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C. Herrschaft und Staatlichen 159 C. HERRSCHAFT UND STAATLICHKEIT 1. Zum Problem Außer in der Marginalie steht in den folgenden Abschnitten das Wort Staat nicht Der „Staat" des Mit- mehr in Anführungszeichen. Dennoch ist nicht beabsichtigt, den Streit um den te!alters deutschen Staat [vgl. 782: Krieger S. 2 ff.] oder überhaupt um „den" nachkarolin- gischen Staat des Mittelalters [vgl. 200: Sprandel S. 11 ff.; H. Angermeier in: 1424] nachzuzeichnen. Rückblickend wäre vor allem festzuhalten, daß nicht nur die Standorte „klassischer Schule" und weiter bis in unsere Tage viele Spuren jeweiligen Zeitgeistes in der Interpretation mittelalterlicher Ordnungen aufge- deckt sind [jüngere Beispiele: 786: Weitzel; 791: Graus; B. Diestelkamp, K.E Werner, A. Haverkamp in 797: Heinrich Mitteis nach 100 Jahren], sondern auch allgemein im Fach aus der verfassungsgeschichtlichen Diskussion die Reflexion auf den eigenen Standort besonders eindringlich als methodisches Verhalten gegenüber dem Mythos der Vollständigkeit begründet worden ist. Von größerer Bedeutung als die anhaltende Diskussion über das Wesen mittelal- Staatlichkeit zwi- terlicher Staatlichkeit ist die neuerliche Historisierung, mit der die rund 200 Jahre sche" karollng'scher . . l - l r l l l ^-ii l Reichsretorm und von der spätkarohngischen zur frühsahschen Zeit überhaupt erst in wichtigen hochmittelalterli- Eigenbedingungen ihrer politischen Strukturen untersucht werden. Der unge- chem Herrschafts- heure Legitimationsbedarf des ottonisch-frühsalischen Königtums ist belegt und au au verständlich gemacht, die viel zu globalen Vorstellungen von „dem" nachkarolin- gischen Staat sind in Auflösung geraten und wesentliche Grundlagen der hochmit- telalterlichen Entwicklung überhaupt erst in den Blick gerückt, so daß schließlich die staatspolitischen Leistungen der Salier neu veranschlagt werden können [vgl. einführend wie resümierend 794: H. Keller; 1110: Weinfurter]. Der Disput über den Staat des Mittelalters ist immer interdisziplinär zwischen Haus- und Dingge- Rechts- und (Landes-)Historikern geführt worden, und die Juristen überlassen melnQe auch heute den Historikern keineswegs das Feld. In der Besprechung neuerer sozialgeschichtlicher Themen (oben S. 110 f.) wurde schon einmal auf den heuristi- schen Wert des idealtypischen Bildes von Villikation ohne Herrschaft bei Voll- rath hingewiesen und darauf, daß Weitzel [786] ihr mit einer Deduktion der gesamten politischen Ordnung des Mittelalters aus dem „dinggenossenschaftli- chen Prinzip" an die Seite getreten ist, d. h. mit der Lehre, daß die Funktionstei- lung zwischen Urteilern und Richtern (Vollstreckern) ein allgemeines Prinzip mit- telalterlicher Staatlichkeit gewesen sei. Bei Vollrath wie bei Weitzel zielt die Kritik u. a. auf Max Webers Definition von Herrschaft bzw. auf die von Weber zumindest mitbewirkte Gleichsetzung von Staat mit Herrschaft und von Herr- schaft mit Recht, wie sie in der „modernen verfassungsgeschichtlichen Lehre" (gemeint sind O. Brunner, W. Schlesinger und K. Bosl) virulent war. Die Kri- tik an diesen Ideologien der Kriegs- und Nachkriegszeit ließ sich auch aus ande- ren Sichtweisen begründen [vgl. 639: Schulze], sie ist aber 1985 noch einmal wei- Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Librar Authenticated Download Date | 10/19/14 1:44 AM

[Oldenbourg Grundriss der Geschichte] Kirchenreform und Hochmittelalter 1046–1215 Volume 7 || C. HERRSCHAFT UND STAATLICHKEIT

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C. Herrschaft und Staatlichen 159

C. HERRSCHAFT UND STAATLICHKEIT

1. Zum Problem

Außer in der Marginalie steht in den folgenden Abschnitten das Wort Staat nicht Der „Staat" des Mit-mehr in Anführungszeichen. Dennoch ist nicht beabsichtigt, den Streit um den te!alters

deutschen Staat [vgl. 782: Krieger S. 2 ff.] oder überhaupt um „den" nachkarolin-gischen Staat des Mittelalters [vgl. 200: Sprandel S. 11 ff.; H. Angermeier in:1424] nachzuzeichnen. Rückblickend wäre vor allem festzuhalten, daß nicht nur

die Standorte „klassischer Schule" und weiter bis in unsere Tage viele Spurenjeweiligen Zeitgeistes in der Interpretation mittelalterlicher Ordnungen aufge-deckt sind [jüngere Beispiele: 786: Weitzel; 791: Graus; B. Diestelkamp, K.EWerner, A. Haverkamp in 797: Heinrich Mitteis nach 100 Jahren], sondern auchallgemein im Fach aus der verfassungsgeschichtlichen Diskussion die Reflexionauf den eigenen Standort besonders eindringlich als methodisches Verhaltengegenüber dem Mythos der Vollständigkeit begründet worden ist.

Von größerer Bedeutung als die anhaltende Diskussion über das Wesen mittelal- Staatlichkeit zwi-terlicher Staatlichkeit ist die neuerliche Historisierung, mit der die rund 200 Jahre sche" karollng'scher

. . l • - l r l l•

l ^-ii • • l • Reichsretorm undvon der spätkarohngischen zur frühsahschen Zeit überhaupt erst in wichtigen hochmittelalterli-Eigenbedingungen ihrer politischen Strukturen untersucht werden. Der unge- chem Herrschafts-

heure Legitimationsbedarf des ottonisch-frühsalischen Königtums ist belegt und au au

verständlich gemacht, die viel zu globalen Vorstellungen von „dem" nachkarolin-gischen Staat sind in Auflösung geraten und wesentliche Grundlagen der hochmit-telalterlichen Entwicklung überhaupt erst in den Blick gerückt, so daß schließlichdie staatspolitischen Leistungen der Salier neu veranschlagt werden können [vgl.einführend wie resümierend 794: H. Keller; 1110: Weinfurter].

Der Disput über den Staat des Mittelalters ist immer interdisziplinär zwischen Haus- und Dingge-Rechts- und (Landes-)Historikern geführt worden, und die Juristen überlassen melnQe

auch heute den Historikern keineswegs das Feld. In der Besprechung neuerer

sozialgeschichtlicher Themen (oben S. 110 f.) wurde schon einmal auf den heuristi-schen Wert des idealtypischen Bildes von Villikation ohne Herrschaft bei Voll-rath hingewiesen und darauf, daß Weitzel [786] ihr mit einer Deduktion dergesamten politischen Ordnung des Mittelalters aus dem „dinggenossenschaftli-chen Prinzip" an die Seite getreten ist, d. h. mit der Lehre, daß die Funktionstei-lung zwischen Urteilern und Richtern (Vollstreckern) ein allgemeines Prinzip mit-telalterlicher Staatlichkeit gewesen sei. Bei Vollrath wie bei Weitzel zielt dieKritik u. a. auf Max Webers Definition von Herrschaft bzw. auf die von Weberzumindest mitbewirkte Gleichsetzung von Staat mit Herrschaft und von Herr-schaft mit Recht, wie sie in der „modernen verfassungsgeschichtlichen Lehre"(gemeint sind O. Brunner, W. Schlesinger und K. Bosl) virulent war. Die Kri-tik an diesen Ideologien der Kriegs- und Nachkriegszeit ließ sich auch aus ande-ren Sichtweisen begründen [vgl. 639: Schulze], sie ist aber 1985 noch einmal wei-

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160 IL Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

ter getrieben worden von Weitzel, der nun „Herrschen" mehr oder weniger mit„Richten" in eins setzt und für den das Verständnis beider Begriffe von dem desRichtens auf dinggenossenschaftlicher Grundlage auszugehen hat. Das Buch liegtinsoweit im Trend der Zeit, als es

-

wie übrigens die angesprochene Ottonen- undSalierforschung auch und erst recht die neuere Forschung über den hochmittelal-terlichen Herrschaftsaufbau

-

den der Herrschaft entgegengesetzten, in allen mit-telalterlichen Gemeinwesen wirksamen genossenschaftlichen Formen neue Ein-sichten abgewinnt. Nur hat die dinggenossenschaftliche Theorie in diesem Buchzu keiner adäquaten Synthese mit der Überlieferung gefunden, in der sich königli-che Waltung europaweit und über Jahrhunderte unbestreitbar unter hausrechtli-chen Formen selber darstellt und versteht. Darin ist also immer noch ein Buchvon 1914 [758: Rosenstock] weiter, dem man heute gewiß die Interpretation frü-her lehnsrechtlichcr Verfahren als Ausübung disziplinarischer Hausgewalt ankrei-den kann [Weitzel II 1028 ff.], das man aber nicht in einen Topf mit der „moder-nen verfassungsgeschichtlichen Lehre" hinsichtlich seiner Auffassung von Herr-schaft werfen darf. Rosenstock muß auch immer noch den Bemühungen zur

Seite stehen, die um die rechtlichen Grundlagen des „Königintums" (queenship)ringen (und Regentschaft und Vormundschaft oft nicht auseinanderhalten kön-nen). Die Anerkennung einer Regentschaft für den minderjährigen Sohn (die Vor-mundschaft liegt bei einem männlichen Mitglied der Sippe) ist gewiß auch immerein Problem der politischen Durchsetzung [835: Th. Kölzer]; jedoch ruht derAnspruch der Mutter genauso wie die (neuerdings auch in „Forschungen zur

Geschlechterdifferenz" ausgemachte) „zeitgenössische Überzeugung, weiblicheHerrschaft auf höchster Ebene werde durch ein männliches Mitglied der Dyna-stie (lies: des Hauses) bestimmt" [1111: K.-U. Jäschke S. 46], auf der weiteren,der hausrechtlichen „Überzeugung", daß ein Haus nicht aufgelöst ist, solange es

die Hausherrin für den minderjährigen Sohn führen kann (zu den rechtlichen Hin-tergründen der Nachfolge Konrads III. vgl. dann S. 43).

Indikatoren für Nach Dinggemeinde und Haus wären noch viele andere Indikatoren zu behan-taatlichkeit: Staat dein, an denen sich Strukturen jeweiliger Staatlichkeit erkennen und diese sichund Gesellschaft ..

.

..

.

t .. , . , ..

.nicht selten auch mit genossenschaftlichen Formen in Verbindung bringen lassen.Beispielsweise hat B. Diestelkamp in seinem Artikel „Huldigung" [HRG II262 ff.] den Herrschaftsantritt zum Merkmal gemacht, das den Blick auf dieSchranken der Königsgewalt lenkt. Ihr ideologischer Horizont ist bereits 1914von Kern in „Gottesgnadentum und Widerstandsrecht" [816] abgesteckt wor-

den. Mit Kerns Kategorien (der „theokratischen Theorie" und der „lehnsrechtli-chen Praxis") hat Ullmann [675] staatsrechtliche Ansätze beschrieben, die dieWandlung des Untertans zum Bürger ermöglichten. Daß „königliche Regierungnur mit dem die staatliche Funktion wahrnehmenden Adel möglich war" [K.F.Werner in: LMA1119], war nie umstritten. Von einigem Interesse ist noch die Kri-tik, auf die Ullmanns Arbeiten bei Weitzel (I 191 ff.) gestoßen sind: wie M.Weber habe Ullmann den Genossenschaftsgedanken auf die niederen Formendes Gemeinschaftslebens beschränkt, er bringe nichts über merowingische und

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C. Herrschaft und Staatlichen 161

karolingische Dingversammlungen und bewerte deshalb die ständische Bewe-gung nach 1215 zu einseitig aus dem Lehnrecht, messe den Bedingungen von

„Gesetzgebung" zu früh zu große Bedeutung zu. Jedoch macht Weitzel halt vor

Ullmann mit der Einsicht, daß dieser ja eigentlich die im Lehnrecht liegendenKräfte als Antipoden der zum Absolutismus tendierenden hochmittelalterlichenHerrschaften historisch vertretbar bewertet; und Ullmann hätte sich wohl auchauf eine Diskussion darüber einlassen können, ob das, „was er ... als mittelalterli-che Rechts- und Herrschaftspraxis mit weitreichenden Auswirkungen auf dieNeuzeit... beschreibt", gar „kein urwüchsiges Produkt des Lehnrechts", sondern„Sekundärbildung des deutschen (sie) Rechtsgedankens und späterhin die Stützeeiner älteren und ohnehin vorhandenen Rechtsvorstellung" war und seine Grund-lagen „in der Sühne, in der Genossenschaft, ... im Palaver" hatte

-

ganz im SinneK.S. Baders, den Weitzel hier (S. 196) zitiert: „Das Lehnrecht ist im Grundenichts anderes als eine konsequente, bilaterale Ausbildung solchen Rechtsdenkensin der herrschaftlichen Oberschicht selber." Auf diese Vorstellung von der Keim-zelle des europäischen „Parlamentarismus" wird zurückzukommen sein.

Man mag das Verständnis für mittelalterliche Staatlichkeit auch mit ihrer Abhe-bung von der antiken res publica suchen. Institutionen können die Gemeinwesendes Mittelalters nicht gewesen sein, solange sie sich in den Akten der Huldigungerst konstituierten, also Souveränität nicht kannten [776: Quaritsch; 867:Wyduckel], privates und öffentliches Recht nicht trennten, der „Genugtuung",der gütlichen Einigung und dem Ermessen im gewohnheitsrechtlichen Gerichts-und Prozeßverständnis einen weiten Spielraum ließen [799: Althoff]. Ein Reichwar gegenwärtig, wo der König oder Fürst im Kreis seines Hofes auftrat [177h:Fried, insbes. das Kap. „Adel, Kirchen, Volk und König"].

Das Gegenüber zum Hof war das „Land". „Landesherrschaft" ist ein neuzeitli- Land und Herrschafteher Begriff und seit dem 19. Jh. ein sehr kontroverser Gegenstand der Forschung[vgl. E. Schubert in: LMA V 1653 ff.]. Es zählt zu den Merkwürdigkeiten derRezeptionsgeschichte des Buches „Land und Herrschaft" von O. Brunner [761],daß sein Landesbegriff als ein „Verfassungsbegriff eigener Art" zur 50-Jahrfeierder Erstauflage (von 1939) nochmals erklärt werden mußte [792: Hageneder;796: Weltin], während die Kritik am Herrschaftsbegriff Brunners beinaheMode geworden war (zu dem Beispiel Weitzels vgl. Weltin S. 360 f.). Eine derbeiden überaus eindringlichen Sichtungen mit landesgeschichtlicher Kompetenzresümiert: „Was Brunner ... aufgedeckt hat, ist das ,Strukturprinzip des mittelal-terlichen Landes' schlechthin. Als solches darf es ... Allgemeingültigkeit bean-spruchen und kann nicht mit oberflächlichen Hinweisen auf bestenfalls lokaleBedeutung abgetan werden" [Weltin S. 376]. Selbstverständlich sind spezifischePräzisierungen mit anderem als dem österreichischen Material, auf das Brunnersich gestützt hatte, möglich [vgl. 773: Seibt betr. Böhmen], jedoch gilt im Prinzip:Das Land war die Gemeinschaft von Freien unter einem anerkannten Herrn.Freier Landbesitz machte seine Träger zu Rechtsgenossen und zur Landsge-meinde. Seit wann? K.F. Werner [in: Geschichtliche Grundbegriffe VII 214 ff.]

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162 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

hat nicht wenige Belege und eindrucksvolle eigene wie aus älterer Literatur gesam-melte Argumente dafür angeführt, daß sich im mitteleuropäischen Rechtsbewußt-sein der Wechsel von der Rechtsträgerschaft des Personenverbandes zur räumli-chen Geltung von „Landrecht"

-

vom „Volksrecht" zum „Landrecht"-

nichtabrupt und nicht erst mit Ansätzen im 11./12. Jh. vollzogen hat. Nichtsdestowe-niger bleibt es vor allem für die deutschen Länder richtig, daß die Begriffe terra,patria [704, IX: Eichenberger, Patria, S. 144 ff.] u. a. seit dem 12. Jh. einen neuen

Inhalt erhielten. Im Urteil über die Entwicklung der „Länder" darf allerdingsnicht die Rolle des Herrschers bei der Formierung der Stände fehlen [H. Mitteisin: HZ 163,1941, insbes. S. 471 ff.; Neudruck in: 841a]; doch wußte sich Brunnerin diesem Punkt eigentlich mit seinen Kritikern einig [vgl. 761, S. 233; 777: Wilh.Janssen].

Curia regis: Land- Regionale und überregionale Normen der Ordnung waren das Landrechtcht und Lehnrecht (Volksrecht) und das Lehnrecht. Darüber hat Droege [775] eine systematische

Betrachtung angestellt. Sie erklärt viele politische und soziale Phänomene als Kor-relate land- und lehnrechtlicher Denkweisen, und das sind mutatis mutandis euro-

päische Anschauungsformen. Einzigartig sind allerdings die Aufstellungen überdas Königtum in diesem System, das aus dem Sachsenspiegel stammt [vgl.Droege S. 51 ff., 72]. Anders als die Königshäuser des übrigen Europa hat dasdeutsche Königtum nach der Radikalisierung des Wahlbegriffs unter den Forde-rungen nach Kirchenfreiheit und nach dem Scheitern des Erbreichsplanes Hein-richs VI. (1196) keine dynastische Verfügungsgewalt gewinnen können (vgl. S.196 f.). Für Eike von Repgow ist der König frei gewählt, ohne Anrecht und Erb-recht, ohne Recht auf Wahl des Sohnes, absetzbar. Wähler sind die Fürsten, siesind die Schlüsselfiguren, nicht der König, den sie an die Spitze des Reiches setzen.

Eikes Konstruktion ist durchschaubar, sie ist ein Niederschlag der korporativ-ständischen Bewegung in Europa. Die von den Staufern betriebene Ablösung derstammesherzoglichen Gewalt durch das Fürstentum, das seinen Rang aus der Stel-lung im Lehnshof des gottunmittelbaren Königs beziehen sollte, vermochte nichtdie landrechtlichen Grundlagen der Fürsten- und Königsherrschaft zu eliminie-ren. Betätigungsfeld der Stände ist die curia regis; denn sie trägt die Königsherr-schaft, die in allen Reichen seit dem 11. Jh. mit Hilfe von Institutionen absoluti-stisch werden will. Aber der König ist nicht König ohne die curia, deren Rat er

braucht und die ihrerseits Achtung vor dem Recht verlangt, dem der König alsLehnsherr und die curiales als Barone gemeinsam unterworfen sind. Mehr noch:so weit sie es vermag, wird die curia darauf drängen, nicht nur Lehnrecht, sondernauch materielles Landrecht zur Urteilsgrundlage ihres ständischen Gerichts zu

machen.Ständische Bewe- Möglichen Streit über unsere Begriffe hintangestellt, beginnt die Geschichte

gung der „assemblee preparlamentari" [821: Marongiü] im 12. Jh. Wie P. Morawbetrachten wir „den Hof nicht als Leer- und Verlegenheitsformel..., sondern stel-len ihn als die entscheidende Emanation des Königtums konsequent in das Zen-trum von älterer Verfassung" [Versuch über die Entstehung des Reichstags, in:

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C. Herrschaft und Staatlichen 163

Politische Ordnungen und soziale Kräfte im alten Reich, 1980, S. 14 f.; vgl. auchE. Schubert, König und Reich, 1979, 84 ff.: Curia regalis]. Bei hohem Respektvor der Forschung der 80er Jahre

-

nicht zuletzt vor den zahlreichen im Umkreisvon J. Fleckenstein entstandenen Studien, in Unkenntnis allerdings noch von

den Ergebnissen der Reichenau-Tagungen 1992/93 über den „Hof"-

ist dochanzumerken, daß das Interesse der deutschen Forschung am „Hof", wenngleichsicherlich umfassend, so doch primär auf den Hof als Kulturträger und vor allemfür das 12. Jh. nur in wenigen jüngeren Beispielen auf den Hof als Zentrum derVerfassung gerichtet worden ist. Das ist ohne Frage auch ein sozialgeschichtlichbelangvoller Mangel. Die Entwicklung, von der die Institutionengeschichte wiedie Geschichte ständischer Vertretungen betroffen wird, setzt in den französi-schen Prinzipaten im 9. Jh. ein [K.F. Werner in: HZ Sonderheft 1, 1962, 553 ff.;ferner in 171: Handb. d. Europ. Geschichte I S. 765 ff. und in: 215, insbes.S. 195 ff.]. In Deutschland verlagert sie sich im 13. Jh. ganz in die Territorien: diedomini terrae sollen keine nova iura erlassen ohne die Zustimmung der melioreset maiores terrae [146: Const. II Nr. 305]. Die ständische Bewegung ist allerdingsauch im Reichsfürstenstand wirksam. Einen Reichstag hält das deutsche Reichzwar erst seit dem ausgehenden 15. Jh., jedoch stellen die Kurfürsten, „und zwar

für lange Zeit, den .Reichstag' funktionell allein" dar [Moraw S. 24].Die Untergliederung dieses Kapitels wird sich schrittweise erklären: Dualis-

mus als Ausgangsthema europäischer Staatenentwicklung (2.); Umschichtungenin den curiae mit der Bildung von Institutionen und Ständen (3.); Überleben desKurrufs am deutschen Königshof und Paralyse des dynastischen Erbgedankens(4.); politische Erscheinungsformen sozialökonomischen Wandels (5.); Bändi-gung sozialer und politischer Ambitionen und Rivalitäten durch neue Ordnun-gen des Rechts (6.).

2. Weltliche und geistliche Gewalt

a) Investiturstreit

Das Kapitel I B, in dem die europäische Geschichte von „Sutri" (1046; [1071: Investiturstreit als

Anton; Fuhrmann]) bis zum „Ende des Reformpapsttums" [1193: Klewitz] im Epochenbegriffanakletischen Schisma (1130) skizziert ist, wurde mit „Kirchenreform und Inve-stiturstreit" überschrieben. Die Doppelung trägt den Bedingtheiten von Epo-chenbegriffen Rechnung. Über „Investiturstreit als Epochenbegriff" handelt R.Schieffer in seinem Buch „Die Entstehung des päpstlichen Investiturverbots"[1155]. Die Erstbelege für querela investiturarum und contentio investiturae, diesich in Aussagen über das Wormser Konkordat bei Suger von St. Denis und Ger-hoch von Reichersberg finden, meinen bereits den langen Kampf insgesamt. R.Schieffer hat „die gesamte frühe Überlieferung zur theoretischen und prakti- Das erste Investitur-schen Behandlung des Investiturproblems" an der Forschung der letzten 70 Jahre verbot

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164 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

gemessen und sicherstellen können, daß ein synodales Investiturverbot für denKönig, das genereller Natur war und nicht mehr mit Exkommunikation königli-cher Berater zusammenhing, erst im Jahre 1078 ergangen ist. Von der Forschungallerdings nicht angenommen wurde seine Erklärung für das vieldiskutierte, nur

durch Arnulf von Mailand bekannte Investiturverbot, dem die Fastensynode desJahres 1075 zugestimmt hatte: es meine „lediglich die Rechtsfolgen einer Mißach-tung der Strafmaßnahmen gegen die simonistischen Räte" (S. 156); vgl. die Sich-tung der Kritik bei Hartmann [1150, S. 80] und Laudage [1151, S. 37ff.]. Vonden Erklärungen dafür, daß das Investiturverbot weder in das Synodalprotokollaufgenommen wurde noch ein Echo am deutschen Hof ausgelöst hat, überzeugtallein die „psychologische Interpretation"

-

sowohl des unter Bedingungen kom-promißbereiten Taktierens Gregors VII. [1068: Szabö-Bechstein S. 159f.] alsauch des Verhaltens Heinrichs IV. [187: Tellenbach S. 150 mit Anm. 101]. Ein„Investiturverbot als Frontalangriff auf das Reichskirchensystem" ist auszuschlie-ßen [R. Schieffer, Gregor VII. und die Könige Europas, in: 1127,1, S. 205 f.]. Inder Forschung noch nicht aufeinander abgestimmt sind allerdings die sich nahe-stehenden Bewertungen des „totalen" Investiturverbots der römischen Synodendes Jahres 1078 [1156: Beulertz S. 6f. Nr. 4f.] bei H. Hoffmann [1164, S. 397]und Jakobs [504, S. 101]. Sollten die Berthold-Annalen tatsächlich nur eineschwäbische Überinterpretation liefern, ist deren Wirkung aber dennoch mitHänden zu greifen, nämlich in der „freien constitutio" des Abtes nach den Vor-schriften des Abtes Wilhelm von Hirsau. In die breitere Rechtsdiskussion kom-men die Investiturverbote und der „Investiturstreit" dann tatsächlich erst um dieJahrhundertwende.

Kirche und Staat" „Es ist... wahrscheinlich..., daß die Bestreitung der königlichen Gottunmittel-barkeit durch das Papsttum mit der Grund ist zu den späteren Versuchen, demStaat eine andere, eine säkulare Grundlage zu schaffen. Doch müssen dieseschwer erforschbaren Zusammenhänge mit Vorsicht und Behutsamkeit behan-delt werden" [1067: Tellenbach S. 196; 1069: Toubert, der in einer Bespre-chung der Schlüsselwerke zur „Reforme gregorienne" mit O. Capitani die„vision protestante de la Reforme" bei Tellenbach von der des Katholiken Fli-che abhebt]. Kaum ein Buch hat wie „Libertas" verständlich gemacht, daß dempolitischen Handeln im gregorianischen Zeitalter nicht mit Kategorien des Vor-herrschaftsdenkens beizukommen ist. „In seiner lebendigen Wirklichkeit zieht(Gregor VII.) alles in den Bereich der Kirche hinein" (S. 187). Der Diagnostikerder Zustände seiner Zeit ist aber

-

schon gegen Ende der 1050er Jahre-

Humbertvon Silva Candida gewesen (vgl. oben S. 109). Er kehrt die „Lage der Priester" her-vor, bemißt ihr Elend an der paulinischen Freiheit der Kirche Gottes: die principessaeculi (und ihr „Geld") tragen die Schuld daran, daß die Priesterschaft, die sors

Dei, statt freier nur verächtlicher lebt als die anderen Menschen und ihrer Auf-gabe nicht nachkommen kann. In heiligem Zorn überschreitet Humbert dieGrenze zwischen irdischer und paulinischer Freiheit ungehemmt, aus dem pauli-nischen „Wo der Geist des Herrn ist, dort ist Freiheit" wird ein Spiritus libertatis.

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C. Herrschaft und Staatlichen 165

Ihn kann Humbert im Gebet-

Defende, o liberrime omnium ...

-

geradezu her-ausfordern mit der Beschwörung, seine Freiheit vor den heilsschänderischenHändlern, den Erben des Simon, zu verteidigen. Derartig direkt ist in der Kirchen-geschichte keiner vor Humbert mit dem paulinischen Freiheitsentwurf umgegan-gen (zu Laudage vgl. Jakobs S. 460 ff. [1070]). Wir handeln also über eine Etappeder Differenzierung von „Kirche und Staat", die überhaupt nicht in der Intentionder „Reform" gelegen haben kann.

Durch die Diskussion über Details der Auseinandersetzungen zwischen Gre- Bannspruch und

gor VII. und Heinrich IV. läßt man sich am besten von T. Struve führen [in: 1127, Rekonziliation

II]; am Leben Heinrichs IV. ist ein „Versuch" G. Tellenbachs „über die Erkenn-barkeit menschlicher Individualität im hohen Mittelalter" orientiert [in: 221];„Zur Verfasserfrage der Vita Heinrici IV." vgl. H. Beumann [in: 217; auch in:230]. Wichtige ältere Diskussionsbeiträge über Rechtsgrundlagen, Motive undAbsichten der Handelnden zwischen Worms (1076) und Canossa (vgl. S. 28 f.)hält der Sammelband „Canossa als Wende" [1134] insbesondere mit Arbeiten von

A. Fliche und H.-X. Arquilliere fest. Mehrfach in die Diskussion gekommenist vor allem die Oppenheimer Promissio Heinrichs IV. [123: ed. F.-J. Schmale,Anh. B]. H. Beumann [in: 1102] versteht die oft behandelte Quelle [insbes. C.Erdmann in: 1134] wohl zu Recht als ein Dokument, mit dem eine bestimmte Par-tei am Hof in den aufziehenden Kampf der Federn eingriff [anders 1132: Ch.Schneider S. 172 ff.]. Hlawitschka [1133] ist Beumann allerdings nicht in derAnsicht gefolgt, daß Gregor VII. durch sein Verhalten gegenüber der Fürstenop-position dem König überhaupt erst den zeitlichen Spielraum für seine Canossa-fahrt verschafft habe.

Im populären Wissen über das Mittelalter behaupten sich aus dem bürgerlichenGeschichtsbild des 19. Jh. vor allen anderen noch Canossabilder. Sie sind

-

zusam-

men mit älteren Forschungsetappen und ihren Derivaten in Publizistik undKunst (und nicht selten lief der Strom auch umgekehrt)

-

von H. Zimmermann[1137] den Neuhistorikern überantwortet worden. Die nationale und liberaleÜberzeichnung aus der Kulturkampfzeit ist genauso überholt wie die einseitigeBewertung des Bußgangs als eines taktischen Erfolgs Heinrichs IV. [A. Brack-mann in: 1134], wenngleich außer Frage steht, daß sich die Bewertung „Canos-sas" als Schande auf eine zeitgenössische Quelle [vgl. 50: Lampert von Hersfeld]stützen kann; vgl. auch Blumenthal [1138, S. 92 f.] betr. den Traktat De peniten-tia Regis Salomonis und die ausgewogene Gesamtbewertung von Boshof [1108,S. 231 ff.]. Die dreitägige Buße ist Herrscherbuße [1136: R. Schieffer], begonnenam Tage der Conversio s.Pauli [1135: Schaller] und wie vom hl. Paulus inDamaskus tribus diebus mit Fasten und Beten aufgenommen. In der Beurteilungder Rechtsgrundlagen [darüber auch H. Beumann in: 1102] ist davon auszuge-hen, daß Gregor selber erst in ganz neuer Situation (Fastensynode 1080 [99: Reg.VII 14a]) die Exkommunikation und die Wiederaufnahme des Büßers so interpre-tiert hat, als sei der Bann eine Amtsenthebung und die Rekonziliation noch keineWiedereinsetzung gewesen. Dem Verständnis für die „mehr suspensive als defini-

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166 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

tive Wirkung" der „Deposition" von 1076 [O. Hageneder] ist eine Material-sammlung sehr dienlich, die Unverhau bereitstellte [1473, S. 63 ff.]. DerAnspruch auf päpstliche Idoneitätsprüfung oder gar auf Approbation weltlicherHerrschaft steckte noch in ersten, juristisch völlig unsicheren Anläufen.

Rex Teutonicorum Canossa ist auch ein symbolisches Datum für die Festigung unseres Volks- undStaatsnamens geworden. Gregor VII. hat Heinrich IV. als den rex Teutonicorumabsolviert. An der Kurie ist die „deutsche Reichskonzeption" entstanden, die sichgegen Ansprüche kehrte, die im Reich in den Titel rex Romanorum gefaßt wor-

den waren (vgl. dazu die Sonderstellung der regna Italien und Burgund im Worm-ser Konkordat). Das Buch von Müller-Mertens, das diese Gedanken zuerst

erarbeitet hat [1183], wurde von H. Thomas [RhVjbll. 40,1976,280 ff.] „den anre-

gendsten Arbeiten über die mittelalterliche Geschichte, die nach 1945 in Deutsch-land erschienen sind", zugerechnet. Das Urteil hat Bestand, auch wenn der Gegen-satz zwischen Romanorum und Teutonicorum rex in neueren Untersuchungendifferenzierter gesehen wird als von Müller-Mertens [1184: Beumann; B.Merta, Die Titel Heinrichs II. und der Salier, in: 708; 249: Struve; H. Thomas(wie oben S. 144 f.)].

Widerstandsrecht Quem regem facere vellet haberet in potestate populus, so wird die Forchhei-mer Wahl des ersten Gegenkönigs in Brunos Buch vom Sachsenkrieg [21, c. 91]kommentiert. An einem Beitrag über „Das Bild des Gegenkönigs Rudolf von

Schwaben in der zeitgenössischen Historiographie" [T. Struve in: 224] fällt auf,daß der Parteien Gunst und Haß sich zwar reichsweit und heftig artikulierte, aus

Frankreich und England aber fast nichts verlautet. Die sächsischen Positionen indieser „Crisis of medieval Germany" sind von K. Leyser [zuletzt in: 635] und WGiese [zuletzt in: 1109,1] herausgearbeitet, genealogische (und nach Meinung derAutoren auch „geblütsrechtliche") Hintergründe des „Rheinfeldeners" in konra-dinischer und burgundischer Deszendenz sind von Armin Wolf [833] und E.Hlawitschka [in: 1109,1], nach der diskutablen Richlind-These Wolfs sogar inottonischer Deszendenz vertieft, die tatsächlichen Vorgänge in Forchheim von

W. Schlesinger [in: 1102; auch in: 234] neu dargestellt worden. Von Schlesin-ger ging auch die neuere Diskussion über Wahlrecht und Staatsauffassung im Für-stenwiderstand aus. Jakobs [in: 1102, S. 88 ff.] hat gegen Schlesingers Interpreta-tion sofort zu bedenken gegeben, ob die Wahlkapitulationen wirklich aus derGeschichte der deutschen Königswahl selbst verständlich sind oder nicht viel-mehr der Disput über die kanonische Wahl nun auch in den Köpfen der Königs-wähler eine Klärung bewirkt hatte. Inzwischen ist erwiesen, daß diese Fragestel-lung noch viel allgemeiner berechtigt ist als für den besonderen Fall 1077 und dieWahlen seit 1198 [R. Schneider, Wechselwirkungen von kanonischer und weltli-cher Wahl, in: 825]. Die Berichte über Forchheim heben darüber hinaus in allemdie kirchliche Orientierung hervor: Idoneität und Amtsgedanke, nichtsimonisti-sches Verfahren, kanonische Resistenz des Kandidaten, und im Verzicht Rudolfsauf traditionelle Erwartung der Sohnesfolge im Königshaus gemäß der konstitu-tionellen Auflage, das Reich nicht als ein proprium zu betrachten, sucht sich eine

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C. Herrschaft und Staatlichen 167

neue Reichsauffassung Ausdruck, nach der die Fürsten die Verantwortung für dasReich tragen und ihm seinen Herrn setzen [820: H. Keller; U. Schmidt, DieWahl Hermanns von Salm zum Gegenkönig 1081, in: 224].

Ungeachtet der vielen fürstlichen Eigeninteressen (z. B. des Kur- und Krö-nungsrechtes als Mainzer Anspruchs [98: GP IV 109 Nr. T72]), ist auch über dasGrundsätzliche in den Vorgängen von vielen Zeitgenossen nachgedacht worden.Eine erste „Theorie" des Widerstandes ist im Liber ad Gebehardum [76, 1 308 ff.]mit der Rechtfertigung erneuter Bannung Heinrichs IV. durch Gregor VII. 1080aufgestellt. Der Autor, Manegold von Lautenbach [935: W. Hartmann], erläu-terte den königlichen Auftrag an dem hofrechtlichen Beispiel vom Schweinehir-ten, den der Dienstherr bei Pflichtversäumnis fortjagen kann. Der Vergleich stehtdem Bild nicht fern, mit dem Gregor VII. die Fürsten als Hunde sah, die den Hir-ten zur Seite die Schafe vor Wölfen schützen [99: Reg. VI 17]. Manegolds Thesemuß wohl vor dem Hintergrund der neu aufziehenden Diskussion über die „Uni-versalien", d. h. über die Bedeutung der Begriffe gesehen werden. Der Königstitelist kein nomen naturae vel meritorum, vielmehr ein vocabulum officiorum unddem des Papstes darin unterlegen, daß diesem die merita des Hl. Petrus (quasi alsGarantie der „Realität" von Name und Sache) immer bereitstehen, den Königaber, sofern er ein Tyrann ist, nichts mehr hält [1131: Fuhrmann]. In großeGewissenskonflikte zog die päpstliche Eideslösung die Zeitgenossen: Mochtendie einem Tyrannen geleisteten Eide auch in sich ungültig sein, die Schwierigkei-ten in Theorie und Praxis blieben. Manegold suchte sie zu überwinden, indem er

das päpstliche Gebot den von Schuld Geplagten als medicamentum anpries [1154:Struve].

Es ist problematisch, Manegolds Vertragstheorie wie auch das Dictum Brunos Tyrannenmordin neuzeitliche Terminologie [„Volkssouveränität"; 816: Kern S. 216 ff.] umset-

zen zu wollen. Allerdings haben wir es mit Literatur zu tun, die situationsbezo-gen ist und durchaus auch Handlungen leiten will [Pragmatische Geschichts-schreibung und Krisen I: G. Althoff, Zur Funktion von Brunos Buch vom Sach-senkrieg, in: 853]. Auch verwendet die Diskussion über das Widerstandsrecht im12. Jh. erstmals seit der Antike wieder Exempla des Tyrannenmords [817: Spörl].Namentlich benannte Tyrannen sind insbesondere die Widersacher der Kirche[1255: Wieruszowski; 1322: Türk S. 72 ff.]. Bei den Normannen nahm Wilhelmvon Poitiers „die einer umgedeuteten Antike abgelesene Lehre vom Tyrannen-mord" mitsamt dem Motiv seiner Schönheit auf [1114: Schnith S. 45]. „In derHeimat der neuen ,Tyrannis'" verstand dann Johannes von Salisbury [47: Policra-ticus] den Mörder als ein Werkzeug Gottes [988: Berges S. 58 f., 142 f.; 989: Ker-ner]. Der Gedanke im Policraticus ist aber eher Glosse zur Allmacht Gottes alspolitische Quintessenz [}. van Laarhoven in: 987; anders 981: Struve, der dieZulassung des Tyrannenmordes aus der organologischen Staatsauffassung desTraktats erklären wollte, darauf in seiner neuerlichen Explikation aber nichtzurückkommt (in: 987)]. Widerstand gegen den verkehrten Herrscher bis zum

Mord kennt auf Reichsgebiet der „Reinhart Fuchs" des Elsässers Heinrich [38], in

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168 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

dem H. Schwöb [in: 218, II] einen antistaufischen Dichter in zähringischem Auf-trag sehen will. In der Studie über „Das literarische Mäzenatentum der Zährin-ger" von V. Mertens [in: 789,1] kommt der Fall nicht vor.

Konkordate Die Absprachen, die nacheinander mit dem französischen (1104), englischen(1106/07) und deutschen König (1122) zustande kamen, waren Kompromisse fürdie Bischofs- und Abtseinsetzung an Hochkirchen. Die Vorgeschichte der „Kon-kordate" ist in allen Fällen auch forschungsgeschichtlich dornenreich [gute Füh-rung über die Gipfellinie der Literatur in 186: Robinson]. Sie regelten nicht nur

die Investitur, sondern auch die kanonische Wahl, standen also in tiefer Verbin-dung mit der Anfangszeit. Die zwischen Heinrich V. und Calixt II. in Worms ver-

sprochene pax wurde erstmals von Leibniz Konkordat genannt. Der Status derHochkirchen blieb unter variierenden verfassungsrechtlichen Voraussetzungenein Grundpfeiler im Staatsaufbau, aber überall wurde nun das Lehnrecht zum

Rechtsmittel, das die „gemilderte Investitur" [172: Fuhrmann S. 98] ermög-lichte. Uber diese „Feudalisierung im Trend der Zeit" handelt die reichhaltige,wenngleich in Details fehlerhafte Dissertation von Minninger [1160]. Sie hat um

einiges bewußter gemacht, wie sehr die Diskussion der Zeit nicht nur durch nun

reihenweise ergehende Verbote der Laieninvestitur [1156: Beulertz], sondernauch durch das Huldigungsverbot von Clermont (1095) belastet war, mit demUrban II. den immer schon umstrittenen Handgang der geweihten in ungeweihteHände und das ligische Treueversprechen abschaffen wollte (MinningerS. 84 ff.). Aus den Disputen und Handlungen vor allem der Kirchenleute, die inden Jahrzehnten vor dem Wormser Konkordat das Wort führten, können freilichtranspersonale, durchweg biblisch und patristisch legitimierte Staatsvorstellun-gen herausgearbeitet werden, die das Königtum als von Gott geschaffenes Amtund nicht als Spitze einer Lehnshierarchie über Kirchen gelten lassen. Sie dürftenals retardierende Momente gegen die „Verlehnrechtlichung der Königshuldi-gung" im Ideenstreit der spätsalischen Zeit durchaus Wirkung gezeitigt haben

-bis in die Formulierungen des Wormser Konkordats hinein [795: Millotat].Scholastischer Fort- Eine konstruktive Diskussion des kaiserlich-päpstlichen Streitobjekts Investi-

SChri"chartrTs tUr kündi§te sich 1085/86 in De schismate Hildebrandi des Wibertiners Widovon Ferrara [in: 76,1] an. Wenigstens läßt sich nunmehr die Unterscheidung von

temporalia und spiritualia im Komplex bischöflicher Gerechtsame ausmachen.H. Hoffmann [1164] hat die bequeme Lehrmeinung gründlich relativiert, die inIvo von Chartres den geistigen Urheber der Konkordate sah; und er hat auch inErinnerung gerufen, daß Simonisten schon zu Humberts Zeiten die Unterschei-dung zwischen temporalia und spiritualia zu ihrer eigenen Rechtfertigung anzu-

wenden wußten. Der Bischof Ivo war aber eine kanonistische Autorität, unmittel-bare Wirkung ist vor allem von seiner Korrespondenz ausgegangen [darauf hat1165: Sprandel besonders abgehoben]. In einem berühmten Brief [124, Nr. 60von 1097] hielt Ivo dem radikalen Gregorianer Hugo von Lyon entgegen, daß an

der königlichen Mitwirkung nichts liege, es vielmehr auf die Intention ankomme,die nicht Übergabe eines spirituale sein dürfe. Die concessio episcopatus, wie Ivo

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C. Herrschaft und Staatlicheit 169

die königliche Mitwirkung nennt, die keine corporalis investitura zulasse (dieangeblich von Urban II. verbotene „leibliche Gewere"; vgl. W. Ogris in HRG I1662; Deutung als Homagium bei Minninger S. 113 f.), kann nicht mehr dasBischofsamt meinen [vgl. 182: Haller II 458].

Das „Reich mit der größten Verbreitung und wohl auch besten Kenntnis einespäpstlichen Investiturverbots" [Beulertz S. 129 ff.] war Frankreich. Zum Ver-ständnis der Konzilianz Ivos ist die Situation der Bistümer zu berücksichtigen.Das Buch von Pacaut [1300] über die Bischofswahlen unter Ludwig VII. führtebislang am besten an die Problematik heran [vgl. K.F. Werner in: 215, insbes.S. 192 f.], die ihre verfassungsgeschichtliche Vertiefung inzwischen in einem Stan-dardwerk gefunden hat [1297: Kaiser]; über die Hintergründe des besonderenFalles Beauvais 1100-1104 vgl. Guyotjeannin [1298, S. 75 ff.]. Frankreichkannte kein Reichskirchensystem gleich dem ottonisch-salischen. Es ist nötig,Königs-, Landes- und Reichsbistum zu unterscheiden. In den Landesbistümernist Investitur der Bischöfe durch die Fürsten oder deren Untervasallen zwar sel-ten bezeugt, vielleicht aber Regel gewesen [vgl. 1155: R. Schieffer S. 159 ff.].Hier konnte der Episkopat also von einer Sonderstellung des Königs nur profitie-ren. Der Antrieb für diese Entwicklung ging von den „Reichsbischöfen" aus,deren Bistümer nicht in der Krondomäne lagen, aber auch keiner „Landesherr-schaft" rechtlich unterstanden (wie z. B. Chartres im Gebiet der Grafen von

Blois). Von den Forderungen der gregorianischen Reform konnte das französi-sche Königtum [vgl. auch J. Gaudemet, Gregoire VII et la France, in: 1127,1] imübrigen so wenig wie die Prinzipate noch in Herrschaftskrisen geführt werden;denn in Justiz und Administration war um 1100 der Episkopat durch einen weltli-chen, sozial tiefer stehenden Adel ersetzt [1163: Lemarignier].

Mit A. Becker [1162] haben wir oben in IB 6 (S. 34) die neue Praxis der „gemil-derten Investitur" entgegen der Meinung Hallers u. a. nicht schon für 1098 ange-setzt, mit K.F. Werner [Rezension Becker in: Zeitschrift für Kirchengeschichte67, 1955 / 56, 338 ff.] jedoch daran festgehalten, daß sie

-

mit oder ohne Handgang-

lehnrechtlich gedacht war. Das Huldigungsverbot wurde in Frankreich nichteinmal von Ivo ohne Diskussion hingenommen [124, Nr. 190, an Paschalis II.].Die wissenschaftliche Entscheidung über das Eindringen des Lehnsnexus in diefranzösische Kirchengeschichte ist indessen noch einmal aufgeschoben; vgl. Mil-lotat [795, S. 170 ff.], der allerdings nicht auf die Rezension von K.F. Wernereingegangen ist. Daß die gegenseitige Bindung in lehnrechtlichen Formen damalsüberhaupt mehrdeutig blieb, zeigt sich auch an dem Freundschaftsbund, den Phi-lipp I. und Paschalis II. 1107 in St. Denis schlössen. Den Bericht, den der spätereAbt Suger darüber verfaßt hat [66: Vita Ludovici, c. 10], als Lehnsauftragung desfranzösischen Herrschaftsgebiets an den Hl. Petrus zu verstehen [so 1293:Ehlers S. 86], geht aber wohl nicht an [vgl. 1309: Kienast I 185 f.: Die Kapetin-ger „stellen ihm ihr Königreich zur Verfügung"].

H. Böhmers Analyse des normannischen Staatskirchentums wie des engli-schen Kirchenstreites (erschienen 1899) war bis 1931 (Z.N. Brooke, The English

Die kirchliche undpolitische StrukturFrankreichs

Der französischeKompromiß von

1104

Das anglo-norman-nische England

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170 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

Church and the Papacy) das Standardwerk, als jüngere Zusammenfassung derForschung (bis 1979) ist nun am besten F. Barlows „Geschichte der anglo-nor-mannischen Kirche" [1170]. Die Grundbefunde bleiben aber die alten: die nor-

mannischen Herzöge des 11. Jh. waren allesamt für die Kirchenreform aufge-schlossen; aber keine Kirche in Europa ist so völlig dem landesherrlichen Regi-ment unterworfen gewesen wie die normannische. Exemplarisch sind die Auswir-kungen der Eroberung auf einen Bischofssitz in der Biographie des hl. Wulfstanvon Worchester [nachzulesen in 1168: Mason]. „Domesday England" [1169:Darby] erlaubt der Forschung auch Einblicke in die Landverteilung nach derEroberung. Die Kirche war mit einem Anteil von 25% am bebauten Land (ohnedie Forste, die alle königlich blieben) gut ausgestattet.

Konflikt mit Canter- Der englische Investiturstreit ist in der Hauptsache ein Konflikt zwischen Lan-bury franc (f 1089), der zeitweilig auch Kontakte zum Gegenpapst Clemens III. unter-

hielt [1320: Berg S. 449] bzw. seinem Nachfolger Anselm von Canterbury undder Krone. Als ein Instrument, das dem Erzbischof neben dem König Kontrolleüber die Reformen ermöglichen sollte, hatte Lanfranc das Primatialkonzil einge-führt und als Einrichtung aus der Frühzeit der englischen Kirche ausgegeben. Die-ses generale concilium mit Zuständigkeit für den gesamten insularen Bereich desEroberers sollte jedenfalls mehr als eine Provinzialsynode sein; sie öffnete sichdann unter Anselm nach Rom und nahm unter dem Erzbischof Wilhelm (vonCorbeil, seit 1123) den Charakter einer Legatensynode an; vgl. Schnith [1171],der vor allem darlegt, daß das in älterer und jüngerer Literatur (C. Servatius, ZurEnglandpolitik der Kurie unter Paschalis II. [in: 219]) geläufige Schema vom Rin-gen zwischen König und Papst um die Beherrschung der englischen Kirche zu ein-fach ist, weil die Kirche von Canterbury auch ihrerseits Eingriffe des Papsttumsim Normalfall ausschließen wollte. Die Streitpunkte der Jahrhundertwende wer-

den u. a. durch das Krönungsgelöbnis Heinrichs L, die Carta libertatum von 1100[in: 85, II], dokumentiert. Erstmals deutet sich an, wie substantiell Kirchenreformund die Freiheit Englands und damit auch wesentliche Grundlagen des engli-schen „Parlamentarismus" zusammenhängen.

Londoner Konkor- Das „Londoner Konkordat" [nur literarisch bezeugt, insbes. durch Eadmer:datii07 Minninger S. 224 ff.; Millotat S. 160ff. und Beulertz S. 121 ff., die das Verhal-

ten Paschalis' II. besser erklären als die ältere Literatur] ratifiziert einen imAugust 1106 in Le Bec mit Anselm eingegangenen Kompromiß. Er gibt der könig-lichen Forderung nach Leistung des Hominiums (vor der Weihe) nach. Unter die-ser Voraussetzung von der Investitur Abstand zu nehmen, war dem Monarchenein Leichtes, zumal er noch ein anderes Substitut für die Zeremonie hatte. Denwichtigen Hinweis darauf gab K. Leyser [Medium Aevum 29, 1960, 214 f.J: Einemassive Gruppe von 21 Writs (Mandaten) des Königs ist erhalten, mit denen er

die höchsten „dignities of the Church" verlieh, nach 1108 gelegentlich auch aus-

drücklich „bewilligte". Ein klares englisches Modell (königliche Anwesenheit beider Wahl; homagium) und die nicht konfliktfreien französischen Präzedenzfälleohne Handgang standen sich nun gegenüber.

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C. Herrschaft und Staatlicheit 171

In Weinfurters „Überlegungen zu einer Neubewertung Kaiser Heinrichs V." Der salische Stand-

fin: 523; vgl. oben S. 35] ist einerseits die Fundierung der „Heilsgemeinschaft" mit Punktden Fürsten auf der Hirsau-Petershausen-Kastl-Reform so neu nicht, anderseitsstößt für Person und Politik des deutschen Königs die „Neubewertung" nach denersten fünf Jahren, also von 1111 an, wieder an die alten Grenzen. Überprüft istauch noch nicht, ob die vielgestaltige Diskussion des Investiturproblems, wie siein den ersten Königsjahren nach 1106 geführt worden ist, mit allen Überlieferun-gen in den Rahmen der neuen Theorie paßt. Der sichere allgemeine Befund [Wein-furter S. 23 ff.], daß Heinrich V. den Episkopat bei Anerkennung freier Wahl,jedoch unter Wahrung des Anspruchs auf Investitur hinter sich wußte, ist wahr-haftig nicht dahingehend zu bewerten, daß er Spielraum für die Erwartung derKurie eröffnet hätte, nun in der Sache weiterzukommen. Der allgemeine Befundträgt also zur Verifizierung der „Neubewertung" wenig bei. Anders stünde es,dürfte man die spezifischen Angaben ins Kalkül ziehen, die Suger von St. Denis[66: Vita Ludovici c. 10] über den Vertrag Brunos von Trier [1161: Erkens] vor

der Synode von Chälons-sur-Marne (1107) macht, doch wird sein Bericht von derjüngeren Literatur

-

mit zwei Ausnahmen [Minninger (mit allerdings machtpoli-tischer Wertung) S. 134 ff.; 186: Robinson S. 421]

-

teils an entscheidender Stelleemendiert, teils wegen seines zeitlichen Abstandes zu den Ereignissen in seinerZuverlässigkeit verdächtigt. Laut Suger hatte der Legat Heinrichs V. als altes iusimperii geltend gemacht, daß bei einer Bischofserhebung nach königlicher Zustim-mung zur Person eine solche kanonisch gewählt werde, dann der schon Geweihte(!) die Regalien einhole (Investitur mit Ring und Stab) und die Lehnshuldigung lei-ste. Im Ansatz der Weihe vor der Investitur läge in der Tat eine so deutliche Auf-wertung der geistlichen Komponente bei der Erhebung, wie sie konzilianter nichtausfallen konnte zu einem Zeitpunkt, zu dem die Szepterinvestitur noch nichtkonzipiert war. Es gibt überdies keinen Anhaltspunkt dafür in den Quellen, daßdie in die fragliche Zeit fallende Investitur Reinhards von Halberstadt vor derWeihe erfolgt sein müßte, so daß seine Erhebung (allerdings mit etwas andererBewertung als bei Millotat S. 236 ff.) durchaus „reichspolitisch-programmati-sche" Züge trägt. Nach Klärung der englischen und französischen Positionenwäre dann außerdem offenkundig, daß der letzte Salier und sein Entourage sicheinen Verzicht auf die Fürstenstellung der Reichsbischöfe und -äbte nicht mehrvorstellen konnten, sie also von Anfang an

-

nicht erst seit 1110, als Mathilde [K.Schnith in: LMA VI 392] als künftige deutsche Königin an den Hof kam, odergar erst nach dem Zusammenbruch der „reformkirchlichen Heilsgemeinschaft"mit den Fürsten im Fiasko des Jahres 1111 vor Ponte Mammolo

-

auf dem engli-schen Kurs steuerten. „The struggle for the Church's freedom turned into a strug-gle for clerical privileges" [1128: K. Leyser S. 61].

Zu einem dramatischen Ringen um das Investiturrecht kam es also nochmalsim Reich des Saliers [Beulertz S. 132 ff.]. Um das Jahr 1109 bewegte sich dieReichspublizistik in der Investiturfrage (Tractatus de investitura episcoporumeines Lütticher Klerikers oder vielleicht Sigeberts von Gembloux) auf dem

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172 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

Niveau Ivos [vgl. 1173: J. Beumann; nicht leicht zu widerlegenden Vorbehaltenvon A.J. Stoclet gegen die Identifizierung des Autors begegnet J. Krimm-Beu-mann in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon VIII, 1992,1229, Zustimmung u. a. von A.D. von den Brincken in: 222, S. 202], weiß alsodie Investitur von der kirchlichen Amtserhebung zu trennen und die Bedeutungder dabei verwendeten Symbole herunterzuspielen. Der Traktat glossierte erst-mals, was regalia sind und stellte sie in lehnrechtliche Verfügung des Königs. Diemaßgeblichen Studien über den „Regalienbegriff" [1166: Fried; 1174: Blumen-thal] verdeutlichen auch, was der damalige Diskussionsstand zur Interpretationdes denkwürdigen, von Paschalis II. in Sutri vorgelegten „Entäußerungsplans"[Kratz; vgl. 1159: Servatius] von 1111 hergibt. Heinrich V. sah die weltlichenRechte (Temporalien) ziemlich global als Regalien an, während der Papst diepatri-monia und oblationes aus der Verfügungsgewalt des Königs ausschloß und nurfür die regalia als öffentliche Funktionen „die unaufhebbare Pertinenz zum Rei-che" [Fried] anerkannte.

Servatius [1159, S. 248 f.] hat bemerkt, daß das „Pravileg" von Ponte Mam-molo die Investitur zwar als ein Vorrecht des Kaisers gelten läßt, dessen persönli-che Idoneität aber vor und auch dauernd nach der Kaiserweihe vom Papst zu prü-fen sei. Der Gedanke päpstlicher Approbation, der Geschichte machen wird,hätte demnach erste Kontur in dem Dokument gewonnen, mit dessen Gewinnsich der Kaiser auf dem Gipfel seiner Macht wähnte. Es spricht auch sonst vielesfür das Bild von Paschalis II. als einem scharf kalkulierenden Pragmatiker, wie es

St. Chodorow gezeichnet hat: „Paschal II, Henry V, and the origins of the crisisof 1111" [in: 920].

Der Disput über das Kirchengut wurde noch im Jahre 1111 von Placidus von

Nonantola in einer kanonistischen Kompilation bis zu der Forderung geführt, dieschwerwiegende Frage synodaler Beratung zu überantworten [1175: Busch].

-In der Forschung fehlte indessen eine systematische Aufarbeitung des Regalien-rechts als des königlichen Anspruchs auf Zwischennutzung bei Vakanz der Kir-chenleitung; der Anspruch ist nicht identisch mit dem des ins spolii, hängt abermit ihm zusammen; vgl. W. Petke [in: Festschrift Gerhard Baaken, 1994]: in Eng-land ist dieses Regalienrecht seit Wilhelm dem Eroberer geübt und sicherlich lehn-rechtlich begründet worden [H. Böhmer], in Deutschland beanspruchte es Hein-rich V. erstmals 1119 gegenüber der Reichsabtei Lorsch.

Mouzon 1119: //es- Die weiteren Verhandlungen [1177: Th. Schieffer], die der Papst mit Rück-soms Relatio de con^ na[t ^es Reimser Konzils führte, waren notwendig auf Eliminierung der Investi-

iii21 ff.] tur gerichtet. Adalbert von Mainz, der in Reims zum ständigen päpstlichen Lega-ten für Deutschland ernannt wurde, betrieb die Lösung des Problems im SinneUrbans II. und suchte die „englische Lösung" zu unterlaufen. Das hat eine der

Würzburger Hoftag konzisen Studien des späten H. Büttner [in: 1102] verdeutlicht, in der sonst die

10646: C()™t ' Nr Ausführungen über die pax firmissima des Würzburger Hoftages von 1122 beson-Konkordat [Const, dere Beachtung verdienen. Die überpersonale Wahrung der Interessen des reg-

i Nr. 107.108] num durch den königlichen dominus gemeinsam mit den Fürsten sollte nicht nur

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C. Herrschaft und Staatlicheit 173

ein fürstliches Diktat für den Augenblick, sondern eine zukunftweisende Konzep-tion sein. Die Zeugenliste des „Wormser Konkordats" (vgl. S. 36) hebt erneut her-vor, daß alles consensu et consilio der Fürsten verhandelt worden sei [1180:Krause; 786: Weitzel], wie die Liste an sich belegt [1119: Gawlik], daß das Ver-hältnis zwischen dominus und regnum sich gründlich verschoben hatte.

Zur Diskussion über das Konkordat genügt hier der Hinweis auf zwei herausra- Wirkungen des Kon-

gende Titel: auf die Abhandlung A. Hofmeisters von 1915, die im Streit über die kordats

Bedeutung des Konkordats „eine weitgehende Übereinstimmung" herbeiführenkonnte [R. Schmidt im Vorwort zur Neuausgabe: 1179; das Vorwort ist u. a. fürdie Überlieferungsprobleme des Calixtinums wichtig]; sodann auf Classens Wir-kungsgeschichte des Konkordats von 1973 [in: 1102]. Wenngleich das von Fried-rich Barbarossa dem Herzog Heinrich dem Löwen zuerkannte Investiturrecht(vgl. S. 47) als Handlung im Namen des Königs gedacht war, wucherte der Her-zog mit diesem Pfund und suchte sich alle Bistümer lehnrechtlich für die sächsi-sche Landesherrschaft nutzbar zu machen, zog damit freilich eine Gegnerschaftauf sich, die zu seinem Sturz beigetragen hat q. Ehlers in: 1399].

Das Wormser Konkordat ist eine Etappe, keineswegs der Schlußstrich in derNeugestaltung der „Weltordnung" durch Papst- und Kaisertum. Die weiterge-hende Einschränkung, daß das Calixtinum überhaupt für Heinrich V. persönlichausgestellt und von vornherein auf Revision angelegt gewesen sei, ist unhaltbar[1181: Trautz]. Das Kronrecht war jetzt kaum weniger deutlich im König als dasKirchenrecht in den Aposteln personifiziert, und das Calixtinum gewährt ja nichterst ein Recht, anerkennt es vielmehr in reduzierter Form.

Die Mitgliedschaft des Königs unter Verfügung über eine Individualpfründe in KönigskanonikatStiftskapiteln ist als überpersönliche Einrichtung nicht vor dem 12. Jh. entstandenund abzuheben von der Gebetsverbrüderung, mit der für den Herrscher in denfrüheren Jahrhunderten ein synergetisches Bruderverhältnis mit der Geistlichkeitbegründet wurde; vgl. die Sichtung einer längeren, von M. Groten (HJb 103,1983) ausgelösten Kontroverse durch Borgolte [1182], der zugleich Perspekti-ven für eine europaweit vergleichende Untersuchung des Laienkanonikats eröff-nete, mit dessen Aufkommen nach der Unterhöhlung sakraler Königsrechte sicheine spätmittelalterliche Schutzform anzukündigen scheine. Jedoch hat Groten(Königskanonikat und Krönung, in: DA 48, 1992, 625 ff.) auch gegen diese„Akzentverschiebung" plausible Einwände vorzubringen.

h) Reichsidee und PapalsystemÜber die „politische Reichweite" der Kaiserherrschaft handeln die Kapitel I B 1,D 2; über Innozenz III. und die europäischen Mächte vgl. D 3. Weitere Hinweiseauf die Kanonistik bringt II C 6 b. Wir gehen hier auf Urteile über die staufischeReichsidee und das ihr entgegengestellte kuriale Gedankengebäude ein. Nur inden westeuropäischen Königreichen finden wir Gelehrte, die ihre Könige als Poli-zisten des sacerdotiums ansahen und darüber hinaus fähig waren, die Herrscher

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174 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

des 12. Jh. als Charaktere vom frühmittelalterlichen Königsbild abzuheben [Ley-ser, Reflections, in: 1172] und Konflikte mit Gegenspielern (wie Th. Becket)„sachgerecht im Pro und Contra legitimierbarer Positionen zu artikulieren"[1342: Vollrath].

Zeitliche Schwerpunkte hat die Forschungsdiskussion im Übergang der Herr-schaft von Lothar III. auf die Staufer, im Imperium Heinrichs VI. und im welfisch-staufischen Thronstreit. Römisches Kaiserrecht und die Zweischwerterlehrekamen aber schon im 11. Jh. ins Spiel [1157: Jordan; 258: H. Hoffmann; 138:Märtl; 249: Struve; H.H. Anton, Die Defensio Heinrici IV. regis, in: 222]; undvon Belang für die Diskussion ist auch, daß das 12. Jh. zunehmend die Transperso-nalität der Reiche in „Kronen" und „Thronen" und die „Unveräußerlichkeit"von Kronrechten erfaßte [P. Classen, Corona imperii, in: 231; 772: H. Hoff-mann; 250: G. Koch]. Über die Entfaltung der „Theorie des monarchischenPapats" und ihre Funktion für die Praxis vgl. zuerst Miethke [260]; die wichtig-sten „Studien zur ideologischen Herrschaftsbegründung", d. h. zu der Lehre von

einem Gottesgnadentum, das der Vermittlung des Papstes nicht bedarf, wurdenvon G. Koch [250] vorgelegt.

Kaiserherrschaft Viel beachtet wurde F.-J. Schmales These [Lothar III. und Friedrich L, in: 215,und Reichsidee auch m. 1406; vertleft durch l270: Crone], die Staufer hätten eine von Lothar III.

in Übereinstimmung mit den Erfordernissen der Zeit eingeleitete positive Ent-wicklung im Reich wie im Verhältnis des Reiches zur Römischen Kirche gekappt.Die Vorbehalte gegenüber Konrad III. und Friedrich Barbarossa wollen nicht an

dieser oder jener Leistung gemessen werden, die unbestritten bleiben [1405; 1399-mit einleitender Sichtung des Erreichten von A. Haverkamp; 1478: Stürner

Kap. 1], sind vielmehr Momente in einer allgemeineren neuen Urteilsbildungüber die staufische Kaiserpolitik [1402: Borst].

Aber es gibt auch neue Einsichten: z. B. in die Selbstdarstellung Konrads III.[1278: Bühler, betr. insbes. Engels' Beiträge zur Geschichte der Staufer, in: 1289]-

in jenen „Abschnitt des Konstanzer Vertrags 1152/53, den Rassow [1408] zum

Anlaß für eine überaus günstige Einschätzung der Verhandlungsführung Fried-rich Barbarossas nahm", der sich jedoch mit seiner Hundertjahresklausel „alsKernstück eines konsequenten päpstlichen Restaurationsplanes" offenbart Q.Petersohn, Präskriptionsrecht und Konstanzer Vertrag, in: 224]

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in die Rolle,die Byzanz in der italienischen Politik der Stauferzeit einnahm [P. Classen, Mai-lands Treueid; Komnenen und Kaiserkrone, in: 231; 1409: Hiestand]

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in die spe-zifischen politischen und geistigen Anschauungsformen von „Weltherrschaft"(auctoritas; vgl. J. Miethke, Autorität I, in: TRE V 17 ff.) in einer Weltordnung,die noch nicht von souveränen Staaten bestimmt war [256: Hageneder, der Teileder im folgenden angeführten Literatur relativiert]

-

in die Reserven der europäi-schen Nachbarn, der reges provinciates in der staufischen Sichtweise [1410: Töp-fer] gegenüber der Weltherrschaftsidee [K. Schreiner, in: 179, V), insbes. beiFranzosen [1310: K.F. Werner] und Engländern [1321: Trautz; 1172: K. Leyser;1345: Smalley; 1320: Berg; T. Reuter, John of Salisbury and the Germans, in:

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C. Herrschaft und Staatlicheit 175

987; vgl. auch 1421: Ahlers]-

in die kaiserlichen Ansprüche im Hl. Land [272:H.E. Mayer] und in der deutschen Ostsiedlung [K. Zernack in: 179, III]

-

in diesowohl unter politischen Zielsetzungen als auch Reaktionen Barbarossas sich festi-genden Strukturen eines europäischen „Staatensystems" [1415: Georgi]

-

in dieGenese der Vorstellungen vom Sacrum Imperium [250: G. Koch; R Moraw in:LMA IV 2025 ff.]

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in die äußerste Steigerung der Kaiseridee am Hofe FriedrichsII. [H.M. Schaller in: 1263]. Ob Wibald von Stablo besonderen Anteil an derAngleichung von deutschem Königtum und Kaisertum, ob er die Sakralnominaund Justinianzitate in die Kanzleisprache gebracht hat [1407: Herkenrath], istunklar geblieben. Die Komposition der Elemente, mit der am Hofe Konrads III.und Barbarossas das imperium als ein beneficium Gottes erwiesen wurde, ist aberdurchschaut. Sie nahm ihren Ausgang von der Gelasianischen Zweigewaltenlehreauf dem Entwicklungsstand des letzten Saliers, dessen Apologeten die Gottunmit-telbarkeit beider Schwerter betont hatten. Eine neuere Analyse des Reichskirchen-dienstes unter Barbarossa [B. Töpfer in: 1401] hat ergeben, daß die Hochkirchenzwar ihr kanonisches Wahlrecht weitgehend durchsetzen konnten, ebenso der Kai-ser aber die Regalieninvestitur vor der Weihe mit den daraus folgenden lehnsrecht-lichen Verpflichtungen. Daß Barbarossa in den ersten Jahren seiner Herrschaftund besonders unter der Kanzlerschaft Rainalds von Dassel (seit 1156) als einneuer Konstantin, Theodosius und Justinian und zeitweise im Bunde mit demSenat [1221: Petersohn] eine aggressive Rompolitik betrieb, ist erst von K. Zeil-linger [in: 1400; vgl. oben S. 153] herausgearbeitet worden. Das Imperium Urbis[58: Rahewin, Gesta III 12, IV 86] als Herrschaft über das Reich, die wieder von

der Hauptstadt ausgehen sollte, wurde mit Topoi römischen Rechts und dem Patri-ziat drapiert (mit dem goldenen Zirkel verliehen von Paschalis III. am Tage seinerInthronisation 1167 in der Peterskirche), kurialerseits aber u. a. mit Ansprüchender Konstantinischen Schenkung bekämpft. Uber dessen, nach Meinung allerRömer „häretische Fabel" hatte hinwiederum ein Arnoldist namens Wezel dendeutschen Hof schon beim Regierungsantritt Friedrichs informiert.

Zum Thema gehört die Heiligsprechung von Königen im 12. Jh. (vgl. S. 60, 65), Heilige Königedie allerdings auch signalisiert, daß die ideelle Überhöhung der Herrschaftshäu-ser zur Festigung ihrer Macht europaweit betrachtet werden muß [1411: Meu-then; 1413: Petersohn; 1385: E. Hoffmann; P. Johanek, „Politische Heilige"auf den britischen Inseln im 12. und 13. Jh., in: 220]. Auch setzte der Thomas-Bek-ket-Kult (oben S. 53) ein Gegengewicht [1341: Barlow; A. Duggan in: 987]. InVerbindung mit den dynastischen Grablegen (und den eigenen Gewohnheitender ottonischen, salischen, staufischen Königshäuser [252: Ehlers]) gehört auchdas Hauptstadtproblem in diese Diskussion [vgl. z. B. 1402: Borst S. 14 f.].

Unter den vielen Formeln, die „Roncaglia 1158" (S. 64,191; A. Haverkamp in: Regalientheorie797, S. 58 f.) nach seinen Zielen und Mitteln auf einen Nenner bringen wollen, hatdie von der „Juristifizierung" der politischen Objekte in einem vom Corpus [132]inspirierten Idealprogramm [1408: Rassow, Honor imperii] großes Echo gefun-den. Darin zeigt sich Barbarossa auf der „wissenschaftlichen" Höhe der Zeit, daß

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176 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

er die Quelle seiner Herrschergewalt (und nicht den einzelnen Gedanken aus

Römischem Recht) im Bündnis mit der Rechtswissenschaft feststellt. Der Reichs-tag setzt kein neues Recht, aber Barbarossa herrscht wie ein neuer Justinian. Daßder Anteil der Bologneser Juristen stärker gewesen sei als H. Appelt fin: 1406;auch in: 229] angenommen habe, wurde auch von A. Haverkamp [HZ Sonderh.7, 1980, 148] angemerkt.

Heinrich vi. Abgesehen von den Beziehungen zu England [1321: Trautz] und Frankreich[1311: Jordan] ist das allgemeine Urteil über die „Weltherrschaft" Heinrichs VI.unsicher. (Uber die sizilisch-staufische Verbindung vgl. unten C 4). Zwischen derextremen Interpretation (und nationalistischen Bejahung) staufischer „Weltherr-schaftspläne" durch Toeche [1440, S. 355 ff.] und der erheblichen, aber wohlauch zeitgeschichtlich gefärbten Relativierung der kaiserlichen Universalpolitikdurch Kirfel nach dem Krieg (1959), der der Idee des dominium mundi eine lei-tende Funktion in der Politik Heinrichs VI. wie schon Barbarossas absprach,lavierte Kienast [1309, I 238, III 673 f.], wenn er die „universale Staatskunst"Heinrichs VI. über die des kaiserlichen Vaters stellt. Neue Ansätze zeigt eher dieDiskussion über die ideologische Dimension [vgl. 247: Kempf, insbes. S. 235 überBarbarossa und Heinrich VI.]. Von Engels [178, S. 117] wurde sie in die Sentenzgefaßt: „Das Endziel muß Jerusalem gewesen sein". Neben dieser religiösenVariante der Idealisierung des Imperiums wurde seit den 1180er Jahren eine genea-logisch-legitimistische Interpretation virulent, die den Prinzen Heinrich alsSproß des einen Kaisergeschlechts der Weltgeschichte sah. Engels [S. 81 f.] hatdas Speculum regum des kaiserlichen Kaplans und Notars Gottfried von Viterbo[4: Wattenbach-Schmale I 77 ff.; F. Hausmann in: 1401] dahingehend interpre-tiert, daß die Lehre von der in einem Geschlecht vererbten Weltherrschaft derSteuerung kirchlicher Auffassungen (von der Idoneität des Herrschers, der Kai-serkrönung durch den Papst, der Schutzvogtei über die Kirche) dienten.

Der Parteien Gunst und Haß sind insbesondere die Uberlieferungen nichtmehr zu entziehen, die Heinrich VI. mitleidlosen Opportunismus wegen derPreisgabe des kaiserlichen Tusculum zur Zerstörung gelegentlich seiner Kaiser-krönung 1191 [Toeche S. 182 ff.; W. Holtzmann, in: DA 14, 1958, 498 f.], Billi-gung des Lütticher Bischofsmordes 1192 [Toeche S. 216ff.] und die Grausamkei-ten des zweimaligen Strafgerichts über die sizilische Opposition 1194 und 1197[Toeche S. 343 ff., 453 ff.; 1477: Kantorowicz I 16; 1478: Stürner S. 52, 63 f.]anlasten. Bezeichnend für den Herrschaftsstil Heinrichs VI. scheint auch die Vor-behaltsklausel zu sein [1447: G. Baaken], die der Kaiser ins Privilegienwesen ein-führte: seine Verleihungen standen „unter dem Vorbehalt weiterer, selbst entge-gengesetzter Verfügung". In ihrer Konsequenz lag die Privilegienresignation, dieerhebliche Unsicherheit ins Feudalsystem brachte. Baaken weist aber zu Rechtdarauf hin, daß die kaiserliche Widerrufsklausel in der päpstlichen ihr Vorbild hatund sich in ihr gegen Ende des 12. Jh. europaweit ein neuer staatsrechtlicherAnspruch der Fürsten ausdrückt, insofern er den Vorbehalt als Gesetzgeber hand-haben will.

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C. Herrschaft und Staatlichen 177

Das König- und Kaisertum des Weifen Otto IV. ist durch die Forscherleistung Otto iv./von Hucker [1469] von jahrhundertealten Vorurteilen befreit, überhaupt erst in FneQnch ll-

seiner eigenständigen Prägung erkannt und in eine eindrucksvolle Darstellunggebracht worden, die mit Kapiteln über „Kreuzzugsplan und WeltkaisertumOttos IV", „Die imperiale Stellung Ottos IV. in Europa" sowie „Die imperialeSymbolik und die Herrschaftszeichen Ottos IV." als wissenschaftlich sensationellbewertet werden darf. Freilich ist das weifische Kaisertum mit allen Plänengescheitert. Im Zusammenhang dieses Abschnitts über „Reichsidee und Papalsy-stem" wäre insbesondere der „Säkularisationsplan" anzuführen, der, „wäre er ver-

wirklicht worden, zu einer Entmachtung des Reichsepiskopats und zu einem Ver-lust der Einflußmöglichkeiten des Papstes geführt hätte" (S. 634); auch sollen dieQuellen ergeben, „daß die vollständige Angliederung des Königreiches (Sizilien)an das Imperium realistisch war" (S. 635). Die „erfolgreiche Wiederaufnahme deroberhoheitlichen Stellung des Imperiums gegenüber den Königreichen Arme-nien und Cypern geschah im Hinblick auf den geplanten Kreuzzug", und „zurkonzentrierten Teilnahme von kaiserlichen Gefolgsleuten an den jährlichenKreuzzügen nach Livland kam es ...ab 1210 unter Otto IV, der auch den dorti-gen Schwertbrüderorden privilegierte" (S. 636).

-

Eine erste (partielle) Rezensionhat Huckers Werk in dem zwei Jahre später erschienenen Buch über Friedrich II.von Stürner [1478] gefunden, das, etwas anders begründet als im Falle Ottos IV,dennoch forschungsgeschichtlich kaum minder desiderat war; denn das Friedrich-buch zieht die Literatur endlich mit einer Gesamtdarstellung und ohne selbstge-rechte Polemik aus dem Bannkreis der 1927 erschienenen Biographie (nicht des1932 erschienenen Belegbandes) von Kantorcxwicz [zur Genese seines Werkesvgl. H. Jakobs in: Geschichte in Heidelberg, hrsg. von J. Miethke, 1992, 58 ff.].Aus Stürners Buch wäre

-

wiederum für den Zusammenhang dieses Abschnitts-vor allem die Umwertung herauszuheben, der Friedrichs II. Kreuznahme (amKrönungstag 1215 in Aachen) unterliegt [S. 137ff.; vgl. auch Stürner in: 226]:weder habe der Staufer sich selbst an der Spitze der Kreuzzugsbewegung gesehennoch gebe es einen Grund dafür, dem Papst Innozenz III. eine Verstimmung überdie Kreuznahme zu unterstellen. Mit einem Abschnitt hatte Stürner auch eindrittes Mal [nach Hucker sowie G. Baaken in: 224] die Behandlung des Thron-streites auf dem 4. Laterankonzil zu bewerten, nicht ohne nochmals eigene, auchkritische Akzente setzen zu können.

Eine Dissertation über die Ekklesiologie Innozenz' III., „der am Anfang eines Staufisch-weifischer

erbarmungslos justifizierten Papsttums' stand", hat die „intensive, von Liturgie, Trlronstreit

Theologie und Kanonistik bestimmte Reflexion über das Geheimnis der Kirche",auch über den Primat, der sich „terminologisch und inhaltlich nahtlos in das allge-meine Kirchenbild" einfüge, systematisiert [1490: Imkamp]. Die Doppelwahl von

1198 gab dem Papst von Anfang an und noch auf dem 4. Lateranum 1215 [Hucker;G. Baaken in: 224] vielerlei Handhaben, den politischen Konflikt am Recht zu mes-

sen. Das System, das Innozenz III. aus Elementen überkommener Geschichtstheo-rie und dem Kirchenrecht zusammenfügte und gegen die staufischen Vorstellungen

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178 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

von einer imperatura Romani solii und von den definitiven Wirkungen des Kaiser-wahlrechts der deutschen Fürsten setzte, ist eine apperzeptioneile Leistung des Pap-stes selber: [100a: RNI Nr. 14; 831: Mitteis S. 120 ff., der das Hapaxlegomenonimperatura in seinem geschichtlichen Gewicht wohl doch nicht zu hoch bewertete;so H. Appelt in: Rom. Hist. Mitteilungen 28,1986,143; vgl. aber G. Baaken, unten

S. 307:1419a]. Die Forschungsgeschichte zu diesem überaus diffizilen „Kapitel" hateinen Gipfel in Hallers Darstellung des Phänomens Papsttum [182], d. h. in einemMeisterwerk deutscher nationalliberaler Geschichtsschreibung; und es sprichtauch für sich, daß vor allem deutsche und italienische Forscher das Feld von „Sacer-dozio e regno" [257] bearbeiten. In den Details könnte nahezu jeder Satz Hallerszum Ausgangspunkt erneuter Diskussion genommen werden; denn seine Bewer-tung des Konflikts ist ausgesprochen politisch und insofern sehr zeitbedingt, als er

mit nationalistischen und auch macchiavellistischen Kategorien urteilte. NeuenGrund für eine Diskussion haben in den 1950erJahren drei Bücher gelegt: Die Inno-zenz-Biographie von Tillmann [1467], die Studie über „die geistigen und rechtli-chen Grundlagen" der päpstlichen Thronstreitpolitik von Kempf [1471; ihm wirdauch die kritische Edition des RNI verdankt] und eine Art historischer Kategorien-lehre zur päpstlichen Doktrin im Spätmittelalter, die von Buisson unter den Titel„Potestas und Caritas" gestellt wurde [1474].

Schibboleth der Kritik ist vor allem von Tillmann und Kempf herausgefordert worden. VonMediävistik jen zahlreicrien Rezensionen und Einzelbemerkungen in nachfolgender Litera-

tur [insbes. 258: H. Hoffmann] abgesehen, ist sie in ein gutes Buch [1456:Roscher; dort S. 14 ff. ein ausgreifender Forschungsbericht], in mühselige Stu-dien [1473: Unverhau] und in eine thesenfreudige, rechtsgeschichtlich aberbedeutsame Dissertation [1472: Laufs] eingebracht. Gelegentlich wurde schwe-res Geschütz aufgefahren, Apologie bis zur Identifizierung mit dem Denken desPapstes unterstellt, wo es um Eindringen in eine fremdartige Gedankenwelt ging-

Innozenz III. immer noch „das ,Schibboleth' der Mediävistik, an dem diechristliche Konfession jedes noch so historisch-kritischen Gelehrten erkennbarwird" [R. Staats in: Beihefte zu „Evangelische Theologie" 25, 1980, 57]? Kempf[259] hat erklärt, daß das 2. Vatikanische Konzil de facto die „Eingliederung derüberdiözesanen Hierarchie" in das Papalsystem, d. h. die Erklärung der bischöf-lichen Gewalt als Derivat der päpstlichen [1491: Pennington], überwundenhabe, als es dem vom Papst geleiteten Bischofskollegium universale Gewaltzusprach.

Über die Stärke des Buches von Roscher vgl. S. 116. Das aus den Zusammen-hängen der Kreuzzugsgeschichte wenig erfreulich geratene Bild von InnozenzIII., das einen Pragmatiker porträtiert, korrigiert Idealbilder, ist aber doch selbereinseitig. Der Biograph des päpstlichen Legaten Petrus Capuanus mußte feststel-len, daß wie der Papst selber auch der Legat „bei der geistlichen Oberleitung desKreuzzuges meist zum Reagieren gezwungen und nicht zum Agieren befähigt"war [1457: Maleczek]. Unverhau rang wie die Glossatoren noch einmal um

begriffliche Sauberkeit. Laufs brachte insbesondere die Forschung über die

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C. Herrschaft und Staatlichen 179

Rekuperationen [1228: Ficker II; H. Tillmann] weiter, griff indessen in derBewertung des RNI daneben (Verzeichnis von Vorleistungen zur Aufrechnunggegenüber Otto IV? [Vgl. F. Kempf in: AHP 19, 1981, 361-367]).

Zur Diskussion über das „papale System" hier ein paar Hinweise auf die Bauele- Einzelelemente dermente* hierokratischen1. Akzentuierung der Translationstheorie [RNI Nr. 29]: die Kaiserkrönung von

800 sei eine widerrufliche concessio gewesen und Leo III. habe de iure gehan-delt [262: Goez; Folz, Translation de l'empire et deposition de l'empereurdans la vision des canonistes et des papes (1140-1245), in: 219]; Relativierungfürstlichen Wahlrechts [RNI Nr. 62: Venerabilem]; Imperator advocatusRomanae Ecclesiae [W. Goez in: 216].

2. Kaiserweihe: Ausspielung des Rechts zur Uberprüfung der Idoneität einesWeihekandidaten durch den Spender der Weihe [RNI Nr. 18].

3. Notrechtlich korrigierender Eingriff mittels „päpstlicher Gunst" in zwiespäl-tige (Bischofs-)Wahlen [RNI Nr. 2; vgl. eb. S. 446]. Unverhau hat sich mit derFrage, ob der favor apostolicus für die Kaiserwahl letztlich nicht doch iudiciumund approbatio und damit Anmaßung war, abgeplagt. Das Problem ist von F.Kempf noch einmal angegangen worden [in: 1406; die ersten Belege stehenübrigens schon im Register Gregors VII., 99: IV 3 und 7].

4. Plenitudo potestatis, auch als Verfügung de iure supra ius. Besondere Bedeu-tung gewann sie im Einschreiten ratione peccati gegen Fürsten [Buisson], fürdie kanonistische Grundlegung des Rechts der Fürstenabsetzung [1476: Hage-neder] und für die Ableitung der bischöflichen Jurisdiktionsgewalt aus derpäpstlichen [259: Kempf].

„Der wahre Kaiser ist der Papst" [Fuhrmann in: 233]. Einig ist sich die For-schung darin, daß die Dekretisten des 12. Jh. auch den Satz Imperator vicariuspapae noch „unhierokratisch" interpretierten [244: Stickler], die neuen Gedan-ken auf die Zweischwerterlehre zu beziehen, der Generation nach Innozenz vor-

behalten blieb (päpstliche Leihe an den Kaiser [258: H. Hoffmann]). Zumindestnoch der Lehrer Innozenz' III. in Bologna, Huguccio von Pisa (Summa superDecretum Gratiani [10: Kuttner S. 155 ff.; R. Weigand in: LMA V 181 f.]) habedie frühmittelalterliche dualistische Lehre vom ordo der Welt vertreten. Daß unse-

ren hier einschlägigen Begriffen-

wie „Hierokrat", „Dualist" u. a.-

nur Signal-funktion zukommen kann, hat O. Hageneder [in: 919, VII] zum Anlaß genom-men, die „Debatte über die Vorstellungen des genannten Papstes vom Wesen undder Reichweite seiner weltlichen Gewalt" mit einer Vorfrage anzugehen, nämlichzu klären, inwieweit die Differenzierung seiner brieflichen „Befehle" an weltli-che Große als „Mandatum und Praeceptum" Erkenntnis vermittelt: „die ,pote-stas directa' des Präzeptes konnte über das juridisch mehrschichtige Mandat"(wie von Huguccio als ,consuetudo Romanae ecclesiae' beschrieben) „ohne deut-liche Grenzlinie in die ,potestas indirecta' der Aufforderungen und Ermahnun-gen übergehen."

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180 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

3. Hof und Land

a) Problemstellung und vergleichende Forschungdomus-familia-curia „Ich bin am Hofe und spreche über den Hof, aber was der Hof ist, weiß ich nicht"

[69: Walter Map De nugis curialium V 7]. Zur Orientierung gehen wir von derdomus des Fürsten aus. In ihr verrichten Diener unter Aufsicht der Hausämter,zumeist mit dem Seneschal (dapifer, Truchseß) an der Spitze, den täglichenDienst in Kapelle, Halle, Küche, Kammer und Kanzlei. Bei feierlichen Anlässenwird am Königshof der Dienst von den eigentlichen Inhabern der Ämter, hochste-henden Personen, ausgeübt (symbolische Bedeutung der Ehren- oder Erzämter[836: Rösener]). Größer als die domus ist die familia. Ihr rechnet der Fürst denKreis seiner Vertrauten (Kleriker, Ritter, Diener), aber auch seine Söldner zu.

Öffentlichkeit entfaltet die domus, indem sie zur curia, d. h. zu einer formvollen-deten Versammlung (curia pleno) durch den Zutritt von Berechtigten und Gelade-nen wird. Abgesehen von Ungarn, dessen König das Lehnswesen nicht einführte,wird der „erweiterte Hof" im 12. Jh. zumindest nach der Intention der Fürstenzum Lehnshof. Konrad von Megenberg unterscheidet die curia minor der dauern-den Dienerschaft von der curia maior der Magnaten (Ökonomik II 12, ed. S. Krü-ger, MGH Staatsschriften III/5, 2 S. 199). Die curiae (Hoftage) ersetzen jedochvielfach eine ältere Volksversammlung, die „Ständeversammlung" des Spätmittel-alters hat also in der Regel eine doppelte historische Wurzel: eine volks- und land-rechtliche (korporative) und eine lehnrechtliche (parlamentarische); vgl. auch denArtikel „Hoffahrt" von B. Diestelkamp in: HRG II 203 sowie Weitzel [786]und Reynolds [674].

-

Über die „Wandlungen im staatlichen Leben Altrußlandsund Polens während des 12. Jh." vgl. M. Hellmann [in: 215].

Neuer Herrschafts- Ein Band zur Verpflichtung von Führungsschichten ist von alters her familiari-stil: famdumtas tas \nTen Erscheinungsformen über die Jahrhunderte seit der Spätantike (und

nicht nur an der spätmittelalterlichen römischen Kurie: B. Schimmelpfennig in:LMA IV 256) nachzugehen, ergäbe ein Grundkapitel über mittelalterliche Her-renwaltung. Familiaritas ist ein von Gott geschenktes „Talent" [vgl. K. Leyser in:EHR 96, 1982, 751], vermittelt die Ehrenstellung und domestiziert in einem. Aufder Schwelle zum 12. Jh. tritt deutlicher zutage, daß die Umgebung des Fürstenaus Hofämtern und familiäres als curia handelt (curia ordinaria). Weil in ihr alleSchlüsselpositionen vom König ausgehen, lassen sich diese „engere curia" und diedomus weder personell noch funktional sicher abgrenzen. Die aller Hausherr-schaft innewohnende Despotie bindet ihre Diener As familia, trägt Hausgewalt indie weitere curia, die zu feierlicher Akklamation berufen wird

-

die sich freilichauch wehren kann. Auch vermögen die Famiiiaren zu den eigentlichen Regentenzu werden, als einzelne wie als Kollegium. Es gilt aber, daß Herrschaft absoluti-stisch werden, d. h. Mitträger von Herrschaft wie Hausdiener einsetzen will. Daßdie Fürsten seit dem 12. Jh. ihre Söldnertruppen als Angelegenheit ihrer familiabegreifen, hat Prestwich am englischen Beispiel [1334] verdeutlicht.

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C. Herrschaft und Staatlichen 181

Die curia handelt in Organen und bleibt doch immer die curia des einen domi- Ubiquität desnus. Die Idee seiner Allgegenwart (wenn nicht der Person, so doch der Macht, wie Kon'gsFriedrich II. es im Liber augustalis ausdrücken wird) ist virulent, und auf dieserVoraussetzung können wir heute sagen, daß die ersten Elemente einer neuen Staat-lichkeit, daß Institutionen erkennbar werden.

Die Kurien des 12. Jh. sind also sehr komplizierte Gebilde: als Sozialkörper wieals Elemente der Verfassung. Unser Thema reicht vom Kaiserhof über alle Königs-und Fürstenhöfe bis zu städtischen Kurien; und man hat die Curia Romana alsden eigentlichen Träger der „päpstlichen Herrschaft" bezeichnet. Auch sie entfal-tete sich jedenfalls unter dem institutionen- wie ständegeschichtlichen Zeitgeist,hatte Teil an der Geschichte der Höfe, die die Sozialgeschichte der europäischenDynastien ist; und die zur curia gewordene ecclesia Romana zog bereits im 12. Jh.böse Kritik auf sich (vgl. z. B. Classen, Gerhoch [952], Register s.v. curia). Alsüberschaubarer Einzelhof wurde der des Reichsbischofs von Lüttich musterhaftaufgearbeitet [783: Kupper].

Geschichte des Hochmittelalters im Bezugssystem der europäischen Höfe zu Vergleichende For-

schreiben (vgl. oben S. 9), ist eine Aufgabe aller historischen Disziplinen. Der schungAnlauf aus der Literaturwissenschaft [1006: Bezzola] geht weiter [1007 ff., ins-bes. K. Schreiner in: 1009; vgl. oben S. 155]. Als Verfassungselement und verglei-chend wurde der Hof aber noch nie bearbeitet, doch leisten nunmehr kompetenteGelehrte mit den Artikeln „curia regis" [in: LMA III 373 ff.] dankbar angenom-mene Hilfe für Deutschland, Sizilien, Frankreich, England, Iberische Halbinsel,Böhmen, Polen und Ungarn. Allgemeinere begriffsgeschichtliche Aufstellungensind bei Jordan [1196] zu finden (der Artikel „curia" für das MittellateinischeWörterbuch ist noch nicht redigiert, vgl. aber s.v. „colloquium"; ferner P.G.Schmid bzw. U. Mölk betr. „curia und curialitas" in lateinischer bzw. romani-scher Literatur [in: 657]). In der Einleitung eines Buches [1322: Türk], das überpolitische Ethik am Hofe Heinrichs II. von England handelt, sind über JordansSammlung hinausgehende Hinweise auf vulgärsprachliche Entwicklungen undauf die Bezeichnungen für Hofleute (curialis, palatinus, aulicus) zu finden. EinenÜberblick über den Ring europäischer Höfe, die Zentren moderner Staatengeworden sind, findet man in dem Abschnitt „Die grundlegenden Institutionender Länder", den G. Gudian für das CoiNGsche Handbuch [196] verfaßt hat(dort verzeichnete Literatur ist hier im allgemeinen nicht besprochen). Die „Insti-tutionen" oder „Organe" werden von Gudian vorgestellt, weil sie an der Ausbil-dung und Pflege des Privatrechts beteiligt waren: Rat, Rechenkammer und Hofge-richt auf Fürstenseite, im Gegenüber die Ständeversammlung.

Die Gemeinschaft in der curia ist über das 12. Jh. noch ein ungeschriebenes Ständische Bewe-

Rechtsverhältnis auf Gegenseitigkeit; sie ist ein Indikator für das Verhältnis von 8ung

Herrschaft und Beherrschten zueinander (vgl. S. 193). „Eine eigentliche For-schungsgeschichte zum Thema ,Beratung' könnte man wohl gar nicht präsentie-ren ... Großes Interesse fand ... allerdings eine Frage: War das consilium der Gro-ßen für diese mehr ein Recht oder eine Pflicht?" [818: Althoff]. Mit neuen sozia-

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182 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

len Kräften (Ritterschaft und Städten) und buchstäblichen Festschreibungen imVerhältnis des Herrn zu seinen Getreuen, die ihm consilium und auxilium, parla-mentum und hostis leisten, zieht die neue Ständestaatlichkeit auf. Nach dem„Gesellschaftsvertrag" von Coulaines [R Classen in: HZ 196, 1963, 79-85] brin-gen der Konstanzer Friede von 1183 (S. 68, 193) sowie die Versammlungen von

Leon 1188 (S. 194) und Runnymeade 1215 (S. 186) die klarsten Fortschritte. Etap-pen sind auch der „Fürstenwiderstand" in Deutschland (1077 und in der Vorge-schichte des Wormser Konkordats; vgl. S. 172 f.), das Wahlversprechen HeinrichsI. von England 1100 (S. 170) und die flandrischen Unruhen von 1127/28 (S. 193).

Die vergleichende Betrachtung ist am weitesten für „Origins and developmentof representative assemblies" gediehen. Eine Diskussion aus den 1930er Jahrenwurde auf dem Internationalen Historikerkongreß 1955 in Rom erneut aufge-nommen [822]; vgl. auch den einschlägigen Beitrag von J. Gilissen [in: 823: Gou-vernes et gouvernants I, insbes. S. 104 ff.]. Als eine moderne Einführung emp-fiehlt sich die von Mitterauer [824]. Einzelleistungen sind die Arbeiten von

Marongiu [821] und Langmuir [zuletzt 828] über die „assemblee preparlamen-tari". Marongiüs Buch ist in der italienischen Erstfassung allerdings sehr unfer-tig und in der gut lesbaren englischen Neufassung nahezu ohne Belege. Es fehltnicht an Hinweisen auf den Repräsentativgedanken im Kirchenrecht (ausführlichdarüber Tierney [826] Kap. II und H. J. Berman [841] Kap. I 5), vor allem auf dieVorschriften des vierten Laterankonzils für Generalkapitel, mit denen ein Grund-gedanke zisterziensischen Ordensrechts (definitive Regelung bereits 1152) allge-meinverbindlich geworden ist. Merkwürdigerweise verliert Marongiu keinWort über das Kardinalskollegium, den „neuen Senat" der Weltkirche (vgl. S.21 f., 195), die patres conscripti [1159: Servatius S. 58], sowie über das Kurfürsten-kolleg in Deutschland (unten S. 198). In den Zusammenhang gehören auch die„Bischofsräte" (Prioren, Domkapitel, geistliche und weltliche Stände); vgl. z. B.1101: R. Schieffer (betr. Bamberg noch im 11. Jh.), 829: Demandt (Mainz; mitgeistlicher Präponderanz nach dem Bischofsmord von 1160), 830: Groten(Köln), mehrere Autoren in: 1109, II, insbes. I. Heidrich über die älteste „MagnaCarta" für ein deutsches Domkapitel (Speyer 1101) und F-R. Erkens über „DieBistumsorganisation in den Diözesen Trier und Köln".

Administration Ein Anlauf zu einer vergleichenden Verwaltungsgeschichte ist 1977 vom Deut-schen Historischen Institut in Paris organisiert worden [807]. Er zeichnet sichdurch seine zeitliche (4.-18. Jh.) und thematische Spannweite aus. Unentbehrlichbleiben die Arbeiten von Mitteis [760] und Kienast [801] über das Lehnrecht,Brühl [374] über die Königsgastung, Haskins [1344: England and Sicily], A.Marongiu [Le due regni, Abdruck in: 1261] und L. Buisson über die „Formennormannischer Staatsbildung" [in: 769]. Die Finanzen der Höfe (vgl. oben S. 102)und ihre Abrechnung vor zentralen Rechenkammern werden von den Autoreneines von B. Lyon

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A. Verhulst [411] herausgegebenen Sammelbandes behan-delt. Wir können nur ein paar Merkdaten für die ältesten Überlieferungen geben:England 1129/30 (Pipe Roll), Normandie 1180, Flandern 1187 (Groote Brief),

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C. Herrschaft und Staatlichen 183

König von Frankreich 1202/3. Der Liber censuum des päpstlichen KämmerersCencius von 1192 [100; Pfaff, mit vielen Korrekturen an der Edition] verzeichnethingegen Ansprüche, nicht tatsächliche Eingänge. Zur Entwicklung von „Beam-tenwesen" [810: Hattenhauer] sei auf die Artikel im LMA I verwiesen, die abernur im Teil über Sizilien [N. Kamp Sp. 1728 ff.] für das 11./12. Jh. einschlägigsind; vgl. ferner die Beiträge über den ballivus/ bailli/bayle u.ä.; zur Ergänzung:J.M. Font Rius in: AHDE 17, 1946, insbes. 247ff. sowie für Flandern de Gryse[813]. Der bailo Venedigs ist diplomatischer Vertreter in Byzanz.

Die Kanzleien der europäischen Höfe [vgl. auch 883: Cancelleria e cultura] des Kanzlei11./12. Jh. stehen allesamt in karolingischer Tradition, wenn sie den anfallendenSchriftverkehr von Hofgeistlichen, Mitgliedern der capella, erledigen lassen; vgl.den Artikel „Diplomatics" von P. Herde in der Encyclopaedia Britannica (1974);ferner die Artikel „Chancelier, chancellerie" (R.H. Bautier) und „Kanzlei, Kanz-ler" (mehrere Autoren für die europäischen Staaten und die Kurie) im LMA II1691 ff., V 91 Off. Das Wort cancellaria ist eine Neuprägung zur Kennzeichnungder Würde, die der cancellarius innehat [809: Klewitz]; in der Reichskanzleitaucht es erst unter Heinrich VI. auf [1443: Csendes]. Als wissenschaftlicherHilfsbegriff dient „Kanzlei" zur Kennzeichnung eines Personenkreises mitbestimmter Funktion im Beurkundungswesen. Einige Kanzleien (nicht nur dercancellarius, wie z. B. in Kastilien) sind ganz junge Einrichtungen, beispielsweisedie englische (s. unten) und die ungarische [1371: Kubinyi; vgl. allgemein zu

Ungarn zwischen Ost und West L. Mezey in: 215], aber auch die päpstliche Kanz-lei (s. unten). Ausgangsregister hat im 11./12. Jh. noch keine Kanzlei regelmäßiggeführt, so daß

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ungeachtet auch der Verluste-

die Erforschung von Kanzleige-schichte ohnehin von den Editoren der Urkunden zu leisten ist. Herrscherdi-plome und Papsturkunden werden in traditionsreichen Publikationsreihen undRegestenwerken zur Verfügung gestellt, über die international z. B. van Caene-gem [2] informiert; über einige (z.T. jüngere) Editionen vgl. Nrr. 96a ff. Neueröff-net ist der „Codex diplomaticus regni Siciliae" [103], eine unschätzbare Urkun-denedition unserer Tage ist im Wiener Institut gereift [DD F I; vgl. 96a].

Nicht nur die Herrschaft, auch die Könige und das Bild vom Königtum wan- Der „neue Beruf"dein sich. K. Leyser (vgl. oben S. 174) hat den „more empirical approach to govern- des Kon'gsment", den „neuen Beruf" des obersten Administrators facettenreich dargestellt.

b) EnglandWegen seiner Vorreiterrolle in der Sache, des Reichtums seiner Überlieferung und Allgemeine Literaturder Gründlichkeit seiner Erforschung ist der englische Hof für unsere Thematikam ergiebigsten. Der angelsächsischen Tradition, Verfassungsgeschichte ins Zen-trum historischer Betrachtung zu stellen, werden deutschsprachige Werke durch-aus gerecht [zuletzt 1314: Krieger]. Grundlegend für unsere Problematik blei-ben J.F. Baldwin, King's council [1487], das seinen Schwerpunkt freilich im 13.Jh. hat, sowie Adams, Council and courts [1332], und insbesondere Tout, Admi-

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184 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

nistrative history [1324]; als jüngere Zusammenfassungen sind für die Entwick-lung bis 1166 Chibnalls „Anglo-Norman England" [1315], insbesondere dasKapitel über „Law and society", für die normannisch-angevinische Zeit insge-samt aber Warrens ..Governance" [1326].

Continuity or Cata- In der Diskussion über das Jahr 1066 geht es u. a. um politische Institutionenclysm? der angelsächsischen und der normannischen Zeit, einer präfeudalen und einer

feudalen Staatlichkeit. Mit der Alternative unserer Marginalie ist heute nichtsmehr anzufangen; die in der Tradition von W. Stubbs äußerst hohe Einschätzungder angelsächsischen Grundlagen, wie sie in den jüngeren Werken von Richard-son

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Sayles [859, 1325] vorliegt, ist nicht unumstritten, es sind auch die ideologi-schen Anstrengungen zur Stiftung von Gemeinschaftsgefühl in Rechnung zu stel-len, wie sie sich in der zeitgenössischen Historiographie spiegeln [D. Berg in:222]. Ratsversammlung der Großen war in angelsächsischer Zeit der Witenage-mot, der Normannenkönig aber regierte mit der curia regis. Sie entfaltete sich imGegenüber zu einer unerschütterten „Grafschaftsverfassung" [1333: Palmer],wie wir nicht ganz richtig, aber in der Tradition der Normannen sagen, die die She-riffs [1331: WA. Morris] als vicecomites bezeichneten.

Justiciarship Der Normannenkönig hat noch im 11. Jh. königliche Macht auf eine Amtsper-son als Stellvertreter übertragen. Die Frühgeschichte der iustitiarii wurde von

West [1330] geklärt. Man kann fragen, ob das Prinzip nicht insoweit an den karo-lingischen Pfalzgrafen erinnert, als mit ihm Ansätze zu stationärer Verwaltungunter (Groß-)Justitiaren verbunden waren: Lisieux für die Normandie und Salis-bury für England. West bezog auch den Seneschal im Anjou und den Sohn Hein-richs IL, Richard, als Mitkönig in Aquitanien ein, die die Eigenständigkeit derReichsteile mit der Reichsherrschaft koordinierten. Tatsächlich ist der Seneschalin französischen Prinzipaten [vgl. K.F. Werner in: 215, S. 202 ff.] und insbes. imAnjou [vgl. O. Guillot in: 807, S. 325] bereits um die Mitte des 11. Jh. ein alterego des Fürsten gewesen. Bemerkenswert ist, daß Heinrich I. auch das von ihmerst eingerichtete Kanzleramt dem Justitiar unterstellt hat. (In angelsächsischerZeit wurde also der Schriftverkehr des Königs noch von Schreibstuben geistlicherInstitute im Land besorgt, die „Kanzlei" ist eine normannische Schöpfung [1329:Bishop].)

Curia regis ad scac- Nach Uberlieferung und Ruhm steht in der europäischen Behörden- und Beam-canum tengeschichte der Exchequer [1335: Pooi.e] obenan. Ein Schatzmeister Heinrichs

IL, Richard von Ely (FitzNeal), hat um 1177/79 sich und seinen Mitarbeiternklarzumachen versucht, was das scaccarium sei. Der Dialogus de scaccario liegt inneueren Editionen vor, von Siegrist wurde eine lateinisch-deutsche Ausgabe[62] besorgt. Mit der Einleitung und dem Sachkommentar der Herausgeberin istder Dialogus die beste Einführung nicht nur in einen wesentlichen Komplex derenglischen Verfassungswirklichkeit des 12. Jh., sondern auch in die allgemeinereFragestellung nach der Entwicklung der corona zur publica potestas und denAnfängen der „Beamtenethik" sowie von „Behörden"; vgl. auch das Kap. „DieKrone als Fiktion" bei Kantorowicz [768].

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C. Herrschaft und Staatlichen 185

Die Rechts- und Arbeitsgrundlage für die Tätigkeit seines Rechnungshofes Domesday Booksieht Richard von Ely im Domesday Book. Gemeint ist die descriptio totius und ExcriequerAngliae von 1085/86 [328: Hallam Kap. I: „The Making of Domesday Book";die Deutung des Namens als Libervitae (Apoc. 20,11-15) bei R Szittya, Domes-day-Bokes: The apocalypse in medieval English literary culture, in: 958]. An sichhatte sie zur Heeresrekrutierung gegen drohenden Däneneinfall gedient. DerKataster war keine völlig neue Erfindung der Normannen [I. Campbell in: 807,S. 117 ff.], er blieb dauernde Grundlage für das Steuerwesen (vgl. die Kommen-tare zu „Assisa communis", „Danegeld" und „Scutagium" bei Siegrist).

Die Zusammenarbeit von Lokalrichtern mit der curia coram rege war nahtlos, Justices in eyreseitdem iustitiarii itinerantes (errantes) das Land als einheitlichen Rechtsraumbehandelten. Allen freien Leuten stand offen, ein königliches breve (writ/Man-dat) zu erwirken, das die Aufnahme eines Falles durch die Justices in eyre anwies.Der Writ ist überhaupt ein höchst charakteristisches Instrument der englischen,und zwar eindeutig bereits der angelsächsischen Monarchie [1328: van Caene-gem]. Die King's Bench wurde gegen 1200 als eigenes Gericht aus dem Exchequerausgegliedert [1336: Kemp], der Court of common pleas entwickelte sich aus

einem der im Kreise der Barone ungeliebten Reisegerichte, deren Seßhaftigkeit inder Magna Carta [162, c. 17] gefordert wird.

Der Wandel im Herrschaftsstil ist von sozialen Mutationen begleitet. Prest- Familia regiswich schließt seine Studie über den „military household" [1338] mit der Forde-rung, daß die um Exchequer, Kanzlei, Kammer und Garderobe verdiente For-schung der familia regis noch gerecht werden müsse. Eine oft untersuchteQuelle ist die Constitutio domus regis [62; auch in: 85, II 422 ff.] aus der Zeit desKönigs Stephan von Blois. In ihr geht es aber nur um Dienstleute unter Oberauf-sicht der Hofämter [1340: Schramm S. 62 ff.], denen der englische Königgewachsen blieb. Sie sind Teil einer größeren familia aus clerici, milites, ministri,die in der Constitutio vier Marschällen unterstellt wird. Gestützt auf eine maschi-nenschriftlich vorliegende Ph.D. thesis (Liverpool 1969) von J. Lally, die denHof prosopographisch an 44 Beispielen aufgearbeitet und „some thousands"curials verzeichnet hat, bewertete Türk [1322] die große Fluktuation in der fami-lia geradezu als ein Charakteristikum der Regierung Heinrichs IL; doch ist auchder Aufstieg und die mentale Festigung bedeutender „Beamtenfamilien" unver-

kennbar [1346: Stollberg; M. Siegrist über den Paradefall der Familie Ely;vgl. auch 897: J.W. Baldwin, Masters, princes, and merchants]. Wohl einzigartigan Europas Höfen ist die bezahlte Indienststellung von geständigen Verbre-chern, die dann als Kronzeugen für Verurteilung ihrer Mittäter zu sorgen hatten[860: Röhrkasten].

Als magnum consilium konstituierte sich die curia regis bei wichtigen Entschei- Consilium

düngen. Eigenständige Wurzeln hat der weitere Rat aber nicht treiben können;die Rechte des späteren, seit 1271 (Heinrich III.) geschworenen Rats [1487: J.F.Baldwin; A.L. Brown in: LMA III 311 ff.] sind nach Langmuir [828] alle aus

dem engeren Rat entwickelt.

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186 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

Magna carta Uberta- Die evolutionäre Entfaltung von Verfassung und Common Law [H. Peter in:tum HRG I 922 ff.; S. Sheridan Walker in: LMA III 2008 ff.], den zwei Seiten dersel-

ben Münze, ist 1214/15 beschleunigt worden (vgl. S. 79). Uber die in bewaffne-tem Aufstand erzwungene „Große Urkunde der Sonderrechte" der Barone [162]gibt es eine reiche Literatur [vgl. 1489: J.C. Holt; 1485: Painter; 762: Mitteis;RR. Hyams, Heinrich Mitteis and the constitutional history of medieval England,in: 797; J. Barrow in: LMA VI 92 f.]. Bei Ullmann [675: dt. Ausg., S. 123 f.] fin-den sich sehr kritische Anmerkungen zu dem Buch von Holt.

c) König von Frankreich

Francia und König- Das Thema „Hof und Land" spielt für den König von Frankreich institutionen-reich wje Sozialgeschichtlich auf zwei Ebenen: der des Prinzipats Francia (Krondo-

mäne) und der des Königreiches. In der Ausweitung der Domäne „vers le centre

du royaume" spielt die Inbesitznahme des Berry durch Philipp I. eine Schlüssel-rolle [1299: Bautier]. Administrative Instrumente bildete das Königshaus in sei-nem Territorium wie alle Fürsten aus; einmalig war in Frankreich die curia derKapetinger nur darin, daß sie die Fürsten des Reiches, die Herzöge und Grafen,als Vasallen zu versammeln vermochte. B. Schneidmüller [Der kapetingischeHerrschertitel, in: 708] hat in Historiographie und Verwendung des Königstitelsdas vorterritoriale Herrschaftsbewußtsein verfolgt, das die Regionen Franzien,Burgund und Provence als Glieder eines regnum Francorum auffaßt und dercorona Franciae unterwirft.

Soziologie des Hofes Lemarignier [1163] und sein Schüler Bournazel [1301] haben das Verständ-nis für den Aufstieg der Kapetinger weitgehend neu begründet. Ihr Ansatz ist dieErforschung des königlichen Entourage. Methodisch vertreten beide Bücher einepersonenorientierte Sozialgeschichte: „Structures sociales et mutations institutio-nelles" (Untertitel Bournazels). N. Bulst [in: 807] hat die Versammlungen derKapetinger charakterisiert. In der französischen (belgischen) Forschung ist vor

allem von Genicot [650] verdeutlicht worden, daß die Höfe des 12. Jh. sichneuen Adel schufen. Der Kriegsdienst leistende Adel wurde in Konkurrenz zu

Söldnertruppen getrieben, „die gesamte Aristokratie rückte ... enger zusammen

und verhielt sich loyal gegenüber dem Herrn, der ihre Sonderstellung ... zu garan-tieren bereit war. Bouvines hat für diesen Adel sicherlich eine Bestätigunggebracht" [1293: Ehlers S. 141]. Die älteren verfassungs- und institutionenge-schichtlichen Werke [namentlich 1295: Luchaire und 1300: Pacaut oder auchdas Handbuch 1294: Lot

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Fawtier] sind nicht entbehrlich geworden, aber sieunterliegen einer neuen Beurteilung. Ihr hat allerdings eine breite Erforschungder französischen Prinzipate vorgearbeitet [vgl. K.F. Werner in: 171, I; 1292:Favier; einige weitere Titel: 1302: Bur, Champagne; 1303: Guillot, Anjou;1304: Richard, Bourgogne; 551: Duby, Region mäconnaise; vgl. auch: Genicot,Principautes lotharingiennes, in: 650].

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C. Herrschaft und Staatlichen 187

Der kapetingische Hof wurde von einem sozial breit gefächerten, ansatzweise Familiantas

auch juristisch geschulten Corps gouvernemental aus consiliarii bestellt, denBournazel für die Zeit nach 1150 einen Hofrat nennt und als Institutionbegreift, die die Transpersonalität der Krone mitträgt. Stärksten Einfluß auf dieEntwicklung hat der familiaris in consilio Suger von St. Denis geübt, die Fülle undDauer seiner eigenen Waltung ist aber eher untypisch; denn im allgemeinen ver-

wirrt wie in England die erhebliche personelle Fluktuation am Hof. Spezifisch istaber der Einsatz won familiäres insofern, als ohne sie die Entmachtung der Hofäm-ter (Grands officiers) nicht mehr möglich gewesen wäre. Philipp II. August [1481:Cartellieri I; 1482: J.W. Baldwin] vermochte die curia dann als Lehnsgerichtüber die pares einzusetzen (vgl. S. 78 sowie K.F. Werner, Der fränkisch-französi-sche Königs- und Lehnsstaat bei Heinrich Mitteis [in: 797]). Eine InterventionenInnozenz' III. in die „quereile feodale" zwischen dem König von Frankreich undJohann Ohneland scheint unterstellt zu haben, daß Lehnrecht an kanonischesRecht anzupassen sei [M. Maccarone in: 805].

Nach seiner Finanzkraft war Paris, noch bevor Philipp II. August sich am engll- Administration

sehen Exchequer orientierte, in das vorderste Glied der europäischen Höfegerückt (oben S. 102 f.). Über die Erforschung der französischen Finanzverwal-tung vgl. die spitze Bemerkung von J. Campbell [in: 807, S. 130]. Die weitere Dif-ferenzierung des Hofes in Hofgericht (parlamentum), Rechenkammer (curia incompotis) und engeren politischen Rat mit „Geschäftsordnung" (consilium) ver-

läuft in Frankreich sehr langsam.

d) SizilienDie reiche Forschung über den normannisch-sizilischen „Modellstaat" [1262: ForschungMarongiü], die in den 90 Jahren nach E. Caspars Monographie über Roger II.von 1904 [1245] erschienen ist, wird von Matthew [1244] in einem respektablenTextbook zusammengefaßt, das die Geschichte des Königreichs bis zum Über-gang an Karl von Anjou 1266 zum Gegenstand hat. Als Einführung in das raffinierte Geflecht gräflich-herzoglicher und seit 1130 königlicher Organe in derSacra curia (vgl. S. 191) in Palermo und in der Provinzialverwaltung [über diesegrundlegend 1246: Jamison] empfehlen sich Studien von N. Kamp [in: 1263] undKölzer [1253]. Sie handeln an sich über die staufische Verwaltung, gehen abereinleitend auf ihre Grundlagen ein. Sodann ist auf das Unternehmen des „Codexdiplomaticus regni Siciliae" [103] hinzuweisen. „Beiträge zum Kanzlei undUrkundenwesen" von Enzensberger [1250] haben die grundlegenden diplomati-schen Studien von K.F. Kehr von 1902 ausgebaut und die Planung der kritischenEdition konkretisiert. Der von Zielinski bearbeitete Band mit den UrkundenTancreds und Wilhelms III. ist 1982, der von Brühl mit den lateinischen Urkun-den Rogers II. 1987 erschienen. Noth [1251] hat die arabischen DokumenteRogers II. neu erschlossen. Die Urkunden der Kaiserin Konstanze liegen in der

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188 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

nun maßgeblichen MGH-Edition [96a] vor, besorgt von Kölzer (1990). (Vgl.auch 5a sowie Th. Kölzer, Cancelleria e cultura nel regno di Sicilia (1130-1198),in: 883; dt. in: QFIAB 66, 1986.)

Besonderheiten des Die curia differenziert sich unter den Wilhelmen in die „Geschäftsbereiche"Systems Großhofgericht, Sekretum und Kanzlei. Ein Hofarchiv ist bereits unter Roger II.

bezeugt, Registerführung seit Wilhelm II. wahrscheinlich. Abgesehen vom Feh-len personaler Spitzen in den Provinzen wie in der Zentrale (vgl. S. 42 f.), ist dieVerbindung von Zentral- und Provinzialverwaltung durch Personalunionbezeichnend. Das magnum secretum (also die zentrale Finanzverwaltung) arbei-tete auf zwei Grundlagen: die duana de secretis war eigentlich die Provinzverwal-tung Siziliens, wurde aber auch für Kalabrien zuständig; die duana baronum war

die (mehrköpfige) „Spitze des provinzialen Apparats" für die nördlichen Provin-zen [vgl. in 1263: N. Kamp S. 53].

Der „Absolutismus" des sizilischen Hofes ist manifest in der Bedeutungslosig-keit des Lehnshofes, mit dem zuvor Robert Guiscard seine Herzogsgewalt überden normannischen pares begründet hatte [1095: Jahn], der als Versammlung derBarone allerdings auch im 12. Jh. nicht abgeschafft wurde. Die Pflichten der Vasal-len wurden früh schriftlich fixiert [106: Catalogus Baronum], aber geladen wur-

den sie, wenn ihre Akklamation erwünscht war. In dieser Hinsicht sticht die Wahl-versammlung Tancreds von Lecce hervor [1441: Reisinger]. Die Auffassung, daßdiese curia auch noch volksrechtliche Elemente in sich getragen und deshalb innachstaufischer Zeit (erstes „Parlament" 1282) als Grundstock für Ständever-sammlungen habe ausgebaut werden können, wurde von A. Marongiü [Le„Curie generali", in: 1261] vertreten.

Familiaritas Im 12. Jh. vermochten die Magnaten wie die Kirchenmänner nicht als Vasallen,sondern nur ah familiäres (domini curiae) Anteil an der Regierung zu gewinnen(vgl. S. 42). Die „Institution" der sizilischen Famiiiaren ist im Vorkapitel einerArbeit über die Famiiiaren der aragonesischen Könige des 13. Jh. Gegenstandeiner Spezialstudie geworden. Schadek [1260] führte die familiaritas, weil erste

und wenige Famiiiaren erst unter Roger II. bezeugt sind, auf normannische Vor-stellungen zurück; L. Buisson [in: 769] bietet dafür keine Anhaltspunkte. DieErnennung zum familiaris war von ganz anderem Gewicht als sonst in Europaund scheint stets mit Bedacht erfolgt zu sein. Man darf deshalb kaum größere Zah-len ansetzen als Personen mit dem „Titel" überliefert sind [für die Zeit nach 1190das große prosopographische Werk: 1479: Kamp]. Ihre praktische politischeBedeutung ging in Relation zum Vordringen neuer sozialer, auch durch Studiumvorbereiteter Kreise in den „Behördenbetrieb" unter Friedrich II. zurück.

e) KaiserhofZur Literatur

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Wahrscheinlich hat kein Hof Europas so kontinuierlich die politischen Entschei-Hoftag Jungen auf fjen Rat der Großen gestützt wie der Kaiserhof seit ottonischer Zeit.

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C. Herrschaft und Staatlichen 189

Dennoch sind-

von den immer hilfreichen Jahrbüchern abgesehen-

die älterenArbeiten über Hof- und Reichstage der hier behandelten Zeit [1112: Guba; 1435:Wacker] kaum mehr als Verzeichnisse. Am lehrreichsten ist für uns das 1. Kap. inSamaneks Buch von 1910 über den „Kronrat" [1436]. Es verfolgt neben der„Ratspflichtigkeit" der Großen, deren zunehmende Feudalisierung festgestelltwird, auch das engere Band der palatini und familiäres consiliarii, und zwar von

der Karolingerzeit an. Der „Kronrat" aus freien Herren und Ministerialen unter

einem Reichsverweser, den Friedrich II. schließlich seinen unmündigen SöhnenHeinrich (VII.) und Konrad IV. zur Seite stellte, war nur „Vormundschaftsrat",dem ein Rechtsgrund zur weiteren Entfaltung fehlte. Bemerkenswert sind Sama-neks Urteile, daß die Beratung des Herrschers die Form gewesen sei, „in der dasstaatliche Leben zu seinem höchsten Ausdruck gelangen konnte" (S. 14), daß derEntwicklungsstand des consilium unter Barbarossa dem am Kapetingerhof kaumnachgestanden habe (S. 44) und daß die Reichsministerialen von den frühen Stau-fern an neben Fürsten und Großen zum festen Bestand an Räten zu rechnenseien. In anderer Weise hat Th. Zotz (LMA III 373 ff.) einen Einschnitt im Zeital-ter des Investiturstreites diagnostiziert: curia regis bezeichne seitdem fast aus-

schließlich den Hoftag und das Hofgericht, der Königshof im engeren Sinneheiße dann seit Barbarossa auch aula und (sacrum) palatium. Für die ständischeBewegung von Bedeutung ist vor allem, daß neben den

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naturgemäß älteren-überstammlichen Wahltagen in salischer Zeit die königslosen „Tage" (seit

1062/65, insbes. 1075/1076) möglich werden und von ihnen Gesandtschaftennach Rom (S. 25) ausgehen können.

Die exakte Analyse des salisch-staufischen Entourage ist als Forschungsauf-gabe aktuell, an Grundlagenforschung fehlt es seit langem nicht. Sie betrifft vor

allem die Reichsministerialität [1432: Bosl], Intervenienten und Zeugen, Reichs-kanzlei und Hofkapelle [1122: hausmann; 1119: Gawlik; H. Appelt in 96a: DDF I Bd. V; 1443: Csendes]. Monographien über Adelshäuser, die deren Beziehun-gen zum Kaiser mituntersuchten, gibt es wiederum nur wenige [z. B. 1438: Weisüber die Lenzburger; 1439: Naumann-Humbeck über die Sponheimer]; als Typsteht vollends die Dissertation von Gudenatz allein: „Schwäbische und fränki-sche Freiherren und Ministerialen am Hofe des deutschen Königs 1198-1272"[1437]. Französische Forschung (oben S. 186) und

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vom Spätmittelalter her-Arbeiten von R Moraw (vgl. „Personenforschung und deutsches Königtum",in: Zeitschrift f. Hist. Forschung 2, 1975, 7 ff.; ferner oben S. 162 f. über den„Reichstag") haben den Blick für die Fragestellung geschärft. Eine Studie von H.Patze über „Friedrich Barbarossa und die deutschen Fürsten" [in: 179, V] gibttrotz ihrer Vorläufigkeit am ehesten Hilfe für ein allgemeineres Urteil über diefrühe Stauferzeit, über „Herrschaftspraxis und Umgebung" Heinrichs VI. wurdevon Seltmann [1442], alles überragend sodann über die „königliche Kurie unter

Lothar III." von Petke [1269] gearbeitet. Die Beiträge zweier Reichenau-Tagun-gen über Barbarossa [1401], die die Randzonen betreffen, machen es ziemlichsicher, daß die Interessen der Regionen von sich aus nur noch selten Vertretung

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190 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

am Hof suchten. Ansonsten sind die Vorträge sehr gründlich dem Hof als Kultur-träger (vgl. oben S. ) und nur vorläufig auch dem Hof als Herrschaftsträger [K.Leyser] nachgegangen. Die Publikation einer speziell dem Thema „Hof" gewid-meten Doppeltagung 1992/93 steht noch aus (vgl. Konstanzer Arbeitskreis, Pro-tokoll Nr. 331; 333), läßt aber genaue Aufrechnungen für den Hof Barbarossasvon Th. Kölzer erwarten. Wesentliche „ständegeschichtliche" Aussagen findensich auch in dem Aufsatz über die königliche Lehngerichtsbarkeit von Krieger[1434], weil er den Urteilerkollegien am Hof nachgegangen ist. Inzwischen ist dieHofgerichtsbarkeit (unter Einschluß delegierter Richter) mit einem Regesten-werk höchsten Ranges dokumentiert [84].

Staufischer Staatsauf- Die Feststellung, daß wir in der Hauptsache vom Tafelgüterverzeichnis [1412:bau? Eisenlohr], vom servitium regis der Reichskirchen, das in Deutschland wichtig-

ste Grundlage der Königsherrschaft blieb [374: Brühl; 379: Metz], von derKanzlei und ministerialischen Hofämtern, von einem iudex terrae (im Pleißen-land), sodann noch von den potestates in lombardischen Kommunen zu handelnhätten, könnte nach der Behandlung der englischen Entwicklung wie Ironie klin-gen. K. Bosl hatte in einer Zusammenfassung der Forschung über den „Staatder Staufer" [171: Gebhardt I 785 ff.] mit Begriffen wie Reichsland- und Städte-politik, Rechtserneuerung, Gesetzesbildung u. a. Vorstellungen von Staatspla-nung suggeriert, die mit ihren Elementen (zentraler Reichsverwaltung, Städten,Geld, Burgenbau, Reichsvogteien) jedenfalls im 12. Jh. noch auf der Höhe dereuropäischen Entwicklung stehe. Von „einer Art Reichsregierung" aus Kanzler,Notaren und ministerialischen Hofämtern war die Rede. Derartige und andereVerallgemeinerungen, die ihre Grundlage zumeist in dem Buch über die Reichs-ministerialen haben, mußten Kritik auf sich ziehen [1433: Kirchner mit Replikvon Bosl]. Ausgestanden ist die Diskussion aber noch nicht. Es fällt auf, daß sieauch durch die Barbarossa-Biographie von P. Münz (1969) am Leben gehaltenwird, insoweit dessen Theorie vom „great design" 1156/57

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gemeint ist die Pla-nung einer terra imperii unter Zusammenfassung Schwabens, burgundischerGebiete und der Lombardei

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von Töpfer [1404] immerhin als Intentionbedacht (S. 793) und zugleich die „Meinung" K. Leysers [1403] kritisiert wird,„daß der massive Aufbau eines staufischen Besitzkomplexes in Deutschlanddort die inneren Bindungen der politischen Gesellschaft eher schwächte alsstärkte" (S. 801).

Allgemein ist in Rechnung zu stellen, daß sich die Qualität ministerialischenwie adligen Rats nicht statistisch ermitteln läßt. So hat H. Patze denn auch seinUrteil, daß über das 12. Jh. hin Fürsten, Grafen und Freie Herren und nichtzuletzt

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mit ihrem Wissen-

die Geistlichkeit am Hofe führend geblieben seien,eher verfassungs- und sozialgeschichtlich als statistisch begründet, allerdingsauch immer quantitativ abgesichert. Er stützte sich auf die Zeugenlisten einesersten Blocks der Barbarossadiplome und auf Itinerarforschung von H. Reyer.Das Absinken des sozialen Niveaus mit krassem zeitlichen Einschnitt ist aller-dings manifest für die berufenen Hoftage: 1152 bis 1158 ist Ministerialität auf 14

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C. Herrschaft und Staatlicheit 191

Hoftagen in Deutschland mit 4,5% gegenüber 95,5% Adel vertreten, seit 1165 bis1196 auf 20 deutschen Hoftagen aber mit mindestens 40% (diese Aufrechnung istvorläufig [vgl. auch J. Fleckenstein in: 657, S. 455 f.]). Ein eigenes Problem wirftdie Affinität der Neugrafen zum Hof auf; sie scheint geradezu zur Erhaltung desReiches gegen die Fürstenterritorien beigetragen zu haben.

Die Regierung Lothars III. ist auch kanzleigeschichtlich eine Zwischenzeit[1269: Petke; 1122: Hausmann]. Über die Kanzlei Barbarossas liegt die Abhand-lung von H. Appelt vor (oben S. 189; das Literaturverzeichnis der Edition unter-richtet über die vielen Kanzleistudien, die von den Miteditoren verfaßt wurden,darunter W. Koch [1271] über die Schrift der Urkunden 1125-1190; vgl. auch P.Johanek in: 1401, S. 665 ff.). Typisch staufisch und äußerst symptomatisch dürftedie lehnrechtliche Einweisung des Kanzlers sein, zumal er unter Konrad III. zu

einem leitenden Vorstand mit politischer Beraterfunktion avanciert ist und fürdas gesamte Imperium zuständig blieb. Bezeichnend könnte auch die geringeBedeutung des Mandats sein [1272: T. Reuter]. Zu einem Verwaltungs- undGerichtsinstrument (wie in England der Writ und in Sizilien die sacrae litterae) istes im Reich auch unter Heinrich VI. nicht geworden [1443: Csendes].

Die Reichsheerfahrtspflicht für Italien gründete sich wesentlich auf der persön-lichen Bindung zwischen König, Fürsten und Vasallen [vgl. 831: MitteisS. 126 ff.; H. Patze in: 179, V 71 Anm. 72]. Ihr fehlte also eine landrechtlicheGrundlage. Über entscheidende Jahrzehnte betrieb Friedrich I. expansive Politikmit Machtmitteln, die rasch aktiviert werden konnten. In Italien waren es die„Regalien". Als solche galten „die Herrschaftsrechte, Gerechtsame und sonstigeBesitzungen (z. B. ,palatia'), wohl auch der Grundbesitz des Reiches oder derKrone. Sie dürften prinzipiell unveräußerlich gewesen sein, konnten aber an

geistliche und weltliche Fürsten sowie an Kommunen in der Regel nach Lehn-recht, d. h. quo ad usum, nicht quo adproprietatem, vergabt werden, was jedocheine seit 1158 zunehmende Ablösung der Lehnsdienste durch Geldzahlungennicht ausschloß" [1166: Fried S. 461 f.]. Vier Gesetze betreffend Regalia, Omnisiurisdictio (das dem Kaiser ein Herrschaftsmonopol zuspricht), Palacia und 7h-butum, ein Landfriede und die Erneuerung des Lehnsgesetzes von 1154 trugendas Projekt zur Erneuerung der Reichsherrschaft über die Städte. [Armin Wolfin: 196, I 566 ff.; 900: Willoweit]. Ihre Bewertung konnte sich in der deutschenund italienischen Mediävistik der letzten Generation völlig von nationalistischenLeitbildern und Maßstäben lösen [vgl. A. Haverkamp in: 797; R. Bordone in:1401].

Trotz der Gewaltenfülle Barbarossas, seiner „realpolitischen" Planung und derFähigkeit zu ihrer Realisierung zeichnet sich schon im letzten Viertel des 12. Jh.das Scheitern der staufischen Regalienpolitik ab [1416: Haverkamp; Ders. in:724a]. Selbst die Anfänge der podestä dürften an einer vorgegebenen Klientelbil-dung in den Städten selbst zu messen sein. Opll lieferte die zum Verständnis die-ses städtischen Einpersonenregiments nötige Differenzierung nach Typen [725;vgl. sein Register S. 621 f.].

Kanzlei

Belastung des Kai-serhofs: Italien

Regalienweistum1158 und dieGesetze von Ronca-glia [MGH DD. f.I. 237-242]

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192 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

f) Die oberitalischen Kommunen

Zur Forschung Die Entstehung der Stadtkommune im 11. /12. Jh. ist seit L.A. Muratori ein klas-sisches Thema. Als Wiedergeburt der römischen Munizipalverfassung kann sienicht erklärt werden, es gibt aber Kontinuitäten in wichtigen Bereichen materiel-ler und geistiger Kultur, auch des Rechts [E. Ennen, Frühgeschichte der europäi-schen Stadt

-

wie ich sie heute sehe, in: 450, S. 262 ff.]. Aus der Forschungsge-schichte sind als äußerst einflußreiche Werke C. Hegels „Geschichte der Städte-verfassung von Italien" von 1847 [1224] und E. Mayers „Italienische Verfassungs-geschichte" von 1909 [1185] zu nennen. Unsere Grundvorstellung von der Ablö-sung bischöflicher Stadtherrschaft und der Schaffung des Konsulats als der„Signatur der Kommune" [1231: Prutscher; 841: H. J. Berman S. 602 ff. in Fort-schreibung des Kapitels „Die italienische Stadtstaatsidee" von 239: Rosenstock-Huessy] ist in diesen Büchern begründet worden. Vgl. allgemein „zur Gegenwartder mittelalterlichen Stadt im historisch-politischen Denken des 19. Jh." K.Schreiner in: Festschrift E. Naujoks, 1980, 139 ff., sowie zwei Arbeiten von H.Keller, in denen er jenseits der politischen Theorie des Aristoteles ein Verständ-nis von der „Kommune" als öffentlicher Gewalt aus ihrem Identitätsbewußtseinund ihrer Verdichtung „staatlicher" Organisation

-

insbesondere unter Ver-schriftlichung des Rechts und seiner Verfahrensnormen (vgl. unten S. 205 ff.)

-

zu

gewinnen sucht [in: 825, betr. „Wahlformen und Gemeinschaftsverständnis", fort-gesetzt in: 221, betr. „Städtische Selbstregierung und mittelalterliche ,Volksherr-schaft' im Spiegel italienischer Wahlverfahren des 12.

-

14. Jh."].Hof und Kommune Hilfreich für die allgemeine wie die lokale Orientierung ist die stupende Sich-

tung der Forschung bis ca. 1985 für ein halbes Hundert der italischen Städte inalphabetischer Folge bei Opll [725], der aus seinem Material dann in der Hauptsa-che Mittel und Methoden kaiserlicher Städtepolitik im 12. Jh. herausarbeitet. Im„Herrschafts- und Sozialgefüge Reichsitaliens" [A. Haverkamp in: 724a; ferner:1186] entfalteten sich die Städte bis ins 12. Jh. hinein [717], als sie selber Territorial-mächte wurden, ausgesprochen hofbezogen [1234: Dilcher; 1242: Cavallari;L. Fasola, Vescovi, cittä e signorie, in: 1243; 1237: Dameron; G. Fasoli, G.Rippe, A. Castagnetti in: 805], in einigen, wie etwa dem toskanischen Lucca,konkurrierten in der Ausgangsphase des 11. Jh. die markgräfliche und die bischöf-liche curia [1232: Schwarzmaier]. Einen anderen Sonderfall stellt Venedig mitseinem Dogenhof dar [1236: Rösch], an dem der Begriff „patria bei der Formulie-rung einer transpersonalen, objektiven und konstitutionellen Staatsauffassung"eingesetzt wurde [704, IX: Eichenberger S. 183 ff.]. An der Pisaner curia amtier-ten Notare und Richter (zunehmend in einer Person), deren Autorität und Legiti-mierung als „lateranensisch" oder „apostolisch" bislang nicht sicher, zumindestnicht generell erklärt werden konnte. Belegt sind Verbindungen des „päpstli-chen" Notariats mit dem kaiserlichen Richteramt, wie des kaiserlichen Notariatsmit dem „päpstlichen" Richteramt [1238: Hiestand]. Große Bedeutung hat inder jüngeren Forschung Mailand [1227] gewonnen. Eine Reihe von Studien und

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C. Herrschaft und Staatlichen 193

ein Buch von H. Keller [1225] gehen in einem sehr weiten, auch zeitlich bis ins 9.Jh. hinaufreichenden Zusammenhang den Führungsschichten in den lombardi-schen Städten nach. Der wissenschaftliche Ertrag ist vor allem in der Bestimmunglehnrechtlicher Triebkräfte auch in der Kommunebewegung selber abzulesen(vgl. auch Kellers Studie über „Adel, Rittertum und Ritterstand nach italieni-schen Zeugnissen" [in: 217]). Darin bietet das Buch von Keller mehr als Ergän-zungen zu den wichtigen Arbeiten von A. Haverkamp [Friedrich I. und der hoheitalienische Adel, in: 1191], G. Tabacco [La costituzione del regno Italico, in:1226; ferner in: 805] und Prutscher [1231], die

-

für unsere Zusammenhänge her-vorzuheben

-

auch bereits der lehnrechtlichen Terminologie in der Urkunden-sprache der Kommunen nachgegangen sind, ihrer aktiven und passiven Lehnsfä-higkeit sowie den Untertaneneiden, die sich Barbarossa leisten ließ.

g) Zum „Dritten Stand" im 12. JahrhundertDie oberitalischen Städte verstanden sich von jeher als membra des Reiches und Lombardeikonnten

-

aktiv wie passiv lehnsfähig geworden-

durch ihre eigenen iudices undconsules in den kaiserlichen curiae sprechen. Der Eintritt der Kommunen in die„assemblees d'etats en Italie" [1235: Leicht] wäre also mit der Formierung derKommune als „seigneurie collective" vergleichbar [1339: Stephenson S. 36 ff.;760: Mitteis, Lehnrecht, S. 384], die wir in England (London in der MagnaCarta; oben S. 186) und Frankreich später beobachten können. Ansätze zu dieserEntwicklung sind 1136 (D. Lothars III. 105) und dann insbesondere in den Ver-handlungen von 1158, die zum Regalienweistum führten [59: Ottonis MorenaeHistoria S. 58 ff.], erkennbar. Die Friedensschlüsse nach der ersten Konfliktzeitwurden aber

-

anders als später im England der Magna Carta-

schon nicht mehrin der curia, sondern zwischen Imperator et eius curia et civitates et earum partesabgeschlossen [146: Const. I Nr. 242]. Auch wenn der Konstanzer Friede zwi-schen Kaiser und Lombardenbund 1183 (oben S. 68; [vgl. 1417]) den Bundesstäd-ten einen „lehnrechtlich fundierten Status auf einem so hohen Niveau" sicherte,„wie er bis dahin außerhalb Reichsitaliens von keinem Herrscher irgendwelchenStädten zugestanden worden war" [A. Haverkamp in: 727, S. 42], ist „die Ten-denz eines Gegensatzes zwischen Regierenden und Regierten" [1436: SamanekS. 24] nicht mehr in einer ständischen Dauereinrichtung am Kaiserhof eliminiertworden.

Einen anderen Weg sind die flandrischen Städte gegangen (vgl. S. 47; Schulz, Flandern

Kap. IV [716]; St. Coue [in: 853] betr. den „Pragmatismus" in der einschlägigenBerichterstattung Galberts von Brügge und Walters von Therouanne). Aus denBerichten Galberts von Brügge [30] ist für unsere Zusammenhänge vor allem her-vorzuheben, daß die burgenses 1127/28 die Grafenwahl für eine Angelegenheitdes Landrechts hielten und weder der curia des französischen Königs noch denflandrischen Vasallen das Wahlrecht überlassen wollten. Zum Ausgleich mit derköniglichen und der gräflichen curia gelangten sie über Fürsprecher, die sie als

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194 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

ihre (landrechtlichen) concives betrachteten, die aber zugleich Lehnsmannen desGrafen waren. Diese leisteten das Homagium in Gegenwart aller und bürgten fürden Grafen gegenüber den Städten.

Köln In den Bischofsstädten nördlich der Alpen läßt sich der kommunale Anspruchauf (landrechtliche) Anerkennung in der curia des Bischofs zuerst (2. Hälfte 12.Jh.) in Kölner Quellen deutlicher fassen [H. Stehkämper in: 363; H. Jakobs in:700]. Er blieb immer umstritten.

Spanische Königrei- Electi cives ex singulis civitatibus nahmen i.J. 1188 in Leon [107: Gonzales IIche 23 Nr. 11; 1363: O'Callaghan] am Hoftag teil. Die Thematik ließe sich auch an

den Verhandlungen über den staufisch-kastilischen Ehevertrag des Jahres verfol-gen [1357: Rassow; 1362: Procter S. 109]. Marongiü [821], der seinen Platz inder Forschungsgeschichte eigentlich wegen seiner Kritik an der liberalistischenFrühdatierung der Cortes behauptet, hat seinerseits die Urkunde Alfons' IX. von

1188 eine frühe Magna Carta genannt. Diese Wertung muß aber mit Hinweisenauf die besondere Verfassungs- und Sozialstruktur des Landes, näherhin die mili-tärische Bedeutung der Städte in den Königreichen ergänzt werden [1361:Powers]. Das politische Gewicht der „Bürger" ist das einer Gefolgschaft, derennun auftauchende Repräsentation vermutlich mit innerstädtischen sozialen Vor-gängen, insbesondere der Erhebung der ricos hombres (Magnaten) über die Cabal-leros villanos (Ritter mit Adelsprivilegien), zusammenhängt. Die Städte brachtenalso Voraussetzungen mit, unter denen sie sich von Anfang an in dem neuen „Hof-staat" (Cortes) gegen die adligen und ordensritterlichen Großgrundherren alsstärkster brazo (Arm; Stand in den Cortes) behaupten konnten.

h) Die Römische Kurie

Elemente der curia Der päpstliche Hofstaat [186: HKG III /1 495 f.; III/2 39 ff.] ist eine SchöpfungRomana ^es 11/12. Jh. Die alten stadtrömischen Einrichtungen wurden durch eine curia

(vgl. S. 31) der katholischen Kirche abgelöst [1196: Jordan], die für die Regie-rung der Kirche, des Kirchenstaates und der Stadt zuständig war [1211: Grego-rovius mit Literaturverzeichnis von Kampf; 1212: Krautheimer; 1214: Halp-hen; 1223: Toubert; über das „Gerichtswesen der Stadt Rom vom 8. bis 12. Jh.":1215: Hirschfeld; vgl. auch B. Schimmelpfennig, Das Papsttum im HohenMittelalter: eine Institution? in: 201]. Die neue Entwicklung steht unter starkemEinfluß des Reiches und kündigt sich in einem Vorspiel seit der Jahrtausend-wende, deutlicher unter den Reformpäpsten, an. Schatz-, Zahlmeister, Armenpfle-ger, Archivar, Bibliothekar, Vorsteher der Notare und der gerichtlichen Defenso-ren wurden allmählich durch ordines palatini zurückgedrängt, die sich mit denPäpsten bewegten [1200: Elze, Palatium]. Die Sammlung von Vertrauensmän-nern um den Herrn hebt sich auch in Rom von der frühmittelalterlichen/rtmzzWz-tas ab; sie nahm die neuen höfischen Formen an (subdiaconi oder capellani; [1199:Elze, Kapelle; 1198: Haider]). Die klassischen Hofämter blieben hingegen fürden Aufstieg der curia bedeutungslos, stellten aber zu einem Gutteil das Laienele-

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C. Herrschaft und Staatlichen 195

ment in den Gremien, insbesondere im päpstlichen Gericht. Im Vordergrundsteht der zunächst für die Tierhaltung zuständige Marschall, dem aber im 13. Jh.die Heeresführung und die Leitung des Gerichtshofs über kriminelle Kurialenzukommt. Vor allem aber hat sich ein senatus gebildet (vgl. S. 21 f.; [1092: Hüls]).Um 1100 ist die neue Formation aus Kardinalskollegium (Konsistorium),Kapelle, Kammer, Kanzlei und päpstlichem Gericht mit weltlichen und geistli-chen Beisitzern funktionstüchtig [1159: Servatius S. 42 ff.]; zum Legatenwesenund den verschiedenen Legatenklassen vgl. Wilh. Janssen [1205].

Die Kardinäle haben sich 1059 (Papstwahldekret) zu einem Gremium formiert(vgl. S. 23; [1089: H.-G. Krause; R. Schieffer in: 852; 1090: Jasper; 1150: Hart-mann S. 84 ff.; 186: Robinson]), die Mitgliederzahl stieg über das 12. Jh. durch-schnittlich auf 25 bis 35. In der „Odyssee der Päpste" des 11. /12. Jh. infolge kir-chenpolitischer und stadtrömischer Widrigkeiten [vgl. S. 69; Lit.: 1215 ff.; fernerW. Maleczek in: 1220; J. Petersohn in: 1401] hat mehrfach „die Kurie" dieSorge um Grab und Gebetsgedenken der Päpste übernommen [184: Borgolte].Für die Papstwahl gilt seit 1179 (vgl. S. 67) ein Mehrheitswahlrecht [B. Schimmel-pfennig, Papst- und Bischofswahlen seit dem 12. Jh.; W. Maleczek, Abstim-mungsarten, beide in: 825]. Zunehmend unterschrieben die jeweils anwesendenKardinäle

-

geordnet nach Rängen [1197: Katterbach-

Peitz]-

die Papstur-kunden. Sie berieten auf den Synoden die causae maiores, und ihr „Rat" fand im12. Jh. eine „Institutionalisierung" im Konsistorium [1204: Sydow], das am Ende

-

unter Innozenz III.-

dreimal wöchentlich tagte. Genauer ist das Zusammen-spiel von Papst und Kardinalskolleg nur für bestimmte, allerdings wichtige Pha-sen aufgearbeitet [1195: Maleczek].

Die kuriale Kanzlei des 12. Jh. ist längst nicht auf dem Niveau erforscht wie die KanzleiKanzleien Konrads III. und Friedrichs I. [1356: K. Baaken S. 35 ff.]. Kerntruppeder in Anlehnung an königliche Ordnungen neugebildeten capella waren die(Pfalz-)Notare. Ihre „Kanzlei" stand nicht mehr in stadtrömischen Traditionen,sie wurde von den in Scholen organisierten Skriniaren oder Regionarnotarenunabhängig. Die Neuordnung ist vor allem von dem Diakon und Kanzler Johan-nes von Gaeta (als Papst Gelasius IL, 1118-1119) grundgelegt worden. Seit 1123sind die Skriniare und Regionarnotare endgültig von den notarii sacri Lateranen-sis palatii verdrängt. Die institutionelle Umstellung wird von der Ablösung deraltertümlichen, an sich stadtrömischen „Kuriale" [1201: Rabikauskas] durch dieUrkundenminuskel begleitet. Der Kanzler wurde im Verlauf des 12. Jh. Vorstandeiner zunehmend modernisierten Institution, mit der Archiv und Bibliothek ver-

bunden waren. Im 12. Jh. gab es jedoch noch kein eigenes Skriptorenamt, weshalbdie Notare selber mundierten oder Skriptoren als Privatbedienstete einstellten [P.Rabikauskas, LMA V 922]. Weitere Differenzierung wurde nötig, weil der Beur-kundung zunehmend eine rechtliche Prüfung der Petition durch Juristen voran-

ging. Diese Aufgabe übernahm auf der Schwelle zum 13. Jh. die Audientia littera-rum contradictarum [1209: Herde]. Innozenz III. stellte wieder aus öffentlichenNotariaten stammende Hilfskräfte in Schreiberkollegien in den kurialen Dienst

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196 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

[1210: Schwarz]; er legte außerdem den Grund für die berühmte kuriale Register-führung [100a; 1208: Haidacher; 12: Fink]. Die nur in Spuren erkennbare Regi-sterführung vor Innozenz III. wird als „perfectly familiar to scribes" eingestuft[U.-R. Blumenthal in: 919, VIII].

Kammer Die capella geriet im 12. Jh. unter die Gesamtleitung des Kämmerers, der damitauch über dem Kanzler stand. Von einer Apostolischen Kammer kann man erst

für die Zeit Urbans II. sprechen. Das „Schatzamt" scheint lange von Cluny aus

gewirkt zu haben ([1202: Sydow]; zur päpstlichen Finanz oben S. 102 f.). Seit 1149war Boso an der Kurie tätig, der für Hadrian IV. (1154/59) einen Liber censuum

SRE erstellte [1203: Geisthardt]. Wir kennen aber nur die Endredaktion [100],die der bedeutendste Kämmerer des 12. Jh., Cencius (Honorius III.), unter Coele-stin III. 1192 vollendet hat (vgl. S. 183). Daß der Papst das finanzielle Aufkom-men der westeuropäischen Kirchen für sich und seine Kardinäle mit in Anspruchnahm, ist von Falkenstein [1207] an bestimmten „Leistungsersuchen Alexan-ders III." konkretisiert worden.

4. Normannisch-staufische Heirat (1184/86), Erbreichsplan und TestamentHeinrichs VI. (1195/97) und das Hervortreten von Kurfürsten im Thron-

streit (seit 1198)

Ehe Heinrichs VI. Die sizilisch-staufische Eheverbindung, die wenige Jahre später ein neues Kapitelmit Konstanze fa w/e[tgescmcnte eröffnen sollte, ist ein international viel diskutiertes Thema.

Seine weitere Erörterung hat von der Studie auszugehen, in der Kölzer [1252]hier nicht im einzelnen bibliographierte Aufsätze jüngerer Zeit überprüft hat.Nach seiner Argumentation kann die hochpolitische Ehe weder auf die Vermitt-lung des englischen Königshofes, der auf diesem Wege die Begnadigung Hein-richs des Löwen vorangetrieben hätte (These von Heinz Wolter), noch auf dieKinderlosigkeit Wilhelms II. als einem alles bestimmenden Antrieb sizilischerPolitik dieser Jahre (G. Fasoli, G. Baaken, Wolter) zurückgeführt werden.Kölzer kehrt die von beiden Seiten verfolgte Verständigungspolitik hervor, fürdie Barbarossa 1177 in einer normannisch-staufischen pax und 1183 im Konstan-zer Vertrag den Grund gelegt habe, und er stellt auch das gleichzeitige Ausschei-den der byzantinischen Konkurrenz aus Italien in Rechnung. Demnach hätte dieEhe dem sizilischen Königtum die kontinentale Anerkennung gebracht, die es

seit seiner Begründung und vollends seit dem Vertrag von Benevent (1156; S. 42)zu gewinnen suchte [F. Giunta, Ii regno tra realtä europea e vocazione mediterra-nea, in: 1248, Atti 4]. In der Beurteilung der päpstlichen Haltung nimmt Kölzerdann nicht den 1189 eingetretenen Erbfall, sondern den sich zunächst eröffnen-den Interessenausgleich auch als den Maßstab der Kurie an und kommt in dieserHinsicht dem Urteil G. Baakens [1446; 1419] wieder sehr nahe.

Erbreichsplan Die Diskussion über den Erbreichsplan (S. 73) hatte eine Klimax im Jahre 1914,als J. Haller (MIÖG 35, 648 ff.) die These vertrat, daß Heinrich VI. für die

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C. Herrschaft und Staatlichen 197

kuriale Anerkennung eines im Staufergeschlecht erblichen und um Sizilien erwei-terten Imperiums „als höchstes Angebot" [146: Const. I Nr. 376] Lehnsnahmeaus apostolischer Hand offeriert habe. Zum Verständnis der dramatischen Ver-handlungen ist daran festzuhalten, daß Heinrich VI. beide Reiche in Realunionvereinen wollte und sein Motiv aus dem Recht der sizilischen Erbmonarchiezumindest verstärkt wurde; vgl. Kölzer [1252] gegen G. Tabacco (Impero e

Regno meridionale [in: 1248, Atti 5]), der Sizilien als neues staufisches Hausgutaus der historischen Bewertung des Erbreichsplanes wie aus einer internen Reichs-angelegenheit heraushalten wollte. Jedoch wurde die Legitimation für die Erobe-rung Siziliens nicht ausschließlich im Erbrecht Konstanzes, sondern auch mitHilfe des antiquum ius imperii gesucht. Der jüngste Versuch, den Erbreichsplandurch gründliche Umwertung seines Inhalts dem „Mythos" zu entziehen, „mitdem die Mediävistik" ihn umgeben habe [839: Faussner S. 30], kommt weiterunten im Abschnitt über die Kurfürsten zur Sprache.

Hallers Ausführungen wurden von Pfaff [1445] abgelehnt [vgl. K. Jordanin 171: Gebhardt I 420f.]: das Angebot Heinrichs VI. sei nicht Lehnsnahme, viel-mehr jene Zusage finanzieller Sicherung durch Reservation von Kanonikats-pfründen an deutschen Bischofskirchen gewesen, von der das Speculum ecclesiae[Dist. IV c. 19] des Waliser Archidiakons Giraldus de Barri [Cambrensis; 33]berichte. Trotz Kenntnis dieser und weiterer Gegenargumente [vgl. Kempf in100a: RNI 76 Anm. 6] hat Haller seine These nie zurückgenommen [vgl. 182:2. Aufl. III 268 ff.]; und wie früher schon H. Grundmann [ZRG KA 68, 1951,431] und Hans Wolter [186: HKG III/2 112] ist ihm G. Baaken [1446] zumin-dest insoweit sehr zu Recht beigetreten, als er die Diskussion nicht für abge-schlossen hielt; vgl. auch H. Beumann [171: Hb. Europ. Gesch. II 365]. Baakenargumentierte, daß die finanzielle Zusage nicht als beispiellos hätte hingestelltwerden können, weil eine solche i.J. 1182 in vergleichbarer Form Lucius III.unterbreitet worden war.

-

Zur Koppelung von Taufe und Königssalbung [15:Annales Marhacenses S. 68] gibt H. Stehkämper vorläufige Hinweise [in: 837, S.26 Anm. 73; zur Vertiefung der Fragestellung wäre wohl auch A. Angenendtzu Rate zu ziehen: Das geistliche Bündnis der Päpste mit den Karolingern, in:HJb 100, 1980]. J. Haller sah auch darin ein Angebot an die Kurie, daß durchdie päpstliche Königskrönung die Coronatoren von Köln und Palermo ersetzt

werden sollten [MIÖG 35, 629 f., 637f.].Ungeachtet vieler Probleme, vor die das Testament Heinrichs (S. 75) die For- Testament Hein-

schung stellt [101: Böhmer-Baaken Nr. 614; 1478: Stürner S. 65], hat die Auf- richs vl-1146:,

. .

. , „ , „ Const. I Nr. 379]fassung, wie sie von Hampe [168: Kaisergesch. S. 238 Anm. 2] zusammengefaßtwurde, in der Bewertung des Testaments als „Punktation für Verhandlungen deszum Vollstrecker bestimmten Markward ... mit der Kurie" immer noch eine guteSubstanz. Keinen Zweifel läßt der Text daran, daß der Kaiserin ausschließlich fürSizilien eine Rolle zugedacht war, eine Regentschaft der Witwe für Deutschlandnicht in Betracht kam. Vor diesem Befund ist die Handlungsweise Philipps von

Schwaben (oben S. 74) zu verstehen.

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198 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

Das Auftauchen Von Wählern, denen prinäpaliter die electio imperatoris zustehe, ist um die Jah-von Kurfürsten

-

reswenue 1200/1201 in der berühmten Deliberatio Innozenz' III. erstmals dierorschungsstand ,.

, .Rede (vgl. oben S. 76). Daß sich der Papst mit seiner Bemerkung auf eine inDeutschland vor allem vom Kölner Erzbischof Adolf von Altena [H. Stehkäm-per in: 837] und von der Weifenpartei vertretene Rechtsvorstellung bezog, ist seitlangem erkannt. Die beste Einführung in die ältere Forschung über „die Entste-hung des Kurkollegs" findet sich im Eingangskapitel von W. Beckers Buch überden Kurfürstenrat [838]. Bis ins Jahr 1991 fortgeführt wurde die kritische Sich-tung von Krieger [798, S. 64 ff.]. Von den jüngeren Arbeiten, die sich der Kurfür-stenproblematik bereits aufs neue angenommen haben, kommt für den Zeitraumdieses Bandes der Aufsatz von Faussner [839] in Betracht. Allmählich räumt nun

der Klassiker von Mitteis über „Die deutsche Königswahl" [831] seinen Platz inder Diskussion, denn in seiner Substanz (Gleichstellung von Sohneswahlen und„freien Wahlen" zwischen 911 und 1198) ist das Buch nicht mehr tragfähig [U.Reuling, Zur Entwicklung der Wahlformen bei den hochmittelalterlichenKönigserhebungen im Reich, in: 825]. Das rechtfertigt es allerdings nicht, die Wah-len des 12. Jh. so gleichwertig als „freie Wahlen" zu bewerten, als habe es inDeutschland keine Vorstellung mehr von Designation im Königshaus oderAnwartschaft nach Graden von Verwandtschaft in Nebenlinien gegeben; vgl. dievorzüglich belegte Kritik an U. Schmidt durch T. Reuter [834] sowie das hilfrei-che Nachsinnen des Johannes von Salisbury darüber, daß das Königsamt von

Gott übertragen wurde, sei es durch Erbfolge oder durch Wahl oder auf andereWeise, die Gott in dem bestimmten Fall festsetze [47: Policraticus V 6]. Auch wirdman der eigenwilligen Sichtung aller Thronfolgen ottonisch-salisch-staufischerZeit bis 1198 von Faussner [839] cum grano salis bis an den Punkt folgen, in demer die ausschließliche Bewertung des Thronfolgeanspruchs nach Landrecht kriti-siert und die lehnrechtliche Problematik ins Spiel bringt. Er erreicht hier

-

wenn

auch mit anderer, jedoch nicht minder eigenwilliger Begrifflichkeit wie vor 80 Jah-ren Rosenstock [758]

-

wieder einen Standort, von dem aus die Thronfolge alsein Rechtsproblem im Lehnshof (Königshaus) diskutiert werden kann. Faussnerbringt die Sache dann aber keinen Deut weiter. Nicht allein, daß er sich nur wenigum die Literatur schert, er stellt die Dinge willkürlich auf den Kopf, wenn er

behauptet, es gehe im Erbreichsplan nicht um das Wahlrecht der Fürsten, das Kur-fürstenkolleg sei ein Zusammenschluß der passiv Wahlberechtigten auf demFrankfurter Reichstag von 1196 und das Erzamt sei nicht Ursache sondern Folgedes Kurrechts.

Vorbehalte gegen Mit der forschungsgeschichtlichen Sichtung ist bereits in der Stellungnahme W.eine kölnische beckers Jjg Erzämtertheorie wieder in den Vordergrund gerückt, wie sie erst-

Wahltheone , ..

. .

.mals von Eike von Repgow nach 1224 im Sachsenspiegel [166] mit all ihren Ele-menten vorgetragen wurde [Landrecht III 57 § 2]. Den Vertretern der Erzämter-theorie [insbes. 758: Rosenstock S. 223 ff., 239 ff.] folgte E. Boshof [Erstkur-recht und Erzämtertheorie, in: 837; vertieft von F.-R. Erkens, vgl. KriegerS. 71] darin, daß die kausale Verknüpfung von Hofamt und Kurrecht unmöglich

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C. Herrschaft und Staatlicheit 199

erst von Eike erfunden sein könne (S. 90); und er setzte Adolf von Köln an EikesStelle. Als Erklärung dafür wird aber nur der Hinweis auf den Machtkampf von

1198 angeboten, aus dem die Theorie „geboren" sei (S. 120). Der notwendigenrechts- und verfassungsgeschichtlichen Interpretation der Erzämtertheorie hatdann Reuling [832] vorgearbeitet, ohne allerdings mit seiner Geschichte der KurAnschluß an den Thronstreit herzustellen [auch nicht in: 825].

Kur ist der Einzelzuruf nach erfolgter Einigung der Fürsten auf einen Königs- Kurkandidaten. In Deutschland kam die Kur bis ins 12. Jh. hinein nur bei Begrün-dung eines neuen Königshauses in Anwendung (1024, 1077, 1125), sonst war dieAkklamation, die Vollbort, förmlicher Wahlakt. Die erste Spur von einer Sohnes-kur fand Reuling bei der Erhebung Heinrichs (VI.), des Sohnes Konrads III.(1147). Zum Jahre 1169 (Erhebung des fünfjährigen Barbarossasohnes HeinrichVI. zum Mitkönig) faßte dann der Pegauer Annalist die (seit 1024 bezeugte) primavox des Mainzers als Stellvertretung in der hausrechtlichen Designation auf, so

daß nun auch bei der Sohnesfolge verfahren wurde wie bei einer freien Wahl [832:Reuling S. 195 f. sowie in: 825, S. 262 f.; 834: U. Schmidt S. 181 f.]. Die Ambitio-nen auf Erbthronfolge suchten aber längst wieder

-

um diese Zeit wohl auch überdas römisch-rechtliche Mitkaisertum [G. Wolf, Imperator und Caesar, in: 1406]-

festere Gestalt. Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, wurde der Kurruf durchdas Hofamt von W. Becker [S. 52] mit der Überlegung, daß das Zugeständnis derErzämter an den hohen Adel „aus der Sicht der staufischen Herrschaft gerade einMittel gewesen (wäre), die Königswahl in den Bahnen ... der Designation zu hal-ten", gründlich umgewertet. Becker argumentiert weiterhin, daß ein rex (Böh-men), ein dux (Sachsen), ein marchio (Brandenburg) und ein comes (palatinus)allem Anschein nach repräsentativ für den neuen Reichsfürstenstand die Ämterausübten und der Ansatz dazu schlechterdings nicht denkbar sei ohne Lenkungdurch den Hof. Die Erzämtertheorie wäre demnach nicht als eine Wahl-, sondernals eine Kurtheorie für die Sohnesfolge zu verstehen [H. Jakobs in: 219, S. 280].

Ein eigenes Kapitel wäre der Rationalisierung zu widmen, die im 13. Jh. das Kir- Argumentation mitchenrecht anbot. Am Anfang stehen die Deliberatio und die Bulle Venerabilem Kirchenrecht

Innozenz' III. (vgl. S. 76 f., 198), deren Anspruch auf die Kompetenz päpstlichenErmessens bei der Königswahl natürlich selber ein Politikum war, das kanonischbegründet werden mußte [1475: Fuhrmann]. In der Sache ging es dann Schrittfür Schritt, aber gleich bei Innozenz III. beginnend, 1.) um die Ungültigkeit einerWahl bei Übergehung eines zur Wahl Berechtigten (contemptus-Lehre), 2.) dieEinheit der Rechtshandlung (unitas actus), 3.) die rechtliche Stellvertretung und4.) das Majoritätsprinzip.

Für das deutsche Reich ergibt sich ein ständerechtlicher Befund (vgl. S. 162),der in Europa einmalig ist: der Vorkurruf ist auf die Dauer zur Wahlform desHofes geworden, die dann rechtlich ausgestaltet wurde. Der Kurruf sollte dieWahl durch die Fürsten verdrängen, während sich in Europa weithin dynasti-sches Erbrecht (auch in Frankreich unter Verkümmerung und schließlichem Fort-fall der 1059 eingeführten Einzelkur) durchsetzte. Der Rechtsgelehrte Bologne-

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200 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

ser Schule und versierte Höfling Gervasius von Tilbury, den Otto IV. zum Mar-schall des Königreiches Arelat ernannt hatte, bezeichnete die Zielsetzung des Erb-reichsplans aus höfischer Perspektive als Abschaffung der electio palatinorum[MGH SS XXVII 380f.]. Sein Sprachgebrauch ist der eines Höflings um 1210, dereben zur Kennzeichnung der Substanz des Erbreichsplanes den Anteil der pala-tini hervorkehrt. Er kennt das die Hofämter bei Sohnesfolge auszeichnende Kur-zeremoniell so gut wie das Recht, das principes bei freien Wahlen haben. Aber ineinem Erbreich muß gerade die Sohneskur fallen [Jakobs in: 219, S. 281].

In die Erforschung der Sonderstellung des Pfalzgrafen [831: Mitteis 82 ff.;1420: Schaab] wäre wohl einzubeziehen, daß die Vertretung des deutschenKönigs durch den dapifer, den Pfalzgrafen [1107: Meyer von Knonau IV 284, VI359], dem die Goldene Bulle von 1356 auch Gerichtsbarkeit über den König zuer-

kennt, im historischen Vergleich [42: Hugo de Clefs, De majoratu et senescalciaFranciae, nämlich des Grafen von Anjou; vgl. 1017: Schirmer

-

Broich S. 125]Parallelen hat, die einen späten Ansatz der Rechte fraglich machen.

5. Trends der Verfassungsentwicklung-

Auswirkungen in Deutschland

Fiskalismus Dieser Abschnitt soll Hinweise zu I A 3 geben und dabei näher auf die politischeNutzung sozialökonomischen Wandels in der „Verstaatung" eingehen. In derForschung ist die Verbindung der Faktoren zuerst von Hintze [759] verfolgt wor-

den.

a) Fiskalismus, Feudalismus, TerritorialisierungWachsende Finanzaufkommen [vgl. dazu II A 5 am Schluß und C 3 passim; E.Miller in 202: CEHE III] haben das Kräftependel zwischen Fürstentum undStänden in unberechenbare Bewegung und die „staatliche" Entwicklung entschei-dend voran gebracht [826a: Strayer]. Aufs Ganze gesehen ist es jedoch nicht zu

einseitigem Nutzen ausgeschlagen. Insbesondere wurde die Besteuerung-

zum

Teil als Ablösung von Vasallenpflichten, die bis zur nahezu völligen Auflösungder feudalen Kriegsverfassung gehen konnte (England)

-

zu einem Hebel histori-scher Entwicklung [1339: Stephenson; 821: Marongiü; 1337: Harris; 1445:Pfaff]. Von Subsidien, Lösegeldern und Söldnertum war ebenfalls in II A 5 schondie Rede [750: Duby; 1334: Prestwich; 814: Schmitthenner], von besoldetenVerwaltungsdiensten wiederum in mehreren Abschnitten von II C 3. Aus ihnenergibt sich allerdings auch, daß die „Bändigung des Adels durch die Verwaltung"[Mitteis] nur mit erheblichen regionalen Unterschieden und zeitlichen Verschie-bungen durchschlug. Mentalitätsgeschichtliche Befunde sind in den Kirche undGesellschaft betreffenden Teilen von II B 2 berührt [vgl. auch I A 3].

Feudalismus Zur Diskussion über den Begriff „Feudalismus" wird auf die vielbenutzten„Zehn Aufsätze" verwiesen [800; 212: Segl S. 112 ff.: „Feudalismusdiskussionund Periodisierungsproblematik" in der DDR], insbes. auf die oft gedruckte Stu-

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C. Herrschaft und Staatlichen 201

die von O. Brunner, aber auch auf die mahnende Feststellung von Bisson [802],daß keine der Feudalmonarchien der anderen gleiche. Fossier [285, I 435 ff.]unterscheidet „sieben Gesichter" des Feudalismus (nach Regionen und Völkern),und Giordanengo [803] zeigt, daß Provence und Dauphine wiederum unter-

schiedliche Entwicklungen in enger Nachbarschaft aufweisen, beide aber als„pays de droit ecrit" (vgl. unten S. 210) auch den Librifeudorum [144] Einfluß aufdie Rechtspraxis eröffneten. Gut vierzig amerikanische, „sowjetische", englische,spanische, italienische und französische Forscher haben mit Beiträgen zum medi-terranen „Feodalisme" (sachlich oft vermengt mit „Feodalite" im GANSHOFschenSinne) einen Band gefüllt [805], der erst recht zum Vergleich herausfordert: nichtnur des Sprachgebrauchs der Kombattanten, sondern auch der Bedeutung desLehnswesens in der Morphologie der Kulturen

-

„the most stimulating set of con-

ference papers I have ever read" (C.J. Wickham in: EHR 97, 1982, 835). WieLehnswesen und Wirtschaftsleben zusammenhängen, Feudalismus sich aus

Grundherrschaft entfaltet und mit den ökonomischen Faktoren wandelt, lehrt-konkreter als M. Bloch [433]

-

Boutruche [804; vgl. auch Kuchenbuch (wieoben S. 138)]. Über das Rentenlehen in der aufziehenden Geldwirtschaft vgl. B.D.Lyon [806]. Auf dem Höhepunkt abendländischer Geltung des Feudalismuszeigt sich sein Rechtsgrund, das Lehnswesen [760, 762: Mitteis; 763: Ganshof;E. Boshof in: TRE XX 602 ff.], in seinem inneren Spannungszustand bis zur

Widersprüchlichkeit. Zur Konzentration und Straffung von Herrschaft war es

nur noch sehr bedingt geeignet, um so mehr für Anspruchsdenken (Feudalismusals „imperialistische Kinderkrankheit", O. Hintze). Eine unerwartete Zukunfthatte es schließlich als Rechtsform für Renten- und Pachtverträge und sogar fürdie Einstellung von „Beamten".

Die Kulmination des Lehnrechts im 12. Jh. ist auch ein sozialgeschichtlichesThema. Lehnsmutung von Eigenherrschaft kam in allgemeine Achtung: Nulleterre sans seigneur! Lehnshoheit aber mußte den breiten Konsens suchen, auchum den Preis des sozialen Aufstiegs der Vasallen. Rittertum (vgl. II B 3 b) wurdezur Ideologie der geschlossenen Lehnsgesellschaft bis in die Stadt hinein. Inso-fern die fürstliche Lehnskurie die Ausweitung räumlicher Herrschaft ermög-lichte und zugleich das Recht von Standesgenossen sprach, konnte die „dinglicheund persönliche Bindung des Lehnrechts die volle Herrschaft über Land undLeute" vorbereiten [762: Mitteis S. 425; B. Diestelkamp, Heinrich Mitteis„Lehnrecht und Staatsgewalt" im Lichte moderner Forschung, in: 797].

Territorialisierung ist ein Hilfsbegriff, mit dem viele Vorstellungen verbunden Land und Herrschaftwerden. Wir benutzen ihn zur Kennzeichnung der politischen Integration, diealle sozialen Schichten in einem von „Institutionen" [201] verwalteten Raum eint.Ansätze zur Territorialisierung liegen bereits im frühen 11. Jh. Sie hatten dieDurchlöcherung der alten Gerichtsordnungen wie der kirchlichen und adeligenGrund- und Dienstherrschaften zur Voraussetzung (vgl. S. 109 f.) und suchtenGerichtshoheit über alte und neue Freiheit. Ein Beispiel zur Konkretisierungunserer Anschauung über diesen Prozeß ist die Unterstellung der bischöflich-rat-

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202 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

zeburgischen Höngen unter das Gericht des Herzog-Markgrafen in Artlenburgdurch Heinrich den Löwen [vgl. W.-D. Mohrmann in: 1423, S. 71]. Zur Landes-hoheit führte Territorialisierung nur sehr langsam und am frühesten in demMaße, in dem sie über Regalien als öffentliche Funktionen verfügen konnte. Sieist tendenziell absolutistisch, in ihrer historischen Erscheinung bis ins 19. Jh. hin-ein aber vielfach landständisch geblieben

-

bei allerdings erheblichen ständischenEinbußen im 17. Jh.

Das Territorium muß begrifflich vom Land abgehoben werden. Das Land istkorporative Einheit in gentiler Tradition (vgl. S. 161, 180), das sich allerdingsunter den Einwirkungen der Territorialisierung neu formierte. Der Dualismusvon Land (Volk in einem Gebiet einheitlichen Rechts) und Territorium (Herr-schaft als Besitz eines Herrn) ist ein Grundbefund europäischer Staatenge-schichte, der in jedem Hof eigene Gestalt gewonnen hat. Neue landrechtlicheGebiete hoben sich als terrae von den volksrechtlichen der älteren Zeit ganz all-mählich ab; die Versammlung der Mitlandleute wurde durch ständische Vertre-tung in der curia ersetzt oder ständische Vertretung überhaupt geschaffen. IhrGewicht gegenüber dem Landesherrn blieb freilich aufJahrhunderte schwankend.

Friedensbewegung Engels [560] bemaß die Auflösung des Karolingerreiches an der Patrimoniali-[548 ff.] und Temto- s;erung fjes Gerichtswesens und dem Absinken des sozialen Niveaus im Gerichts-

nahsierung , , f , tu • j o i tii*umstand, sah „Vorstuten der Staatwerdung u. a. in der Sammlung von Lehnsbin-dungen und der Durchsetzung von Friedenshoheit; und er rückte seine Beobach-tungen in den „Kontext der Friedensbewegung". Literatur, die die Bewegung von

West nach Ost festhält, steckt zum Teil in den unten zu nennenden Vogteige-schichten; speziell vgl. Th.N. Bisson [in: 805, betr. Katalonien]; 1353: Engels(östl. Pyrenäenraum); 650: Genicot (Lothringen); M. Werner, Der Herzog von

Lothringen in salischer Zeit [in: 1109, I]; 780: Donecker („Deutsch-französi-scher Grenzraum"). Hirsch [843], Homberg [770], Bader [767] und anderehaben den Blick dafür geschärft, daß in Deutschland die Landfriedensbewegungden neuen Typ herzoglicher Gewalt ausgebildet hat. Für Frankreich vgl. Grabo'is[559] und Bisson [1358], für Frankreich und Deutschland den Vergleich königli-cher Friedenswahrung von Kaiser [561]; weitere Regionalgeschichten bei J.Ehlers in: HZ Beiheft 11,1982,132 ff. Teil dieses Prozesses wurden also die Stadt-und Landfriedensbewegungen (vgl. S. 5), in denen in Italien insbesondere dieKommunen und in Deutschland die kirchlichen und adligen Herrschaften sichKonkurrenz machten. In Ober- und Mittelitalien bot der Contado als auf die civi-tas bezogener Bezirk Handhaben für seine Unterwerfung, das Verhältnis zu denwenigen verbliebenen gräflichen Herrschaften mußte durch Kriege oder Verträgegeklärt werden [1241: Waley]. Im deutschen Reich suchten die Rivalen Konsoli-dierung unter alten und neuen Herzogs- und Grafentiteln. Sie erreichten im 12.Jh. vielfach nur die allererste Stufe der Addition von Elementen wie Gerichten,Städten, Burgen, Eigenklöstern, Vogteien, Zöllen, Münzrechten. BesondereBeachtung verdienen die zahlreichen klösterlichen Neugründungen auf Reichsge-biet wegen der Vogteirechte.

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C. Herrschaft und Staatlicheit 203

Die Interessengemeinschaft von Kirche und Territorialherrschaft ist nach Aus- Territoriumweis der Gottesfrieden fundamental. Sie gewann später in den Räumen, in denen un(^ Klrcne

das Institut der Kirchenvogtei ausgebildet war, noch einmal hohe Bedeutung[757: Hirsch; 766: Th. Mayer; 774: Endemann; 785: Reichert]. Am Endesuchte der Landesherr eine Stellung als oberster Schutzherr. Darin kamen ihmmonastische und kanonikale Reformtraditionen entgegen, die bereits in der „kai-serlichen Zisterzienservogtei" territorialpolitisch genutzt worden waren [K.Schulz in: 508, II]. Neben der Sammlung von Vogteien war also die sogen. „Ent-vogtung" [H. Brunner; vgl. Reichert] eine Einbruchstelle für römischrechtli-ches Denken. Die Kirchen konnten zu landesherrlichem Kammergut und der Lan-desherr zu einem princeps in ecclesia werden.

Wir müssen uns auf allgemeine Linien der Entwicklung des 12. Jh. beschränkenund erwähnen noch, daß Territorien nun in größere „Staaten" eingebunden oderaus ihnen gelöst werden konnten. In Frankreich reaktivierte die Krone ihre Lehns-hoheit über durchgeformte Territorien seit dem späten 12. Jh., gleichzeitig höhltein Deutschland der landrechtlich fundierte Aufstieg der domini terrae die Bin-dung zur Krone aus, ohne freilich deren Reichsverband in Frage zu stellen [798:Krieger]. Die eigenen hausmachtpolitischen Ansätze der Staufer waren beacht-lich [1429: Vollmer, der auch das musterhafte Blatt „Besitz der Staufer" in: 1430,V 4 vorlegte; 1277: Büttner; H. Patze, Barbarossa und der Osten, in: 215].Schwaben wäre bei anderem Gang der Dynastiegeschichte zu einem Reichsterri-torium geworden [778: Maurer].

h) Der Prozeß gegen Heinrich den Löwen

Der Sturz des Weifen galt als Paradigma eines politischen Prozesses [819: Mit- Geinhäuser

teis; 1422: Jordan S. 187 ff.J. Über die äußerst bewegte Forschungsgeschichte, Urkunde 1° fi 7951die in jüngsten Untersuchungen über die Weifenprozesse unter Konrad III. der„politischen" Bewertung viel von ihrem pejorativen Unterton nimmt [J.P. Nie-derkorn in: 101, Beiheft 8, mit Hinweis auf E. Boshof; vgl. auch 799: Althoff],informiert K. Heinemeyer [in: 1424; auch in: BDLG 117, 1981], der die Diskus-sion zugleich auf einen neuen und höheren Stand hebt. Im „Gedenkjahr" 1980hat die Geinhäuser Urkunde, näherhin der Prozeßbericht ihrer Narratio, aberauch eine irritierende Neuinterpretation gefunden.

Manche der Beobachtungen, die G. Theuerkauf [in: 1423] am Aufbau der Landrecht oder all-Gelnhäuser Urkunde, auch an den Formen der Übertragung des Dukats an den gemelnes Recht

Kölner Erzbischof machte, verdienen weitere Diskussion, aber seiner Kritik am

Stand der Forschung über den Prozeß fehlt es an fester Substanz. Allerdings wirdman behutsam in der Verwendung des Begriffs „Landrecht" für das 12. Jh. seinmüssen (vgl. nochmals Theuerkauf, Sachsenrecht im Übergang von der LexSaxonum zum Sachsenspiegel, in: 1109, III, aber auch oben S. 162).

Auch wenn Land- und Lehnrecht für die Zeit um 1180 noch nicht als abge-grenzte Rechtssysteme aufgefaßt werden, hat die Verwendung dieser „Begriffe

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204 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

moderner Gestalt" in der Interpretation der Geinhäuser Urkunde keineswegs die„Einsicht in den Prozeß ...verstellt" (S. 248). Wesentlicher dürfte der GedankeDroeges sein, daß der genossenschaftliche Rechtsspruch der Fürsten den Prozeßauf eine allgemeinrechtliche Ebene, die „Reichsebene" gehoben, „genossenschaft-liche Rechtsfindung sich nicht mehr allein auf der Ebene des Stammesrechts, son-

dern des Reiches, das als Fürstenverband hier zu verstehen ist, bewegt" habe (eb.S. 196). Auswirkungen der Entscheidungen von 1180 auf „Landesherrschaft, wei-fische Identität und sächsische Geschichte" wurden von B. Schneidmüller erör-tert [in: 827].

c) Reichsfiirst und Land

Engerer Reichsfür- Nicht allein, daß vom Ausgang des Prozesses ganz Deutschland betroffen wurde,stenstand sem Verlauf läßt auch die Veränderungen im Verhältnis der Fürsten zu König und

Reich deutlicher hervortreten [788: K. Heinemeyer]. Nach dem Willen des Kai-sers sollte die Errichtung dukaler Gewalt zur Friedenssicherung in umrissenenRäumen, in Reichsfürstentümern verlaufen. Das Königtum vermochte der fürstli-chen Herrschaftsbildung zwar in Einzelanläufen, im wesentlichen aber nur nochdurch Teilung von Herzogtümern oder durch Abtrennung von Teilen zu steuern.

Schwaben war an Staufer und Zähringer (1098), ein Teil Sachsens an den Erzbi-schof von Köln und die Askanier (1180) gekommen; dukale Gewalt des Erzbi-schofs von Köln hatte in Ribuarien (1151), des Bischofs von Würzburg in Fran-ken (1168) Anerkennung gefunden. Der von den geistlichen Herzögen als Rich-tern übergangene Grundsatz, daß die Kirche nicht nach Blut dürste, wurde erst1298 von Bonifaz VIII. ganz aufgehoben.

d f i 151 Das Privilegium minus (1156) trägt zwar nur dem Sonderfall des von Bayernabgetrennten, von einer Mark zum Dukat erhobenen Österreich Rechnung (vgl.S. 68), signalisiert aber allgemeine fürstliche Tendenzen der Zeit: männliche undweibliche Erbfolge [765: van der Ven; 1120: Petke] und libertas affectandi beiKinderlosigkeit; Verpflichtung aller Hochgerichtsbarkeit auf den Herzog [1428:Zöllner mit der älteren Lit.]. Für die Einbehaltung der das Reich konstituieren-den Glieder bei Heimfall an den König

-

die Frage ist vielfach erörtert worden[793: Leppin]

-

hat es rechtliche Handhaben nie gegeben, so daß die positive For-mulierung eines „Leihezwangs", gewissermaßen die Auffindung des der rechtli-chen Sache zugrundeliegenden Prinzips durch Eike von Repgow in den 1220erJahren, dem Rechtsdenken der Fürsten natürlich nahelag.

Land und Reichs- Formal konnte der neue Reichsfürstenstand nun gewiß lehnrechtlich-

beistand £jke von KepgOW nacn seinem zweiten und dritten Schild in der Heerschildord-

nung [756: Ficker; H. Werle, Art. „Herzog" in: HRG 1119 ff.]-

als die Gemein-schaft der Szepter- und Fahnenlehen vom Reich bestimmt werden, für die weltli-chen konstituierenden Glieder des Reiches blieb dennoch unübersehbare Voraus-setzung ein „Land", das diese Würde tragen konnte, und das war im 12. Jh. immernoch die Genossenschaft eines ehemaligen Stammeslandes oder einer Mark [758:

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C. Herrschaft und Staatlicheit 205

Rosenstock S. 135, 167 ff.]. Der ^«x-Titel der Grafen von Limburg blieb nachVerlust des Herzogtums Niederlothringen (endgültig 1139; Stoob [1275]) trotz

Anerkennung durch den Hof ohne fürstliche Dignität [779: Erkens]. Als vacuum

nomen galt Otto von Freising [58: Gesta Frederici 19] der Herzogstitel der Zährin-ger von 1098 trotz faktischer Herzogsgewalt der Titelinhaber Q. Dahlhaus, HZ232, 1981, 142 betr. 778: Maurer, Herzog von Schwaben; G. Althoff in: 789,1].Dasselbe galt dann für Andechs-Meranien. Die Problematik der Landgrafschaftist von Schaab [784] nach den Quellen des Südwestens, in ihrer Vielseitigkeitaber grundlegend, geklärt worden. Wie sich „in der Frage der Altfreien, der Zen-ten und der ,Gaugrafschaften' ... die alte Lehre inzwischen wieder bestätigt"habe, so auch für die Landgrafschaften des Südwestens: daß sie nämlich „Verfalls-produkt" der alten Grafschaftsordnung und nicht Gebilde einer „Staatsreformder Hohenstaufen" gewesen seien. Unbestritten war indessen der Reichsfürsten-rang für den Landgrafen von Thüringen [K. Blaschke in: LMA V 1662 f., der dieArbeit von Schaab aber übersehen hat; J. Petersohn, „De ortu principum Thu-ringie" in: DA 48, 1992, 585 ff.] und für den Pfalzgrafen [1420: Schaab]; und dieAnerkennung geistlicher Fürsten im Dukat wurde ausdrücklich nur für Ribua-rien (Köln) und (Ost-)Franken (Würzburg [vgl. 1276: Crone]) ausgesprochen.Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß die Geinhäuser Urkunde, um denSachsennamen vermeiden zu können, das Herzogtum Heinrichs des Löwen aufdie altsächsischen Heerschaften Westfalen und Engern bezieht.

Die Ostfalen und damit das Kernland der Liudolfinger, Supplinburger und Wel- Erhebungen in denfen blieben 1180 völlig aus dem Spiel [770: Homberg; G. Theuerkauf in: 1423, Reichsfürstenstand

S. 228 Anm. 32]. Von der Errichtung des Herzogtums Braunschweig-Lüneburgi.J. 1235 [E. Boshof in: 1423] wurde also kein anderes Herzogtum betroffen,seine Errichtung war sogar geboten, um einen unklaren Rechtszustand in einemso weiten Raum aufzuheben. Dafür ist von Barbarossa

-

vielleicht bewußt (vgl. S.68)

-

der Weg offen gehalten worden. Der Formalakt [764: Stengel] der Erhe-bung in den Reichsfürstenstand, mit dem 1235 die herzogliche Gewalt der Weifenin den lehnsstaatlichen Aufbau des Reiches integriert wurde, hat nur ein sicherbezeugtes Vorbild: die Erhebung der Grafschaft Hennegau-Namur zur Markgraf-schaft. Allerdings hat man für Weif VI. ebenfalls solche Erhebung vermutet [1426:Feldmann]. (Ein formales Analogon der Verbindung von Rechten des Lehns-herrn mit einem aufgelassenen Titel des Lehnsmanns unter Rückgabe des „Bün-dels" mit der Fahnenlanze liegt übrigens in der Erhebung des dux Zvonimir-Demetrius von Kroatien-Dalmatien zum König durch Gregor VII. vor; vgl. S. 27.)

6. Staatlichkeit und Recht

Kodifizierung oder Registrierung von Recht-

vom Kirchenrecht, das zuneh- Gewohnheitsrechtmend römische Autorität einzusetzen vermochte, nicht einmal abgesehen

-

war uni Gesetzgebungüber die Jahrhunderte der Nachantike kein Mittel, um ein allgemeines oder einReichsrecht über den Volks- oder Regionalrechten durchzusetzen. Nördlich der

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206 //• Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

Alpen läßt sich auch nirgends die „öffentliche Beurkundung" (z. B. in Schreinsbü-chern, wie seit ca. 1130 in Köln [857: Groten]) an ältere Traditionen anschließen,auch nicht das „Kanzellariat in der Westschweiz" [856: Rück], das nach 150 Jah-ren Unterbrechung gegen Ende des 12. Jh. in einer dem jüngeren Notariat zuzu-

rechnenden Form neu erstand. Den Wechselwirkungen von „Recht und Schriftim Mittelalter", dem Ringen um die „normative Rechtsaufzeichnung", um dieschriftliche als die authentische Form, geht ein von Classen betreuter Reichenau-Band [851] nach, der als eine herausragende Leistung der Wissenschaft unserer

Zeit gelten darf. Ihr rückt ein 1988 von H. Keller und F. J. Worstbrock vorge-stelltes Forschungsprogramm über „Träger, Felder, Formen pragmatischerSchriftlichkeit" (vgl. auch oben S. 106) insoweit an die Seite, als in der „Rationali-sierung" mittels schriftlicher Fixierung, der sich die Gesellschaften der „Renais-sance des 12. Jh." als eines Instruments zu bedienen lernen, ein säkularer Ord-nungswille als Erstursache wirkt: als Wille zur Erkenntnis wie zur Schaffung„rechter" Ordnung. Den Stellenwert des Forschungsunternehmens im internatio-nalen Vergleich zu erkennen und das wissenschaftlich Erreichte (auch das zur

Publikation Anstehende) bibliographisch zu erfassen, ermöglichen der Tagungs-band „Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter" [853] und Berichte in denFMSt. Die Geltung von „Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten" [840]erledigt sich freilich über das ganze Mittelalter nicht einfach mit dem Übergang indie Schriftlichkeit, weil umgekehrt die „Resonanz" selbst herausragender„Rechtstexte" des Reformpapsttums in ihrer Zeit keineswegs schon ihre späterehistorische Bewertung ankündigt [R. Schieffer in: 852]. „Auch Gewohnheits-recht erscheint niemals ohne Form". Fried (Überlegungen zum Problem von

Gesetzgebung und Institutionalisierung im Mittelalter [in: 201]) formuliert so inErinnerung an eine Studie von W. Ebel und überlegt dann, ob nicht

-

wenn dennnach soziologischer Auffassung auch Gewohnheitsrecht schon Institution ist

-Gesetzgebung besser als Institutionalisierung innerhalb von Institutionen ver-

standen würde: „Gesetzgebung wäre eine Neufassung der Rechtsidee", ein ande-res (mentales) „Begreifen von Herrschaft und Staat".

a) Neues Recht

Rechtsschöpferische Von den rund 20 Constitutiones der deutschen Könige vorstaufischer Zeit, dieTätigkeit man ajs ^Qesetze" betrachten mag, galten 18 für Italien, das ein Königsland war.

Sonst erteilte der König Privilegien [858: H. Krause]. Die traditionelle fürstlicheund päpstliche Erzeugung und Bestätigung von Recht durch Privileg und Dekretoder Constitutio stieg seit der Mitte des 11. Jh. kontinuierlich für ganz Europa an,gegen 1200 geradezu fieberhaft. Die rechtsschöpferische Tätigkeit [G. Köblerin: ZRG GA 87, 1970,408 ff.; K. Kroeschell in: 215] zeigt sich auf allen sozialenEbenen; der Prozeß verläuft weithin in den Bahnen der Rechtstradition, ist abervor allem deshalb für uns erkennbar, weil er sich im Umbruch von Oralität zur

Schriftlichkeit des Rechts auch dokumentiert (G. Dilcher, Oralität, Verschriftli-

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C. Herrschaft und Staatlichen 207

chung und Wandlungen der Normstruktur in den Stadtrechten des 12. und 13. Jh.[in: 853]). Der Rechtsgrund der Promulgation liegt im consilium procerum undder auctoritas principis. In synodaler und gerichtlicher Weistumsfindung, herr-schaftlich oder genossenschaftlich veranlaßt und als Urteil im Gericht [786: Weit-zel; vgl. auch Weitzel in: 840]

-

im normannischen Bereich in Assisen-

gespro-chen, werden Hof-, Dienst-, Zollrecht, bäuerliches wie bürgerliches Ortsrechtfestgestellt. Oft genug wird auch gefälscht [672: Schulz], wie überhaupt das„Phänomen" Fälschung in die Mentalitätsgeschichte pragmatischer Schriftlich-keit gehört [461; darin (III 433 ff.) D. Hägermann über „Die Urkundenfälschun-gen auf Karl den Großen"; Th. Kölzer in: 462]. In Einungen auf eine pax, einekore, eine Satzung beschwören Genossen neues Recht [842: Ebel]. „Die Ministe-rialität und ihr Dienstrecht sind ein Zwitter zwischen Hofrecht und Lehnrecht"[K. Bosl in: 769, S. 73]. Siedlerrecht verbreitet sich als Vertragsrecht nach Typen(vgl. S. 59); Vorreiter in Deutschland sind die Verleihungen Wiprechts von

Groitzsch (bei Leipzig 1104 / 05) im Hinterland der Mark Meißen und des Erzbi-schofs Friedrich von Hamburg-Bremen 1113 [870: A.C.F. Koch] für holländi-sche Siedler in den Weserbrüchen [82a, Nr. 65, 67]. Eine wichtige Etappe in derEntwicklung des später berühmten Magdeburger Rechts ist das Privileg des Erz-bischofs Wichmann von 1188 [86,1 Nr. 94; 871: Lieberwirth]. Handels- und See-recht (Pisa 1081) bilden sich neu aus der Praxis [H. Pohlmann in 196: Coing I801 ff.; 877: Bottin], im Norden nicht ohne Vorgaben aus Stadtrecht [K.-F. Krie-ger in: 389, IV].

Es ist nicht leicht, sich eine Vorstellung von den Ansätzen zur Gesetzgebung Gesetzgebungim 12. Jh. zu machen

-

ganz abgesehen davon, daß „Gesetzgebung" definiert wer-

den müßte. Die animierenden „Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung"von St. Gagner (1960) sind auf die Protagonisten des 13. Jh. konzentriert, unddas in der neueren Rechtsgeschichtsschreibung auffallende Buch von H. J. Ber-man [841] wird an dieser Stelle zunächst deshalb erwähnt, weil es als Übersichthilfreich ist: die Bildung der gesamten „westlichen Rechtstradition" im Gefolgeder „Papstrevolution" verfolgt (vgl. unten S. 211) und in eine Tabelle gebracht hat(S. 792-803). Die folgende (pragmatische) Aufstellung von Beispielen wird haupt-sächlich Armin Wolf verdankt, dessen Beitrag „Die Gesetzgebung der entstehen-den Territorialstaaten" in Coings Handbuch [196,1 517ff.] stets zu Rate gezogenwerden muß; aber auch das Heft „La loi" aus der „Typologie des sources" [7:Genicot] ist nützlich, wenngleich es die fehlende Diplomatik der Gesetze [P.Johanek in: 807, S. 90 f.] noch nicht liefert.

Der Antrieb zu gesetzgeberischer Tätigkeit zeigt sich zuerst in den Friedenssta-tuten (vgl. oben S. 113). Für die Geschichte der Strafrechtspflege und des Prozeß-rechts [846: E. Schmidt; 847: van Caenegem] wie der Gesetzgebung überhauptist das vielfach gewürdigt worden [198: Kroeschell]; hingegen fehlt eine Unter-suchung über die Wirkungsgeschichte der Kapitularien im Friedensrecht. VomWandel im Rechtsempfinden der Friedensbewegung und der Kriminalisierungdes Strafrechts war schon die Rede (S. 135).

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208 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

Die Assises des Königreichs Jerusalem [165], die erst im 13. Jh. aufgezeichnetsind, enthalten mit Sicherheit ältere Aufstellungen [875: Grandclaude]. Ver-gleichbar ist die „fürstliche Gesetzgebung" der Usatges de Barcelona [149] verlau-fen, deren Redaktion zwar keinesfalls vor 1150 datiert werden kann, deren ältesteArtikel aber bis zu Raimund Berengar I. um das Jahr 1058 hinaufreichen, demman früher die Sammlung insgesamt zuschrieb [vgl. 1352: Bonnassie II 71 Iff.;802: Bisson S. 466 ff.]. Quellenkritisch gehören auch die ältesten Fueros [150 f.]oder die „Etablissements de Rouen" [158] in diese Zusammenhänge. Seit 1155kompilierten und kodifizierten Pisaner sapientes die Constituta usus et legis ihrerStadt, die auf den Tag der Übergabe in die Hände der Konsuln (31. 12. 1160) inKraft gesetzt wurden [P. Classen in: 851]; Texte [153 ff.] gibt es auch aus Genua,Piacenza und Venedig. Mailand folgte 1170 [Armin Wolf S. 576]. Von H. Kel-ler (vgl. seinen Aufsatz „Die Veränderung gesellschaftlichen Handelns und dieVerschriftlichung der Administration in den italienischen Stadtkommunen" [in:853]) sind weitere einschlägige Editionen (Statutencodices) und deren wissen-schaftliche Aufarbeitung eingeleitet worden. Die Ansätze zur Gesetzgebung am

Stauferhof [A. Wolf S. 589 f.] suchen die Tradition in der römischen Kaisernach-folge als Legitimation, und die legislativen Anfänge in Ungarn berufen sich aufden Hl. Stephan [Wolf S. 723]. Um 1170 gaben unter dem Vorsitz des englischenKönigs abgehaltene Assisen [859: Richardson

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Sayles S. 438 ff.] bedeutendenGesetzen den Namen (z. B. Assisen von Clarendon 1166 [in: 85, II 407]). Vorläu-fer venezianischer Gesetzgebung ist die Promissio maleficiorum von 1181 [WolfS. 718]. Auf die vielen Aufzeichnungen in städtischen Urkundenbüchern [vgl. dieSpezialsammlungen: 86: Elenchus u. a.], die als Aufzeichnungen in „authenti-scher Form" zu diskutieren wären, können wir nur hinweisen wie auf die Fälledes Privilegs für die Prager Deutschen [164] und die Gesetzgebung in Dänemarkund Rußland [167f.]. Als berühmtester Akt von Gesetzgebung im 12. Jh. giltRogers II. Erlaß der Assisen von Ariano [147; vgl. Wolf S. 697f.]. Sie weisenrömische, langobardische, byzantinische und normannische Elemente auf, fürzwei Drittel der 44 Titel muß den Hofjuristen eine bearbeitete Auswahl der justi-nianischen Sammlungen, vornehmlich der Digesten [132], zur Verfügung gestan-den haben. Die meisten Titel wurden 1231 von Friedrich II. in den Liber Augusta-lis übernommen [1259: H. Dilcher]. Im Ergebnis liegt ein grausames Strafrecht,ein gnädiges Klerikerrecht und ein die Majestät des Königs spiegelndes Beamten-recht vor [1257: Schminck]. Ihrer Zeit voraus waren die obligatorische kirchlicheEheschließung (vgl. aber S. 133) und überhaupt der gesetzgeberische Eingriff indie Institution der Ehe sowie die „Staatsprüfung" in Salerno, der sich die jungenÄrzte unterziehen mußten. Die sogenannten Leges Henrici I. von England sindhingegen privat gesammelt, beanspruchen aber mit der Liste der iura regis [160,1556] königliche Prärogativen in der Rechtsordnung.

Gesetzgeber Die Frage, wie weit das „wissenschaftliche" Denken die lex als pragmatischesMittel der Herrschaft und als positives Gesetz (und nicht als Rechtsordnung)begriff, stellt sich für das 12. Jh. ebenso eindringlich wie die Frage nach dem

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C. Herrschaft und Staatlichen 209

Gesetzgeber. Differenzierter, als es hier geschehen kann, führen (immer noch) dieAnmerkungen „Der Herrscher und das Recht" und „Rechtsfindung und Rechts-gebot" von Kern [816, S. 262 ff.] sowie der Art. „Gesetzgebung" von H. Krause[HRG I 1606 ff.], an Symptomen beispielhaft auch die Analyse des Widerrufsvor-behalts (oben S. 176) oder angelsächsischer Gesetze und Rechtsbücher [861:Körte], in die Problematik ein. Das Buch von Quaritsch ([776]; oben S. 161),das „Souveränität" mit Bodin als Ausschließlichkeit der Gesetzgebungsfunktionversteht und mit diesem Kriterium den neuzeitlichen Staat von der mittelalterli-chen „Pluralität von Herrschaftsgewalten" abhebt, kann allenfalls dem Königvon Sizilien „Souveränität" zusprechen. Über eine kritische Sichtung von Quel-len und Forschung hat Bongert [862] übertriebene Vorstellungen vom „pouvoirlegislatif" der Kapetinger abzubauen versucht [vgl. aber 863: Giordanengo].Herkommen und neue Sichtweise treten nun nicht notwendig in Widerspruch.Die Grafen von Anjou stellen ihre Prärogativen wie das Recht aller unter die con-

suetudo ihres Landes, aber Gottfried Martell korrigierte beim Regierungsantritt1040 die malae consuetudines im generale placitum seiner fideles; und er mußwohl als der Urheber gewisser Besonderheiten des „angevinischen" Erbrechtsangesehen werden [1303: Guillot I 370ff.]. Etwa 150 Jahre später wandte einerder großen Nachfolger des Irnerius, der Legist Azo (f 1220), die gelehrte Sichtvom Recht auf das Königsrecht an, und daraus entstand eine politische Theorie,die den Kaiser zum höchsten weltlichen Hierarchen macht (vgl. auch Willoweit,unten S. 210). H. J. Berman [841, S. 464 ff.] hat sie im Anschluß an eine Studie von

J.W. Perrin über „Azo, roman law and sovereign european state" (Studia Gra-tiana 15, 1972) dahingehend bewertet, daß rechtmäßige Macht nun Leuten mitiurisdictio reserviert bleibe, das Recht als komplexe Einheit im Sinne der neuen

Wissenschaft aber notwendig Herrschaft beschränke. Rechtsgrund der iurisdictiobleibe überdies die verfaßte Gemeinschaft (communitas). Dennoch ist der„Gesetzgeber" von Azo in einem neuen Sinne als „Verfassungsfigur" konzipiert.Neue Schwierigkeiten entstehen freilich aus der Beanspruchung RömischenRechts als geltendem Recht; vgl. die Kapitel IV 2.3 über Friedrich II. und Bractonbei Kantorowicz [768]: „Pater et filius iustitiae"

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„Rex infra et supra legem".

h) Die Rolle der JuristenBezeichnender als die Kodifizierung ist im 11./12. Jh. aufs Ganze gesehen das Sammeln und Ord-Sammeln und Ordnen von Recht, wobei allerdings die Sammlung zur normati- nen

ven Aufzeichnung werden konnte. Große Namen sind die der Kanonisten Bur-chard von Worms, Ivo von Chartres und Gratian [134 ff.]; der Legisten Irnerius(vgl. S. 147) und Azo (vgl. oben); des Feudisten Ugo de Gambolato, iudex von

Pavia um 1120 [vgl. 144]; des Dekretisten Huguccio von Pisa (vgl. S. 179 undK.W. Nörr [in 196: Coing I 372]); als Spiegier ragen Ranulf de Glanvill als dervermutliche Autor [161] des Tractatus de legibus et consuetudinibus regni Anglievon 1187/89, der Autor des Tres Anden Coutumier de Normandie um 1200 [159;

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210 //. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

vgl. 872: Yver] sowie Eike von Repgow [166: Sachsenspiegel nach 1220] heraus.Im Süden Frankreichs, der

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wie man in didaktischer Vereinfachung sagt-

nachdem droit ecrit lebte, wo in Wirklichkeit aber theodosianisches Recht (Brevia-rium Alarici) allenfalls in örtlichen Spuren die Jahrhunderte überdauerte, wurdeerst unter dem Einfluß des justinianischen Corpus im 12. Jh. das Recht aufgezeich-net und gewann dann die Bedeutung einer Coutume [1309: Kienast II 394 ff.; A.Gouron, Diffusion des consulats meridionaux et expansion du droit romain aux

XIF et XIIF siecle, in: 873; 874: Carlin].Römisches Recht Seit Leo IX. kommt der römischrechtliche Begriff vom ins civile wieder in die

Urkundensprache [864: Köbler; 1077: Heinz Wolter S. 128, 134], aber er

bezeichnet zunächst örtliches Recht. Schwerer zu qualifizieren sind die Gedan-kenspiele der fürstlichen Rechtsbesserer [vgl. 866: Hageneder] mit der justiniani-schen Formel vom princeps conditor et interpres legum oder dem Satz aus demLiber iudicum von 654, der dem princeps erlaubt, iuxta novitates causarumGesetze zu erlassen. Vacarius, der seit etwa 1145 als erster in England RömischesRecht lehrte (König Stephan hatte verboten, leges Romanae in England zu studie-ren: T. Reuter [in: 226] S. 258), erklärte eigens: conditor et interpres legum solusest Imperator [1262: Marongiü S. 759]. Doch rechnete bereits Roger II. leges con-

dere zu den ersten königlichen Aufgaben [vgl. Armin Wolf in 196: Coing I 697].In Kanonistenkreisen soll erst Alanus [vgl. 7: Genicot, La loi, S. 27] Könige undFürsten mit dem Kaiser als Gesetzgeber gleichgestellt haben.

Staatswerdung Der justinianische Topos vom Kaiser, der mit Gesetzen bewaffnet regiert,wurde wieder häufiger (auch in den Arengen) verwandt [vgl. Wolf S. 517], undBarbarossa ließ mit imperialem Pathos gelegentlich „Gesetze" ins Corpus Justi-nianeum inserieren. Darüber ist besonders viel geschrieben worden [vgl. H.Appelt in: 1406; 865: Zeillinger; 558: Wadle]. Diese und andere Formeln [867:Wyduckel, Princeps legibus solutus] aus dem Arsenal römischen Rechts, derensich fürstliches, aber auch ständisches Denken mit legislatorischer Intentionbediente, mögen auf das Niveau der „Vorläuferschaft" sinken. Jedoch es „kannkein Zufall sein, daß unter der Regierung Friedrich Barbarossas zugleich erstma-

lig die Jurisdiktionspyramide, die landfriedensrechtliche Schwurpyramide undseit 1180 die Lehnspyramide der weltlichen Fürsten begegnet. Diese eindeutigePräferenz für hierarchische Organisationsmodelle ist aber sicher nicht nur auf dielex Omnis" (vgl. oben S. 191; sie leitet alle Gerichtsbarkeit und Regalien vom Kai-ser ab) „und das römische Recht zurückzuführen", auch „das Vorbild der kirchli-chen Verfassungsstruktur für die zielbewußte Gestaltung der weltlichen Herr-schaftsverhältnisse müsse ernst genommen werden", in deren Dienst auch dierömischrechtlichen Anleihen gerückt werden; vgl. Willoweit [900, S. 27], derzuvor „Staatsbildung" als den Prozeß definiert hat, in dem das Recht dem Herr-schaftsinhaber zugänglich werde, das Rechtsgebot das Rechtsherkommen ver-

dränge.Die „Rolle der Juristen" in den „Anfängen der Staatswerdung" [869] wurde

von Fried-

ungeachtet ihrer „Rolle" in der Verwaltungsgeschichte-

vor allem

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C. Herrschaft und Staatlichen 211

an der „Juridifizierung des politischen und herrschaftlichen Denkens" bemessen,die sich seit dem 12. Jh. in der Publizistik spiegelt. Auch wenn die Wechselwir-kung zwischen Theorie und Praxis erst im 13. Jh. ihre volle Bedeutung gewann,soll hier ein Hinweis nicht fehlen; vgl. z. B. die „Studies in medieval legalthought" von G. Post, 1964, die die allgemeine Diskussion über Jahrzehntebegleiteten, ferner das „Postscriptum" zu „Quod omnes tangit" von R.E. Gieseyin: Studia Gratiana 15, 1972. „Der letzte Schritt freilich, eben den Staatsbegriffselbst zu entwickeln, blieb den Juristen des 12., 13. und frühen 14. Jh. versagt: siewaren noch vollauf beschäftigt, einzelne Elemente des künftigen Staats wissen-schaftlich zu erarbeiten" [Fried].

Den eigentlichen Einbruch hat die Rechtstheorie des Reformpapsttums Die Päpste als Her-

gebracht [H. Fuhrmann in: 1102]. Im Dictatus papae Gregors VII. (vgl. S. 22) ist ren der Gesetze

von derpotestas condendi leges als einem Vorrecht des Papstes pro temporis necessi-tate die Rede (vgl. S. 210). Auch die Prozeßliteratur wird mit kurialem Auftrag an

Bulgarus zur Erstellung eines ordo iudiciorum (Verfahrensrecht) gefördert [907:Fried]. Gratian resümiert: Durch Mandat, Entscheidung, Beschluß oder auchdurch ihr Handeln zeigen die Päpste, daß sie die Herren der Gesetze sind (B. Tier-ney, „Divided sovereignty" at Constance: A problem of medieval and earlymodern political theory, in: AHP 7, 1975, 256: die Erforschung der Wurzeln desSouveränitätsgedankens ergebe wohl ein Buch „From Gratian to Grotius"). Einekluge Exploitation der RosENSTOCKSchen Revolutionstheorie [239; H. J. Ber-man, vgl. S. 207] geht so weit, die „weltlichen Rechtssysteme" der „westlichenRechtstradition" principaliter aus der „päpstlichen Revolution" zu erklären:Gesetzgeber sind die Fürsten nach dem Anspruch Gregors VII., und die Kurie istder erste „Staat". Dem Buch kann man „Donatschnitzer" ankreiden [H. Fuhr-mann in: DA 48, 1993, 335], die jedoch seiner Wirkung auf die amerikanischeGesellschaft kaum entgegenstehen dürften.

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