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Wolfgang Kerler/Kerstin Roggenkamp
Ethnizität und fragile Staatlichkeit –
Völkermord, Staatszerfall und stagnierende Konsolidierung in der
Republik Ruanda
1. Einleitung
Die Fallstudie Ruanda ist in einer Publikation, die
sich mit dem Problem der fragilen Staatlichkeit
auseinandersetzt, in vielerlei Hinsicht relevant:
Die Republik Ruanda liegt geografisch in einer
hochgradig instabilen Region, in der neben
Ruanda auch benachbarte Staaten wie die
Demokratische Republik Kongo oder Uganda mit
den Problemen schwacher Staatlichkeit zu
kämpfen haben. Gewalttätige, teils ethnisch
motivierte Konflikte, Korruption und
Klientelismus, wirtschaftliche Unterentwicklung
und transnational agierende, kriminelle Akteure –
um nur einige Beispiele zu nennen – stellen nicht nur für die Länder selbst, sondern für die
Region und die gesamte Staatenwelt eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Der
Zusammenhang zwischen zerfallenen Staaten und dem internationalen Terrorismus oder dem
weltweiten Drogenhandel wurde in dieser Veröffentlichung bereits behandelt.1
Republik Ruanda
Hauptstadt: Kigali Staatsform: Präsidiale Republik Staatsoberhaupt: Präsident Paul Kagame Unabhängigkeit: 01. Juli 1962 Größe: 26.340 km2
Einwohnerzahl: Ca. 8,7 Mio. Bevölkerung: Hutu (ca. 85 Prozent),
Tutsi (ca. 14 Prozent), Twa (ca. 1 Prozent)
Landessprachen: Kinyarwanda, Französisch, Englisch
BIP pro Kopf: 237 US-$ (Quelle: Auswärtiges Amt 2006)
Welche katastrophalen Folgen der Zerfall der staatlichen Autorität haben kann, wurde der
internationalen Gemeinschaft durch den Völkermord vor Augen geführt, der 1994 bis zu einer
Million Ruander das Leben kostete. Dieses Ereignis war eine der Ursachen für die weitere
länderübergreifende Destabilisierung im zentralafrikanischen Raum. Um Strategien für eine
nachhaltige positive Entwicklung in dieser Region formulieren und weiterhin vorhandenes
Konfliktpotenzial identifizieren zu können, ist deshalb die Untersuchung des Falles Ruanda
notwendig.
1 Siehe dazu den Beitrag von Grosser/Hoffmann in diesem Band.
Eine entscheidende Einflussvariable auf die Staatlichkeit in Ruanda ist von jeher der
ethnische Gegensatz zwischen den Bevölkerungsgruppen der Hutu und der Tutsi. Er
bestimmte maßgeblich die Lage, wie sie sich seit der Unabhängigkeit des Landes 1962 bis
zum Beginn der Erosion des Staates ab den 1980er Jahren entwickelte. Auch für das
Verständnis der heutigen Situation ist die Kenntnis über den ethnischen Konflikt
Voraussetzung. Die Untersuchung des Hutu-Tutsi-Gegensatzes stellt deswegen den ersten
Teil dieser Arbeit dar. Darauf aufbauend wird der derzeitige Zustand des ruandischen Staates
in Bezug auf die Erfüllung seiner Kernfunktionen umfassend analysiert. Ein dritter Abschnitt
behandelt den schrittweisen Zerfall der Staatlichkeit von einer relativ stabilen Ausgangslage
in den 1980er Jahren bis zum Kollaps im Jahr 1994, der im Genozid gipfelte. Besonders die
Tatsache, dass sich hierbei einzelne Entwicklungsstufen feststellen lassen, ist im Rahmen
dieses Beitrags von Interesse. Nach einer Analyse der Ursachen des Staatszerfalls wird das
Vorgehen und Versagen der internationalen Gemeinschaft Anfang der 1990er Jahre
dargestellt.
Basierend auf der Untersuchung der aktuellen Situation in Ruanda und unter Einbeziehung
der Ursachen, die schon einmal zum Staatszerfall geführt haben, lässt sich schließlich ein
Ausblick auf die weitere Entwicklung formulieren. Die Rolle des ethnischen Konflikts und
die besondere Verantwortung der Staatenwelt werden dabei ebenfalls berücksichtigt.
2. Der Hutu-Tutsi-Konflikt in der Geschichte Ruandas
Der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi stellt eine der Hauptursachen für den Staatszerfall in
Ruanda dar. Deshalb sind zum Verständnis der Entwicklung des Staates und der heutigen
Situation in Ruanda einige Kenntnisse über die Historie des ethnischen Konflikts nötig. Die
Bewohner Ruandas lassen sich unter ethnischen Gesichtspunkten in drei Gruppen einteilen.
Die kleinste Gruppe sind die Twa, die etwa ein Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie
blieben in den ethnischen Streitigkeiten weitgehend außen vor. Die traditionell größte Gruppe
stellen die Hutu dar, denen heute etwa 85 Prozent der Ruander angehören. Die restlichen 14
Prozent der Bevölkerung sind Tutsi.2 Die drei Gruppen teilen gemeinsame Bräuche und eine
gemeinsame Sprache (Kinyarwanda).
2 Vgl. Auswärtiges Amt 2006 für die Quelle der Daten.
2.1 Vorkolonialzeit
Bevor die Europäer nach Ruanda kamen, wurde das Land von Tutsi-Königen regiert. Alte
Mythen erzählen von einer himmlischen Abstammung der Tutsi, feiern die Tutsi als
Begründer der ruandischen Zivilisation und schufen so eine göttliche Legitimation der
Herrschaft der Tutsi über die Hutu (Lemarchand 1999: 6). Die Forschung geht heute dennoch
davon aus, dass das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen zu dieser Zeit mehr durch
ein friedliches Nebeneinander als durch Konflikte geprägt war (ebda.).
2.2 Kolonialisierung
Ab 1890 war Ruanda ein Teil Deutsch-Ostafrikas. Im Ersten Weltkrieg übernahm Belgien die
Herrschaft in der Kolonie. Im Rahmen der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in
Europa weit verbreiteten Rassenlehre teilten die Kolonialherren die ruandische Bevölkerung
in verschiedene Klassen von Menschen ein. Die herrschende Tutsi-Kaste galt als „edler“ und
„klüger“ als die angeblich unterlegenen Hutu und wurde deshalb von den europäischen
Eroberern privilegiert (Lemarchand 1999: 7f). Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts förderten
die Belgier die Tutsi und betonten die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Ab 1959
unterstützten sie jedoch die Hutu-Mehrheit in ihrem Versuch, sich gegen die dominierenden
Tutsi zur Wehr zu setzen (ICG 2004).
2.3 Nach der Unabhängigkeit
Mit der Unabhängigkeit 1962 übernahmen die Hutu die Macht in Ruanda und regierten in
einem autoritären Ein-Parteien-Staat. Aufbauend auf traditionellen und kolonialen Mythen
über die Privilegierung der Tutsi, hielten die Hutu eine Unterdrückung der Tutsi zur
Sicherung der eigenen Herrschaft für notwendig. Viele Tutsi flohen deshalb in die
Nachbarstaaten (ICG 2004 und Lemarchand 1999: 10). Von dort aus versuchten sie immer
wieder ins Land zurückzukehren. Ein erfolgreicher Angriff gelang jedoch erst 1990, als eine
Exilantengruppe aus Uganda unter der Führung des heutigen Präsidenten Paul Kagame in
Ruanda einfiel. Damit brach der Bürgerkrieg zwischen Kagames Rwandan Patriotic Front
(RPF), Regierungstruppen und unabhängigen Hutu-Milizen aus. Gleichzeitig begann 1990
auch die Transition zur Demokratie. Wirtschaftliche Schwierigkeiten Ende der 1980er Jahre
hatten die Legitimität der Regierung geschwächt und ausländische Geldgeber verbanden ihre
Zahlungen mit der Forderung nach Demokratisierung (Stroh 2007: 14).
Erst 1993 einigten sich RPF und Regierung im Friedensabkommen von Arusha. Dadurch
konnte der Konflikt jedoch nicht beendet werden. Im Gegenteil erreichte er 1994 mit dem
Völkermord seinen traurigen Höhepunkt. Etwa eine Million Tutsi und moderate Hutu kamen
ums Leben. Daraufhin fiel die RPF im Land ein und übernahm die Macht. Viele militante
Hutu und Verantwortliche für den Genozid flohen damals in die Nachbarstaaten, vor allem in
den Kongo. „Sie nutzten die Flüchtlingslager als humanen Schutzschild und zur Rekrutierung
von Kämpfern“ und rüsteten im Exil gegen Ruanda auf (Stroux 2003: 97). Deswegen
unterstützte Ruanda 1996 die Rebellion im Kongo, um die Bedrohung durch die dortigen
Hutu-Milizen zu beseitigen und sich an den Rohstoffen des Nachbarstaates zu bereichern
(ebda.). Dies führte zum „Export“ des Hutu-Tutsi-Konflikts.3
Der Krieg im Kongo weitete sich aus und konnte erst 2002 beendet werden, als sich der neue
Präsident des Kongo bereiterklärte, zahlreiche Verantwortliche für den Genozid an Ruanda
auszuliefern. Die Situation ist jedoch bis heute angespannt, da sich noch immer Hutu-Milizen
im Kongo verbergen, was ein ständiges Sicherheitsrisiko für Ruandas Außengrenzen darstellt.
Der Konflikt kann jederzeit erneut ausbrechen (Stroux 2003: 98; BTI 2006: 2).
3. Der momentane Zustand des ruandischen Staates
Die Analyse der aktuellen Situation Ruandas baut auf Schneckeners Kriterien der
Staatlichkeit auf, welche fragile Staaten nach dem Grad der Erfüllung staatlicher
Kernfunktionen in drei Gruppen einteilt. Die entscheidenden Aufgaben des Staates sind
hierbei die Gewährleistung von Sicherheit und Wohlfahrt für die Bevölkerung sowie die
Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien zur Stärkung der Legitimität von Staat und
Regierung.4
3 Siehe dazu auch den Beitrag von Kopp/von Kleinsorgen in diesem Band. 4 Vgl. Schneckener 2004: 513-515. Vergleiche auch den Beitrag von Grosser/Hofmann in diesem Band.
3.1 Sicherheitsfunktion
Wesentliches Kriterium bei der Untersuchung der Sicherheitsfunktion ist die Frage nach dem
Gewaltmonopol. In Ruanda existiert seit der Machtübernahme durch die RPF 1994 wieder ein
staatliches Gewaltmonopol. Alle Gewalt liegt bei der RPF, die autoritär regiert und das
gesamte Staatsgebiet beherrscht (BTI 2006: 14). Nach dem Ende des Bürgerkrieges gab es
keine ernsthaften gewalttätigen Konflikte mehr in Ruanda. Der Krieg wurde vielmehr in den
Kongo „exportiert“ (BTI 2006: 3; Stroux 2003: 96). Gerade aus dem Kongo droht aber immer
noch Gefahr für die ruandischen Außengrenzen. Die Möglichkeit einer Invasion durch die
dortigen rebellischen Hutu-Milizen stellt eine ständige Bedrohung Ruandas dar (Stroux 2003:
98; BTI 2006: 2). Trotz dieser latenten Gefahr kann der Staat seine Sicherheitsfunktion heute
zu großen Teilen erfolgreich erfüllen.
3.2 Wohlfahrtsfunktion
Ruanda ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegt Platz 159 von 177 auf dem Human
Development Index (BTI 2006: 8). Das Land leidet unter Überbevölkerung und dem Mangel
an natürlichen Ressourcen. Unter diesen Voraussetzungen ist es für den Staat schwer,
Wohlfahrt für alle zu ermöglichen. Ein Großteil der Infrastruktur wurde im Bürgerkrieg
zerstört und befindet sich noch immer im Aufbau. Das Gesundheitssystem weist deutliche
Mängel auf und ein kostenloser Schulbesuch ist erst seit 2003 möglich (BTI 2006: 10). Ein
staatliches System der sozialen Sicherung existiert nicht. Dennoch befindet sich die
ruandische Wirtschaft im Aufschwung. Nach dem Völkermord waren die Wachstumsraten
enorm, was jedoch auch an dem niedrigen Ausgangsniveau lag. Seitdem nimmt das jährliche
Wirtschaftswachstum wieder ab. Der aktuelle Wert von etwa drei Prozent ist jedoch durchaus
positiv zu bewerten. Probleme bereitet die Währungsstabilität. Die Vermeidung von Inflation
gehört zwar zu den Hauptzielen der Regierung, aufgrund ihrer hohen Ausgaben ist sie jedoch
auf Kredite aus dem Ausland angewiesen, was die eigene Währung schwächt (BTI 2006: 7).
Die Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern ist beachtlich; etwa die Hälfte des
ruandischen Staatshaushalts wird durch internationale Spendengelder bestritten (Fischer
Weltalmanach 2005). Dieses Geld kommt jedoch nicht immer der Bevölkerung zugute,
sondern wird häufig für Ausgaben zur Mehrung des Ansehens Ruandas verwendet. So flossen
große Summen in die Förderung der Fußballnationalmannschaft und den Bau zweier neuer
Hotels in der Hauptstadt Kigali (BTI 2006: 7). Seine Wohlfahrtsfunktion kann der ruandische
Staat somit nicht oder nur in sehr geringem Maß erfüllen.
3.3 Legitimitäts- und Rechtsstaatsfunktion
Im Bereich der Rechtsstaatlichkeit besteht in Ruanda eine deutliche Diskrepanz zwischen
Theorie und Praxis. Theoretisch sind die bürgerlichen und politischen Freiheiten garantiert,
faktisch werden sie jedoch häufig verletzt. Die Medien unterliegen einer strengen staatlichen
Zensur, im Global Press Freedom Survey schnitt Ruanda sehr schlecht ab und wurde als
„unfrei“ eingestuft (zit. nach BTI 2006: 5).
Die RPF dominiert das Land in allen Bereichen. Nach ihrer Machtübernahme 1994 versprach
sie, Demokratie und ein Mehrparteiensystem zu etablieren. Dieser Transformationsprozess
wurde mit den ersten freien Wahlen von Präsident und Parlament im Jahr 2003 offiziell
abgeschlossen. Im Rahmen ihrer Demokratisierung setzt die RPF vor allem auf eine
Umerziehung des Volkes. Oberstes Ziel ist hier die Bekämpfung jeglicher Form von
ethnischer Trennung im Land. Die RPF ist zwar ursprünglich eine Partei der Tutsi, hat jedoch
auch Hutu-Mitglieder und legt großen Wert darauf, im Streit der Volksgruppen neutral zu sein
(ICG 2002: 4). Für die Verantwortlichen des Genozids gibt es keine Gnade. Die damalige
Elite wurde komplett ausgetauscht. Der Kampf gegen die ethnische Trennung wird jedoch
sehr weit definiert und gibt der RPF auch die vermeintliche Legitimation, gegen Parteien und
Gruppen vorzugehen, die andere Meinungen vertreten als die Regierung (FfP 2006).
Oppositionelle haben es in Ruanda sehr schwer: Im Vorfeld der Wahlen des Jahres 2003
wurden sie massiv bedroht, teilweise sogar verhaftet und verurteilt. Immer wieder
„verschwinden“ Regimekritiker (ICG 2002: 3; BTI 2006: 14). Ein Großteil der politischen
Elite des Landes befindet sich mittlerweile im Exil. Ein echtes Mehrparteiensystem konnte
nicht entstehen. Viele der neu gegründeten Parteien wurden von der RPF wieder verboten
(ICG 2002: 4). So gingen auch die ersten Wahlen sehr deutlich zu Gunsten der RPF und Paul
Kagames aus. Kagame erhielt 96,6 Prozent, seine Partei 73,8 Prozent der Stimmen (BTI 2006:
5). Dieses sehr gute Wahlergebnis lässt sich auf drei Ursachen zurückführen: Zum einen
genießen Kagame und die RPF tatsächlich hohes Ansehen im Land und werden als Garanten
für den Frieden angesehen, zum anderen fehlten aus zuvor genannten Gründen ernsthafte
Wahlalternativen. Drittens berichten internationale Organisationen von massiver
Wahlfälschung (FfP 2006; BTI 2006: 4). Die stark restriktive Haltung der ruandischen
Regierung führt jedoch nur zu einer Radikalisierung der Opposition. Dies induziert einen
Teufelskreis, in welchem sich die Aggressivität von RPF und oppositionellen Gruppen
gegenseitig bedingt und verstärkt (ICG 2002: 3). In Ruanda liegt folglich ein innerstaatliches
Sicherheitsdilemma vor.
Die Justiz ist zwar formell unabhängig, vertritt jedoch in der Praxis die Meinung der
Regierung (BTI 2006: 6). De facto sind die meisten Beamten, genau wie die Inhaber der
höchsten wirtschaftlichen Posten, Mitglieder der RPF. Doch es gibt auch Lichtblicke bei der
Untersuchung der Rechtsstaatsfunktion. Die ruandische Verwaltung gilt als äußerst effizient
und als Vorbild für andere afrikanische Staaten. Die Bekämpfung der Korruption schreitet
voran und lässt bereits erste Erfolge vermelden (BTI 2006: 4, 6). Ob das scharfe Vorgehen in
diesem Bereich aus eigenem Antrieb erfolgte oder den Forderungen der ausländischen
Geldgeber zuzuschreiben ist, ändert nichts am positiven Ergebnis.
Ebenso fortschrittlich agiert Ruanda auf dem Gebiet der politischen Partizipation von
benachteiligten Gruppen wie Frauen, jungen Menschen und Behinderten. Das Wahlsystem
enthält spezielle Quoten, die für eine angemessene Repräsentation dieser Gruppen sorgen.
Das ruandische Parlament ist weltweit dasjenige mit dem höchsten Frauenanteil (Stroh 2007:
12; BTI 2006: 7).
Der Großteil der Bevölkerung akzeptiert die RPF als Regierung. Nach der schrecklichen Zeit
des Völkermords gelang es der RPF recht schnell, wieder Ruhe und Ordnung ins Land zu
bringen. In den Augen des Volkes erscheint sie als Befreierin und Garantin für Stabilität und
Frieden (BTI 2006: 5). Die demokratischen Kräfte im Land sind schwach und die meisten
Kritiker bereits emigriert. Die übrige Bevölkerung ist mit der aktuellen politischen Situation
weitgehend zufrieden.
Diese wenigen positiven Punkte wiegen die massiven Menschenrechtsverletzungen und die
nur rudimentär erfolgte Demokratisierung jedoch nicht auf. Die Rechtsstaats- und
Legitimitätsfunktion wird vom ruandischen Staat nur mangelhaft erfüllt.
4. Bewertung
Bei der Einteilung der Länder in „schwache“, „verfallende“ und „versagende“ Staaten misst
Schneckener der Sicherheitsfunktion den größten Wert zu. Letztendlich sind es in seinem
Modell Existenz und Grad des staatlichen Gewaltmonopols, die über die Typologisierung
entscheiden (Schneckener 2004: 514). Da Ruanda die Sicherheitsfunktion zu großen Teilen
erfüllen kann, gehört es heute, ungeachtet der Mängel in den beiden anderen Bereichen, zu
den „schwachen Staaten“.
Abbildung 1: Ruanda: staatliche Kernfunktionen heute
Staatl. Kernfunktionen Erfüllungsgrad Erläuterung
Sicherheit +/-
+ staatliches Gewaltmonopol existiert + seit 1994 keine kriegerischen Bedrohungen im
Land - ständige Gefahr durch Hutu-Milizen im Kongo
Wohlfahrt -
- schwach entwickeltes Land - schlecht ausgebaute Infrastruktur - kein staatliches System der sozialen Sicherung + Wirtschaftswachstum: ca. 3 Prozent - Hälfte der Staatsausgaben durch Ausland
finanziert - viele Prestigeausgaben
Legitimität/Rechtsstaat -/+
- autoritäres Regime der RPF - häufige Verletzungen von politischen
Freiheiten - keine Pressefreiheit - Wahlfälschungen bei erster Wahl 2003 - massive Beschränkung der Opposition - nur formell unabhängige Justiz - Menschenrechtsverletzungen im Kongokrieg + effiziente Verwaltung + Fortschritte bei der Bekämpfung der Korrupti-
on + Regime in der Bevölkerung akzeptiert
Quelle: Eigene Darstellung nach Schneckener 2004.
5. Die „apokalyptische Trias“ aus Staatsversagen, Staatsverfall und Staatszerfall
in Ruanda
5.1 Der Staatszerfall in der rückblickenden Analyse
Nach der vorhergehenden „Bestandsaufnahme“ über den derzeitigen Zustand der Staatlichkeit
in Ruanda soll im Folgenden das schrittweise Scheitern des ruandischen Staates zwischen
Ende der 1980er Jahre und dem Jahr des Genozids, also 1994, untersucht werden.
5.1 Theoretische Grundlage der Untersuchung
Bei der Untersuchung der fragilen Staatlichkeit unterscheidet Gero Erdmann analytisch drei
Phänomene, die als unterschiedlich lange Phasen beobachtet werden können: Die
„apokalyptische Trias“ (Erdmann 2003: 270) aus Staatsversagen, Staatsverfall und
Staatszerfall. Entscheidende Merkmale zur Unterscheidung dieser drei Phänomene bilden das
staatliche Gewaltmonopol, die Sicherheit, die Legitimation des Staates sowie Leistungen der
sozialen Sicherung oder die Bereitstellung von Infrastruktur. Aufgrund der Ähnlichkeit zu den
dieser Publikation zugrunde liegenden Kriterien zur Typologisierung der Staatlichkeit nach
Schneckener (Schneckener 2004: 514ff.), lassen sich die Konzepte von Erdmann und
Schneckener bei der Untersuchung des Staatszerfalls in Ruanda zusammenfassen und
gemeinsam anwenden. Das Staatsversagen bei Erdmann entspricht dabei dem Typus des
„schwachen Staates“, der Staatsverfall dem „versagenden Staat“ und der Staatszerfall dem
„zerfallenen Staat“.
5.1.1 Phase I: 1973 bis Ende der 1980er Jahre
1973 kam durch einen Staatsstreich Juvenal Habyarimana, der damalige Armeechef, in
Ruanda an die Macht. Er blieb bis zu seinem Tod im Jahre 1994 ruandischer Präsident. Bis in
die 1980er Jahre hinein etablierte Habyarimana ein neo-patrimoniales Regime, vor allem
gestützt auf ausgeprägten Klientelismus. Die dem Staat verfügbaren Ressourcen verteilte der
Machthaber – neben der persönlichen Bereicherung – an Mitglieder der Armeeführung,
führende Mitglieder der verschiedenen Clans und andere Begünstigte, um sich so Solidarität
und Loyalität zu sichern. Daneben verwendete Habyarimana einen Teil der staatlichen Mittel
für Entwicklungszwecke.
Was die Erfüllung der staatlichen Kernfunktionen – Sicherheit, Wohlfahrt, Legitimität,
Rechtsstaatlichkeit – betrifft, so zeigte sich zumindest bis in die zweite Hälfte der 1980er
Jahre ein vergleichsweise positives Bild: Die politische Führungsschicht um Habyarimana
war gefestigt, das ganze Staatsgebiet unter Kontrolle der Regierung. Außerdem war das
Regime außenpolitisch aktiv, um die Stabilität in der Region aufrechtzuerhalten. Das größte
Sicherheitsrisiko stellten die nach wie vor in den umliegenden Staaten lebenden ruandischen
Flüchtlinge dar, die auf eine Rückkehr ins Heimatland hofften (Asche 1995: 27f.; Weiss 1995:
238ff.).
Die ruandische Wirtschaft stand unter strikter staatlicher Kontrolle, was vor allem die
Landwirtschaft, den bedeutendsten Sektor der nationalen Produktion, betraf. Der Regierung
gelang es durch eine konservative Haushaltsführung, die Staatsverschuldung im Vergleich zu
anderen afrikanischen Staaten sehr niedrig zu halten und den starken Kurs des Rwanda-Francs
zu verteidigen. Ruanda war lange Zeit in der Position, Strukturanpassungsprogramme des
Internationalen Währungsfonds (IWF) nicht in Anspruch nehmen zu müssen. Erst ab Mitte
der 1980er Jahre, vor allem nach der Kaffeekrise 1987, verschlechterte sich die
Wirtschaftslage in Ruanda deutlich. Bezüglich des Wohlstandes oder der Wohlfahrt in
Ruanda gab es allerdings auch schon vor dieser wirtschaftlichen Krise Schattenseiten:
Bestimmte Bevölkerungsgruppen, vor allem dem Präsidenten nahestehende Clans, wurden
durch den Staat bevorzugt und mit Landressourcen ausgestattet. Ein weiterer Indikator für
Mängel der staatlichen Wohlfahrt stellte die niedrige Schulbesuchsquote dar. Mit der
Wirtschaftskrise begannen außerdem die Steuereinnahmen des Staates zu fallen (Asche 1995:
28ff.; Weiss 1989: 238ff.).
Bezüglich der Legitimitäts- und Rechtsstaatsfunktion des Staates lässt sich für die Phase bis
Ende der 1980er Jahre lediglich die Stabilität der Institutionen positiv vermerken. Ansonsten
stand hier das autoritäre Habyarimana-Regime mit einer Einheitspartei, deren Mitgliedschaft
für jeden Bürger verpflichtend war, und der Unterrepräsentation bestimmter gesellschaftlicher
und ethnischer Gruppen, vor allem der Tutsi, einer Erfüllung der dritten staatlichen
Kernfunktion im Wege (Weiss 1989: 238ff.).
Nach Schneckeners Kriterien lässt sich Ruanda in der ersten Phase der Analyse, also bis Ende
der 1980er Jahre, als „schwacher Staat“ bezeichnen. Hierfür sprechen eine vollständig bis
einigermaßen erfüllte Sicherheitsfunktion, eine einigermaßen erfüllte Wohlfahrtsfunktion und
eine lediglich ansatzweise bis kaum erfüllte Legitimitäts- und Rechtsstaatsfunktion. Auch
Erdmanns Definition des Staatsversagens – es „erfasst strukturelle Handlungs- und
Leistungsdefizite des Staates, ohne dass sein Gewaltmonopol oder seine Souveränität über
Staatsgebiet und Staatsvolk dauerhaft eingeschränkt wäre“ (Erdmann 2003: 271) – trifft auf
die
eben geschilderte Periode in Ruanda zu.
Abbildung 2: Ruanda: Staatliche Kernfunktionen bis 1989
Staatl. Kernfunktion Erfüllungsgrad Erläuterung
Sicherheit + bis +/-
+ stabile politische Führungsschicht + Staat kontrolliert ganzes Staatsgebiet + außenpolitisches Bemühen um Stabilität in
der Region - Sicherheitsrisiko durch Flüchtlinge
Wohlfahrt +/-
+ niedrige Staatsverschuldung + stabile Währung + solider Zustand der Infrastruktur + „Subventionierung“ des Kaffeeanbaus - Bevorzugung bestimmter
Bevölkerungsgruppen - niedrige Schulbesuchsquote (45 Prozent) - rückläufige Steuereinnahmen
Legitimität/Rechtsstaat -/+ bis -
- Einheitspartei mit Zwangsmitgliedschaft - keine Demokratie - Unterrepräsentation bestimmter Gruppen und
Regionen - Korruption + stabile Institutionen
Quelle: Eigene Darstellung nach Schneckener 2004.
5.1.2 Phase II: 1990 bis April 1994
Der Beginn einer zweiten Phase der Analyse im Jahr 1990 lässt sich durch verschiedene
Faktoren begründen, die eine neue Bewertung der Staatlichkeit erforderlich machen: Die
anhaltende Wirtschaftskrise führte in einigen Teilen Ruandas bis zur Hungersnot; die
Regierung sah sich finanziell immer mehr unter Druck und sehr stark von externer finanzieller
Hilfe abhängig. Außerdem wuchs die Forderung nach Demokratisierung in der Bevölkerung,
besonders in Kreisen von Studenten und Intellektuellen, immer weiter an. Die Regierung
reagierte zunächst mit immer repressiverem Vorgehen gegen Oppositionelle ab Jahresbeginn
1990. Die bedeutendste Veränderung brachte schließlich der Angriff der Rebellenarmee RPF
aus Uganda am 1. Oktober 1990, der den Beginn eines mehrere Jahre andauernden Krieges
bedeutete, welcher wiederum riesige Flüchtlingsströme zur Folge hatte. Nur mit Hilfe
französischer und belgischer Soldaten gelang es der Regierung Habyarimana, die RPF
zurückzudrängen und lediglich einen Teil des Landes im Norden unter der Kontrolle der
Rebellen belassen zu müssen (Weiss 1991: 291f., 297f.). Durch internen und vor allem auch
externen Druck der Geberländer kam es 1991 in Ruanda zur Bildung einer
Mehrparteienübergangsregierung, die eine Demokratisierung des Landes vorbereiten sollte
(Human Rights Watch 2006: 4). Ebenfalls auf Betreiben und Vermittlung der internationalen
Geberländer und Organisationen schlossen die Übergangsregierung – Präsident war nach wie
vor Juvenal Habyarimana – und die RPF am 4. August 1993 das Friedensabkommen von
Arusha, das unter anderem die gemeinsame Bildung einer Regierung durch die
Konfliktparteien vorsah. Eine internationale Friedenstruppe, deren erstes Kontingent im
November eintraf, sollte die Einhaltung des Abkommens
überwachen.
Insgesamt ist die zweite Phase von 1990 bis April 1994 gekennzeichnet von immer stärkerem
wirtschaftlichen Verfall, innenpolitischen Spannungen und einer langsamen Bewegung in
Richtung der Demokratisierung sowie dem Krieg zwischen Regierung und RPF. In Ruanda
selbst kam es in Phase II vermehrt zu gewalttätigen, auch ethnisch motivierten Übergriffen
und Menschenrechtsverletzungen (Weiss 1994: 280–286). Wie der folgenden Tabelle
entnommen werden kann, ist der ruandische Staat für Phase II nach Schneckener als
„versagender Staat“ beziehungsweise ist Phase II als „Staatsverfall“ nach Erdmann
einzustufen. Ausschlaggebend ist dafür vor allem der partielle Verlust des Gewaltmonopols.
Abbildung 3: Ruanda: Staatliche Kernfunktionen bis 1994
Staatl. Kernfunktion Erfüllungsgrad Erläuterung
Sicherheit -/+
- Regierung verliert Kontrolle über Teile des Staatsgebiets
- Gewalt und Einschüchterungen im ganzen Land - viele Flüchtlinge + Großteil des Gebietes noch unter Kontrolle
Wohlfahrt -
- Hunderttausende Flüchtlinge - drohende Hungersnot - desolater Staatshaushalt - hohe Arbeitslosigkeit
Legitimität/Rechtsstaat -/+ - Menschenrechtsverletzungen - Behinderung der Justiz + Mehrparteienregierung
Quelle: Eigene Darstellung nach Schnecker 2004
5.1.3 Phase III: April bis Juli 1994
Im April 1994 überschlugen sich die Ereignisse in Ruanda. Die Bestimmungen des Arusha-
Abkommens wurden bis dahin vor allem aufgrund der mangelnden Bereitschaft der
ruandischen Führung nur sehr stockend umgesetzt. Das Habyarimana-Regime hatte außerdem
seit Beginn des Krieges für immer schärfere Propaganda gegen die Tutsi-Minderheit in
Ruanda gesorgt, die Stimmung war entsprechend aufgeheizt. Am 6. April 1994 starb
Präsident Habyarimana, nachdem sein Flugzeug über Kigali von unbekannten Tätern
abgeschossen wurde. Danach begann der Völkermord an bis zu einer Million Tutsi und
moderaten Hutu durch die Präsidentengarde und Milizen, die sogenannte Interahamwe. Die
noch bestehende Regierung verlor jegliche Kontrolle über das Land. Bis zur Machtübernahme
durch die nun militärisch das Land erobernde RPF im Juli ging der Massenmord ungebremst
weiter (Van Dijk 2005: 180f.; Weiss 1995: 278f.; Tetzlaff/Jakobeit 2005: 100). Angesichts
eines landesweiten Blutbades, des völligen Kontrollverlusts der noch bestehenden Regierung
zu Gunsten bewaffneter Milizen, einer Wirtschaft auf dem Nullpunkt, gewaltiger
Flüchtlingsströme und des völligen Versagens der Justiz und Verwaltung kann Ruanda für die
Phase zwischen April und Juli 1994 nur noch als „zerfallener oder gescheiterter Staat“ im
Sinne Schneckeners bezeichnet werden. Die Entsprechung bei Erdmann wäre der „völlige
Staatszerfall“ (Erdmann 2003: 272).
Abbildung 4: Ruanda: Staatliche Kernfunktionen 1994
Staatl. Kernfunktion Erfüllungsgrad Erläuterung
Sicherheit -
- die noch vorhandene provisorische Regierung verliert die Kontrolle über das Land
- Völkermord an bis zu einer Mio. Tutsi und moderaten Hutu
- Lebensgefahr für alle Bürger - Bewaffnete Gruppen kontrollieren das Land - RPF nimmt große Teile des Landes ein
Wohlfahrt - - kollabierte Wirtschaft - zwei Mio. Ruander in Flüchtlingslagern - unzureichende Nahrungsmittelversorgung
Legitimität/Rechtsstaat - - Zusammenbruch der staatlichen Verwaltung und Justiz
Quelle: Eigene Darstellung nach Schneckener 2004
5.1.4 Zusammenfassung Phase I bis III:
Sowohl Erdmann als auch Schneckener sehen in ihrer Typologie zur fragilen Staatlichkeit
durchaus eine Abfolge verschiedener Phasen bis hin zum endgültigen Zerfall eines Staates.
Dass hierbei keine Zwangsläufigkeit besteht, ein schwacher Staat also nicht immer zum
Zerfall verurteilt ist, ist dabei impliziert. Für die Fallstudie Ruanda lässt sich jedoch eine klare
Entwicklung vom relativ stabilen, dennoch als schwach einzustufenden Staat unter Juvenal
Habyarimana bis zum Ende der 1980er Jahre hin zum totalen Zerfall der Staatlichkeit im
April 1994 feststellen. Gerade für den Fall Ruanda scheint damit der Begriff der
„apokalyptischen Trias“ (Erdmann 2003: 270) des Staatszerfalls zutreffend. Nach der
Machtübernahme der RPF gelang es der neuen Regierung unter Paul Kagame in kurzer Zeit,
wieder für Stabilität zu sorgen und die Staatlichkeit zu stärken (state building) (Van Dijk
2005: 181). Der ruandische Staat entwickelte sich hin zu dem Zustand, der weiter oben bereits
analysiert wurde.
6. Die Ursachen des Staatszerfalls in Ruanda
6.1 Struktur-, Prozess- und Auslösefaktoren
Der geschilderte schrittweise Zerfall des ruandischen Staates lässt sich nicht auf eine einzige
Ursache, sondern auf eine Vielzahl zusammenhängender Faktoren zurückführen.
Schneckener unterscheidet zwischen drei Arten von Einflussfaktoren, die negative
Auswirkungen auf die Stärke des Staates haben können: Strukturfaktoren, Prozessfaktoren
und Auslösefaktoren. Strukturfaktoren beziehen sich auf natürliche Begebenheiten eines
Landes, wie zum Beispiel Bodenschätze, sowie auf langfristige sozioökonomische, kulturelle
und politische Merkmale (Schneckener 2004: 517).
Die bedeutendsten Einflussvariablen für den Fall Ruanda lassen sich zur Gruppe der
Strukturfaktoren zuordnen: Auf nationaler und substaatlicher Ebene spielte das neo-
patrimoniale System der Habyarimana-Regierung eine wichtige Rolle. Das Regime
verwendete große Teile der staatlichen Finanzmittel auf eine kleine Gruppe von Begünstigten
aus den eigenen Clans und Regionen. Politischer Unzufriedenheit der nicht begünstigten
Bevölkerungsgruppen war damit eine Grundlage gegeben und die Legitimität des Regimes
vor allem auf der Verteilung von Ressourcen aufgebaut, was eine Schwächung in Zeiten von
Ressourcenknappheit als logische Konsequenz nach sich zieht.5 Da die vorhergehende
Analyse den Ansatz Gero Erdmanns über die fragile Staatlichkeit für den Fall Ruanda als
zutreffend bestätigt hat, lässt sich auch seiner weiteren Argumentation folgen: „Entscheidend
für die Probleme des Staates, vor allem für Staatsversagen und Staatsverfall […] ist der neo-
patrimoniale Charakter der staatlichen Herrschaft.“ (Erdmann 2004: 278).
Eine weitere strukturelle Einflussvariable war die konfliktgeladene Multiethnizität der
Bevölkerung. Der Gegensatz zwischen Hutu-Mehrheit und Tutsi wurde durch die deutsche
und belgische Kolonialmacht genutzt und gefestigt und auch zu Zeiten Habyarimanas war die
Trennung ständig präsent: Die ethnische Zugehörigkeit war im Pass jedes ruandischen
Bürgers vermerkt. Die ethnische Differenzierung wurde zwischen 1973 und dem Ende der
1980er Jahre zwar nicht in größeren Konflikten ausgetragen, blieb allerdings in der
Bevölkerung bestehen und konnte so nach Beginn des Krieges durch die Regierung
instrumentalisiert werden (Asche 1995: 27ff.; Van Dijk 2005: 180f.).
Weitere nationale Strukturfaktoren waren die Überbevölkerung des Landes gemeinsam mit
permanenter Landknappheit, die hohe Verbreitung des HI-Virus6 und die hohe
Arbeitslosigkeit. Daraus resultierte eine Existenzgefährdung und Perspektivlosigkeit vor
allem der jüngeren Bevölkerung, die dadurch für Propaganda und politische Konfrontation
empfänglich wurde (Tetzlaff/Jakobeit 2005: 101f.).
Internationale Strukturfaktoren umfassten im Falle Ruandas vor allem die wirtschaftliche
Abhängigkeit: Der Staatshaushalt bestand zu großen Teilen aus externer Programmhilfe, die
wichtigsten Exportprodukte und damit Einnahmequellen der ruandischen Volkswirtschaft
waren Kaffee und Tee; zwei Produkte, die großen Schwankungen des Weltmarktpreises
unterliegen (Weiss 1989: 239f.). Auf regionaler Ebene stellte das nicht gelöste Problem der
ruandischen Flüchtlinge, vor allem in Uganda, ein Risiko für den Staat dar (Tetzlaff/Jakobeit
2005: 102).
Prozessfaktoren sind bei Schneckener diejenigen Bedingungen, die innerhalb eines
überschaubaren Zeitraums von wenigen Jahren „die Erosion von Staatlichkeit in Gang setzen
5 Zur Bedeutung des Neopatrimonialismus beim Zerfall afrikanischer Staaten vergleiche Erdmann 2003: 278. 6 Die Infektionsraten betragen 30 Prozent bei der Bevölkerung in Kigali und drei bis fünf Prozent auf dem Land (Asche 1995: 33).
und vorantreiben“ (Schneckener 2004: 517). Im Falle Ruandas waren die einflussreichsten
nationalen Prozessfaktoren die anhaltende Wirtschaftskrise und der daraus resultierende
deutlich schlechtere Lebensstandard der Bevölkerung. Nach Beginn des Krieges gegen die
RPF – ein weiterer bedeutender Prozessfaktor – konnte die Habyarimana-Regierung mit ihrer
Propaganda gegen die Tutsi auf der wirtschaftlich schlechten Lage aufbauen: Laut Regierung
hatten die „reichen“ Tutsi Schuld an der Armut der Hutu-Mehrheit. Außerdem wurde die RPF
als reine Organisation der Tutsi dargestellt und somit die Tutsi-Minderheit als Feindbild
etabliert (Human Rights Watch 2006: 6). Die massiven staatlichen Radio- und
Zeitungshetzkampagnen führten zu großer Angst innerhalb der Bevölkerung. Es kam zur
Entstehung von Sicherheitsdilemmata7: Helmut Asche beschreibt das vor dem Genozid
vorherrschende gesellschaftliche Klima in Ruanda als „ein allgemeines Klima der Furcht,
entstanden aus dem generalisierten Misstrauen der einen ethnischen Gruppe gegenüber der
anderen“ (Asche 1995: 33). Eine Spirale der militärischen Aufrüstung der Zivilbevölkerung
und immer höhere Gewaltbereitschaft zum eigenen Schutz waren die Folge. Auch das
Phänomen der violent predation8, also gewalttätige Plünderungen und Raubzüge, verschärfte
die Erosion der Staatlichkeit. Massenmorde und Menschenrechtsverletzungen hatten sich
auch schon vor April 1994 ereignet (Weiss 1994: 283). Zu den internationalen
Prozessfaktoren zählten das fortschreitende Absinken des Weltmarktpreises für Kaffee, was
die Wirtschaftskrise immer weiter verschärfte und der zunehmende Druck der externen Geber
auf Präsident Habyarimana. Durch die Infragestellung des alten Regimes und ihre Forderung
nach Demokratisierung schwächten die internationalen Geber die Stellung der Regierung
zusätzlich (Tetzlaff/Jakobeit 2005: 102).
Bedingungen, die innerhalb weniger Tage oder Wochen einen abrupten Wandel auslösen
können, bezeichnet Schneckener als Auslösefaktoren (Schneckener 2004: 517). Hier kann,
wie weiter oben schon dargelegt, der Staatszerfall mit dem Beginn des von langer Hand
vorbereiteten Völkermordes an Tutsi und oppositionellen Hutu durch Interahamwe,
Präsidentengarde und Übergangsregierung gleichgesetzt werden. Unmittelbarer Auslöser war
der Tod des Präsidenten Habyarimana und im direkten Anschluss daran die Ermordung der
Premierministerin. Damit fielen die letzten Instanzen des Regierungsapparats weg, die noch
eine gewisse Kontrolle im Land innehatten. Der Startschuss für den Völkermord war gefallen.
Die immer aggressivere Hetze durch ruandisches Militär, Milizen und Übergangsregierung
7 Zu den Phänomenen des Sicherheitsdilemmas und der „violent predation“ im Zusammenhang mit fragiler Staatlichkeit siehe Kasfir 2004 sowie den einleitenden Beitrag von Grosser/Hofmann in diesem Band. 8 Siehe Fußnote 2.
und die anhaltende katastrophale Nahrungsmittelversorgung schufen das entsprechende Klima
für die – aus eigener Sicht „präventive“ – Gewalt der Täter des Völkermordes. Die RPF
weigerte sich, mit der nach dem Tod von Präsident und Premierministerin eingesetzten
Übergangsregierung zu verhandeln und begann mit der militärischen Eroberung ganz
Ruandas (Weiss 1995: 279; Human Rights Watch 2006: 15; Asche 1995: 33).
Abbildung 5: Ursachen des Staatszerfalls in Ruanda
Strukturfaktoren Prozessfaktoren Auslösefaktoren
Substaatliche Ebene
- Clanstrukturen, bestimmte Regionen an der Macht
- Klima der Furcht in den ethnischen Gruppen
- Sicherheitsdilemma - „violent predation“ - Zunahme der Gewalt
Nationale Ebene:
- multiethnische Bevölkerung (Hutu Tutsi)
- Neopatrimonialismus - Überbevölkerung,
starkes Bevölkerungswachstum
- Nahrungsmittelknappheit, Landnot
- AIDS
- deutlich schlechterer Lebensstandard
- Krieg gegen RPF - Politisierung der
ethnischen Differenzen durch die Regierung (Hetze gegen Tutsi)
- Hungersnot - Tod des Präsidenten als
„Startschuss“ für den Völkermord und als Wegfallen der letzten Kontrolle der Regierung
„präventive Gewalt“
Inter- nationale/ Regionale Ebene:
- Abhängigkeit von finanzieller Hilfe
- Abhängigkeit vom Weltmarkt
- Flüchtlinge, Gefahr der Destabilisierung von außen
- Angriff der RPF - Absinken des
Weltmarktpreises für Kaffee
- Druck zur Demokratisierung, Infragestellung des alten Regimes
- weniger externe Finanzhilfe
- erneutes, vehementes Vordringen der RPF
Quelle: Eigene Darstellung
6.2 Zusammenfassung der Ursachen: Strukturen als maßgebliche Faktoren
Die gewichtigsten Faktoren bezüglich des Staatszerfalls in Ruanda 1994 waren struktureller
Natur. Die Grundvoraussetzungen für die Erosion des Staates waren bereits seit längerer Zeit
vorhanden: Ruanda war ein überbevölkertes Land mit enorm hoher HIV-Infektionsrate und
Landnot. Das neo-patrimoniale politische System beruhte auf Patronage und Klientelismus.
Staat und Wirtschaft waren abhängig von ausländischer Hilfe und unsicheren
Weltmarktverhältnissen. Das ungelöste Problem hunderttausender ruandischer Flüchtlinge im
Ausland kam noch erschwerend hinzu. Prozessfaktoren konnten bei dieser Ausgangslage den
Zerfall des Staates in Gang setzen: Eine Wirtschaftskrise und der Krieg gegen die Rebellen
der RPF schufen ein Klima der Verzweiflung und der Furcht. Das alte Regime wurde durch
Druck von innen und außen weiter geschwächt und versuchte sich durch die Politisierung
ethnischer Differenzen zu retten. Letztlich gelang dies nicht, die Vorbereitungen des Regimes
entfalteten sich dennoch im dritten Genozid des 20. Jahrhunderts, wozu der Tod des
Präsidenten den Auftakt bildete. Der ruandische Staat versagte dabei vollständig.
7. Das Verhalten der internationalen Gemeinschaft
An der Fallstudie Ruanda ist vor allem das Verhalten der internationalen Gemeinschaft
während des Krieges und des Genozids Anfang der 1990er Jahre relevant, da das Versagen
der internationalen Akteure dazu führte, die Konzeption von Friedenseinsätzen grundsätzlich
zu überdenken.
7.1 Diplomatische Bemühungen
Nach Beginn des Krieges zwischen ruandischer Regierung und RPF im Oktober 1990
versuchte die internationale Gemeinschaft in erster Linie auf eine diplomatische und damit
friedliche Beilegung des Konflikts hinzuwirken (Weiss 1991: 294f). Es engagierten sich
sowohl westliche Staaten als auch die Nachbarstaaten Ruandas in der Region. Nur durch den
Druck der internationalen Geldgeber, also im Wesentlichen der europäischen Staaten, der
Vereinigten Staaten von Amerika (USA), aber auch der Weltbank, konnte die Habyarimana-
Regierung in Richtung Demokratisierung und zur Teilnahme am Friedensprozess gebracht
werden. Hätte sich das Regime geweigert, das Abkommen von Arusha von August 1993 zu
unterstützen, wäre die internationale Finanzhilfe eingestellt oder reduziert worden (Weiss
1994: 284). Allerdings spricht Helmut Asche angesichts der Realisierbarkeit von Arusha vom
„Optimismus, dass es mit dem Einigungsprozess doch irgendwie vorangehe“ (Asche 1995:
34) auf Seiten der Diplomaten. Seiner Ansicht nach war eine tatsächliche Umsetzung durch
Regierung und RPF von Anfang an unrealistisch, vor allem da das ruandische Regime schon
seit 1991 durch gezielte Massaker und Attentate einen Kurs der Eskalation praktizierte, der
den Friedensprozess sabotierte (Asche 1995: 35).
7.2 Die Rolle der Vereinten Nationen (UN)
Nachdem im Februar 1993 sowohl die ruandische als auch die ugandische Regierung bei den
UN um Hilfe gebeten hatten, beschloss der UN-Sicherheitsrat am 22. Juni 1993 die
Entsendung einer etwa einhundert Mann starken Mission UNOMUR (UN Observation
Mission for Rwanda) zur Überwachung der ugandisch-ruandischen Grenze. Als jedoch im
Arusha-Abkommen (August 1993) eine neutrale internationale Truppe zur
Friedensüberwachung beschlossen wurde, vergingen bis zu einer Resolution des
Sicherheitsrats noch etwa zwei Monate. Im Oktober 1993 einigte sich der Rat dann auf die
Entsendung einer 2.500 Mann starken Truppe, der UNAMIR (UN Assistance Mission for
Rwanda), zur Sicherung des Waffenstillstands und der Rückkehr der Flüchtlinge. Das erste
Kontingent erreichte Ruanda am 1. November 1993 (Weiss 1993: 284f.). Als nach dem 6.
April 1994 die Auseinandersetzungen zum Völkermord eskalierten, zeigte sich die Schwäche
des Mandats von UNAMIR: Die unzureichend instruierten UN-Blauhelme leisteten keinen
Beitrag dazu, die Massaker zu verhindern und die Opfer des Völkermordes zu schützen. Nach
der Ermordung von zehn belgischen Soldaten und dem darauf folgenden Abzug des
belgischen Kontingents beschloss der Sicherheitsrat am 21. April 1994 die weitere, fast
vollständige Reduzierung der UNAMIR. Im Anschluss daran begann zwar eine Diskussion
um eine erneute Aufstockung der Truppen, ein derartiger Beschluss erfolgte allerdings erst
Mitte Mai. Die 5.500 Mann starke UNAMIR II- Mission begann im August 1994, als der
Völkermord bereits beendet war.
Das katastrophale Scheitern der UNAMIR und mit ihr der gesamten UN hat mehrere Gründe:
1. Das Mandat der Mission legte sie auf Beobachtung und friedliche Konfliktbeilegung fest;
Waffengebrauch war den Blauhelmsoldaten untersagt. 2. Die zur Verfügung gestellten
Ressourcen waren mangelhaft. Experten hatten vor der Entscheidung des Sicherheitsrats eine
Missionsgröße von etwa 4.500 Mann für nötig erachtet, um einen Erfolg der Operation zu
erreichen. 3. Nach den unglücklichen Vorfällen in Somalia waren die USA nicht bereit, das
Hauptkontingent der UNAMIR zu stellen. Auch keine andere „neutrale“ Macht – was
Frankreich und Großbritannien zum damaligen Zeitpunkt wegen Beziehungen zu den
Konfliktparteien ausschloss – zeigte Interesse an umfangreichem Engagement in Ruanda. 4.
Der zeitliche Rahmen zwischen Sicherheitsratsbeschluss und Beginn der Mission ermöglichte
keine ausreichend lange Koordinations- und Planungsphase (Bericht der unabhängigen
Untersuchungskommission 1999; Asche 1995: 37f.).
Roméo Dallaire, der den Oberbefehl der UNAMIR innehatte, erhebt wegen des Versagens der
UN und der internationalen Gemeinschaft schwere Vorwürfe: „[…] the developed world,
impassive and apparently unperturbed, sat back and watched the unfolding apocalypse or
simply changed channels.“ (zitiert nach Berdal 2005: 117). Als Reaktion auf die Katastrophe
in Ruanda setzte eine Diskussion über die künftige Ausgestaltung der UN-Friedensmissionen
ein, insbesondere über die Erlaubnis zum Einsatz militärischer Mittel und damit der Erteilung
eines „robusten Mandats“ (Opitz 2002: 62f.).
7.3 Die besondere Rolle der USA und Frankreichs
Gesondert erwähnt werden soll hier noch das Verhalten Frankreichs und der USA während
der Ruanda-Krise, da Roméo Dallaire diesen beiden Staaten die Hauptschuld daran gibt, dass
die internationale Gemeinschaft den Völkermord nicht verhindern konnte. Frankreich wirft er
vor, von Anfang an das Habyarimana-Regime durch Truppen und Waffenlieferungen
unterstützt zu haben. Die Schuld der US-amerikanischen Clinton-Regierung sieht Dallaire im
Desinteresse, in Ruanda zu intervenieren. Deshalb weigerten sich die USA anfänglich, den
Völkermord auch als solchen zu bezeichnen. Außerdem stellten sie sich auch gegen eine zu
umfangreiche Intervention im Rahmen der UN. Beide Länder waren (zusammen mit Belgien)
zudem besser über das Geschehen in Ruanda informiert als andere Staaten und wussten daher
vom Ausmaß der Katastrophe (Berdal 2005: 119f.).
8. Ausblick
Wie wird sich die Lage in Ruanda nun weiterentwickeln? Ist für die nächste Zeit mit
deutlichen Verbesserungen oder Verschlechterungen zu rechnen?
Vieles spricht dafür, dass die Situation Ruandas auf absehbare Zeit stagnieren wird. Die
Demokratisierung wurde vorerst verpasst. Die RPF hat ein vergleichsweise stabiles autoritäres
System aufgebaut und durch die zunehmende Emigration oppositioneller Politiker geht die für
eine Demokratie so wichtige politische Vielfalt verloren.
Wie in Kapitel 5 „Ursachen des Staatszerfalls in Ruanda“ gezeigt, waren es vor allem
strukturelle Faktoren, die zum Staatsverfall in Ruanda führten. Strukturfaktoren sind jedoch
nur schwer oder gar nicht zu ändern (Tetzlaff 2002: 5). Ruanda hat noch heute mit
Überbevölkerung und Ressourcenknappheit zu kämpfen, fürchtet Konflikte zwischen den
verschiedenen Bevölkerungsgruppen und ist von finanzieller Hilfe aus dem Ausland
abhängig. Unter diesen Voraussetzungen erscheint eine Konsolidierung schwierig.
Um die Probleme Ruandas zu lösen, ist eine grundlegende wirtschaftliche und politische
Stabilisierung der gesamten Region nötig. Vor allem müssen (rechts-)staatliche Kräfte
gestärkt und die Rebellengruppen entwaffnet werden, denn gerade die Bedrohung durch die
Hutu-Milizen im Kongo liefert der RPF die Rechtfertigung für ihr autoritäres und restriktives
Vorgehen.
Ein rettendes Eingreifen des Auslands ist unwahrscheinlich, da die internationalen Akteure
aufgrund des Schuldgefühls wegen ihres Versagens beim Völkermord noch immer sehr
zurückhaltend agieren (BTI 2006: 19). Eine Besserung des aktuellen Zustands ist daher unter
den gegebenen Voraussetzungen nicht in Sicht. Die momentane Lage im Land scheint jedoch
verhältnismäßig stabil, so dass zumindest auch keine Verschlechterung der Situation zu
erwarten ist.
Literatur
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