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1. Ausgabe September 2010 OPTIMISMUS 05 RELIGION OHNE PERSPEKTIVE Wieso Religion Dreck am Stecken hat und wie man ihn wieder weg bringt. 10 URBI&ORBI Von Murmelifickern und 14er Trämmer. 16 OPTIMISMUS MAXIMUS Dahin siechende Ideologien, explodierende Bundesräte, Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt und und und. 1. AUSGABE

Optimismus - September 10

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Ist es zu optimistisch in der Zeitungskriese eine Printzeitschrift zu gründen? Lass es uns ausprobieren!

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Page 1: Optimismus - September 10

1. Ausgabe

September 2010

OPTIMISMUS

05RELIGION OHNE PERSPEKTIVEWieso Religion Dreck am Stecken hat und wie man ihn wieder weg bringt.

10URBI&ORBIVon Murmelifickern und 14er Trämmer.

16OPTIMISMUS MAXIMUSDahin siechende Ideologien, explodierende Bundesräte,Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt und und und. 1. AUSGABE

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1. Ausgabe, September 2010

2 Inhalt

EDITORIAL03Damit du da bist, wo deine Zeitung ist

REISEN28Trommeln im Hammam

KREATIVES22Das Gewissen23 Media Detour24Gute Nacht Sabrina

THEMENSEITE14Lohnt es sich, optimistisch zu sein?16Optimismus Maximus18Handkraft - Spiel mir das Lied des Lebens.20Das optimistische Kamel, verloren in der pädagogischen Wüste.

KULTUR10URBI & ORBI11Nordwärts - Eine filmische Reise durch dasBaltikum.13My Home Disappeard

HINTERGRUND04Abzocken! Die Abzocker-Schutz-Partei und ihre Ma-schen.05Wieso Religion keine Perspektive bietet.07AIDS und Elend im Land der Weltmeisterschaft.08iPhone - das neue Schwarz?

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1. Ausgabe, September 2010

RedaktionManuel Perriard, Simon Jacoby, Conradin Zellweger

Bremgartnerstrasse 66

8003 Zürich

TextH.J.F. | P.Z. | B.G.| Y.C. | M.R. | J.H. | M.S.| F.G.

S.G. | RG.&theS. | G. z. O. | N.H. | S.M. | J.A.H.

A.W. | D.H. | M.B. | J.W. | M.M.

Illustration/BildI.J. | J.M. | E.U. | M.H. | K.

FotoJ.H. | P.B.

TitelbildPeter Baracchi

LayoutPer Rjard

WebdesignTimo Beeler

DruckZDS Zeitungsdruck Schaffhausen AG

Auflage4000

Artikel [email protected]

[email protected]

Thema der nächsten AusgabeLe vent nous portera

Redaktionsschluss11.10.2010, 23.59 Uhr

Wir korrigieren nur orthografische und gramatikalische Fehler, der Rest ist Sache des Autors.

3Editorial

Impressum

Ein unbeschreibliches Gefühl ist es die erste Ausgabe der eigenen Zei-tung druckfrisch in den Händen zu halten. Zumindest in der Vorstellung. Das erste Editorial schreibe ich exakt neunundzwanzig Tage und zwei-hundertsiebenundsechzig Minuten bevor das dünne Papier in Schaffhau-sen durch die Walzen flitzt.

Ein Jubelschrei hallt durch Zürich. Auf diese Zeitung haben alle ge-wartet. «dieperspektive» birgt für alle die Möglickeit, direkt die Meinung zu posaunen. Ohne Zwischenstation. Du schreibst, wir publizieren. Die echteste Leserzeitung also. Aus dieser Optik ist «dieperspektive» die Zei-tung mit dem wohl grössten Arsenal an freien Journalisten und Journali-stinnen. Frisch und fründlich kommt «dieperspektive» daher, indem die Gelüste und sehnsüchtigsten Wünsche scheinbar von den Lippen abgele-sen werden.

Wir sind neu und unerfahren. So müssen wir nichts aus der Medien-welt übernehmen, das uns missfällt. Deshalb sind wir die wirklich neueste Zeitung.

Wir werden die Gemüter erregen, Geheimnisse verraten, Herzen ero-bern und Perspektiven bieten, bis aus jedem Winkel geschrieben, gefötelet und illustriert wurde. Das stimmt doch optimistisch.

Wir sagen uns vom Herkömmlichen los und packen die Chance beim Schopf. Nur aus dem Willen, Gutes zu tun; natürlich. Optimistisch stimmt ebenfalls, dass wir mit dem Prinzip der Leserzeitung den Zeitgeist mitten ins Gesicht treffen. Getippt, gepostet, gezwitschert und gesimst. Das stän-dige Mitteilungsbedürfnis unserer Gesellschaft und die wiederauflebende Schreibkultur bringen wir symbiotisch zurück auf das Zeitungspapier.

Simon JacobyPerspektivischer Redaktor

Damit du da bist, wo deine Zeitung ist.

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1. Ausgabe, September 2010Hintergrund4

Wir haben im Laufe dieser Sommersession beobachten kön-nen, wie im Bundeshaus eine neue Partei entstanden ist – die Abzocker-Schutz-Partei (ASchP), entstanden aus der Fusion von FDP, SVP und CVP. Die Abzocker-Schutz-Partei hat ein einziges Ziel: Sie will die Abzocker, Steuerhinterzieher und kriminell handelnden Akteure gewisser Banken unter po-litischen Schutz stellen. Sie will diesen Leuten ersparen, die Konsequenzen ihres verantwortungslosen und volkswirt-schaftlich schädlichen Verhaltens tragen zu müssen. Die Ab-zocker-Schutz-Partei ist bisher ausserordentlich erfolgreich gewesen:

Sie hat verhindert, dass vorsätzliche Steuerhinterziehung zur Straftat erklärt wird.

Sie hat die Anti-Abzocker-Initiative von Thomas Minder auf die lange Bank geschoben und dafür gesorgt, dass es vor den Wahlen 2011 keine Volksabstimmung darüber geben wird (die zum Beispiel den Ober-Abzocker Christoph Blocher in eine ungemütliche Situation gebracht hätte).

Sie hat verhindert, dass eine Parlamentarische Untersu-chungskommission (PUK) die ehemalige Konzernspitze der UBS durchleuchtet, die verantwortlich ist für den Mega-Scha-den, den der Staat Schweiz nun auszubaden hat.

Sie hat dafür gesorgt, dass es auf absehbare Zeit hinaus kei-ne Bonus-Steuer geben wird, obwohl alle wissen, dass die ex-zessiven Boni zu den wichtigsten Risiko-Treibern gehören, die zum Absturz der Investmentbanken führten.

Sie hat wirksame Massnahmen gegen das Grossbanken-Risiko abgelehnt, obwohl ein fixfertiger Gesetzestext der vom Bundesrat eingesetzten hochkarätigen Expertenkommission zur Verfügung stand.

Diese Puzzleteile fügen sich nahtlos zu einem stimmigen Bild: Die bürgerlichen Fraktionen wollen nach der grössten Finanz- und Wirtschaftskrise aller Zeiten rein gar nichts ändern. Sie wollen keine Konsequenzen ziehen. Sie wollen denen, die den ganzen Schlamassel angerichtet haben, weiterhin freie Hand lassen. Es ist diese Dominanz des Abzocker-Schutzes, die die SP dazu bewogen hat, den Staatsvertrag mit den USA in Sa-chen UBS nicht einfach bedingungslos zu akzeptieren.

Natürlich ist es richtig, dass mit dieser einmaligen Akti-on rückwirkend für 4500 mutmassliche amerikanische Steu-erhinterzieher das Bankgeheimnis aufgehoben werden soll. Aber es wäre eben mindestens so wichtig zu verhindern, dass die Grossbanken unser Land erneut in eine derart schwierige Lage bringen können. Darum wollten wir zwei wichtigen Risiko-Treibern den Riegel schieben durch die Einführung ei-ner Bonus-Steuer und durch Massnahmen zur Verminderung des Grossbanken-Risikos. Der Bundesrat hat das sehr wohl begriffen und deutlich zu verstehen gegeben, dass bald solche politische Entscheidungen gefällt werden müssen. Die ASchP hat es verhindert.

Die einzige echte Reform, die von beiden Räten beschlos-sen worden ist, versteckt sich in den zehn revidierten Doppel-besteuerungsabkommen. Sie bringt die Aufhebung des Bank-geheimnisses gegenüber ausländischen Steuerbehörden im Falle von vermuteter Steuerhinterziehung. Selbstverständlich wurzelt diese Reform nicht im freien Willen der Abzocker-Schutz-Partei. Sie ist das Resultat von massivem ausländischem Druck. Es brauchte die graue Liste der OECD und die mit ihr verbundene Androhung von wirtschaftlichen Sanktionen der Staatengemeinschaft gegen die Schweiz, bis der Bundesrat und die ASchP endlich ihren Widerstand aufgaben und eine Norm akzeptierten, die das Steuerhinterziehungsgeheimnis beseitigt.

Selbstverständlich hat die ASchP über diesen auslän-dischen Druck lautstark geklagt und gejammert, aber wir wis-sen ja seit dem Einmarsch der napoleonischen Truppen vor mehr als 200 Jahren, dass mancher Fortschritt hierzulande von aussen kam. •

ABZOCKEN!{Text} Hans-Jürg Fehr

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1. Ausgabe, September 2010Hintergrund 5

Gibt es einen Gott? Was geschieht mit mir, wenn ich das Zeitliche segne? Fragen über Fragen. Religion ist ein Thema, bei dem sich die Geister wohl bekanntlich scheiden. Meine Antwort auf religiöse Fragen im Allgemei-nen: Scheiss drauf! Ich bin Agnostiker und damit lässt es sich gut leben.

Allerdings bezieht sich mein Agnostizismus nur auf Fragen theolo-gischer Natur. In politischen Fragen der Religion, bin ich schon lange nicht mehr geneigt zu sagen: Scheiss drauf. Der Einfluss von Religionen auf die Legislative machte sich in der Schweiz zuletzt im November des letzten Jahres, in Form einer Volksabstimmung zur Minarett-Initiative bemerkbar. Für mich ein Sinnbild dafür, welche Perspektivlosigkeit Religion fördert. Ich möch-te damit keinesfalls behaupten, dass der Aus-gang der Wahlen ausschliesslich von religiösen Kräften orchestriert oder beeinflusst worden sei. Jedoch halte ich es für wichtig festzuhalten, dass es in dieser „Volksabstimmung“ um die immateriellen Sorgen der Bevölkerung ging. Dies stellt in der Politik eine Seltenheit dar, so sehr man sich auch wünschen mag, dass Menschen gemäss ihren Idealen ab-stimmen, so tun sie es meist gemäss ihres Portemonnaies. Bei Abstim-

mungen geht es meistens um materielle Sorgen. Nicht so in diesem Fall, nein, in diesem Fall ging es um die Angst vor islamischem Gedankengut, der von Unwissenden mit Terrorismus gleichgesetzt wird. Es ging darum, die Fronten abzuklären, die Grenzen in einem fiktiven Krieg der Werte zu ziehen. Was für ein ausgemachter Blödsinn! Was hat diese Initiative gebracht? Gar nichts (Bis auf jede Menge Fernsehauftritte von fanatischen Vollidioten, ob nun SVP oder muslimische Konservative)! Gäbe es nicht wichtigere Dinge zu besprechen oder wichtigere Probleme, für die es sich lohnen würde die Initiative zu ergreifen? Na mit Sicherheit! Aber

nein, wir mussten darüber entscheiden, ob es okay ist oder nicht, einen beschissenen Turm auf ein Gebäude zu bauen. Denn genau das ist es, ein Türmchen mehr nicht. Eins der funda-mentalsten Probleme, die ich mit Religion habe, ist, dass man irgendwelchen Dingen einen Wert

zuschreibt, die keinen besitzen. Wie gesagt einfach nur hirnrissig!Man beschäftigt sich mit Dingen, die einem einfach nichts nützen, Re-

ligion ist der Anti-Fortschritt, Stagnation, Perspektivlosigkeit, ein intel-lektueller Sumpf, eine fortlaufende kreisförmige Bewegung der

Wieso Religion keinePerspektive bietet.

Jede MengeFernsehauftritte vonfanatischen Vollidioten

{Text} Peter Zottl

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1. Ausgabe, September 2010

6 Hintergrundnicht. Schlimm an Religion ist, dass sie keinesfalls gewillt ist, soziale Kon-takte und Gemeinschaft ohne einen bestimmten Preis anzubieten. Ob es sich dabei nun um die Prostitution des eigenen Glaubens, der Aufgabe des eigenen Ichs oder wie im Falle von ICF, um einen konkreten Prozent-satz des Lohnes handelt, ist dabei irrelevant. Religion hat ihren Preis. Die Zuhälter nutzten die Urängste der Menschen aus und halten Antworten bereit, die nichts weiter sind als beruhigende, einlullende Lügen.

Ich bin weder ein Prophet noch ein Volksverhetzer, dennoch erscheint es mir wichtig, endlich klarzustellen, dass Toleranz gegenüber Religion in

jedweder Form kontraproduktiv ist. Man sollte sich nicht schlecht fühlen müssen, weil man die Religion einer Person kritisiert, denn Religion ist nichts Persönliches. Ich greife niemandes Glauben an, nur dessen Religion. Religion ist Verlust von Individualität und jeglicher Verlust von Individualität ist ein Schritt in Richtung Totalitarismus. Religion bietet keinerlei posi-tive Perspektiven für die Zukunft. Genau so wie

Eltern irgendwann aufhören, ihren Kindern Märchen vom Weihnachts-mann aufzubinden, müssen wir aufhören so zu tun, als ob Menschen, die an einen unsichtbaren Mann im Himmel glauben, der zu jeder Zeit über sie wacht, nicht zu einem ernsten Problem werden können, weil sie nun mal echt ne Schraube locker haben.

Ich meine, was würdet ihr von einem 30-Jährigen halten, der noch an den Weihnachtsmann glaubt? Versteht mich nicht falsch, ich sage ja nicht, ich weiss es besser, nein, diese Arroganz besitzen nur Vertreter bestimmter Religionen. Als Agnostiker behalte ich mir einfach nur das Recht vor, zu sagen: Ich habe keinen blassen Schimmer, ob da oben einer hockt und ehrlich gesagt, ist es mir egal. •

In seiner Rohform ist Glaube etwaspotenziell Gutes, wie eine Frau, ein Mann oder Sex.

{Illustration & Idee} Isabel Jakob

Der Mond

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Gedanken und am Ende ist man keinen Deut weiter. An diesem Punkt möchte ich hinzufügen, dass ich Religion keinesfalls gleichsetze mit Glau-be, nur verstehen das die meisten nicht.

Glaube ist eine Sache, Religion eine ganz, ganz andere. In seiner Roh-form ist Glaube etwas potenziell Gutes, wie eine Frau, ein Mann oder Sex. Religion wäre dann so etwas wie Prostitution, die Kirche und andere reli-giöse Institutionen deren Zuhälter. Es ist das älteste Geschäftsmodell der Welt, man nehme etwas Gutes, mache etwas Schlechtes daraus und das Re-sultat nenne man Profit. Menschen sehnen sich nach sozialen Kontakten, das haben wohl auch die aller ersten Zuhälter gemerkt, als sie das sogenannte älteste Gewerbe der Welt gründeten. Religion operiert auf genau derselben Ebene wie organisierte Prostitution, Kirchen und Kathedralen sind nichts weiter als überdimensionierte Bordelle. Menschen pro-stituieren ihren Glauben bereitwillig, mangels sozialer Kontakte, Bestes aktuelles Beispiel hierfür ist ICF. Nun mag man sich Fragen: Was ist so schlimm daran? Wenn sich diese Menschen dank ihrer Religion, in eine soziale Gemeinschaft eingebettet fühlen und sich subsequent besser fühlen, wer bin ich, das zu verurteilen? Die Antwort ist simpel: Es ist alles aufgebaut auf einer grossen, fetten Lüge! Wer glaubt, dass irgendeine Religion auf diesem Planeten Antworten auf die am Anfang dieses Arti-kels gestellten Fragen nach Gott und dem Leben nach dem Tod hat, liegt schlichtweg falsch. Es gibt diese Antworten nicht und jeder, der das Ge-genteil behauptet, ist ein Lügner. Niemand, den ich kenne, ist jemals von den Toten zurückgekehrt; kein anderer Mensch auf diesem Erdklumpen weiss mehr über Gott oder den Tod als DU und ICH, auch die Scharla-tane in ihren weissen Roben, mit ihren grossen beeindruckenden Hüten

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1. Ausgabe, September 2010

7Hintergrund

Mandeni /Neustadt:Während in Südafrika die Fußball-Weltmeisterschaft in vollem Gan-

ge war, berichtete der katholische Diakon Thomas Müller im Eine-Welt-Laden in Neustadt am Rübenberge bei Hannover von seinen Erfahrungen im Zusammenleben mit AIDS-kranken Kindern und Erwachsenen in Süd-afrika. Organisiert wurde der Vortrag von Marie-Theres Crone, die den Diakon aus Garbsen im Namen des gemeinnützigen Vereins „Asseitun - Werkstatt für die Welt“ eingeladen hatte.

Von 2005 bis 2008 hatte der Diakon im Zululand in Südafrika gelebt und in der Region kwaZulu-Natal, ungefähr 100 km nördlich von Durban, im Malteserorden Hilfsdienst geleistet. Südafrika – das Land der Fußball-Weltmeisterschaft. Ein Land, in dem viele Europäer jährlich ihren Urlaub verbringen. Ein Land mit hochmodernen Metropolen und einer atem-beraubenden Vielfalt an Landschaften, wie Wüsten, Regenwäldern, Tro-ckensavannen, Mittelgebirgen, fruchtbaren Tälern und zahllosen Traum-stränden. Aber auch ein Land des Elends, der Armut und einer tödlichen

Krankheit. „Man kann über Südafrika nicht reden, ohne auch über Aids zu reden.“, begann Müller seinen Vortrag. Das südliche Afrika ist die am stärksten betroffene Gegend der Welt. Allein in Südafrika sind nach staat-lichen Angaben 33% der Bevölkerung mit dem HI-Virus infiziert. In der Region kwaZulu-Natal sogar jeder Zweite. „Da stirbt ein ganzes Volk. Es gibt keine Familie, die nicht 10-15 AIDS-Tote zu beklagen hat.“, verriet Thomas Müller.

Der Diakon arbeitete im Blessed Gérard’s Care-Zentrum in Mande-ni, in welchem ein Hospiz und ein Kinderheim untergebracht sind. Zur Hauptaufgabe machte er sich die Betreuung der Kinder im Kinderheim, in welchem kranke, vernachlässigte, misshandelte, missbrauchte, unterer-nährte, ausgesetzte und verwaiste Kinder untergebracht sind. Fast alle von ihnen sind mit dem HI-Virus infiziert. Dennoch haben sie, nicht zuletzt durch die Arbeit der Freiwilligen aus dem Malteserorden, die Chance auf eine Zukunft.

Das Care-Zentrum verabreicht die notwendigen Medikamente, die das HI-Virus zwar nicht abtöten, aber zumindest in Schach halten können. Die Kinder lernen den Umgang mit ihrer Krankheit, aber auch sich auf ihr zukünftiges Leben vorzubereiten. Die Hauptaufgabe besteht darin, den

Kindern die Möglichkeit zu geben und ihnen einen Weg aufzuzeigen, wie sie trotz ihrer Krankheit nach dem Verlassen des Kinderheimes aus Al-tersgründen, ihren weiteren Lebensweg beschreiten können. Dafür ist eine gute Schulbildung unerlässlich. Von den knapp 49 Millionen Einwohnern Südafrikas haben 27 Millionen keine Schulbildung, obwohl seit Ende der Apartheid, Anfang der 1990er Jahre, eine Schulpflicht besteht.

In Afrika mangelt es im Schulwesen an allen Ecken und Enden. Es gibt viel zu wenig Lehrkräfte. „Wir brauchen eine afrikanische Lösung für Afrika.“, hofft Müller darauf, dass es schnellstmöglich mehr Zulu-Lehrer gibt. Immerhin gibt es im Care-Zentrum mittlerweile schon einen ge-lernten Zulu-Arzt und eine gelernte Zulu-Krankenschwester. „Wir gehen Schritt für Schritt“, betont der Diakon und zeigt auf, wie langwierig der Weg sein wird, ein umfassendes und funktionierendes Hilfssystem auf die Beine zu stellen. Damit dies gelingt, hofft Müller auch auf Hilfe aus seinem Heimatland. „In Deutschland und Europa ein Bewusstsein zu schaffen, ist genauso wichtig, wie vor Ort zu handeln“, lobte Müller die Arbeit des Vereins Asseitun, der sich für einen fairen Handel in der Welt einsetzt und damit zu Gerechtigkeit und Frieden beitragen will.

Diese Ziele und die Hilfe von Diakon Thomas Müller dürften ganz im Sinne des früheren Anti-Apartheid-Kämpfers und ersten farbigen Präsi-

denten in Südafrika, Nelson Mandela, sein, der einst sagte: „Einem Men-schen seine Menschenrechte verweigern, bedeutet, ihn in seiner Mensch-lichkeit zu missachten...“ Vielleicht konnte ja gerade ein solch großes Medienspektakel, wie die Fußball-Weltmeisterschaft mit ihrer Glanz- und Glitzerwelt dazu beitragen, dass die Welt ihre Augen auch ein wenig auf die bestehenden Schattenseiten in Südafrika wirft. •

„Da stirbt ein ganzes Volk. Es gibt keine Familie, die nicht 10 - 15 AIDS-Tote zu beklagen hat.“

Thomas Müller

AIDS und Elend imLand der Weltmeisterschaft

– für viele ein Tabuthema{Text} Benjamin Gleue

Thomas Müller mit einem Schüler während des Unterrichts.

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8 Hintergrund

iPhone - das neue Schwarz?{Text} Peter Zottl

{Illustration} Julia Marti

Anm.Dem geneigten Leser möchte ich versichern, dass dies keineswegs nur

ein weiterer Artikel, in einer langen Reihe von Artikeln, zum iPhone, dem Apple-Konzern, Marketingstrategien und Konsumentenverblödung ist, da mir bewusst ist, dass diese Themen in den Medien schon zu Genüge durchgekaut wurden. Obwohl ich nicht ganz umhin konnte, einige der erwähnten Gegenstände zumindest zu tangieren, will ich versuchen, dem

Leser neue Perspektiven im Angesicht der Materie zu eröffnen. Des Wei-teren muss ich vor dem sarkastischen Unterton warnen, den der geneigte Leser, hoffentlich, zwischen den Zeilen oder meist mitten auf den Zeilen, zu erkennen hat. Auch die paranoiden Befürchtungen, die der Autor gegen Ende des Artikels auszudrücken versucht, sind keinesfalls Ernst zu neh-men. Es sei denn, man möchte es.

Ah das iPhone! Ahs und Ohs, ich erinnere mich, als wäre es gestern ge-wesen; lauter Ausrufe der Verwunderung und des Staunens begleiteten das iPhone auf seinem Eroberungsfeldzug, quer durch die reichere He-misphäre.

Und was das Ding nicht alles kann! Sogar telefonieren kann man da-mit. Und wie es erst aussieht! Eingefasst in einen glänzenden Rahmen, aus Edelstahl, der gleichzeitig als Antenne fungiert, kommt das neue iPhone 4 mit seinen 9.3 Millimeter, übrigens 3 Millimeter dünner als das Vorgän-germodell, äusserst schlank daher. Vorder- und Rückseite sind zudem aus einem speziell versiegelten und somit besonders kratzfesten Sicherheits-glas. Zugegeben, das erklärt die ganze Aufregung noch nicht ganz. Als

anno dazumal das erste iPhone auf den Markt kam, begeisterte etwas an-deres die Massen. Apple erfand (oder liess ihn sich zumindest patentie-ren) den Multi-Touch. Halleluja! Der kapazitive Bildschirm oder auch Touchscreen, war eigentlich nichts Neues; neu war allerdings die Art der Bedienung. Der Touchscreen des iPhones sass unter einer Abdeckung aus optischem Glas und war in der Lage, bis zu zwölf Berührungsimpulse gleichzeitig zu verarbeiten. Die Bedienung erfolgte ausschliesslich durch einfache Bewegungen der Finger über die grafische Benutzeroberfläche.

Diese unkomplizierte, intuitive, neue Bedienungsart, durch die den Nutzern locker von der Hand oder in diesem Fall vom Finger ging, war sicherlich mitverantwortlich für den grandiosen Erfolg des iPhones. Nebst

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1. Ausgabe, September 2010

9Hintergrund

der innovativen Bedienung sorgten zahlreiche Sensoren im Innern des Geräts dafür, dass man aus dem Staunen nicht mehr raus kam. Diese Sen-soren teilten dem iPhone beispielsweise mit, ob es gerade gekippt wurde (dank Drei-Achs-Beschleunigungssensor) oder ob es vertikal oder hori-zontal gehalten wird, was für Lichtverhältnisse draussen herrschen und ob es gerade ans Ohr gehalten wird.

Dieses iPhone, fast schon schien es, als sei es intelligent, sicher intel-ligenter als manch einer der Besitzer. Habe ich bereits erwähnt, dass man damit sogar telefonieren kann? Um gleich von Anfang an etwas klarzu-stellen: nein, ich besitze kein iPhone. Dennoch war es selbst mir nicht möglich, mich dem Phänomen des iPhones gänzlich zu entziehen (und ich bin ein ziemlicher Technikmuffel), scheisse. Dazu müsste man nun wirklich hinter dem Mond leben.

Ich muss einräumen, dass auch ich anfangs durchaus bereit war, mass-lose Begeisterung für dieses Wunder der Technik (oder doch des Marke-tings?) an den Tag zu legen. Das fast schon überirdische Gespür des Apple CEO Steve Jobs für die Bedürfnisse der breiten Massen, für den genius saeculi, den Zeitgeist , erweist sich, wie schon beim iPod, als Erfolgsga-rant. Es ist dieser Zeitgeist, auf den ich zu sprechen kommen möchte. Zeitgeist versucht die Denk- und Fühlweise eines Zeitalters zu beschrei-ben.

In unserer westlichen Konsumgesellschaft scheint sich ein Zeitgeist der Mobilität und Aktualität so wie der zu-jeder- Zeit-erreichbar in ex-tremis etabliert zu haben. Schneller, besser, digital. Das iPhone ist das ultimative Kind dieses Zeitgeistes. Ausserdem scheint eine Form von akzeptierter Oberfläch-lichkeit und Banalität der Inhalte damit einher-zugehen, dass ich jederzeit in der Lage bin mich aller Welt mitzuteilen. Apple erfindet im Sinne dieses Zeitgeistes; Geräte oder Produkte, die zwar schlicht aussehen und einfach zu bedienen sind, aber einen perfiden Sog auf die Nutzer ausüben, durch den sie tiefer und tiefer in die digitale Welt hineingeraten. Susanne Beyer verglich das iPhone in ihrem Artikel „Leben im Stand-by-Modus“ , erschienen im SPIEGEL 19/7/2010, mit dem Mitte der 90er Jahren äusserst populären Tamagotchi Spielzeug.

Das iPhone verhungert zwar nicht, wenn man sich nicht mit ihm beschäftigt, aber es fordert den Nutzer, weil es immer noch besser wer-den kann. Immer bessere Upgrades, unzählige Apps, nützliche wie auch unnützliche, ziehen einem hinab in die digitale Apple-Welt, in der Steve Jobs von seiner Kanzel an der Macworld Conference & Expo das Apple-Evangelium unter die treue Gefolgschaft seiner Apple-Community bringt. Amen! Tausende hirnlose Zombies stehen beim Verkaufstart des iPhones 4 vor den Applestores Schlange, um eines der begehrten Geräte zu ergattern!

Durch einen genialen Marketing-Schachzug macht Apple die hung-rige Konsumentenmeute noch iPhone-geiler und lässt verlauten, dass man mit einem solchen Ansturm nicht gerechnet hatte. Von wegen. Die Geräte seien nur noch in limitierter Stückzahl erhältlich. Alles, was zwei Beine und nur ein halbes Hirn hatte, stürmte daraufhin die Applestores

und seltsamerweise reichte es dann doch für Jeden.Ohnehin ist der Apple Konzern ein Meister darin, dem Kunden den drei Tage alten Fisch als frisch zu verkaufen. Sie stecken den Fisch einfach in ein Hühnchenko-stüm. Wie beim iPod war auch die Technologie für das iPhone schon seit einer Weile verfügbar. Sogenannte Smartphones gab es schon rund 3Jahre vor dem ersten iPhone. Doch ich schweife ab, lasst uns zurück zum The-ma Zeitgeist kommen.

1876 erfand der Schotte Alexander Graham Bell das Telefon, oder liess sich die Erfindung zumindest patentieren. Tatsächlich basierte die Kon-struktion auf den Unterlagen des Italieners Antonio Meucci. Das Telefon erlaubte es den Menschen, nun über weite Distanzen hinweg miteinander zu kommunizieren. Die Erfindung des Telefons entsprach dem damaligen Zeitgeist. Es war eine Zeit des Aufbruchs, der Industrialisierung, der Wis-senschaft, der Nationalstaaten, des Imperialismus und Kommunikation über weite Distanzen wurde zwecks Organisation zu einer imperativen Notwendigkeit.

1946/1947 schrieb George Orwell an den Küsten Schottlands den Roman „1984“, in dem es um die Angst, die Antiutopie eines totalitären Überwachungs- und Präventionsstaates ging. Auch Orwells Roman stellt eine Art Spiegel des damaligen Zeitgeistes dar. Der Grund, weshalb ich gerade diese beiden Beispiele zum Thema Zeitgeist als erwähnenswert er-achtet habe ist folgender:

Die geistigen Produkte, die aufgrund des zu dem Zeitpunkt ihrer Erfindung oder Fertigstellung vorherrschenden Zeitgeistes zustande

kommen, sind einerseits beeinflusst durch den Zeitgeist selbst, nehmen aber gleichzeitig eine avantgardistische, eine Vorreiterrolle ein. Das Telefon ermöglichte erst die Handys und iPho-nes, Orwells Vorstellung des Überwachungs-staates realisierte sich zumindest teilweise in

verschiedenen Formen, unter anderem in der DDR.Womit ich nun hadere und was ich auch in Perspektive zu setzen versuche, ist, wie schal und hohl mir das iPhone als Kind des heutigen Zeitgeistes erscheint. Ich sehe darin keinerlei Substanz. Wenn überhaupt, dann sehe ich einige beunruhi-gende Elemente und Vorboten (wie z. B. Standortbestimmung mittels A-GPS, platzierte Werbung aufgrund von persönlicher Nutzerinformation usw.), bei denen sich Orwell im Grab umdrehen würde.

Das iPhone ist ein clever vermarktetes Produkt, ein stylisches Ac-cessoire, ein Gadget, ein Alleskönner, ein Spielzeug für Erwachsene, die sich wie kleine Kinder fühlen und freuen, wenn sie es benutzen (mich eingeschlossen). Es ist Sinnbild einer prätentiösen, reichen, infantilen Ge-sellschaft, in der alles möglichst schnell gehen soll und der Bedarf an Ab-lenkung gross ist; in der die Leute aufgehört haben sich zu fragen, warum etwas funktioniert und sich damit begnügen, das es funktioniert.

Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der wir kaum noch Freizeit haben. Unsere Zeit wird derart von unseren Facebook- und Twitterac-counts in Anspruch genommen, dass wir beizeiten regelrecht vergessen, uns die neueste Version der Evernote-Application im App-store runter-zuladen. •

Es ist Sinnbild einerprätentiösen, reichen, infantilen Gesellschaft.

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1. Ausgabe, September 2010

10 Kultur

Als ich vor 8 Jahren aus dem Ostblock nach Züri gezogen wurde, war das manchmal schon ein kleines Abenteuer. Ich konnte das 14er nur schwer vom 4er Tram unterscheiden, und bemerkte das manchmal erst an der Endstation. Zwischen Züri-Seebach und Bahnhof Tiefenbrunnen liegen Welten! Die Bezeichnung Murmelificker kannte ich auch noch nicht, aber mit der Zeit empfindet man es als Kompliment. Auch weil es wahrscheinlich einfacher ist ein Murmeltier, als eine heisse Katze, zu vögeln. Egal… Deinemeine Stadt ist auch meine-deine Stadt, also unser Züri.

Meine persönliche Affinität zu Züri ist nicht nur der Zoo, wo man Tiger, Elefanten, Pinguine, Nashörner, Zoowärter/innen, Schlangen, Ponys, Ziegen, Hirsche, Bambis, Eltern mit ihren Knirpsen, Affen, Zürcher, Löwen, Wölfe, Zebras, Tou-risten, Kamele und sonstige Wesen aus Fauna und Zivilisation beobachten kann, sondern auch die Vielfalt und die daraus re-

sultierenden Kontraste. Züri ist Liebenswert, trotz oder gar wegen der dort heimischen Spezies. Sie sind laut, leise, arro-gant, blöd wie Brot, sexy, Raucher, Nichtraucher, Ex-Raucher, fett, gestresst, clever und freundlich. Züri ist ein wundervolles Fresko. Also…Wieso gopfertami haben also Papa Staat und Mama Kanton mit ihren Hampelmänner/innen und Lakaien nichts Besseres zu tun, als dieses Fresko mit ihrer roten, grünen und braunen Scheisse zu verschmieren? Dort ein Versprechen, hier ein Verbot…. Dörfs bizli meh sii? NEIN VERDAMMT! Sie pfuschen an der Gravitation. Man pfuscht aber nicht an der Gravitation! Man spürt sie und hört ihr zu. Sonst bringt man Urbi und Orbi nur durcheinander…

Murmeltiere gibt’s im Zoo übrigens auch. Bisher kam ich aber noch nicht in Versuchung mich an ihnen zu vergehen. Und wer dort mal hin will steigt am besten ins 6er Tram bis Endstation. Hiermit gebe ich Züri meinen Segen. Amen. •

URBI & ORBI

{Text} Yves Champion

Der Autor bewirbt sich als Stadtpabst und entschuldigt sich im vornherein für das folgende, grammatikalische Fiasko, allfällige Blasphemie und Sonstiges, welches er dem Leser zumutet. Es ist ein Resultat aus der Liebe zu Züri, Geselligkeit am Tresen und aus Phobie von der Schulbank.

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In Garzettis Gedichten steckt eine po-etische Kraft, die von einer dunklen Romantik herrührt, die sich am nüch-ternen Realismus reibt. Er setzt beim Verlust an und schickt das lyrische Ich auf die Suche nach gestohlenen Wör-tern.

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Das im Moment Erfahrene wird ein-gefärbt und überblendet durch Erin-nerungen. Svenja Herrmann entdeckt Orte, wo Innen- und Außenräume in-einander verschmelzen, wo Worte sich im Karussell drehen und neue Wurzeln schlagen.

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Page 11: Optimismus - September 10

1. Ausgabe, September 2010

11Kultur

Für den Spielfilm ‚Nordwärts’ begaben sich die Darsteller sowie die gesamte Crew nur mit dem Fahrrad auf eine Reise durch die Baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Das ge-samte Filmequipment musste auf Anhänger mittransportiert, die Drehorte, Statisten und Requisiten direkt vor Ort organisiert werden. Das Interessante an einem solch einzigartigen Projekt war die Herausforderung, einen Film zu drehen ohne genau zu wissen was einen er-wartet, hineinzutauchen in eine fremde Kultur und das Arbeiten in einer fremden Umgebung. Nebenbei mussten wir pro Drehtag eine Strecke von ca. 50 km meistern.

Die genaue Route und das nächste Tagesziel mussten zudem von Tag zu Tag neu geplant wer-den. Durch diese 1:1 Situation hat der Spielfilm einen dokumentarisch-realistischen Charakter bekommen und liess uns während dem Dreh viel Raum für Improvisation. Der «Rote Faden» lieferte aber trotzdem ein 90-seitiges Drehbuch.

Dienstag, 11. August:Es herrschte Wetter, wie man eine Stadt ger-

ne entdecken möchte. Azurblauer Himmel, die vereinzelten weissen Wolken wie hingemalt, es leuchtete in anderen Farben als gewohnt: ocker-braune Häuser, senfgelbe Busse, türkisfarbene Giebelungen. Unsere erste grenzüberschrei-tende Erfahrung war dann der Dreh in einem Hinterhof, bei dem uns die Fronten der Armut trafen. Mit der Zeit wurde uns mit der teuren Kamerausrüstung dann doch etwas unwohl.

Donnerstag, 13. August:Im Lauf des Tages die Abfahrt vom Hotel.

Erster Halt: Ein Einkaufszentrum. Dies schien von aussen unscheinbar, eröffnete uns beim Be-treten aber das Tor zu einer anderen Welt. Von

den verwahrlosten Hochhäuserkomplexen gab es einen radikalen Wechsel zur Welt der Luxus-güter. Später war noch die erste längere Velo-strecke an der Reihe. Nach gut 5 Kilometern der erste platte Reifen. Bald darauf erfolgte unser nächster Zwischenhalt und gleichzeitige Dre-hort: Der Berg der Kreuze. Darauf steckten oder hingen gut eine Million Jesuskreuze!

Jessica Hefti - Aufnahmeleitung

Freitag, 14. August:Es ist meine erste längere Pause zwischen all

dem Radeln und Schauspielern. Hinter mir kann ich das sanfte Möwengekreisch wahrnehmen, welches in mir das Gefühl auslöst, endlich am Meer angekommen zu sein. Gegen die Land-schaft Litauens ist sicher nichts auszusetzen, doch hatte ich Mühe, mit der Kluft zwischen reich und arm klarzukommen. Auch war es nicht ganz einfach, als aufgestellte Film-Crew gegen die, ich würde fast sagen, düsteren und hoffnungslosen Gemüter, anzukommen. Des-halb ist es auch einleuchtend, weshalb wir alle überglücklich waren, als wir mit dem Zug davon

fuhren, unsere Köpfe aus dem Zugfenster ragten und die Gedanken ganz der Natur gewidmet waren - zumindest meine.

Weite Felder von ungeschnittenem Gras dehnten sich vor unseren Augen aus. Immer wieder verschwand die sinkende Sonne hinter den Fichtenwäldern. Ja, der Sonnenuntergang war gelungen, unsere Gemüter geheilt

‚Nordwärts’Eine filmische Reise durch

das Baltikum.

{Text} Max Reho | Jessica Hefti | Maximilian Speidel | Flavio Gerber | Silvio Gerber

«Velofahre isch wie Gras usBsezistei rupfe - so huere medidativ. Da machsch dr voll die Gedanke, aber spötr chasch di a nüt meh erinnere...»

Maximilian Speidel

SynOPSISSven, Lena, Valerie und Tim haben eigentlich nichts gemeinsam und führen grundverschiedene Leben. Doch alle vier wollen ihrem Alltag entflie-hen und lernen sich durch einen Zufall kennen. So kommt es, dass sie sich gemeinsam auf eine spon-tane Reise durch die Baltischen Staaten begeben.

Mit gestohlenen Fahrrädern machen sie sich auf durch Litauen, Lettland und Estland. Erst mit der Zeit wird ihnen bewusst worauf sie sich eingelas-sen haben: Auf fremde Menschen angewiesen zu sein, denen man nicht vertrauen kann. Was zuerst nach Spass und Abwechslung ausgesehen hat, wird bald schon Realität.

Die vier muüssen feststellen, dass ein Abenteuer ins Ungewisse nicht vor Langeweile bewahrt. Ohne Plan fahren sie weiter nordwärts Richtung Tallinn, auf der Suche nach Ablenkung, Zugehö-rigkeit und ein bisschen Glück.

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1. Ausgabe, September 2010

12 Kulturaus und fuhren nach Limbazi. Die Schuhe haben heute noch feuchte Stellen. Dort angekommen, fanden wir eine sportliche Herberge am See, wo wir zwei Ruderboote mieteten.

Jessica Hefti - Aufnahmeleitung

Samstag, 22. August:Die Architektur der Häuser hat einen skan-

dinavischen Touch und nicht zuletzt ist hier die Stimmung um einiges frischer als in Lettland oder Litauen.

Die Route nach Pärnu betrug ziemlich genau 70 Kilometer, welche wir stolz und fast ohne Zwischenfall mit gut 27 km/h fuhren. Aber ja, eben nur fast ohne Zwischenfall: Schon nach den ersten 500 Metern nahm ich ein lautes CHHHHHHHHRrrrrrrr wahr und jemand rief lauthals „Stop“! Mit Schrecken musste ich feststellen, dass sich das Rad meines Anhän-gers selbstständig gemacht hatte und während der Fahrt den Anderen entgegenrollte. Gut, das war noch witzig. Als ich auf der Hauptstrasse ein weiteres „Stop!“ vernahm und mich darauf-hin umdrehte, sah ich zwei Fahrräder mitten in der Strasse und nicht weit davon entfernt un-seren Kameramann liegen. Zum Glück kam er nur mit Schürfungen davon. Anscheinend hatte sich das Windschattenfahren nicht so bewährt und so fuhren wir von da an mit zwei Sekunden Abstand und erreichten auch so relativ schnell unser Ziel.

Maximilian Speidel - Rolle des Tim

Samstag, 29. August, 15:15 Uhr:Die Dreharbeiten im Baltikum sind abge-

schlossen. Nun haben wir nach 20 Tagen, ca. 250 Arbeitsstunden pro Crewmitglied, 100 verschie-denen Drehorten, dutzenden Eindrücken von Ländern und Leuten, 2 platten Reifen, ein paar 100 Kilometer auf dem Fahrrad, und minde-stens 400 „Actions“ und „Cuts“ unser Bier und Abendessen besonders verdient. Lasst uns feiern bevor wir morgen mit Sack und Pack bzw. mit Saccoschen und Fahrräder wieder in die Schweiz zurückkehren.

Flavio und Silvio Gerber - Produzent und Regisseur

Alle Blogeinträge können unter

www.operationbaltikum.blogspot.com nachgelesen werden.

Weitere Informationen sowie der Trailer und ein Making Of

sind auch unter www.nordwaerts-derfilm.ch zu finden.

da, Spanisch hier, sie lässt sich nicht kategorisie-ren und ihr fehlt der eigene Charakter wie ihn beispielsweise Vilnius hat. Sie ist lebendig, die Leute lachen mehr, sind herzlicher, ja teils Bit-ten werden geradewegs übernatürlich hilfsbereit behandelt. Doch das kommt uns und dem Film zu Gute. Wir bekommen Drehbewilligungen, gestern Abend schon beim ersten angesteuerten Nachtclub. Mit der grossen Kamera und auffal-lend mehr Gepäck bewegten wir uns zwischen der feiernden Meute. Wir filmten, wir tanzten, wir tranken und einer liess es sich sogar nicht nehmen, sich absichtlich zu übergeben. Was tut man denn nicht alles für eine gute Szene.

Donnerstag, 20. August:Es war ein Dienstag, als uns Petrus zeigen

wollte, was er so konnte. Es regnete, so dass man Angst haben musste, plötzlich mehr Konsi-stenz an Wasser auf sich zu haben, als es an Erde unter den Rädern gab. Kalt und nass und weit und breit kein Restaurant. Es war in Ledurga in einem Gemeindezentrum, wo man uns warmen Kaffee kochte. Durchgeweicht bis auf die Unter-hosen rüsteten wir uns nochmals wassertauglich

und erlöst von den Bildern der herabziehenden Gesichter. Nun waren wir bereit für das nächste Abenteuer. Das Möwengekreisch ist verstummt, der Laptop hat kein Akku mehr, ich glaube ich muss mal los!

Maximilian Speidel- Rolle des Tim

Samstag, 15. August:Riga. Diese Stadt, eine Metropole. Sie ist

an der Grenze von mehr westlichem statt öst-lichem Flair. Von allem ein wenig, Italienisch

«Und bei dieser Szene dachte ichverdammt, du hockst auf Mövenscheisse und wirst mit Möhren beschossen! »

Petra Auer

Kurze Verschnaufpause.

Fahrradfahren und am Links und Rechts lugen.

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1. Ausgabe, September 2010

13Kultur

My Home Disappeard{Text | Melodie} RG & the Silhouettes

And when I walked down the street the other dayI turned around the corner and freezed from disbelieveMy home just disappeared Only the walls were standing no furniture insideAnd the air just wasn’t the same anymoreA feeling had gone awaySomeone once told meIt’s got to be that wayBut I never believed him and laughed at what he said

Even the sky now looks different to meMore clouds flying by

And every evening when I look out of my Window I see nothing but the nightThat big black sheet Covering all lifeForce it to slow down and take a little break

The world won’t stop turning Just because you walked awayI still have to do some learningTo operate straight

And now that you’re gone it just don’t feel the sameAnd every day I have to look awayWhen your pillow cross my eyesThe one you left behind Because it fit so niceThe bed you slept in

My home just disappeared Disappeared in the night

www.myspace.com/rgandthesilhouettes

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1. Ausgabe, September 2010

14 Optimismuserwache wieder, diesmal schweissgebadet. Fünf Minuten später. Mein Kopf fühlt sich innerlich leblos an. Langsam wieder einnickend überlege ich mir, nicht doch aufzustehen. Ich stelle den Wecker aus.

Den kleinen grauen Rucksack fülle ich mit einem Handtuch, einem Paar Hallenschuhe, dem Hausschlüssel und dem Portemonnaie. Ins vordere Fach lege ich das dicke Schloss. Mir hat einmal jemand gesagt, dass Sport am Morgen den besten oder den optimalen Start in den Tag ermöglicht. Ich schwinge den grauen Rucksack über die Schulter und erklimme mit einer halben Banane in der Hand und der anderen Hälfte im Mund den nahen Hügel.

Wieder meldet sich mein linker Lungenflü-gel. Kurz wird mir schwindelig. Ich fühle mich angeschlagen, gebrechlich, verwundbar. Angst-schweiss auf der Stirn. Ich schlucke leer, was ein ungutes Gefühl bezüglich meines Halses aus-löst. Nach kurzer Reflexion entscheide ich mich, auf meinen Körper zu hören.

Mein Körper sagt mir, dass ich gewisse Dinge in meinem Alltag ändern sollte. „Wegen

Ich wache auf, es ist Dienstagmorgen. In mei-ner Brust verspüre ich einen beängstigend ste-chenden Schmerz. Mein Rachen hat wahrge-nommen viele offene Wunden. Nach einem kurzen Blick auf mein Mobiltelefon weiss ich, es ist sieben Uhr. Das Atmen fällt mir schwer. Ich

Lohnt es sich,optimistisch zu sein?

{Text} Graf zu Orsini

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1. Ausgabe, September 2010

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15Optimismuseines Wasserschadens bleibt die Sportanlage bis auf weiteres geschlossen. Die frei zugänglichen Sportplätze sind benützbar.“ Ich schlendere langsam heimwärts. Nehme die Sonne um neun wahr. Versuche, die Situation zu geniessen. Habe ich jetzt eine halbe Stunde verloren?

Soll ich joggen gehen? ,Es kommt nicht da-rauf an, was du im Moment machst, du machst es gut.’ Hat mir einst ein Freund zu später Stunde ins Ohr geflüstert. Mein unruhiger Puls schlägt, wie ein erschrockenes Pferd mit seinen Hinter-

„In der Migros istParmigiano reggianoAktion“

SPRINGEN SIE IHRERKUNDSCHAFT MIT WERBUNGINS GESICHT!

hufen, von innen an meine Schädelvorderseite. Es ist schön zu laufen. Wenn ich die Runde flus-sabwärts laufe, merke ich, wie die verschiedenen Passanten, seien es solche mit Hunden, auf dem Velo oder in hellblauen Leggins, gewillt sind, zu kommunizieren.

Renne ich flussaufwärts grüsst mich nie-mand. Aufgrund der letzten Unwetter ist das

Wasser des Flusses hellbraun und mit vielen Ästen und Blättern durchdrungen. Für mich ge-hört der abschliessende Sprung ins erfrischende Nass schlichtweg dazu. „Pfefferkörner, und Bürschteli zum Abwäsche, und Sirup bruche-mer au no.“

Ich habe mich den ganzen Morgen auf die Pasta gefreut. In der Migros ist Parmigiano reg-giano Aktion. Ich kaufe gleich zwei Brocken. Schnittlauch und Petersilie kaufe ich frisch, Ore-gano zu verarbeiten dünkt mich zu anstrengend, getrocknet haben wir ihn noch. Das Joggen hat mir gut getan. Das Atmen fällt mir leichter. Mein Kopf schwebt beinah schon. Die Bürstchen nicht vergessen und ‚Scheisse’, die Haushaltfüh-renden sind um diese Zeit vor der Kasse.

Ich schaue gerne fern zum Essen. Hm, Ge-hacktes mit frischen Kräutern und Chilli. Es ist mir doch ein wenig scharf geworden. Mein verwundeter Rachen meldet sich, doch ist mein Hunger stärker und nachher auch die Lust. Die-se Folge habe ich schon gesehen.

Die Zigarette nach dem Essen ist die Beste. Vielleicht morgen wieder. •

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1. Ausgabe, September 2010

16 Optimismus

Schlagzeile um Schlagzeile und nichts als schlechte Nachrichten. Die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko nimmt kein Ende, die ausge-klügeltsten Lösungsstrategien scheitern, es fehlt nicht mehr viel, bis auch der Präsident der Verei-nigten Staaten mit der weissen Fahne winkt und sich geschlagen gibt. Es bleibt wohl wirklich nichts anderes übrig als abzuwarten, bis der letz-te Tropfen Öl aus dem Bohrloch entwichen ist und den Ozean mitsamt seinen Bewohnern rest-los vergiftet und getötet hat. Schöne Aussichten! Da erscheint es einem ziemlich belanglos, dass Frankreich erneut in eine Regierungskrise ge-schlittert ist oder Italiens Ministerpräsident mal wieder zu seinen persönlichen Gunsten kurzer-hand und ungestört ein Gesetz gestrichen hat.

Doch nicht nur der Rest der Welt kann sich vor Hiobsbotschaften kaum retten, auch die Schweiz steht in keinem guten Licht. Aussen-politisch lassen wir uns von dem dreikäsehohen Wüstenprinzen Ghadaffi an der Nase herum-führen, in sämtlichen EU-Angelegenheiten wol-len wir die Extrawurst haben und in Strassburg

schaffen wir es mit einer Initiative, die Religi-onsfreiheit und Menschenrechte verletzt, sogar bis vor den höchsten Gerichtshof. Na bravo!

Ach ja, und dann wäre da noch die WM im winterlichen Südafrika, wo arme Afrikaner in Schal und Mütze im Stadion Eis verkaufen müs-sen. Ob auch die FIFA hinter dieser glorreichen Idee steckt? Aber diese WM braucht man ja eigentlich gar nicht erst zu erwähnen… war ja absehbar, dass wir es noch nicht einmal ins Ach-telfinale schaffen würden!Das einzig Aufmunternde heutzutage sind die-jenigen Meldungen, die verlauten lassen, dass es

am Wochenende nicht regnen wird, oder dass der Bundesrat gemeinsam ein Bild gemalt hat, um zu zeigen, dass sie eben doch ein bärenstarkes Team sind. Im Grossen und Ganzen herrscht Weltun-

tergangstimmung, von Sommergefühlen nichts zu spüren. Wie denn auch, man hat sowieso kein Geld, um in die Ferien zu fahren - Stichwort Wirtschaftskrise. Ausserdem muss man als Stu-dierende in den Semesterferien arbeiten, wenn man später überhaupt eine praktische Erfahrung im Lebenslauf vermerkt haben will.

Für den Arbeitsweg wartet man jeden Tag auf den Zug. Schon wenn sich die Zugtüren schnaubend öffnen, schlägt einem die heisse Luft entgegen, und wenn sie sich hinter einem wieder schliessen, würde man am Liebsten tot umfallen. Bei so vielen Menschen scheint der vorhandene Sauerstoff nicht auszureichen. An Lüftungen oder Klimaanlagen hat offensicht-lich niemand gedacht, als sie die Züge gebaut haben. Wenn man Glück hat, lassen sich die Fenster einen Spalt weit öffnen und etwas hei-sse Luft zirkuliert über den roten Köpfen der Menschenmassen. Willkommen in der Steinzeit! Tja, das sind dann wohl die Folgen des berühmt berüchtigten Klimawandels und zu allem Übel tragen wir die Schuld auch noch selber. Von Er-

„Im Grossen und Ganzen herrscht Weltuntergangs-stimmung.“

Optimismus Maximus{Text} Nadjavmh

{Foto} Janic Halioua

Page 17: Optimismus - September 10

1. Ausgabe, September 2010

17Optimismusholung also keine Spur und in zwei Monaten ist der Sommer wieder vorbei und man läuft wieder dem alltäglichen Trott hinterher. So vergeht Mo-nat um Monat, Jahr um Jahr und die von allen hoch gepriesene Jugend vergeht, ohne dass man davon hätte profitieren können. Der Sommer ist endlich da! Die Stadt lebt wieder und man trifft sich am See oder zum gemeinsamen Grillen. Lo-cker schwingt man sich auf einen Drahtesel und flitzt durch enge Gassen und versteckten Win-

kel, vorbei an den im Stau stehenden Autos, mo-bil und glücklich. Morgens wird man von den Sonnenstrahlen geweckt, die durch die Fenster-läden blinzeln.

Die Luft riecht nach saftigen Wiesen und duftenden Blumen, gegen Mittag wird sie drü-ckend und heiss. Dann die Sommerstille des frühen Nachmittags, in der kein Kind ruft, kein Hund bellt und kein Wind weht.

Bald hört man sie aber wieder, die Streite-reien der Kinder, ein Fussball, der gegen den Gartenzaun knallt und irgendwo dröhnt Musik aus einem Fenster. Abends zieht ein Sommer-gewitter auf und hinterlässt den unverwechsel-

baren Geruch von heissem, nassem Asphalt.Die Prüfungen sind vorbei, die Ferien stehen

vor der Tür und die Freiheit erscheint grenzen-los und zum Greifen nahe. Ach und die WM in Südafrika ist eigentlich gar nicht so übel, ganz im Gegenteil, es ist beeindruckend wie der trivialste und älteste aller Ballsportarten Länder vereinen und Gemeinschaftsgefühle aufleben lassen kann. In Zeiten, in denen Politiker ihre Vorbildsfunk-tion vergessen und lieber gegeneinander als mit-einander agieren, sind solche Anlässe wichtig.

Liebe Freunde der Erde, die braune Wolke im Golf von Mexiko ist erstmals seit der Kata-strophe vor drei Monaten verschwunden! Nach zahlreichen Versuchen konnte man das defekte Bohrloch schliessen und die Zeit wird zeigen, ob die Einrichtung dem Öldruck dauerhaft stand-hält. In Afrika hat die Anzahl der HIV Infi-zierten abgenommen und die Lebenserwartung der Menschheit nimmt konstant zu.

Es läuft vieles falsch in dieser Welt, aber es hilft niemandem, wenn wir den Kopf in den Sand stecken und das Handtuch schmeissen. Wir haben alle einen Tod zu sterben, aber wich-tiger noch ein Leben zu leben. Dazu müssen wir das Zeitliche segnen und nach Unsterblichkeit streben. Nein, keine Revolution wie Che Gu-evara sie uns gezeigt hat und ich spreche auch nicht von Weltfrieden. Das Leben ist nun mal nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen. Es wird

immer Höhen und Tiefen geben, aber ein biss-chen idealistisches Gedankengut gehört dazu. Wir dürfen nicht aufhören, an das Gute zu glau-ben. Ich spreche von OPTIMISMUS. Laut Wi-kipedia früher definiert als „der Glaube, in der besten aller möglichen Welten zu leben“. Gros-se Worte, die heute zum „Glauben an ein gutes Ende“ mutiert sind.

Liebe LESER-INNEN, man kann die Kasset-te in den Rekorder legen wie man will, Seite A oder Seite B. Optimismus ist kein Zustand, sondern eine Einstellung, die von jedem selbst gewählt werden kann. Was wir angesichts der vielen Krisen und Tiefen im Leben nicht verlie-ren dürfen, ist den Blick nach vorn. Es gibt kein Patentrezept zur Lösung aller Probleme, aber ein Prinzip. Das Prinzip heisst Hoffnung. •

„Optimismus ist kein Zu-stand, sondern eine Einstel-lung.“

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1. Ausgabe, September 2010

18 Optimismus

Meine beiden Hände liegen auf dem Holzgeländer. Ich bin konzentriert , atme achtsam, bin mir meinem Vorhaben bewusst und im Klaren. Hinter dieser Holzleiste geht es 33 Meter senkrecht zu Boden. Die Überdachung ragt mehr als einen Meter über die Geländergrenze hinaus. In mir ist das Verlangen darüber zu klettern, mich an jenen dicken Balken frei und weit über dem Boden hängen zu lassen. Ich stehe auf dem Loorenkopf Aus-sichtsturm in Witikon. Einmal schon hing ich mit Genuss hier, testete mein Selbstvertrauen.

Ich spiele nicht mit dem Leben, im Gegenteil. Ich bin es dabei voll bewusst zu kontrollieren, ihm die ganze Eigenkraft und Achtung zu ge-ben. Am Balken hängend lasse ich jetzt meine linke Hand los. Halte mich nur noch mit der rechten fest. Die Füsse frei in der Luft. Wow! Dieses Gefühl des Adrenalins und Endorphins will ich einmal gleichstellen wie mit einem su-pergeilen Höhepunkt beim Sex. Einfach gesagt: Es ist die pure Befriedigung, welche ich mir da hole. Mein volles Leben ist in mir drin, ich spüre es durch meinen ganzen Körper hindurch. Es stärkt mich, mein Inneres, wenn ich ihm, wenn ich mir selbst klar werde und zeige, wie stark ich ihm vertraue, ihm und mir selbst das ganze Leben in nur eine Hand lege.

Das Rauschen des Windes in den Blättern der Baumkronen unter mir und die Hitze der Nachmittagssonne scheinen still zu stehen, sich auf mich zu konzentrieren, an meinem Leben teil zu nehmen. Seit zwölf Jah-

ren klettere ich und kenne dieses Gefühl gut. Was halte ich jetzt in meiner Hand? Ok, logo, mein eigenes Leben. Wohl aber auch das Leben und die Gefühle aller Menschen, die mich lieben, mich kennen. Somit also eine verdammt grosse Verantwortung. Puh…

Egal, ob ich nun an diesem Balken hänge, eine SMS schreibe, die S-Bahn verpasse oder mit Kollegen eine Pizza bestelle, es ist immer dasel-be. Gleichgültig, ob ich nun von Arbeit, Beziehungen, Familie, Freund-schaften, Freizeit oder Leidenschaften spreche. Stets bin ich dabei es zu lenken, bewusst oder unbewusst. Jede Verdichtung meiner im Kopf um-herschwirrenden Ideen haben ihre eigene Wirkung, ihren eigenen wei-

teren Weg. Eine grosse Kunst und Herausfor-derung ist es wohl, die Entscheidung zu fühlen. Zu fühlen, wann es klug und von Vorteil ist, die Kontrolle fest in den Händen zu halten. Wann aber mag es von mehr Sinnen sein, sich dem Le-ben hinzugeben, ihm und sich selbst zu vertrau-en, dass es gut kommt so wie es dies sich ergibt,

es seinen Sinn hat so wie es dies ist. Dies mag man dann Intuition nennen oder Bauchgefühl. Ich bin dabei, mit meinem Inneren zu kommunizieren. Deswegen hänge ich nun da oben und verspüre mich mir und dem Leben selbst sehr nahe. Andersrum gibt mir dies das enorme Selbstvertrauen. Zu meinem Inneren höherem Selbst, meiner Intuition, meinem Leben und jenem Weg, auf welchem ich mich befinde. Ja, ich teste es selbst. Die Ei-genprüfung ist bestanden. Bravo. •

„Was halte ich jetzt inmeiner Hand?Ok, logo, mein eigenesLeben.“

HANDKRAFT{Text} Steven Mack

04 05 06

Page 19: Optimismus - September 10

Durch welche Perspektive Sie die Welt auch beleuchten:Wir belichten sie in Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz.Zur ersten Ausgabe von «die Perspektive» gratulieren wirSimon Jacoby, Manuel Perriard und Conradin Zellweger.

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Page 20: Optimismus - September 10

1. Ausgabe, September 2010

20 Optimismus

„Das ist es!“ Dachte das Kamel. Überglücklich über die spontane Ent-scheidung, sich der Kamelpädagogik zu widmen, lief es ruckzuck weiter bis zur nächsten Oase. Dort angekommen, bestellte sich das Kamel ein Cola mit Eis und Zitrone, rauchte eine Zigarette und las die Zeitungen, die an den Kakteen befestigt waren:

Werdet Lehrer!

Anfang.Es war einmal ein glückliches Kamel. Im Alter von fünf Jahren war

der Zeitpunkt endlich gekommen: Es durfte den Kamelkindergarten be-suchen. So legte seine Mutter jeden Morgen etwas Leckeres ins „Znüni-täschli“. Mal gab es Knochen, mal ein Stück Haut, mal dornige Büsche oder ein Häppchen Fleisch. Am meisten aber freute sich das Kamel über in Dattelöl marinierte, verstaubte Sandalen, die seine Mutter liebevoll ein-mal im Monat ins Täschchen packte. Wahrhaft ein gourmetalischer Hö-hepunkt!

Doch das Kamel wurde älter, ging zur Schule und absolvierte, man glaubt es kaum, das Gymnasium mit Schwerpunktfach Musik. Ganz schön talentiert, dieses „Dromedar-Deluxe“. Nun wurde es für das Kamel lang-sam Zeit, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Je mehr es darüber nachdachte, was wohl aus ihm werde, umso schwerer wurden seine zwei flauschigen Höcker. Also beschloss es, zuerst einmal in die grosse, weite Welt zu reisen. Nach einer Woche Wüstenwanderung sah das Kamel weit, weit weg eine riesige Tafel. Darauf stand:

Das optimistischeKamel, verloren in der pädagogischen Wüste.

{Text} Anina Widmer{Illustration} Erika Unternährer

Page 21: Optimismus - September 10

1. Ausgabe, September 2010

21Optimismus

Anleitung zum ScheiternDer Horror-Job Lehrer schreckt ab. Reformwut, Bürokratisierung,

Disziplinlosigkeit sind Folgen einer verfehlten Bildungspolitik. Die Päda-gogen sind Opfer ihrer eigenen politischen Programme geworden.

Saharische Lehrer wollen mehr LohnLehrkräfte sollen 2010 ein bis zwei Prozent mehr verdienen, fordert

der Dachverband Saharischer Lehrerinnen und Lehrer. Die Lehrerlöhne seien im Vergleich mit anderen Branchen ins Hintertreffen geraten.

Grossoffensive gegen LehrermangelLohnerhöhungen und Studiengang für Quereinsteiger geplant

Alleine an den Saharischen Schulen fehlen bis in zehn Jahren über 1000 Lehrkräfte. Nun wollen die Kantone gemeinsam gegen den akuten Lehr-ermangel vorgehen.

Lehrermangel: «Wir schaffen es nicht, alle offenen Stellen zu besetzen»Der Lehrermangel nimmt dramatische Ausmasse an. Zum Beispiel im

Schulhaus Mettmenriet in Saharach. Wenn nichts passiert, haben die Se-kundarschüler bald jeden Nachmittag frei.

Hilfe, uns gehen die Lehrer aus!SAHARA– Nicht mal die Marokkamelaner können diese Lücke fül-

len: In Saharischen Sekundarschulen fehlen Tausende vonLehrern.

Je mehr Zeitungsartikel das Kamel las, desto schneller blätterte es mit seinen ausgetrockneten Lippen von der einen Wüstenseite zur näch-sten. Schliesslich dampfte es nur noch so aus seinen Kamelohren und es murmelte mit rauer Stimme: „Ach- ihr könnt mir mal am Kamel***** lecken“. Es löschte die Zigarette aus, schlürfte den letzten Tropfen Cola aus der Kokosschale und zog weiter in die grosse, weite Welt!

Ende.Kannst du das Kamel verstehen? Bist du vielleicht sogar in derselben

Situation wie dieses Kamel? Wolltest du dich auch mit der Pädagogik be-schäftigen? Oder bist du ein von den aktuellen Medien eingeschüchtertes Kamel?

Ehrlich gesagt, sich in der Wüste zu orientieren war noch nie einfach. Überhaupt einen Fuss in die Wüste zu setzen, das braucht Kraft, Ausdauer, Kondition und einen starken Willen. Doch ich bin sicher, dass DU all diese Eigenschaften besitzst. Lehrer - ein Horrorberuf? Da krümm ich mich vor Lachen ja gleich zu einer Banane. Lehrer sein ist eine wunderschöne Aufgabe: Du verdienst dein Geld mit Dingen, die du sonst NIE machen würdest: Film schauen, Museen besuchen, Zeitung lesen, Musik hören, zeichnen, schreiben, im Internet surfen, wandern, schwimmen, grillieren. Oder mit anderen spannenden Sachen wie: Leute aller Altersgruppen und Nationen kennenlernen, mit Singles in deinem Alter Gespräche führen, tanzen. Und das Beste an der Sache ist: Du verpasst keinen einzigen wich-tigen WM oder EM Match der Schweiz!

Also, Kamelkack auf das, was die Journalisten im Magazin, Blick, NZZ, Tagesanzeiger und 20 Minuten schreiben, und werde Lehrer! •

AM ANSCHLAGJEAN-MARC SEILER

AFFICHEN

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fbac

h

Eine Sammlung von Seilers Plakaten, mit denen er vor der Eigendynamik gewisser Mechanismen zu warnen versucht, sich gegen ein zerstörerisches System und seine ökonomische Lüge stellt und sich zur Wehr setzt gegen die Erpressungs-wirtschaft der Finanzmächte und gegen die fortschreitende Vernichtung der di-rekten Demokratie.

Jean-Marc Seiler aM anSchlag durchgehend farbige Abbildungen ISBN 978-3-905910-07-0, CHF 33.–

«...Mit der Fähigkeit, sich immer und überall von allem das Gegen-teil vorstellen zu können konden-siert er ausführliche Denkarbeit auf wenige Worte. Und es gibt Fälle, in denen das Gegenteil das Bessere ist.» Peter Karl Wehrli

J.M.Seiler / MarKUS BUndiSelBStaUSlöSerMit einem Vorwort von Ulrich StadlerISBN 978-3-905910-01-8, CHF 29.–

SELBSTAUSLÖSERJEAN-MARC SEILER . MARKUS BUNDI

Der Bildband mit s/w Fotomontagen von Jean-Marc Seiler und Gedichten von Markus Bundi vermittelt span-nende und vergnügliche Polarität zwi-schen Text und Bild, die sich nicht er-klären, sondern ergänzen will.

«...Am Anschlag ist erschütternd auch. Und brillant. Die kritische Vernunft in Aktion.» Jean Ziegler

«...Kurt Tucholsky, der unbestech-liche Kritiker der Weimarer Repu-blik, und sein Mitarbeiter John Heartfield, der Fotomonteur, grüs-sen von ferne» Ulrich Stadler

w www.wolfbach-verlag.ch

Page 22: Optimismus - September 10

1. Ausgabe, September 2010

22 Kreatives

Das Gewissen{Text} David Howald

Das Gewicht der Dinge als variabel zu erkennen ist der Anfang einer langen Zweifelsfahrt. Einem Taumeltanz und Trugspiel. Euphorisierte Gischt. Perlenstrand und Abglanz. Erkenntnishascherei. Werterschöp-fung und Weltenklage. Verfall in Kategorien. System, Unordnung und Verzweiflung.

Meine Arroganz ist mir entzogen und entwöhnt. Nun lasst mich, pur wie ich fühle, eintreten ins Freie.

Es kommt nicht drauf an, wann man dort ankommt, sondern wer man ist, wenn man dort ankommt.Versteinerte Junkies säumen den Weg. Ich wickle mein Findling in Felle. Von den Tropfstein-Brücken schauen ele-gante Karnevalsfiguren hinunter auf den verkalkten Pfad, auf welchem ich wandle. Als grüne und purpurrote Vögel sind sie prächtig gekleidet. Die Luft ist voller Champagner Gesäusel und bittersüssem Duft. Entwürdi-gte Rosenblätter liegen auf den abgewetzten Stufen, welche sich zum Tor hinauf quälen. Riesige Pappeln wimmern und sehnen im Wind. Eine Er-innerung verschafft sich in der Klarheit des Moments Gehör und Gesicht. Sie steht im lauen Wind. Die Strähnen wie Algen in uralten Untiefen we-

hend. An eine Laterne gelehnt hat sie der Moment zum Zählen gebracht. Leichtigkeit mit unendlicher Schwere vermählt. So sah ich mich vor zwei Lösungen gestellt, um dem Selbst gerecht zu werden, welches ich zaghaft in mir zu erkennen wagte. Mein Gewissen. Mein Blindenhund. Sollte ich mich um es sorgen. Sollte ich es wie ein Neugeborenes in Leintücher ein-wickeln. Und es wie ein junges Wunder oder ein Geheimnis bergen.

Solange noch Zeit dazu wäre. Es verwahren, so dass es von keiner Abtrünnigkeit versehrt und vom Staube der Welt verschont bliebe. Oder sollte ich es kühnen Mutes, aufrecht in den Welten Wirrwarr hinein tra-gen. Es erodieren lassen vom Hagel der Niedertracht. Des Zwiespalts, des Haltlosen und Kaltfühligen. Kann eine unversuchte Seele eine gute Seele sein. Ist nicht das Leben das Gesuch um ein Gesicht, um Einsicht und letztendlich um Einlass.

Ich verstehe das Gewissen als Attribut der Seele. Regulierung des Schmerzes, welcher von aussen nach innen gelangt und umgekehrt. Ein grosses Gewissen steht in hohem Masse im Austausch mit der Welt und ist verantwortlich für das Gewicht der sie umgebenden Dinge. •

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Page 23: Optimismus - September 10

1. Ausgabe, September 2010

23Kreatives

Die Serie umfasst 15 Seiten im Format A3, welche im Zeitraum zwischen Ende Oktober bis Anfang Dezember 2009 entstanden ist. Verwendet wurde Tusche in den Farben Schwarz, Rot, Grün und Blau sowie weisse Tempera bzw deren Mischfarben. Als Vorlagen dienten Fotos aus Pendler- und Tageszeitungen.

Die Ordnung der Serie ergibt sich aus der willkürlichen Reihenfolge, in welcher die Bilder gefunden wurden unddokumentieren somit ausschnittsweise das Zeitgeschehen aus zwei Monaten.

Media Detour{Illustration} Marlon Höss

Page 24: Optimismus - September 10

1. Ausgabe, September 2010

24 Kreatives

Das Unheimlichste an meinem Vater ist sein Blick, wenn ich mich im Schlafanzug über die Wohnzimmer-Couch bücke, um Mama einen Gutenachtkuss auf die Wange zu drücken. Dabei setzt er sich nicht einmal in seinem Sessel auf, um mich zu umarmen. Die Füsse auf dem Schemel parkiert, senkt er die Zeitung vor seinem Gesicht ein wenig, um mich nur seine Augen unter den buschigen Brauen im Zigarrendunst erspä-hen zu lassen.

Ich wünsche auch ihm eine gute Nacht, erhalte aber nie eine Antwort. Sein durchdringender Blick verfolgt dabei jede einzelne meiner Bewegungen, wandert an meinem Körper auf und ab, so dass ich schwören könnte, er beobachte mich noch, selbst wenn ich schon lange unter der Bettdecke liege. Ich habe mich oft gefragt, woran mich dieser Blick erinnert. Ich

mag ihn nicht. Es kommt mir stets vor, als stünde ich neben einem Panther im hohen Gras und wüsste nicht, ob ich mich fürchten oder ihn streicheln soll.

Auch Pedro hat dunkle, geheimnisvolle Augen. Aber Pe-dro verabschiedet mich immer, bevor ich nach Hause gehe. Er ist so ganz anders als mein Vater – er findet immer die rich-tigen Worte. Vielleicht muss ich meinem Vater einfach mehr Zeit lassen, die richtigen Worte zu finden. Er weiss ja, wo ich schlafe. Manchmal klopft er spätnachts noch an meine Zim-mertüre und öffnet sie soweit, dass ein fader Lichtstrahl auf die Bettdecke fällt. Jetzt hat er sich erinnert, fährt es mir durch den Kopf, und von weit her scheine ich ein „Gut’ Nacht, Sa-brina“ zu hören. Doch ich bin schon zu müde, um die Augen zu öffnen. Als jedoch mein Vater an jenem Abend an meine

Gute Nacht Sabrina{Text} Michael Beyeler{Foto} Peter Baracchi

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1. Ausgabe, September 2010

25Kreatives

Türe klopfte, wurde mir die Wahrheit schlagartig bewusst. Wie immer machte ich mich direkt nach der Schule auf den Heimweg, um zu lesen und Pedros Musik zu hören. Pedro hat immer die neuesten CDs, und ich bin immer die Erste, der er sie ausleiht. Aus der Bahnhofunterführung quoll ein Strom erschöpfter Pendler herauf und trug mich durch die Zürcher Innenstadt.

Am Sihlquai angekommen tröpfelte ich weiter von Ampel zu Ampel, bis ich endlich in der Seitenstrasse meines trauten Heims stand. Wir leben nun schon seit meiner Geburt in die-sem Rattenloch genannt „Dachwohnung“, aber an den Ge-ruch, der mir unter der Eingangstür wie eine Faust ins Gesicht schlägt, werde ich mich nie gewöhnen können. „Mama, ich bin zu Hause!“, brüllte ich um die Ecke, vor allem um nahe Kaker-laken aufzuscheuchen, damit sich diese wieder in ihre Löcher verkro-chen. Ich hasse Kakerlaken, aber sie scheinen in diesem Stadtteil genau-so selbstverständlich zu sein wie die grellen Nachtclubs, in denen meine Mutter gearbeitet hat. Dort treffen sich Leute aus aller Welt, und dann wird getrunken und getanzt bis in die frühen Morgenstunden. Warum arbeiten nicht alle dort, wenn es doch so Spass macht?

Ich schlängelte mich durch den Flur, rief noch einmal nach meiner Mutter und schob mich an der Zigaretten-Vitrine

vorbei in die Küche. Meine Mutter sass am Küchentisch und starrte ins Leere. „Da bist du ja“, forderte ich sie auf, mir zu antworten. „Ist Papa schon zu Hause?“ „Hallo Schätzchen“, stammelte sie endlich, ohne sich von ihrem Blick lösen zu können. Sie nuckelte an ihrer Zigarette, liess den Stummel zwischen den Fingerspitzen kreisen und starrte auf die Kom-mode. Dort lag eine rote Augenbinde. Warum muss ich das tragen, Mama? „Ist dir nicht gut? Du bist ja ganz blass.“

Ich schnappte mir eine Safttüte aus dem Kühlschrank und setzte mich neben sie. Vielleicht brauchte sie etwas Aufmun-terung. „Stell dir vor, Pedro hat nächsten Samstag Geburtstag und veranstaltet eine grosse Party bei ihm zu Hause. Darf ich hingehen? Ich verspreche dir, ich bin um Neun wieder

da. Mama?“ Sie sah merkwürdig alt aus. Ich wusste genau, dass sie etwas bedrückte. Ich rückte meinen Stuhl neben sie und strich ihr durch die zerzausten Locken. „Du kennst doch Pedro, oder?“ Wieder keine

Reaktion. „Das ist der Junge aus meiner Klasse, den ich mal heiraten werde“, fügte ich verschmitzt an. „Heiraten?“ Mei-ne Mutter zuckte auf. Das hätte ich besser nicht gesagt. Ich konnte sehen, wie augenblicklich feine Blutströme durch ihr fast lebloses Gesicht schossen und ein Netz der Blösse unter ihre bläuliche Kopfhaut woben. „Heiraten?“, wiederholte sie. „Pedro! Du kennst doch die Regeln, Schätzchen.

„Warum arbeiten nicht alle dort, wenn es doch so Spass macht?“

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26 Kreatives

Nein, nein, du heiratest Dr. McDreamy, Schätzchen, ver-giss das nicht!“ Wenn es nach meiner Mutter ginge, würde ich kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag einen reichen Arzt heiraten und auf der anderen Seite des Sees wohnen. Sie spricht immer wieder davon – vor allem, wenn es ihr nicht gut geht. „Versprich mir, dass du mit ihm glücklich wirst. Ver-sprich es mir, Schätzchen, ja? Sei ein braves Mädchen.“ Denn brave Kinder werden belohnt, schossen mir die Worte wieder durch den Kopf. Ich nickte betrübt, sorgte mich in diesem Moment jedoch mehr um meine Mutter als sie um mich.

Vielleicht brauchte sie auch einfach ihre Ruhe. Sie schien etwas verwirrt zu sein. „Wem gehören denn diese Schuhe?“, rief ich ihr aus dem Wohnzimmer zu, während ich mich auf dem Weg in mein Zimmer machte. Ich will Dr. McDreamy nicht heiraten, woher soll ich denn wissen, welche Musik er mag? Pedro und ich passen viel besser zusammen, wir sind wie – „Was hast du gesagt?“ Ich konnte nicht verstehen, was Mama geantwortet hatte, und als ich wieder in der Küche stand, starrte sie erneut ins Leere. „Papa ist wütend“, sagte sie nur. „Ist er schon von der Arbeit zurück? Wo ist er?“ „Er ist wieder draussen. Im Calypso. Papa ist wütend“, wiederholte sie und nestelte nach der nächsten Zigarette. „Wenn er wieder zurückkommt, musst du bereits schlafen. Hörst du, Schätz-chen? Versprich es mir.“

Womöglich hatten sie wieder Streit. Meine Mutter mag es nicht, wenn ich zuschaue, wie sich die beiden streiten. Deshalb esse ich oft auf meinem Zimmer und verbringe den Abend dort lesend. „Was ist denn passiert? Hast du was falsch gemacht? Hast du ihn ver-ärgert?“ „Falsch? Fehler, sagt dein Vater, Fehler sind nicht er-laubt. Du kennst doch die Regeln, oder, Schätzchen?“, fragte sie mich vorwurfsvoll, während sie das letzte Stäubchen Teer aus ihrer Zigarette sog und den Stummel erstickte. „Aber je-der macht doch Fehler ...“ „Du hörst nicht zu, Schätzchen.“ Sie nannte mich immer ‚Schätzchen’. „Meine Lehrerin sagt, rauchen sei ungesund. Warum rauchst du so viel?“ „Geh jetzt“, seufzte sie.

Ich ging auf mein Zimmer. Unsere Wohnung ist sehr dü-ster, und wenn meine Füsse den Weg zu meinem Zimmer nicht schon auswendig gekannt hätten, wäre ich wohl dau-ernd über irgendwelche Kartons gestolpert. Ich schnappte mir das erstbeste Buch, das ich in die Finger bekam, warf mich auf mein Bett und vergrub meinen Kopf im Kissen. Manch-mal träume ich auch von Pedro. Dann treffen wir uns zusam-men draussen, neben der Kirche am Stauffacher. Wir liegen im hohen Gras, hören Musik und lachen zusammen. Pedro und ich lachen oft. Diesmal ist mein Vater auch da: Er sitzt auf einer Parkbank und liest. Pedro erzählt mir von seinem Haus am Meer, den Olivenbäumen und der kleinen Fischerbucht. Sein Grossvater ist Fischer, und wenn Pedro seine Familie besuchen geht, darf er mit ‚abuelo’ zum Fischen aufs Meer rausfahren. Nächstes Jahr will Pedro mich mitnehmen. Pedro pflückt ein Gänseblümchen und steckt es mir ins Haar. „Ver-sprochen“, flüstert er mir ins Ohr. Ob er mich jetzt küsst? Ich

warte immer darauf, aber es kommt nie dazu. Plötzlich zuckt Pedro auf und dreht sich um. Ehe ich mich versehen kann, ist Pedro weg, und ich starre in Vaters Gesicht, während er auf mich zustampft. Wieder dieser Blick. Warum darf ich nicht mit?

Auf einmal lag ich hell wach da. Noch immer hörte ich das Keuchen meines Vaters, doch diesmal kam es aus dem Neben-zimmer. Brave Kinder werden belohnt. Manchmal wünschte ich, mein Zimmer läge am anderen Ende des Gebäudes und nicht gegenüber dem Wohnzimmer, wo ich durchs Schlüssel-loch sehen konnte, wie sich Mama die Bluse aufknöpfte und auf meinen Vater wartete. Sie hatte mich belogen. Papa war doch verärgert. Böse Kinder werden bestraft. Und als die bei-den dann im Schlafzimmer waren und ich nur noch ihr Bett gegen die Wand hämmern hörte - erst langsam, dann immer schneller -, hätte ich alles gegeben, um einmal mehr aufwa-chen zu können. Womöglich war alles nur ein schlimmer Traum. Mache nie Fehler, hörst du?

Ich hörte Mutter umso lauter schreien, je kürzer die Pau-sen zwischen den Stössen wurden. Als ich noch klein war, hat-te ich mich oft aus meinem Zimmer heraus getraut und an der Türklinke ihres Schlafzimmers gerüttelt. Es hatte doch einen Grund für Mutters Schreie geben müssen! Und auch wenn

sie von Räubern umzingelt gewesen wäre, hätte ich sie befreien wollen. Doch die Angst verschwand, als auch ich zu schreien begann. Es ist schon lange her und Mama hat mir versprochen, es würde nie wieder vorkommen, wenn ich nur brav

sei. Kinder sollten nicht schreien müssen, wenn sie bestraft werden. Aber vielleicht gehört das Schreien einfach dazu, so wie die Augenbinde. Wahrscheinlich schreien alle Mütter und Töchter. Es ist eine Form, seine Fehler dem Vater einzugeste-hen und ihn um Verzeihung zu bitten.

Strenge Väter hören mit der Bestrafung aber erst dann auf, wenn sie sicher sind, dass die Tochter ihre Lektion gelernt hat. Die Pausen zwischen den Stössen wurden unerträglich kurz, so dass mit jedem Stoss der Verputz von der Wand auf mein Kopfkissen bröselte. Dann, endlich trat Stille ins Zimmer ne-benan und liess mich etwas Erholung finden, nur damit kurz darauf das ganze Spiel von neuem beginnen konnte. Ich hörte Vater nach meinem Namen rufen, aber Mama schien ihn zu-rückzuhalten, noch bevor die Schlafzimmertür wieder ins Schloss fiel. Ich presste meinen Kopf noch tiefer ins Kissen und bildete mir ein, die Schreie so irgendwann nicht mehr hö-ren zu können.

Plötzlich war es still. Das Licht im Wohnzimmer ging an, und ehe ich mich versehen konnte, hämmerte eine schwere Faust gegen meine Türe. Da war er wieder, dieser Blick. Es waren die Augen einer Antilope, die in der Savanne graste; grosse runde Farbkleckse im Gesicht eines scheuen Rehs, die mich einluden, ihnen ins Schlafzimmer meiner Eltern zu fol-gen. Ich setzte mich im Bett auf, nahm das seidene Rot entge-gen und legte es über meine Augen.

Eigentlich konnte ich ja nur belohnt werden. •

„Ich hörte meine Mutter umso lauter schreien, je kürzer die Pausen zwischenden Stössen wurden.“

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27Kreatives smokefred.ch

Rauchen ist tödlich. Fumer tue. Il fumo uccide

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28 Reisen

Beim Aussteigen aus dem Flugzeug ver-schlägt es mir den Atem. Die Luft ist heiss und feucht. Wie im Badezimmer nach einer zu lan-gen Dusche. Wer hier nicht schwitzt, lebt nicht. Wer hier auf das falsche Deo setzt, lebt wohl nicht mehr lange. Die richtigen Deos kommen aus Europa. Wir bringen sie.

Vor zwei Jahren sass ich in Heidelberg bei Per, einem schwedischen Medizinstudenten zum Tee, als seine Nachbarin, Mejda, eine fröh-liche kleine Doktorandin Mitte zwanzig, klin-gelte und mich unbekannterweise gleich mit zu ihrer Geburtstagsparty einlud. Mit Per ist der Kontakt inzwischen versandet. Mejda hingegen präsentiert mir nun ihr Land und ihre Familie.

Zwei Autostunden nördlich des internatio-nalen Flughafens Monastir liegt Dar Chaabane, das Dorf, aus dem sie stammt, ein Vorort von Nabeuil. Nabeuil ist im Inland für Töpferwa-ren bekannt. Ein überdimensionierter Tontopf

ziert den zentralen Verkehrskreisel des Ortes. Im Ausland findet sich der Name auf Tuben mit Harissa, der salzig-scharfen Chilipaste, die hier hergestellt wird. Als ich Mejda fragte, was ich ihrer Familie mitbringen könne, kam die Ant-wort prompt: Schweizer Schokolade. Ich habe also die Geschenkversionen mit den Edelweiss-Blüten auf der Verpackung gekauft. In Italien sind die sehr beliebt. Tunesien ist wie Italien. Nur extremer. Nicht nur in Sachen ästhetischer

Geschmack, sondern auch in Bezug auf die Mentalität. Während sich der Geschmack in ei-ner Vorliebe für Nippes aus Porzellan mit Gold-rand, für bunte Stoffblumen, opulente Kleider und Schminke in auffälligen Farben eher dem

Auge darbietet, so erreichen die Umgangsge-pflogenheiten als erstes das Ohr. Still ist es nur auf dem entsprechenden Örtchen. Sonst läuft Musik. Oft aus dem Fernseher. Dazu wird leb-haft geplaudert.

In Tunesien bin ich nie alleine. Niemand ist hier je alleine. Die Familie ist immer da. Für die Familie ist die durch die Sommerhitze geret-tete Schokolade bestimmt. Für die Familie sind auch die Deos. Mejda verwaltet beides. Sie will geschickt aufteilen. Denn die Familie ist gross. Mejda selber hat zwar nur vier Geschwister. Aber das halbe Dorf ist mit ihr verwandt. Es gibt Cousinen, soweit das Auge reicht. Eine von ihnen ist Meriam. In den nächsten Tagen wird sie heiraten. Ihre Schwester Zainep hat vor zwei Monaten gefeiert. An einem einzigen Abend im Saal eines vornehmen Hotels. Das war eine mo-derne Hochzeit. Sie trug nur ein einziges Kleid und zu essen gab es nur ein paar Süssigkeiten.

Trommeln im Hammam{Text} Magdalena Mühlemann

„Es gibt Cousinensoweit das Auge reicht.“

«Die Perspektiven der Jungen nicht zerstören»

Simon Jacoby, Jugendbetreuer Syna

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29ReisenReligiösesten unter ihnen ziehen nicht einmal da das Kopftuch und den Mantel aus. Sie baden in voller Montur. Um 18 Uhr ist Meriam fertig geschminkt, frisiert und weiss angezogen. Eine Stunde später treffen der Fotograf, der Standes-beamte und der Imam ein. Der Bräutigam und die anderen Männer schliessen sich ihnen an. Binnen Minuten ist der ganze Innenhof zum Bersten voll. Wir beziehen unseren Beobach-tungsposten auf dem Flachdach. Die zwei Nef-

fen von Mejda kommen mit. Der grössere der beiden ist etwa acht Jahre alt. Erstaunlicherwei-se spricht und versteht er Deutsch. Seine Eltern kennen kaum ein paar Wörter auf französisch. Sie unterschätzen den Einfluss von “Super RTL”. Vor dem Standesbeamten unterschreibt das Brautpaar den Ehevertrag. Zwei Verwand-te fungieren als Zeugen. Daraufhin ermahnt der Imam zu gegenseitigem Respekt und zu beson-nenem Umgang mit Geld. Es folgt ein Gebet. Nun werden sämtliche Waschkörbe und Per-sonen auf Autos verteilt.

Man fährt über Umwege und mit obligatem Hupkonzert zum Haus des Bräutigams. Dort angekommen, tragen die Männer die Wasch-körbe in die Zimmer. Die Frauen räumen ihren Inhalt in die Schränke ein. In weniger als ei-

ner Stunde ist die Wohnung bezugsbereit. Am Dienstag sind wir erneut bei Meriam und ihrer Oma. Sie und Zainep sowie die Mutter und die Schwester von Mejda pappen sich eine dicke braune Hennapaste auf die Innenseite der Hän-de und auf die Fusssohlen. Während der zwei Stunden, in denen das Henna einziehen muss, bleiben die Hände und Füsse mit Stofffetzen umwickelt. Danach wird die überflüssige Paste wieder abgespachtelt. Die Farbe, die schliesslich auf der Haut bleibt, signalisiert dem Dorf einige Tage lang die grosse Freude der Frauen über die Hochzeit von Meriam.

Sie erzählt einen Tag später unter verlegenem Kichern von der fünfstündigen Epilation, die sie über sich hat ergehen lassen. Mit einem spezi-ellen Wachs haben zwei Frauen jeden einzelnen Zentimeter ihres Körpers, bis auf den Kopf, von Körperhaaren befreit. Selbst der Genitalbereich sei nun komplett enthaart, flüstert mir Mejda zu. Sie werde es genauso halten zu ihrer Hochzeit. Es gehe dabei nicht um Pädophilie, sondern um Sauberkeit. Auch der Bräutigam wird sich an intimer Stelle rasieren. Zum Glück ist die ara-bische Haut nicht empfindlich. Ich sehe an Me-riam keine Rötungen.

Als Nächstes bemalen sich die Frauen die Handrücken. Schon nach kurzer Zeit winden sich pflanzenartige Linien anmutig um kleine feine Punkte. Die Frauen plaudern, lachen. Mit dieser Musse ist es am Abend vorbei. Die blonde Layla drückt uns zwei Kisten mit 21 Limonade-fläschchen zum Tragen in die Hand.

Bei Meriam wird das anders. Sie hat Sinn für Tradition.

Noch wohnt Meriam im einfachen, eben-erdigen Lehmhaus der Oma. Die Zähne putzt sie sich in der Küche. Die Türe zum Innenhof schliesst sie mit einem Stoffvorhang. Doch im Schlafzimmer kündigen die Geschenke des Bräutigams und seiner Familie bereits vom neu-en Hausstand. Die Waschkörbe sämtlicher Ver-wandten und Bekannten kommen hier zum Ein-satz: Sie sind gefüllt mit Kosmetika – Duschgels, Shampoos, duftenden Seifen, französischem Parfum. Aber auch mit Goldschmuck aller Art, mit Frottee-, Bett- und Tischwäsche, mit Sei-denpyjamas. Daneben stehen Gläser, Schüsseln, Töpfe, ein mehrteiliges Service, zwei Elektro-geräte. Auf dem Bett schliesslich sehe ich ein paar Kleider. Besonders stolz ist Meriam auf die schwere, silbern funkelnde Robe.

Der erste Tag der Feierlichkeiten fällt auf einen Sonntag. Als wir bei Meriam ankommen, begrüssen uns viele Frauen mit lauten Freuden-trillern. Während die Männer draussen vor der Tür sitzen und Karten spielen, ist das Atrium fest in ihrer Hand. Aus grossen Boxen dröhnt laute Musik. Die Tanten bewegen die Arme. Die Cousinen lassen kunstvoll ihre Hüften kreisen. Auch Mejda liebt es zu tanzen. Aber nach einer Weile will die Mutter, dass sie eine Pause macht. Die Leute tuscheln. Wer zu gut tanzt, wird ver-dächtig. Lange Kleider oder Hosen sind musli-mische Pflicht. Selbst am Meer tragen die Frauen oft Radlerhosen unter den Badeanzügen. Die

„Auch der Bräutigam wird sich an intimer Stellerasieren.“

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30 Reisen

„Wohin man auch blickt,alles dreht sich

immer um die Erde,sogar der Mond.“

{Bild} KIRIWEST

Mutter nickt mir zu. Aus ihren Augen blitzt der Schalk. Nach dem Hammam lassen auch Mejda und ich uns die Handrücken bemalen. Damit der kleine Sohn der Künstlerin während ihrer anspruchsvollen Arbeit nicht plötzlich auf die Strasse läuft, hat er am Fuss ein Seil, das am Sofa befestigt ist. So kann er nicht aus dem Zimmer.

Als die Muster trocken sind und wir im Haus der Oma eintreffen, steht die Verwandtschaft in Arbeitskleidung und Kopftüchern bereit: Der Metzger führt ein Kalb ins Atrium. Er legt es auf den Boden und bindet seine Beine zusam-

men. Daraufhin dreht sein Assistent dem Kalb den Hals um und schneidet ihm die Kehle auf. Das Blut fliesst in dunklen Strömen. So verlan-gen es die Regeln der muslimischen Schächtung. Der Metzger spritzt das Blut mit dem Schlauch in den Abfluss des Innenhofs. Danach hackt er dem Kalb den Kopf und die Beine ab. Auch die Haut ist schnell weg. Seine Handgriffe sind schnell und routiniert. Ein Fleischstück nach dem anderen kommt in eines der mit Wasser ge-füllten Plastikbecken. Plötzlich platzt der riesige Magen. Sein brauner Inhalt ergiesst sich auf den Boden. Doch mit Schlauch und Besen befördern die Frauen auch diesen Haufen im Nu dem Ab-fluss entgegen. Den ganzen nächsten Vormittag und Nachmittag stehen die Tanten und Cousi-

nen in der Küche, verarbeiten das Fleisch und bereiten eine grosse Schüssel Couscous zu.

Danach machen sie sich fein. Mejda lästert auf Deutsch: “Sie schminken sich hässlich! Wie Puppen!” Sie mag sich den herrschenden Schön-heitsvorstellungen nicht anpassen. Dem Friseur-besuch kann jedoch auch sie sich nicht entzie-hen. Am Abend findet auf dem Platz vor dem Haus einer Nachbarin nämlich das grosse Fest der Braut statt. Das ganze Dorf ist dabei. Die Frauen kommen im Abendkleid.

Die Männer sind heute Zaungäste. Sie tra-gen Jeans. Auf einer bunt dekorierten Bühne thronen frisch Verheiratete in ihren silbernen Roben. Sie sind die Ehrengäste. Neben ihnen spielt die Band. Meriam ist stark geschminkt und trägt ein weisses Kleid. Viele Frauen tanzen um sie herum. Andere sitzen und fächeln sich Luft zu. Nach einer Weile verschwinden Braut und Brautschwester. Sie kehren wenig später umgezogen zurück, begleitet von den Freuden-trillern der Anwesenden. Es gilt zu zeigen, dass für die Hochzeit keine Kosten gescheut wurden. Der Bräutigam ist nur sporadisch zu sehen. Ab und zu trägt er Plastikstühle für weitere Gäste herbei.

Meriam sitzt nun ebenfalls eine halbe Stun-de auf der Bühne. Alle amüsieren sich prächtig. Nur sie fühlt sich sichtlich unwohl. Dann ist es für sie erneut Zeit, sich umzuziehen. Als sie endlich wieder erscheint, trägt sie ein schweres Goldkleid und einen Hut. Ihr Gesicht ist von einem roten Tuch verdeckt. Sie muss geführt werden. Vor der Bühne angekommen, zeigt sie

Meriam erscheint in einem rosafarbenen Seiden-pyjama. Darüber zieht sie das traditionelle gelbe Umschlagtuch, das mit den Zähnen festgehalten wird. Die Frauen packen diverse Taschen und setzen sich in Bewegung.

Nach ein paar hundert Metern betreten wir das Foyer des Hammams. Einige trillern, ande-re trommeln. Hier ist die Luft noch feuchter als draussen. Dicke Teppiche liegen auf dem Boden. In einer Ecke lagert bereits die Verwandtschaft einer anderen Braut. Wir setzen uns und trinken Limonade. Es riecht nach Weihrauch. So muss ein Picknick in einer orthodoxen Kirche sein.

Alle ziehen sich bis auf den Schlüpfer aus. Meriam nicht. Sie ist heute die Königin. Nichts muss sie selber erledigen. Mejda und ich dürfen bereits ins Bad. Der Anblick ist wie bei Fellini oder Pasolini: Eine düstere Halle, Schwaden von Wasserdampf. Überall stehen oder sitzen fast gänzlich nackte Frauen, die sich einschäumen und mit kleinen Schalen Wasser über die Haare und den Körper laufen lassen. In die Wände der Hallen sind kleine Nischen eingelassen. Dort gibt es Wasserhahnen. Wer keinen freien Platz ergattern konnte, sitzt am Brunnen in der Mitte oder schöpft Wasser aus einem Eimer.

Mejda rubbelt mir mit einem Natur-schwamm den Rücken. Es kratzt. Doch meine Haut wird samtweich. Nun führen die Verwand-ten Meriam mit Kerzen, Trommeln und Freu-dentrillern in eine frei gewordene Nische. Zwei Frauen seifen sie ein, waschen ihr die Haare, massieren ihr die Haut. Ich kehre ins Foyer zu-rück. Mein Kreislauf fährt Achterbahn. Mejdas

„Die zwanzig Leute um mich herum, die trotz der Hitze gut riechen.“

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31Reisendreimal die Innenflächen ihrer Hände. Mit die-ser Geste beteuert sie ihre Jungfräulichkeit. Die Frauen reagieren mit Freudentrillern. Meriam darf den Schleier abnehmen. Sofort verabschie-det sich nun die Band. Sie spielt heute noch auf einer anderen Hochzeit.

Eilig packen die Musiker ihre Instrumente zusammen. Auch die Gäste stehen auf und strö-men nach Hause. Mejda tobt. Der ganze Auf-wand habe sich nicht gelohnt. Das teure Kleid sei gar nicht richtig zur Geltung gekommen. Aber da der Höhepunkt des Festes nun über-schritten ist, ziehen auch wir uns wieder um. Es ist 23 Uhr und wir haben Hunger. Das vorbe-reitete Essen steht bei der Nachbarin. Nachdem die Männer bedient sind, dürfen auch wir beim Couscousgericht kräftig zugreifen. Es schmeckt wunderbar. Alle essen aus derselben grossen Schüssel.

Am nächsten Tag fliege ich nach Hause. Mir entgeht der Schlusstag. Er ist das grosse Fest des Bräutigams. Am Abend findet schliesslich die ergreifende Übersiedlung der Braut in sein Haus statt. Beim Aussteigen aus dem Flugzeug ist mir kalt. Die Schweiz ist trüb und grau. Zwar trage ich viele Eindrücke, Erfahrungen und ori-

ginelle Geschenke bei mir. Doch ich merke: Ich bin alleine. Die Familie fehlt. Das lebhafte Ge-schrei. Die Freudentriller und das Getrommel. Die zwanzig Leute um mich herum, die trotz der Hitze gut riechen. •

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Page 32: Optimismus - September 10

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