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ORIGINALARBEIT 1 3 Eingegangen: 6. Dezember 2013 / Angenommen: 29. April 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 Organspende und Entscheidungspflicht. Eine skeptische Kritik Kai Haucke Ethik Med DOI 10.1007/s00481-014-0306-8 Zusammenfassung Eine Entscheidungspflicht fordert, dass jeder Bürger die Frage nach der Organspende mit Ja oder Nein beantworten muss. Der Aufsatz prüft, ob sich eine solche Verbindlichkeit ethisch rechtfertigen lässt. Betrachtet werden mehrere Begrün- dungsversuche: die Berufung auf das Prinzip der Hilfeleistung, die Vereinbarkeit mit dem Selbstbestimmungsprinzip, ein Konsistenzargument sowie die Frage, ob die gegenwärtige Belastung der Angehörigen für eine solche Verpflichtung spricht. Zusätzlich wird eine im Organspendediskurs verbreitete Begriffskonfusion zwischen Wollen und Wünschen unter- sucht. Alle Argumente für eine Erklärungspflicht erweisen sich im Vergleich mit der be- stehenden gesetzlichen Regelung als nicht überzeugend. Schlüsselwörter Entscheidungspflicht · Explantation · Skepsis · Wollen · Wünschen · Angehörige Organ donation and decision-making duty. A sceptical critique Abstract Definition of the problem A decision-making duty demands that all citizens have to answer the question concerning organ donation with yes or no. Arguments The essay considers four aspects to create this ethical and legal obligation: assistance principle, principle of autonomy, a consistency argument, and the burden to next of kin. In addition, the paper explores the confusion of terminology between wanting and wishing, which is widespread in the organ donation discourse. Conclusion A decision-making duty is, com- pared with an extended consent solution, not a convincing alternative. Keywords Decision-making duty · Explantation · Scepticism · Wanting · Wishing · Close relatives Dr. phil. habil. K. Haucke () Voigtsgrüner Str. 7, 08115 Schönfels, Deutschland E-Mail: [email protected]

Organspende und Entscheidungspflicht. Eine skeptische Kritik; Organ donation and decision-making duty. A sceptical critique;

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Originalarbeit

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Eingegangen: 6. Dezember 2013 / Angenommen: 29. April 2014© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

Organspende und Entscheidungspflicht. Eine skeptische Kritik

Kai Haucke

Ethik MedDOI 10.1007/s00481-014-0306-8

Zusammenfassung Eine Entscheidungspflicht fordert, dass jeder Bürger die Frage nach der Organspende mit Ja oder Nein beantworten muss. Der Aufsatz prüft, ob sich eine solche Verbindlichkeit ethisch rechtfertigen lässt. Betrachtet werden mehrere Begrün-dungsversuche: die Berufung auf das Prinzip der Hilfeleistung, die Vereinbarkeit mit dem Selbstbestimmungsprinzip, ein Konsistenzargument sowie die Frage, ob die gegenwärtige Belastung der Angehörigen für eine solche Verpflichtung spricht. Zusätzlich wird eine im Organspendediskurs verbreitete Begriffskonfusion zwischen Wollen und Wünschen unter-sucht. Alle Argumente für eine Erklärungspflicht erweisen sich im Vergleich mit der be-stehenden gesetzlichen Regelung als nicht überzeugend.

Schlüsselwörter Entscheidungspflicht · Explantation · Skepsis · Wollen · Wünschen · Angehörige

Organ donation and decision-making duty. A sceptical critique

Abstract Definition of the problem A decision-making duty demands that all citizens have to answer the question concerning organ donation with yes or no. Arguments The essay considers four aspects to create this ethical and legal obligation: assistance principle, principle of autonomy, a consistency argument, and the burden to next of kin. In addition, the paper explores the confusion of terminology between wanting and wishing, which is widespread in the organ donation discourse. Conclusion A decision-making duty is, com-pared with an extended consent solution, not a convincing alternative.

Keywords Decision-making duty · Explantation · Scepticism · Wanting · Wishing · Close relatives

Dr. phil. habil. K. Haucke ()Voigtsgrüner Str. 7,08115 Schönfels, DeutschlandE-Mail: [email protected]

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Die seit November 2012 in Deutschland geltende so genannte Entscheidungslösung ergänzt die erweiterte Zustimmungsregelung und will möglichst viele Bürger mit der Frage nach der Organspende konfrontieren. Im novellierten Transplantationsgesetz (TPG § 1, Abs. 1) ist davon die Rede, dass damit die Spendebereitschaft erhöht werden soll. Da ein guter Zweck nicht schon die Mittel rechtfertigt und wesentliche Punkte wie die Hirntodkonzeption noto-risch umstritten sind, besteht der Gesetzgeber auf einer ergebnisoffenen Aufklärung (§ 2, Abs. 1) und bekennt sich damit ebenso zu Freiwilligkeit und Selbstbestimmung. Und er bekräftigt diesen Standpunkt, indem er explizit eine Erklärungspflicht1 ausschließt (§ 2, Abs. 2a), so dass neben einem Ja oder Nein auch eine Nichtäußerung legitim ist.

Damit spiegelt diese Regelung recht gut das öffentliche Meinungsbild: Das gesetzliche Ziel, die Organspendebereitschaft zu heben, korrespondiert mit Umfragen, denen zufolge die meisten Bürger Organtransplantation für eine gute Sache halten; die Offenheit für ein Pro oder Contra erkennt an, dass einige diese Technologie aus ethischen Gründen vehement ablehnen; und die Option der Urteilsenthaltung entspricht jener „schweigenden Mehrheit“, die keinen Spendeausweis besitzt.

Das neue Gesetz scheint dieses Bild aber auch in einer ganz bestimmten Weise auszule-gen – in der Hoffnung, es zu ändern: Dass die Mehrzahl Organspenden in Umfragen befür-wortet und dennoch schweigt, wenn es darauf ankommt, könnte von einem grundsätzlichen Ja zeugen, dem es nur an Motivation und Gelegenheit fehlt, sich laut zu bekunden. Eine optimierte Ansprache wäre dann das Mittel der Wahl, um Spender zu gewinnen, ohne das Prinzip der Freiwilligkeit abzuschwächen.

Legt man dem neuen Gesetz diese Sicht zugrunde, dann erscheint der Verzicht auf eine Äußerungspflicht jedoch als wenig zielführend. Die neue Regelung bleibe daher, so Nagel et al., „in Bezug auf das Organaufkommen hinter den Möglichkeiten einer echten Entschei-dungspflicht zurück“ ([13], S. 145) und wäre dementsprechend änderungsbedürftig.

Eine solche Pflicht verlangt von allen Bürgern, sich zu positionieren: „Ich bin für oder ich bin gegen eine Organspende“ [11]. Und diese Forderung sei berechtigt, da eine solche Verpflichtung ein Mehrfaches leiste: Erstens ließe sich so effektiv die Spenderquote erhö-hen: „Wenn wir uns alle für oder gegen eine Organspende entscheiden würden, dann bin ich überzeugt, dass wir für alle Menschen, die ein neues Organ brauchen, auch eines bekommen und die Wartezeiten sofort erheblich verkürzt werden würden. Wir würden eine vollständige und ausreichende Versorgung bekommen“ [11]. Zweitens gelänge dies bei gleichzeitiger Achtung der Selbstbestimmung, da die Entscheidungsfreiheit gewahrt bliebe: „Die Zustim-mung zu einer Organspende ist keine ethische Pflicht. Aber es ist eine ethische Pflicht, sich damit auseinanderzusetzen“ und sich zu entscheiden [11]. Drittens ließe sich damit eine Inkonsistenz beseitigen. Denn wir muteten ja bereits jetzt „jedem Angehörigen zu, in der schwierigsten Situation, die man sich vorstellen kann, eine Entscheidung treffen zu müssen“ [11], so dass es eigentlich nur folgerichtig wäre, „dass von jedem selbst eine solche Ent-scheidungspflicht abverlangt werden kann“ ([12], S. 21). Und viertens wäre so eine Befra-gung der Angehörigen nach Hirntoddiagnostik unnötig und könnte damit eine für Ärzte wie Nahestehende stark belastende Situation vermieden werden.

Im Folgenden geht es um die Frage, ob sich eine solche Erklärungspflicht rechtfertigen lässt. Untersucht werden die vier genannten Begründungsversuche – mit dem Ergebnis, dass eine solche Entscheidungspflicht nicht hält, was sie verspricht. Diese Kritik ist zugleich

1 Der Text verwendet, den Verfechtern einer Entscheidungspflicht folgend, die Termini Erklärungs-, Äuße-rungs- und Entscheidungspflicht synonym (vgl. [12], S. 21; [13], S. 146; [14], S. 27).

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eine Apologie der bestehenden gesetzlichen Regelung. Dass der Gesetzgeber ausdrücklich von einer Äußerungspflicht abgesehen hat, widerstreitet nämlich nur dann seiner Absicht, die Spendenbereitschaft zu erhöhen, wenn man das Schweigen der Mehrheit vorrangig als implizite Zustimmung versteht.

Die Hoffnung, dass hinter dem Schweigen ein etwas schüchternes Ja steht, welches nur der Ermutigung bedarf, um auch in einem Spendeausweis zu erscheinen, ist eine empiri-sche Vermutung, die begrifflich fragwürdig ist. Denn sie ebnet, um plausibel zu sein, die semantische Differenz zwischen Wünschen und Wollen ein (vgl. den letzten Abschnitt). Beachtet man hingegen diesen Unterschied, zeigt sich ein anderes Bild. Dass die Mehrheit Organspenden bejaht, aber zugleich nur wenige einen Ausweis haben, wird dann als eine Diskrepanz zwischen Wünschen und Wollen erkennbar, die eher von vielen Zweifeln statt von einem zwar leisen, aber dennoch klaren Ja zeugt. Indem die neue so genannte Ent-scheidungslösung von einer Äußerungspflicht absieht, erkennt sie diese Skepsis an (vgl. [4]). Anders als die Vertreter einer Erklärungspflicht meinen, ginge es ihr dann nicht um ein zwangsbewehrtes making it explicit, sondern eher um informative Aufklärung all jener, die (noch?) nicht wissen, was sie wollen.

In einer Demokratie ist es klug, auf mögliche Mehrheiten zu achten, und daher ist es schon aus politischen Gründen angemessen, keine Entscheidungspflicht festzuschreiben. Aber natürlich sagen Mehrheiten und parlamentarisches Kalkül nichts über moralische Legitimität. Die im Folgenden zu entwickelnde Kritik an einer Äußerungspflicht geht davon aus, dass das Thema Organspende ambivalent ist und daher als Isosthenie erlebt werden kann; dass eine Urteilsenthaltung durchaus Ergebnis einer ethisch ernsthaften Auseinander-setzung sein kann; dass auch ein skeptisches Zaudern eine angemessene Reaktion auf diese komplexe Frage ist.

Diese Legitimität einer epoché wird von einer Entscheidungspflicht ebenso wie von einer Widerspruchslösung ausgeschlossen. Denn beide akzeptieren nur ein Ja oder Nein. Den-noch gibt es zwischen beiden eine zu beachtende Differenz: Das Widerspruchsmodell ver-wandelt die interpretatorische Annahme, dass wer schweigt, eigentlich Ja sagen möchte, in eine rechtliche Tatsache: Zustimmung wird als selbstverständlich vorausgesetzt; Schweigen gilt automatisch als Ja; Widerspruch ist explizit möglich, wird jedoch als Ausnahme kon-zipiert ([9], S. 153 f.). Unter diesen Bedingungen wäre eine Erklärungspflicht überflüssig, da das Verfahren binär arbeitet und in jedem Fall ein klares Ja oder Nein generiert, egal wie sich die Bürger verhalten – also auch dann, wenn keine Äußerung vorliegt.

Eine Entscheidungspflicht hingegen hält daran fest, dass allein eine (mehr oder weni-ger) explizite Einwilligung die Organentnahme legitimiert. Sie ist daher nur im Rahmen einer Zustimmungsreglung sinnvoll. All jene, die sich dann immer noch nicht äußerten oder unentschlossen wären, könnten im Begründungskontext einer Zustimmungslösung nicht zu einer Organabgabe gezwungen werden. Da sie nicht ausdrücklich einverstanden sind, muss aus der Sicht einer Entscheidungspflicht ihr Schweigen als implizites Nein erscheinen.2

2 Entscheidung wird als „eine ethische Pflicht“ [11] aufgefasst. Sie soll das Organaufkommen steigern und so Menschen in Not helfen. Diesen Anspruch kann sie jedoch nur einlösen, wenn sie zugleich mit der Kraft rechtlicher Verbindlichkeit eine Entscheidung einfordern kann. Denn ohne einen solchen Zwang ließe sich das unterstellte Ja der schweigenden Mehrheit kaum in eine explizite Zustimmung verwandeln. Die Pflicht zur Entscheidung wäre daher Tugend- und Rechtspflicht in einem. Da diese Pflicht ein explizites Ja oder Nein einfordert, ist für sie Schweigen nicht nur ein stilles Nein, sondern zugleich Verstoß gegen geltendes Recht, der geahndet werden müsste. Wie dieses Verhältnis zwischen Moral und Recht genauer zu verstehen ist und ob bzw. welche Sanktionen angemessen wären, wird von den Vertretern einer Entscheidungspflicht

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Erster Begründungsversuch: Das Leid der Wartenden

Wer für eine Pflicht plädiert, muss sich seiner Sache sicher sein, in diesem Fall also die feste Überzeugung haben, dass die Mehrzahl jener, die schweigen, eigentlich spenden will; dass sich eben dies durch die gesetzliche Einführung einer Äußerungspflicht auch erweisen werde; dass man mithin so schwerkranken Menschen helfen kann, ohne das Selbstbestim-mungsrecht anderer einschränken zu müssen.

Solche Plausibilitätsüberlegungen sind aber zunächst nichts anderes als ein empirisch zu validierendes Szenarium, das schon durch diesen kategorialen Status eine moralisch-recht-liche Pflicht nicht zu begründen vermag.3 Nur das diese Vermutungen leitende Ziel, helfen zu wollen, käme für die ethische Begründung einer Entscheidungspflicht in Frage. Und ent-sprechend argumentieren auch Nagel et al.: „Die Entscheidung zur Organspende muss […] selbstbestimmt und freiwillig erfolgen. Gleichermaßen muss auch eine selbstbestimmte Entscheidung gegen eine Organspende akzeptiert und geachtet werden […] Lediglich die Verweigerung einer Dokumentation erscheint angesichts des Leids von betroffenen Patien-ten und deren Angehörigen als eine Pflichtverletzung an Mitmenschlichkeit“ ([13], S. 148).

Versuche, eine Organspendepflicht zu begründen, rekurrieren zumeist auf das Prinzip, dass man Menschen in Not helfen müsse [1]. All jene, die ihren Körperleib nach Hirntod-diagnostik nicht zur Verfügung stellten, seien demnach mitschuldig am so genannten Tod auf der Warteliste. Und analog dazu, wenn auch in abgeschwächter Form, heißt es bei Nagel et al.: „Eine Pflicht zur Äußerung halten wir […] in einer solidarischen Gesellschaft, in der jeden Tag drei Menschen sterben, weil für sie kein Spendeorgan zur Verfügung steht, für vertretbar“ ([13], S. 146).

Diese auf eine Spendepflicht zugeschnittene Argumentationsstrategie kann jedoch die Entscheidungspflicht nicht begründen. Zwar wollen deren Befürworter auch, dass sich mög-lichst viele Bürger offensiv zur Organspende bekennen. Aber die Entscheidungspflicht prä-sentiert sich (anders als eine Abgabepflicht) begrifflich als strikt neutral gegenüber Ja oder Nein. Da ihr auch ein Contra als legitime und gleichwertige Option gilt, kann der Verweis auf das Leiden eine solche Pflicht nicht per Hilfeprinzip rechtfertigen – denn das dokumen-tierte Ablehnen einer Organspende ist ja gerade keine Hilfeleistung.

Zweiter Begründungsversuch: Selbstbestimmung

Wie wir sahen, ist eine Entscheidungspflicht nur im Rahmen einer Zustimmungsregel sinnvoll. Daher liegt es nahe, diese Pflicht durch das Prinzip der Selbstbestimmung mitzu-begründen bzw. nachzuweisen, dass beide zumindest vereinbar sind: Eine solche Verbind-lichkeit wäre kein (tiefer) Eingriff in die Autonomie, denn sie lege ja nicht fest, wie man optieren solle, sondern insistiere lediglich darauf, dass man sich mit dem Thema befasst und dann entscheidet.

Da eine Entscheidungspflicht nur ein Ja oder Nein akzeptiert, ist Unentschlossenheit gleichbedeutend mit einer Pflichtverletzung, die dann entsprechend auch sanktioniert wer-den kann. Für all jene, die Ja oder Nein sagen (können), ist eine Entscheidungspflicht im

nicht reflektiert. Ich werde daher im Folgenden lediglich prüfen, inwieweit sich eine solche Pflicht ethisch begründen lässt.

3 Dass diese empirische Annahme begrifflich problematisch ist, wird im letzten Abschnitt genauer untersucht.

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Hinblick auf das Autonomieprinzip weitgehend unproblematisch. Fraglich aber ist, ob Zwangsmaßnahmen gegen Unentschlossene mit deren Selbstbestimmung vereinbar sind.

Die binäre Logik einer Entscheidungspflicht, nach der nur ein Ja oder Nein zugelassen ist, unterstellt, dass bei entsprechender Information, genügend Zeit und gutem Vorsatz in jedem Fall eine klare Antwort auf die Frage nach der Organspende möglich ist. All jenen, die dann noch immer zögern, fehlte es lediglich an (gutem) Willen. Sich nicht zu entschei-den, wäre mithin Ausdruck freien Willens – ein freiwilliger Verzicht, der es rechtfertigt, dass jene Bürger sich auch vor anderen zu verantworten haben.

Wer derart freiwillig eine Antwort schuldig bleibt, handelt unmoralisch: Denn die „Ver-weigerung einer Dokumentation erscheint angesichts des Leids der Patienten und ihrer Angehörigen als eine Pflichtverletzung der Mitmenschlichkeit“ ([13], S. 148). Und wer nicht selbst entscheidet, tue letztlich nichts anderes, als „die Entscheidung auf die Angehö-rigen abzuwälzen“ ([2], S. 59), was „unzumutbar“ ([13], S. 147) sei.

Wir hatten gesehen, dass das Prinzip der Hilfeleistung eine Entscheidungspflicht nicht begründen kann. Durch den Verweis auf eine Pflicht zur Mitmenschlichkeit wird also nicht gezeigt, dass nur die Unentschlossenen sich einer Pflichtverletzung schuldig machten. Denn dies träfe ja ebenso auf die Neinsager zu. Und auch der Vorwurf, dass die Unentschlossenen rücksichtslos gegenüber ihren Angehörigen seien, diese in eine unzumutbare Lage brächten, ist nicht haltbar, wie wir weiter unten bei der Prüfung des vierten Begründungsversuchs noch sehen werden.

Die Behauptung aber, dass Entscheidungspflicht und Selbstbestimmung vereinbar seien, hängt vor allem davon ab, ob die gemachten Voraussetzungen zutreffen – also davon, ob eine Entscheidung jedem prinzipiell offensteht und ob Unentschlossenheit daher als freiwillige Verweigerung einer ausdrücklichen Antwort zu verstehen ist. Danach wäre es unmöglich, dass jemand auch nach intensiver Auseinandersetzung mit Pro und Contra keine Entschei-dung treffen kann.

Das aber kommt empirisch durchaus vor [20] und ist angesichts der derzeitigen Praxis auch verständlich, da dieses Thema eine Fülle an Ambivalenzen birgt, so dass viele Bürger „Organspenden richtig finden und trotzdem davor zurückschrecken“ [6].4 Wenn aber das skeptische Zögern eine reale Möglichkeit ist, auf die Frage nach der Organspende zu reagie-ren, dann ist die Beschreibung, dass jene sich nicht entscheiden wollen (obgleich sie die

4 Umstritten ist vor allem die Hirntodkonzeption: Für die einen formuliert sie den Tod des Menschen, für andere sind Hirntote schwerstgeschädigte Sterbende; wiederum andere sprechen von einem Zwischenreich, für das uns lebensweltlich die Worte fehlen. Je nach Position resultieren daraus andere Streitfragen, etwa ob und inwieweit Menschen nach diagnostiziertem Hirntod noch empfindungsfähig sind oder ob das Fortsetzen intensivmedizinischer Maßnahmen den Sterbeprozess verlängert, was etwa mit den Ideen der Hospizbewe-gung konfligiert. Auch die Hirntoddiagnostik produziert Ambivalenzen. Soziologisch gesehen provoziert ihr Prozedere bei den Ärzten sowohl institutionell als auch semiotisch „stetig einen stummen Zweifel an der Stimmigkeit und Schlüssigkeit des“ Hirntodkonzepts ([7], S. 340). Zudem birgt sie medizinische Risiken, etwa die Gefahr eines apallischen Syndroms. Für die Hinterbliebenen ist die Frage nach der Explantation eine starke Belastung, die später zu Zweifeln und Schuldgefühlen führen kann, aber ebenso auch als tröstlich erlebt wird: als Sinngebung des unfassbaren Todes. Für die Schwerstkranken ist die Transplantationsmedizin eine Chance auf ein „zweites Leben“. Aber auch diese medizinisch begründete Hoffnung hat eine Schatten-seite, weil sie den Blick auf ein „neues“ Leben verengt und so ein bewusstes Sterben verhindern kann, das nur im Loslassen zu haben ist. Die Dankbarkeit der Empfänger mischt sich mit Schuldkonflikten, da sie vom Tod anderer profitieren, wenn auch diesen nicht verantworten; Zweifel plagen, ob man überhaupt der Gabe würdig sei, ob diese auch freiwillig erfolgte usw. Ambivalent sind auch institutionelle Faktoren, etwa die mangelnde staatliche Aufsicht, damit verbundene Ängste vor Organhandel und Bevorzugung finanziell potenter Patienten. Ebenso kann die in der öffentlichen Aufklärung nahezu fehlende Differenzierung zwi-schen Organ- und Gewebespende als Täuschung erscheinen und misstrauisch stimmen (vgl. [6], S. 209) etc.

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Wahl haben), unzutreffend. Der angemessene begriffliche Ausdruck ist vielmehr, dass diese Zauderer sich nicht entscheiden können, obwohl sie sich Klarheit wünschen. „Ein Wille, der nichts beschließt, ist kein wirklicher Wille“ ([5], § 13, Zusatz, S. 51), sich nicht entschei-den können mithin keine Willensfrage, und daher ist es zugleich unangebracht, von einem freien Wollen zu sprechen. Denn das ist es ja gerade, was in diesem Falle nicht gelingt: einen freien Willen zu bilden, der sich als ausdrücklich bejahter Wille dann auch in einer handlungswirksamen Entscheidung dokumentiert. Die moralische Diskreditierung dieser Unentschlossenen als verantwortungslos, unwillig bzw. charakterschwach ist ein massiver Eingriff in den Prozess freier Willensbildung, der als freier nicht nur ergebnisoffen, sondern auch ohne Resultat verlaufen kann.

Isosthenie verhindert zwar ein (konkretes) freies Wollen. In ihrer Anerkennung kann sich aber eine reflektierte Autonomie zeigen, die souverän ist, da sie ihre Grenzen kennt und akzeptiert: Nicht alles im Leben ist selbstbestimmbar.5 Entscheidungspflicht und Autonomie sind auch daher nicht vereinbar.

Der Versuch, die Unentschiedenen moralisch auszugrenzen, widerstreitet jedoch nicht nur dem Autonomieprinzip, sondern ebenso den Präsuppositionen einer Entscheidungs-pflicht. Denn diese Pflicht behauptet, dass Ja und Nein gleichrangig seien, was nichts ande-res bedeutet, als dass es keine allgemein gültigen Gründe gibt, sich für das eine oder andere zu entscheiden. So setzt die Entscheidungspflicht eine prinzipielle Unentscheidbarkeit stets schon voraus und damit auch die Möglichkeit, sich nicht entscheiden zu können. Da sie aber eine Entscheidungspflicht sein soll, kennt sie nur ein Ja oder Nein, und schließt damit expli-zit aus, was sie zugleich implizit anerkennen muss. Wenn sie also jene moralisch anzählt, die sich nicht entscheiden können, attackiert sie zugleich ihre eigenen Annahmen.

Dritter Begründungsversuch: Ein Konsistenzargument

In Deutschland, so die Verfechter einer Entscheidungspflicht, existiere bereits eine Art Ent-scheidungszwang, so dass die Forderung einer generellen Erklärungspflicht nur eine Konse-quenz aus der derzeitigen Rechtslage wäre. Denn die geltende erweiterte Zustimmungsregel „ist darauf angelegt, dass Angehörige im Todesfall gefragt werden müssen und damit auch eine Antwort geben müssen, sei sie nun positiv oder negativ. Wenn für Betroffene eine Äußerungspflicht besteht, so ist es eigentlich nur folgerichtig, dass von jedem selbst eine solche Entscheidungspflicht abverlangt werden kann“ ([12], S. 21; Hervorh. K. H.).

Das ist formal stringent, trifft aber faktisch nicht zu. Im TPG wird lediglich von einer Fragepflicht des Arztes gesprochen (§ 4, Abs. 1). Von einer Pflicht zu antworten oder sich zu entscheiden ist nicht die Rede. Richtig ist lediglich, dass diese ärztliche Fragepflicht dazu dient, die Angehörigen zu einer Entscheidung anzuhalten, ohne diese erzwingen zu können. Insofern schafft das Gesetz Rahmenbedingungen, „die diskursiv und normativ bereits die Wahl zwischen den Möglichkeiten vorstrukturieren“ ([9], S. 138). Und dieses Setting trägt

5 Die hier misslingende Handlungsautonomie schließt mithin eine höherstufige personale Autonomie nicht automatisch aus, sondern kann im Gegenteil diese entscheidend mit prägen bzw. ihr Ausdruck sein. Obgleich in diesem Fall alle Voraussetzungen für Handlungsautonomie erfüllt sind (mentale Kompetenz, Informiert-heit, Freiheit von äußeren Zwängen), scheitert eine punktuelle Selbstbestimmung, woraus folgt, dass diese Voraussetzungen allein keine hinreichenden Bedingungen sind, um von Autonomie sprechen zu können.

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(u. a.) dazu bei, dass Angehörige [2], Mediziner, Philosophen6 und Kirchenratsvorsitzende7 dieses Gesetz so erleben können als handele es sich dabei um eine Entscheidungspflicht für Angehörige. Das aber ist de jure nicht der Fall, so dass die verbreitete Wahrnehmung, es gebe eine solche Pflicht, vermuten lässt, dass de facto Üblichkeiten bestehen, die nur schwer mit geltendem Recht zu vereinbaren sind.

Aber angenommen, es gäbe eine solche Verbindlichkeit. Dann könnte man von einer Inkonsistenz im Recht sprechen, die sich durch eine generelle Entscheidungspflicht aufhe-ben ließe. Für die Begründungsfrage wäre damit allerdings wenig gewonnen. Denn ein sol-ches Argument besagt ja nur: Wenn die Angehörigen in der Pflicht sind, sich zu äußern, dann müssen es erst recht auch alle anderen sein. Die ethische Rechtfertigung einer allgemeinen Entscheidungspflicht wird aus einer unterstellten Verpflichtung der Angehörigen gefolgert, ohne anzugeben, worauf diese wiederum ethisch beruht: Warum sollten Angehörige stell-vertretend entscheiden müssen, wenn kein Wille bekannt (oder rekonstruierbar) ist?

Vierter Begründungsversuch: Die Last der Angehörigen

Die geltende Zustimmungsregelung verlangt viel. Denn dass Nahestehende in einer emo-tional schwierigen Situation angesprochen werden müssen, wird von Vielen als Zumutung erlebt – auch von Ärzten.

Gäbe es hingegen eine Bürgerpflicht, sich vorsorgend zu erklären, erübrigte sich eine „peinliche“ Befragung. Wer sich dann nicht äußerte, wäre verantwortungslos, denn wie es bei Nagel et al. heißt: „Es ist unzumutbar, die Entscheidung über eine Organspende den nächsten Angehörigen zu überlassen“ ([13], S. 147). Sich zu entscheiden hingegen wäre eine wortwörtliche „Frage der Nächstenliebe“ ([18], S. 11), da es um die geht, die einem lieb und nah sind und die es vor Unbill zu bewahren gilt.

Eine Entscheidungspflicht ließe sich so aus den unbestrittenen Verpflichtungen ablei-ten, die wir gegenüber unseren Angehörigen haben. Aber diese Begründung scheitert an Einwänden, die bereits bei der Betrachtung des zweiten und dritten Begründungsversuchs vorgebracht wurden.

Inakzeptabel an dieser Argumentation ist zunächst die Unterstellung, dass jeder sich ent-scheiden könne (wenn er nur wolle), dass also eine klare Antwort prinzipiell möglich sei, was aber weder empirisch noch logisch zutrifft. Denn es gibt durchaus den Fall, sich in dieser Sache nicht entscheiden zu können. Und da eine Entscheidungspflicht Ja und Nein als gleichwertige Optionen behandelt, muss sie zudem begrifflich eine prinzipielle Unent-scheidbarkeit voraussetzen.

Ähnlich fragwürdig ist die Behauptung, dass jemand, der sich nicht erklärt hat, seinen Angehörigen die Last der Entscheidung überlasse. Denn das setzt bereits voraus, dass diese zur Entscheidung gezwungen wären. Aber es gibt aus guten ethischen Gründen keine recht-liche Antwortpflicht für Angehörige. Niemand muss für jemand anderen entscheiden – ob nun mit Ja oder Nein. Und genau genommen darf es auch keiner, da immer nur der geäu-

6 „Wenn keine Willensbekundung zur postmortalen Organspende vorliegt, müssen die Angehörigen entschei-den“ ([15], S. 433; Hervorh. K. H.).

7 „Wenn Sie sich zu Lebzeiten nicht für oder gegen eine Organ- oder Gewebespende entscheiden, verpflichtet das Gesetz Ihre Angehörigen, so zu entscheiden, wie Sie es vermutlich gewollt hätten“ ([16], S. 164; Hervorh. K. H.).

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ßerte oder mutmaßliche Wille des Betroffenen maßgebend ist. Nur die Frage mutet der Gesetzgeber (mit Blick auf das Leid der Wartenden) den Angehörigen (und mit der neuen Regelung allen Bürgern) zu (vgl. [8]). Entscheiden kann (wenn überhaupt) nur jeder selbst, ohne es zugleich zu müssen.

Problematisch ist daher weder, dass Bürger sich nicht entscheiden (können), noch die derzeitige gesetzliche Lage, sondern eine hierzulande offenbar etablierte Praxis, die sich (folgt man den Ausführungen von Nagel et al.) zumeist nicht am Willen orientiert und dadurch die Angehörigen ethisch (und nicht nur emotional) belastet: „Hat ein Verstorbener […] seine Zustimmung oder Ablehnung […] nicht dokumentiert, werden die Angehörigen gefragt. Dabei dürfen sie aber nicht gemäß ihrer eigenen Präferenzen entscheiden, sondern haben den Willen des Verstorbenen als Grundlage für die Entscheidung heranzuziehen. Hat sich der Verstorbene zu Lebzeiten nicht konkret zur Spendebereitschaft geäußert – dies ist in den meisten Fällen so – müssen die Angehörigen dann unter Unsicherheit über dessen Wünsche entscheiden“ ([13], S. 147; Hervorh. K. H.).

Dies aber besagt nichts anderes, als dass in der Mehrzahl aller Explantationen nicht der Wille, sondern (eventuelle) Wünsche als Entscheidungskriterien gelten, dass also Frei-willigkeit in praxi (in der ja dem Wortsinn nach von einem freien Willen und nicht von diversen Wünschen die Rede ist) kaum vorliegt; und dieses Zitat zeugt davon, dass ein Entscheidungsdruck gegenüber den Angehörigen kommuniziert wird – auch dann, wenn diese unwissend sind und daher in einem substantiellen Sinn gar nicht entscheiden können.

Um die Angehörigen zu entlasten, wäre das konsequente Beachten bestehenden Rechts das naheliegende und effektive Mittel der Wahl. Dies umzusetzen aber hieße, Verfehlungen einzugestehen, was sich durch eine Entscheidungspflicht vermeiden ließe. Eine Änderung der geltenden rechtlichen Bedingungen schont daher nicht vorrangig die Angehörigen, son-dern entlastet die involvierten Akteure.

Entscheidungspflicht und Interessenbindung

Eine Entscheidungspflicht hat den ehrgeizigen Anspruch, viele mit der Transplantations-medizin einhergehende Probleme lösen zu können. Demgegenüber erwiesen sich alle Begründungsversuche separat betrachtet als ethisch nicht überzeugend. Aber auch der Zusammenhang der vorgebrachten Argumente ist nicht stringent, da die einzelnen Begrün-dungsversuche ebenso untereinander konfligieren.

Die Berufung auf das ethische Prinzip der Hilfeleistung scheitert, weil (um dem Selbst-bestimmungsprinzip gerecht zu werden) Ja und Nein als gleichwertige Antworten gelten. Der Respekt vor dem Autonomieprinzip wiederum leidet unter dem Konsistenzargument. Denn dieses unterstellt, dass Angehörige gezwungen werden könnten, für andere zu ent-scheiden – auch ohne ausreichende Information. Und während eine solche Obliegenheit in diesem Argument als ethisch akzeptable Zumutung gilt, wird im vierten Begründungsver-such die damit verbundene Belastung der Angehörigen als unzumutbar dargestellt.

Offenbar sind die mit einer Entscheidungspflicht verfolgten Ziele nicht zu harmonisieren. Damit bestätigt eine solche Pflicht erneut, was sie selbst zugleich explizit auszuschließen sucht: dass das Thema Organspende hochgradig komplex ist und sich schlichte Alternativen wie Pro oder Contra verbieten.

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Diese eklektische Vielfalt ist aber noch aus einem anderen Grund problematisch. Denn sie provoziert den Eindruck, dass die jeweiligen Begründungswege beliebig sind, soweit sie nur dem Ziel dienen, eine Entscheidungspflicht zu etablieren, so dass die Frage nach den Interessen entsteht, denen eine solche Verbindlichkeit dient.

Nimmt man die Verfechter einer Entscheidungspflicht beim Wort, dann ginge es (neben der Belastung der Angehörigen) vorrangig um das Leid der Wartenden, das sich nur durch eine Steigerung des Organaufkommens lindern lässt. Dass die Spendenrate durch eine sol-che Pflicht zunähme, ist eine empirische Vermutung. Diese beruht auf der Annahme, dass sich hinter dem Gros der Schweigenden eine Mehrheit von Befürwortern verbirgt. Diese Hypothese wiederum ergibt sich aus einer Interpretation von Umfrageergebnissen, in der die begriffliche Differenz zwischen Wünschen und Wollen systematisch ausgeblendet wird. Um zu verstehen, welche Interessen durch eine Entscheidungspflicht gefördert werden, ist daher eine Untersuchung dieser semantischen Unterscheidung vielversprechend.

Wünschen und Wollen: Begriffliche Verwerfungen im Organspendediskurs

Der Begriff des Wollens ist im Diskurs über legitime Explantationen zentral. Denn dass eine Organentnahme ohne Einwilligung ethisch problematisch ist, scheint mit Blick auf den hohen Stellenwert des Autonomieprinzips Konsens zu sein. Strittig hingegen ist, was jeweils als Zustimmung gelten kann. Muss sie (mehr oder weniger) explizit sein (wie bei so genannten Zustimmungsreglungen), oder ist auch Schweigen bereits ein ausreichendes Einverständnis (wie bei Widerspruchslösungen)? Welche Anforderungen müssen erfüllt werden, um von einer freien Einwilligung zu sprechen? Bedarf es einer Art informed con-sent nach ärztlicher Aufklärung oder reichen schon Informationen, die öffentlich in einem entsprechenden Maße medial verfügbar sind?

Welche dieser Möglichkeiten zu überzeugen vermag, ist auch daran gebunden, was konkret unter Wollen verstanden wird. Lebensweltlich lassen sich die Bedeutungen von Wünschen und Wollen klar voneinander abgrenzen. Wünsche können handlungsleitend und damit zu einem Wollen werden. Aber daraus folgt nicht, dass Wollen und Wünschen iden-tisch wären. Denn wünschen kann man vieles, auch sich (logisch) Ausschließendes oder gar (empirisch) Unmögliches. Ein Wille hingegen ist stets handlungsrelevant und schließt (analytisch) auch die nötigen Mittel ein, um den gewollten Zweck zu erreichen. „Man kann nicht wollen, ohne zu tun […] Wünschen ist nicht tun. Aber, Wollen ist tun […] Dass ich einen Vorgang will, besteht darin, dass ich den Vorgang mache“ ([21], S. 183), oder zeigt sich zumindest in der ostentativen Bereitschaft, mich zu engagieren.8

D. h., wenn sich jemand nicht zur Frage der Organspende geäußert hat, ist es nach dieser Semantik nicht möglich, ihm in der Sache einen klaren Willen zu unterstellen. Im deutschen Recht gilt daher Schweigen (in Korrespondenz zum alltäglichen Sprachgebrauch wie auch vielen Erkenntnissen aus Psychologie und Philosophie) in der Regel als „Nullität“, d. h. weder als Artikulation noch als Erklärung eines Willens; und auch der Terminus „Wün-schen“ taucht im TPG explizit nicht auf.9

8 Vgl. zur Differenz von Wünschen und Wollen in der analytischen Handlungstheorie und modernen Psycho-logie sowie zur Unterscheidung verschiedener Arten von Wünschen: [3], S. 25–67.

9 Implizit insofern, als bei der Bestimmung eines mutmaßlichen Willens auch Wunschvorstellungen ein-bezogen werden – neben Bedürfnissen, Interessen und Werthaltungen. Da es hier Konfliktmöglichkeiten

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Schaut man sich davon ausgehend den Organspendediskurs an, fällt zweierlei auf: Einer-seits werden Wünschen und Wollen oftmals synonym gebraucht, als wären sie semantisch austauschbar.10 Zum anderen lässt sich der Versuch beobachten, die Bedeutung des Wol-lens durch den Begriffsgehalt des Wünschens weitgehend zu ersetzen. So geht der Natio-nale Ethikrat davon aus, dass die bekannte Diskrepanz zwischen verbaler Bejahung der Organspende und wirklicher Absichtserklärung (etwa durch einen Spendeausweis) davon zeuge, dass eine Organspende „eigentlich gewollt ist“ ([14], S. 25). Während der herkömm-liche Sprachgebrauch nahe legt, dies als eine Differenz zwischen Wünschen und Wollen zu verstehen, wird hier der „eigentliche“ Wille gerade dadurch charakterisiert, dass er sich verbirgt. Eigentlich und damit entscheidend wäre mithin ein Wille ohne Handlungsrele-vanz, also das, was gewöhnlich „bloßer Wunsch“ hieße. Sowohl der synonyme Gebrauch von Wollen und Wünschen als auch die begriffliche Substitution des Wollens durch das Wünschen ebnen bekannte semantische Unterschiede ein, was, wie sich vermuten lässt, bestimmte Interessen stützt.

Wenn man begrifflich das Wollen dem Wünschen angeglichen hat, so dass ein Wille sich nicht mehr praktisch äußern muss, um Wille zu sein, dann ist es nicht mehr weit zur Widerspruchslösung, in der Schweigen automatisch als Einwilligung gilt. Aber auch eine Entscheidungspflicht profitiert davon, da diese ähnlich binär strukturiert ist, so dass keine Antwort auch eine Antwort wäre, nur eben kein Ja, sondern ein (implizites) Nein.11 Hält man sich hingegen an den maßgeblichen Sinngehalt dieser Begriffe, dann erscheint unter der Voraussetzung, dass allein eine Einwilligung Explantationen rechtfertigt, eine Zustim-mungslösung ohne Entscheidungszwang als das ethisch angemessene Reglement.

Dieser (weitgehend stille) Streit um Worte und ihre Bedeutungen ist also (auch) ein Kampf um rechtliche Regelungen. Und dieser Disput ist nur oberflächlich ein Konflikt zwi-schen jenen, die den Schutz der Selbstbestimmung betonen, und anderen, die behaupten, vor allem Schwerkranken helfen zu wollen, was eine höhere Spendequote verlange. Denn empirisch ist gut belegt, dass der Wechsel etwa von einer Zustimmungs- zu einer Wider-spruchslösung die Spendenrate nicht beeinflusst, sondern dass es organisatorische Faktoren sind, die darüber entscheiden (vgl. [19]).12 Man könnte es sich also durchaus leisten, hohe

gibt (wir haben durchaus Wünsche, die wir als ethisch fragwürdig beurteilen oder die unseren Bedürfnissen widerstreiten), können Wunschvorstellungen für sich genommen nicht darüber entscheiden, was mutmaßlich der Wille einer Person ist.10 Eine solche synonyme Gleichsetzung von Wollen und Wünschen findet sich in dem bereits angeführten Zitat von Nagel et al. ([13], S. 147), aber auch bei Schöne-Seifert, die die in Deutschland geltende Regelung so beschreibt: „Die Mehrzahl schweigt sich zu Lebzeiten aus, so dass nun ersatzweise die Angehörigen eine Spende verfügen könnten. Dabei sind sie gehalten, soweit möglich als Sprachrohr des Verstorbenen zu die-nen, sich also an dessen mutmaßlichem Willen zu orientieren. Nur wenn kein Anhalt über die eigenen Wün-sche des potentiellen Spenders besteht, kommt den Angehörigen ein subsidiäres Entscheidungsrecht nach eigenem Dafürhalten zu“ ([17], S. 143, Hervorh. K. H.). Auch Schöne-Seifert referiert eine offenbar übliche Praxis und nicht geltendes Recht, wenn sie den Angehörigen ein Entscheidungsrecht zuerkennt, das so weit geht, dass dabei nicht einmal konkrete Wünsche bekannt sein müssen, um eine Explantation zu legitimieren.11 So Marita Donauer, betroffene Angehörige, DSO-Aktivistin und Mitstreiterin für eine Entscheidungs-pflicht. Sie versteht die Frage nach der Organspende explizit als eine, „die man nur mit Ja oder Nein beant-worten kann. Man kann nicht nicht antworten, sich also der Verantwortung entziehen, denn keine Antwort wäre auch eine Antwort – in diesem Falle Nein […] Sich nicht zu entscheiden geht also nicht“ ([2], S. 56).12 So konzediert auch Nagel (mit Bezug auf den Vorschlag des Nationalen Ethikrates, die Zustimmungsrege-lung via Entscheidungslösung in eine Widerspruchsregelung zu transformieren), es spiele „keine Rolle, ob hinter einem Erklärungsmodell eine erweiterte Zustimmungs- oder eine Widerspruchslösung steht. Ohnehin

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ethische Standards bei der Explantation zu beachten, ohne dass dies zugleich auf Kosten jener ginge, die existenziell auf Organersatz angewiesen sind.

Was sich durch solche Wechsel rechtlicher Arrangements allerdings gravierend ändern lässt, sind die Arbeitsbedingungen im Transplantationsbetrieb, so dass der Schluss nahe liegt, dass die Argumentationen für eine Widerspruchslösung bzw. Entscheidungspflicht (auch) darauf abzielen. Denn pragmatisch gesehen wäre es für die Akteure zweifellos leich-ter, wenn sich die Bürger entscheiden würden oder man dies (begrifflich) unterstellen und (rechtlich) erzwingen könnte: Die Gespräche mit Angehörigen entfielen weitgehend; auf-wändige ethische Reflexionen wären kaum mehr nötig; man hätte Rechtssicherheit, könnte sich ganz auf die medizinischen Aspekte konzentrieren, und die Abläufe ließen sich effizi-enter gestalten.

Der Wunsch nach solcher Einfachheit ist daher (als Wunsch) durchaus verständlich. Ob eine solche Perspektive den Schwierigkeiten der Sache gerecht wird, ist hingegen, wie dar-gelegt, zweifelhaft. Und auch der Versuch, eine solche pragmatische Klarheit durch das Verwischen gängiger Begriffsinhalte zu lancieren, stimmt skeptisch. Warum die begriffli-che Differenzierung zwischen Wünschen und Wollen bei der Frage der Explantation auf-gegeben werden sollte, ist eine Frage, die im vorherrschenden Organspendediskurs weder gestellt noch mit guten Gründen beantwortet wird.

Die bedeutungsstiftende Verwendung von Begriffen ist eine Praxis, die mit unseren Lebensformen verwoben ist und sich nicht beliebig durch partielle Interessenlagen ändern lässt. Wer dies dennoch versucht, sollte bedenken, dass ein Verzicht auf die Unterscheidung von Wünschen und Wollen gravierende Folgen für unser moralisches Selbstverständnis hätte. Denn ohne diese Begriffe wäre es schwierig, zentrale ethische Phänomene angemes-sen zu beschreiben.13

Der Vorschlag einer Entscheidungspflicht überzeugt nicht. Die bestehende gesetzli-che Regelung erweist sich demgegenüber in ihren Grundzügen als ethisch gut begründet. Zugleich deuten einige der vorgebrachten Argumente für eine Äußerungspflicht darauf hin, dass die etablierte Praxis von Explantationen ethisch und rechtlich bedenklich ist. Skepsis ist nicht unmoralisch, sie ist angebracht.

Interessenkonflikt K. Haucke gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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wird von einer solchen gesetzlichen Regelung kein wesentlicher Input für den Bereich der Organspende zu erwarten sein“ ([10], S. 10).13 Etwa Schuld und Reue: Die Übernahme einer Schuld impliziert die Einsicht, dass ich es getan, also auch gewollt habe. Reue besteht darin, dass ich mir zugleich wünsche, ich hätte es nicht gewollt – und dabei weiß, dass dieser Wunsch, so stark er auch sein mag, unerfüllbar (und daher gerade kein Wollen) ist: Denn das, was geschehen ist, kann ich nicht mehr ändern bzw. zurücknehmen (vgl. [3], S. 41).

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