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Der Nervenarzt 12•2000 | 1007
Zusammenfassung
Die intrathekale Dauerapplikation von
Baclofen stellt nicht selten bei ausgeprägten
spastischen Syndromen die einzig wirksame
Therapieform dar. Ein Benefit ist besonders
bei Patienten mit spinalem Läsionsort und
vordergründiger Beugespastik der Beine zu
erwarten, der Effekt ist häufig enttäuschend
bei dominierender Streckspastik und bei
zerebral bedingten Spastikformen. Darüber
hinaus kann der Einsatz durch relevante
Nebenwirkungen limitiert sein. Als weitere
Therapiealternative ist in den letzten Jahren
der Einsatz von Botulinumtoxin propagiert
worden, allerdings ergibt sich bei kritischer
Wertung eine sinnvolle Indikation, mit Aus-
nahme der infantilen spastischen Zerebral-
parese, überwiegend bei umschriebenen
distal lokalisierten spastischen Fehlstellungen.
An 4 Patientenbeispielen (inkomplettes
zervikales Querschnittsyndrom, komplettes
thorakales Querschnittsyndrom, Systemdege-
neration der Pyramidenbahn und zerebrale
Hypoxie) wird demonstriert, dass die Kom-
bination von intrathekaler Baclofenapplika-
tion und lokalem Botulinumtoxin zu einer
Optimierung der Behandlung unter pflegeri-
schen aber auch funktionellen Aspekten und
zu einer Ausweitung der Indikation führen
kann, die destruierende operative Eingriffe
vermeiden hilft.Durch Dosiseinsparungen
sinkt die Nebenwirkungsrate erheblich.
Schlüsselwörter
Spastizität · Intrathekale Baclofengabe ·
Botulinumtoxin
Spastische Syndrome als Folge schwe-rer Schädigungen des Gehirns oderRückenmarks stellen oft erhebliche the-rapeutische Probleme dar. Die Behand-lung muss hierbei möglichst vieleAspekte des Gesamtbildes umfassen,wobei sich die Komplexität des klini-schen Bildes durch eine variable Kombi-nation von Reflex- und Tonussteige-rung, den sog. assoziierten Reaktionen,einer Muskelschwäche und der gestör-ten Feinmotorik ergibt.Solche assoziier-ten Reaktionen sind z. B. Koaktivierun-gen und Kokontraktionen bis hin zuMassensynergien mit z.T.spastischer Fi-xation.Auch wenn hier der Einfluss vonenthemmten Stellreflexen, eine gestörtereziproke Inhibition sowie die flexorbe-zogenen Reflexsynergien eine wichtigeRolle spielen, sind die exakten Mecha-nismen insbesondere dieser assoziiertenReaktionen noch nicht ganz verstanden[3, 16]. In den therapeutischen Strategi-en sind auch die Funktionsbeeinträchti-gungen durch die gestörte Sensorik,durch Schmerzen und durch die sekun-dären Veränderungen des Bewegungs-apparates zu berücksichtigen. Letztlichsind auch kognitive Einbußen Teil die-ses Syndroms [14].
Ein Behandlungskonzept des spa-stischen Syndroms sollte nach exakterErfassung dieser Aspekte nach einemStufenschema erfolgen, in dem nebender Physiotherapie als Basis konserva-tiv- und invasiv-medikamentöse Thera-pieverfahren und zuletzt operativ/abla-tive Eingriffe eingesetzt werden können.
Die Bedeutung neurophysiologisch be-gründeter Krankengymnastik liegt dar-in, dass sie als einziges Verfahren auf al-le Teilaspekte gleichermaßen einwirkenkann. Die empirisch entwickelten Tech-niken, durch Bahnung physiologischerReflexaktivität noch vorhandene Will-kürmotorik zu aktivieren und solcheproriozeptive Reize zu unterdrücken,diemotorische Fehlregulationen unterhal-ten, sind durch neuere Erkenntnisseüber die Plastizität des Gehirns wissen-schaftlich begründet [3]. Je nach klini-schem Bild stehen hierbei Verfahren zurVerfügung, die eher die Tonusregulie-rung verbessern, wie z. B. die Technikennach Vojta oder Brunkow und solchen,bei denen vor allem physiologische Be-wegungsmuster der Halte- und Loko-motorik gebahnt werden (z. B. PNFpropriozeptive neuromuskuläre Fazili-tierung). Mehr als andere Therapiefor-men ist die Physiotherapie allerdingsvon der Erfahrung und vom Können desTherapeuten abhängig.
Bei schwereren Formen, insbeson-dere solchen die mit einem Verlust desGehvermögens einhergehen, ist häufigeine pharmakologische Unterstützungerforderlich. Prinzipiell sind systemi-sche oder lokale Ansätze möglich. DasGrundprinzip der zur Verfügung ste-
Ergebnisse & KasuistikNervenarzt2000 · 71:1007–1011 © Springer-Verlag 2000
T.Vogt · P.P. UrbanKlinik und Poliklinik für Neurologie der Johannes Gutenberg Universität
Optimierte Therapie des spastischen Syndromsdurch Kombination von intrathekalem Baclofen mit Botulinumtoxin
Priv. Doz. Dr.Thomas VogtNeurologische Universitätsklinik,
Langenbeckstr. 1, 55131 Mainz,
E-Mail: [email protected]
Ergebnisse & Kasuistik
T.Vogt · P.P. Urban
Optimising therapy for spastic syndrome by combining baclofen with botulinumtoxin
Summary
Intrathecal administration of baclofen has
proved to be an effective treatment of
spasticity related to CNS damage. Especially
patients with spinal spasticity due to
traumatic spinal cord injury or transverse
myelitis showed a dramatic reduction of
spasticity and improvement of their
Ashworth scores.The results are, however,
often disappointing in patients with mus-
cular hypertension of the extensor muscles,
which is frequently found in patients with
multiple sclerosis or cerebral hypoxia. In the
latter, using intrathecal baclofen may be
restricted by serious side effects.
Botulinumtoxin A is widely used in
patients with various forms of dystonia. It
has also been studied in spastic disorders,
where local injections were valuable in
relieving focal spasticity in hemiparetic
patients and in infantile cerebral palsy. It is
used only cautiously in severe paraspasticity.
The case reports of 4 patients with incom-
plete and complete paraparesis due to spinal
cord injury, neurodegenerative pyramidal
disorder, and cerebral hypoxia demonstrate
that a combination of intrathecal baclofen
and botulinumtoxin A can improve clinical
benefits and reduce side effects.
Keywords
Spasticity · Intrathecal baclofen ·
Botulinumtoxin
henden Substanzen ist entweder eineSuppression des exzitatorischen, vor-wiegend glutamatergen Systems oder ei-ne Förderung inhibitorischer Mechanis-men (GABA, Glycin) mit supraspinalemoder spinalem Angriffspunkt bzw. einerdirekt muskelrelaxierenden Wirkung imBereich der neuromuskulären Übertra-gung oder am kontraktilen Apparat.
Systemisch wirkende Antispastikawerden zumeist bei diffus verteilten spa-stischen Syndromen eingesetzt, wobeihäufig nur leichte bis mittelschwere For-men zufriedenstellend therapiert wer-den können. Eine Limitierung stellenzum einen die mitauftretende Muskel-schwäche und, besonders in höherenDosierungen, oft erhebliche Verträglich-keitsprobleme dar. Schwere Spastikfor-men lassen sich in diesen Dosisberei-chen zumeist nicht relevant bessern.
Bei umschriebenen Tonuserhöhun-gen bieten sich lokale Anwendungen an,wobei früher verwendete Alkohol- oderPhenolinjektionen mittlerweile als ob-solet gelten, da sie neben erheblichenSchmerzen und Muskeldestruktionenkeine sichere, in Studien belegte Funk-tionsverbesserung erbrachten. Praktika-bel sind derzeit die intrathekale Bac-lofengabe und die intramuskuläre An-wendung von Botulinumtoxin A.
Baclofen kann über einen Spinalka-theter aus einem implantierten Reser-voir intrathekal appliziert werden undwirkt sehr viel effektiver als systemisch[17, 20]. Als GABA B-Rezeptor-Agonistwirkt es vor allem auf monosynaptischespinale Reflexmechanismen. Die intra-thekale Gabe führt trotz der Hydrophilieder Substanz zu einer relativ zuverlässi-gen Anreicherung in dem Rücken-marksabschnitt, in dem der Katheter po-sitioniert wurde, da die Rezeptoren rela-tiv oberflächennah gelegen sind. Dieswird unterstützt durch einen hohenlumbozisternalen Konzentrationsgradi-enten, sodass relativ wenig von lumbalappliziertem Baclofen nach zerebral ge-langt [12]. Der für die Spastiktherapieverwendete Dosisbereich liegt zwischen100 und 1000 mg/Tag und ist somit umden Faktor 100–1000 kleiner als bei ora-ler Gabe. Systemische Nebenwirkungensind dabei praktisch nicht zu erwarten,zentralnervöse Nebenwirkungen sinddurch den direkten Liquortransport be-dingt [21].
Botulinumtoxin wird seit Ende der80er Jahre zunächst vorwiegend in der
Behandlung von fokalen Dystonien the-rapeutisch verwendet. Mit zunehmen-der Erfahrung konnte auch eine Wirk-samkeit bei spastischen Syndromennachgewiesen werden [2, 5]. Dies be-trifft insbesondere die infantile spasti-sche Zerebralparese, für die umfangrei-che offene aber auch plazebokontrol-lierte Studien mit eindeutigen Ergeb-nissen vorliegen, sodass mittlerweilebeide verfügbaren Handelspräparatefür diese Indikation zugelassen sind [9,16, 18]. Im Falle der Spastizität beim Er-wachsenen ist die Situation etwas un-übersichtlich. Vereinzelte kontrollierteStudien fanden auch hier einen eindeu-tigen Effekt in Bezug auf klinische Spa-stikscores [11, 26] oder auch technischeParameter [13]. Die meisten der in die-sen Studien vorgestellten Patienten hat-ten jedoch nur eine leichte bis mäßigeSpastik mit oft erhaltener Gehfähigkeit,die nur einen Teil des Patientenspek-trums charakterisiert. Nur wenige offe-ne Studien zeigen eine signifikante Ver-besserung bei Patienten mit beidseiti-ger Adduktorenspastik [1]. Das Toxinverhindert im terminalen Axon des Mo-toneurons über eine Blockade von be-stimmten Proteinen die Vesikelexozyto-se und somit die Freisetzung von Ace-tylcholin in den synaptischen Spalt [18].Diskutiert wird jedoch auch ein retro-grader Transport und eine transsynap-tische spinale Wirkung.
Beide Medikamente haben ihre je-weiligen bevorzugten Indikationsgebie-te, die jedoch bei vorwiegend distalemAngriffpunkt des Botulinumtoxins undeiner eher proximalen Wirkung desBaclofen durchaus komplementär sind.An Patientenbeispielen werden im Fol-genden typische Konstellationen her-ausgearbeitet, in denen die Therapie mitintrathekalem Baclofen durch die Er-gänzung mit Botulinumtoxin A opti-miert werden kann.
Patient 1
Ein 56-jähriger Mann zog sich 1981 beieinem Sturz von einem Gerüst eine Wir-belfraktur C8 zu, in dessen Folgen es zueinem rechtsbetonten inkomplettenQuerschnittsyndroms mit segmentalenschlaffen Paresen der kleinen Handmus-keln und einer Paraspastik mit Beto-nung der Hüft- und Knieflexoren kam.Es bestand darüber hinaus eine ausge-prägte Schmerzsymptomatik der Beine.
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Nach Implantation einer Baclofenpum-pe war der Patient bei einer Dosis von180 mg/Tag mit großen Schwierigkeitenund mit Hilfe von Gehstützen in der La-ge, kurze Strecken zurückzulegen. DieKörperhaltung war hierbei durch eineunbequeme Hüft- und Kniebeugungcharakterisiert. Eine Erhöhung der Do-sis führte zwar zu einer Reduktion derSpastik, jedoch trat eine Muskelschwä-che der Streckermuskulatur auf, die dasGehen fast unmöglich machte. Nach lo-kaler EMG-gesteuerter Injektion von je400 U Botulinumtoxin A (Dysport®) indie ischiokrurale Muskulatur beidseitskonnte die spastische Beugung im Knie-gelenk weitgehend aufgehoben werden,ohne dass die Funktion der Funktionder Kniestrecker beeinträchtigt wurde,andererseits aber auch eine willkürlicheBeugung in gewissem Umfang nochmöglich war.
Patient 2
Eine 43-jährige Frau entwickelte seitdem 20. Lebensjahr eine zunehmendeParaspastik der Beine mit Extension imKnie- und Sprunggelenk, Supinationund ausgeprägter Hüftadduktion, de-ren Genese bislang ungeklärt ist. DiePatientin litt zudem an einer beidseiti-gen angeborenen Hüftluxation mit ei-ner schweren Koxarthrose, die in Ver-bindung mit der Paraspastik zu einerGehunfähigkeit führte. Obwohl sich beider intrathekalen Testung nur eine mä-ßiggradige Reduktion der Spastik zeig-te, wurde eine Dauerapplikation einge-leitet, um die Implantation von Total-endoprothesen (TEP) beidseits zu er-möglichen. Trotz einer Tagesdosis von800 mg kam es jedoch immer wieder zueinschießenden Tonussteigerungeninsbesondere der Adduktoren, sodasslinksseitig das Implantat aus demSchaft herausgebrochen wurde. Einehöhere Dosis wurde wegen Nebenwir-kungen nicht toleriert. Die Patientinwurde zusätzlich mit je 400 U Botuli-numtoxin (Dysport®) in die Addukto-ren beidseits sowie je 200 U in denM. tibialis posterior und M. triceps su-rae beidseits behandelt. Hierunterkonnte die Revision der TEP erfolg-reich durchgeführt werden. Die Patien-tin ist bei einer Baclofentagesdosis von650 mg und vierteljährlichen Botuli-numtoxin-Injektionen weiterhin miteinem Rollator gehfähig.
Patient 3
Der heute 38-jährige Patient erlitt vor 10Jahren bei einen Motorradunfall eineBWK9-Fraktur mit vollständiger Quer-schnittslähmung. Es bildete sich in derFolgezeit eine hochgradige Beugespa-stik der Beine aus, darüber hinaus kames als Komplikation eines Harnwegsin-fektes zu einer Niereninsuffizienz, so-dass der Patient dialysepflichtig wurde.
Durch eine Baclofenpumpe konntedie massive Tonuserhöhung der Hüft-und Kniebeuger sowie der Adduktorensoweit reduziert werden, dass sie bei derklinischen Untersuchung schlaff pare-tisch erschienen. Intermittierend tratenjedoch heftigste krampfartige Myoklo-nien, insbesondere der Hüftbeugungauf, die zum einen erheblich schmerz-haft waren, zum anderen zu Stürzen ausdem Rollstuhl bzw. auch zu technischenProblemen während der Dialyse führ-ten. Trotz Erhöhung der Baclofentages-dosis auf zuletzt 400 mg, sistierten dieseMyoklonien nicht. Durch die Injektionvon Botulinumtoxin (je 100 U Botox®) indie Mm. iliopsoas und rectus femoriskonnte die Intensität dieser Spasmendeutlich gelindert werden.
Patient 4
Infolge eines Narkosezwischenfalles er-litt eine 51-jährige Patientin einenschweren hypoxischen Hirnschaden. Sieentwickelte das Bild einer ausgeprägtenTetraspastik mit Beugekontrakturen deroberen und unteren Extremitäten, so-dass pflegerische Maßnahmen kaumdurchführbar waren. Unter dem Ein-druck dieser schweren Fehlstellungenwurde eine Baclofenpumpe implantiert,obwohl ein intrathekal gegebener Test-bolus von 300 mg nur einen mäßigen Ef-fekt zeigte. Die Tagesdosis wurde bis zurToleranzgrenze von 1000 mg/Tag gestei-gert, unter der mit intensiver kranken-gymnastischer Hilfe eine etwas leichtereMobilisierung der Gelenke möglich war.Zur Unterstützung wurde auch hier Bo-tulinumtoxin (Botox®) in die Mm.bicipisbrachii beidseits (je 40 MU), die Hand-gelekflexoren (je 30 MU) und die Ad-duktoren (je 100 MU) injiziert. Der Ef-fekt war bei vorbestehenden ausgepräg-ten Kontrakturen mäßig, zumindest ließsich eine etwas bessere Mobilisierungeinzig zur Erleichterung der Pflege er-reichen.
Diskussion
Die Therapie des spastischen Syndromsdurch intrathekal appliziertes Baclofenhat sich in zahlreichen Studien als wirk-sam erwiesen. In mehreren randomi-sierten Doppelblindstudien zeigte sichinsbesondere beim thorakalen Quer-schnitt eine Reduktion des Muskeltonusum durchschnittlich 2 Punkte auf derAshworth-Skala [17. 20, 22, 23].
Eine Indikation für eine intratheka-le Baclofentherapie ist bei schwerer Spa-stizität spinaler Genese gegeben,wenn ei-ne orale Therapie nicht oder nur mit in-tolerablen Nebenwirkungen anspricht.Neuere Arbeiten beschreiben auch eineWirksamkeit bei Spastizität zerebralerUrsache [6, 24, 25]. Hiervon scheinen je-doch überwiegend Kinder mit spasti-scher Zerebralparese zu profitieren [7,27].Bei schweren hypoxischen oder post-traumatischen Hirnschäden wird die Ef-fektivität jedoch durchaus kontroversdiskutiert.Nach unserer Erfahrung ist dieTonussenkung zumeist deutlich geringer,und sehr viel höhere Dosen sind erfor-derlich als bei spinalen Läsionen.
Die ideale Indikation ist die schwe-re Tonuserhöhung der Beugemuskula-tur, die mit oraler Antispastika-Medika-tion meist nicht zu beherrschen ist, an-dererseits zu schweren Behinderungender Mobilität und der Pflegbarkeit füh-ren. Sie ist eingeschränkt in solchen Fäl-len, wenn eine Streckspastik überwiegtund die Gehfähigkeit trotz unterlagerterParese durch die Schienenfunktion derspastischen Antischwerkraftmuskelnnoch erhalten ist.Auch bei Patienten miteiner spastischen Hemiparese kann die-se Therapie nur sehr bedingt eingesetztwerden, da durch die Position des Ka-theters zwar die Höhe der Medikamen-tenwirkung, nicht jedoch eine Seitenbe-tonung bestimmt werden kann.
Wie an den Patientenbeispielen ge-zeigt wurde, kann in einigen Fällen die-ser relativen Indikationen bzw. einereingeschränkten Wirksamkeit eineKombination mit lokal appliziertemBotulinumtoxin A die intrathekale Bac-lofentherapie optimiert werden.
Der 1. Patient litt unter einer beu-gerbetonten Spastik bei inkomplettemQuerschnittsyndrom, bei dem eine Er-höhung der Baclofendosis zwar dieSchmerzen und den Beugertonus imLiegen zufriedenstellend reduzierte, dieGehfähigkeit bestand jedoch aufgrund
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Ergebnisse & Kasuistik
der damit einhergehenden Parese nichtmehr.Die lokale Anwendung von Botuli-numtoxin in die ischiokrurale Muskula-tur führte zu einer Verminderung derKniebeugung, ohne gleichzeitige Schwä-che der Kniestrecker.
Die Situation der Patienten 2 und 4war durch eine eingeschränkte Wirk-samkeit des intrathekalen Baclofensbzw. durch eine Limitierung infolge zen-tralnervöser Nebenwirkungen charak-terisiert. Die 2. Patientin hatte zwar eineweitgehend auf die unteren Extremitä-ten beschränkte Spastik, der jedoch kei-ne auf ein bestimmtes Niveau zu bezie-hende Schädigung zugrunde lag, Sie be-ruhte vielmehr auf einer Systemdegene-ration die eher die Charakteristika einerzerebralen Spastik aufweist. Auch hierwar es durch gezielten Einsatz von Bo-tulinumtoxin möglich, die unterlagerteWirkung von Baclofen so zu verstärken,dass die Implantation von TEP beidseitsmöglich war, dass distale spastischeFehlstellungen (Spitzfuß und Supinati-onsstellung der Füße) korrigiert werdenkonnten und die Patientin schließlichihre Gehfähigkeit wieder zurückerhielt.Insbesondere die in dieser besonderenSituation auf die Hüftgelenke einwir-kenden Kräfte wären mit Botulinumto-xin allein kaum zu beherrschen gewe-sen, da ein Großteil dieser Muskeln ei-ner Injektion von außen nur bedingt zu-gänglich ist. Bei Patientin 4 war nurdurch die Kombination von beiden The-rapieansätzen ein pflegerisch einiger-maßen zufriedenstellender Effekt zu er-reichen.
Im Falle des 3.Patienten war die ein-deutige Indikation zur intrathekalenBaclofentherapie gegeben, die ja auch zueiner deutlichen Erschlaffung der Mus-kulatur der unteren Extremitäten führte,ohne dass auf die Gehfähigkeit Rück-sicht zu nehmen war. Problematisch warjedoch das Auftreten von unwillkürli-chen, myoklonieartigen Spasmen, diezum einen schmerzhaft waren, zum an-deren ein deutliches Verletzungspoten-zial durch Sturz aus dem Rollstuhl hat-ten oder im konkreten Falle zu Kompli-kationen im Rahmen der Dialyse führ-ten. Derartige Spasmen sind am ehestenFolge einer überschießenden polysy-naptischen Reflexaktivität, die durchBaclofen sehr viel geringer beeinflusstwird als monosynaptische Reflexe [21].Es hat sich daher auch in Studien ge-zeigt, dass hierzu deutlich höhere Bac-
lofendosen erforderlich sind und einWiederauftreten derartiger Spasmen einAnzeichen einer Toleranzentwicklungsein kann. Alternativ ist hier eine Kom-binationstherapie mit anderen auch po-lysynaptische Reflexe beeinflussendeAntispastika wie z. B. Benzodiazepinenoder Memantine zu erwägen. Diese wirdaber in den meisten Fällen auch durchdie Addition der zentralnervösen, über-wiegend sedierenden Nebenwirkungeneingeschränkt, die im obigen Falle beidem berufstätigen Patienten nicht tole-rabel waren. Botulinumtoxin ist zwarnicht in der Lage, diese Spasmen völligzu unterdrücken, es lässt sich jedoch ei-ne Einschränkung des Bewegungseffek-tes erreichen, ohne dass damit relevanteNebenwirkungen verbunden sind.
Auch wenn es die Aufgabe kontrol-lierter Studien ist, die Wirksamkeit einerTherapie zu belegen und ein potenziel-les Gefahrenspektrum aufzuzeigen, ist esin der praktischen Spastiktherapie ent-scheidend, den funktionellen Status ex-akt zu analysieren und gemeinsam mitdem Patienten und am besten auch mitTherapeuten und Betreuern ein indivi-duelles Therapieziel zu definieren, aufdas hin ein möglicher Einsatz von Bo-tulinumtoxin A oder einer intrathekalenBaclofengabe überprüft werden muss[19]. Dieses wird sich weniger an reinfunktionellen Skalen wie etwa der Ash-worth-Skala oder Winkelgraden der Ge-lenkbeweglichkeit orientieren, sonderneinen tatsächlichen Gewinn an Funkti-on oder Wohlbefinden für den Patientenbzw. eine Einsparung an Pflegeaufwandfordern. Die individuellen Therapiezie-le waren bei den hier vorgestellten Pati-enten sehr unterschiedlich. Gemeinsamwar die Grundidee, dass durch die intra-thekale Baclofengabe der globale Tonusgesenkt wird, um die erforderlichen Do-sen von Botulinumtoxin so reduzierenzu können, dass gezielt auch proximaleMuskeln mit einer großen Muskelmassein einer therapeutischen Indikation be-handelt werden können und tatsächlicheine messbare Funktionsverbesserungfür die Patienten eintritt. Diese Thera-pieziele konnten bei den Patienten 1–3weitgehend,bei der letzten Patientin nurbedingt erreicht werden. Unserer Ein-schätzung nach war dies nur durch dieVerbindung der Vorteile beider Medika-mente unter gleichzeitiger Verminde-rung von unerwünschten Wirkungenmöglich.
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