei-ben für das 12. Jh. ungenau, die Ansicht von einer Vorreiterrolle der Kurie ist

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A. Ausweitung und Differenzierung der Wirtschaftswelt 103

falsch [412 und 413: Pfaff]. Über die staufischen Einkünfte in Italien vgl. Brühl[1230], über die Kapetinger K.F. Werner [in: 215, S. 219 ff.], über das englischescaccarium, Flandern, den normannischen Echiquier u. a. unten S. 182 f.; über denungarischen Hof die Überlieferung einer Jahresaufstellung mit 166 000 Mark Sil-ber [G. Györffy in 203: HEWSG II 654]; Zahlen liegen auch aus Katalonien vor[116a: Fiscal Accounts], und es ist eigens anzumerken, daß sie aus Palermo fehlen[1190: Abulafia, insbes.: The Crown and the economy under Roger II and hissuccessors]. In dieses Kapitel gehören auch die Subsidien und Lösegelder [A.Erler in: HRG III 48 ff.; 1455: Fichtenau betr. Richard Löwenherz; 1470: Steh-kämper und 1469: Hucker S. 22 ff. betr. Königswahlen] sowie die schon frühpraktizierte Münzverrufung [J. Campbell in: 807].

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