4
Akupunktur German Journal of Acupuncture & Related Techniques Deutsche Zeitschrift für DZA Originalia | Original articles 10 10 Dt. Ztschr. f. Akupunktur 58, 2/2015 W. Michel-Zaitsu Facetten der japanischen Akupunktur im frühen euro-japanischen Kulturaustausch – Teil 1 Facets of Japanese acupuncture in early European-Japanese cultural interaction – part I Prof. em. Dr. Wolfgang Michel 1-6-6 Jigyohama Chuoku Fukuoka-City Japan 810-0065 Medizin im frühen Austausch zwischen Ost und West Begriffe wie traditionelle chinesische, japanische oder westliche Medizin haben auf einer abstrahierenden Ebene ihre Funktion und Berechtigung, bei einem historischen Rückblick verdecken sie jedoch nur allzu leicht die regionale Vielfalt auf beiden Seiten. In Ost wie West gab es heftig konkurrierende Lehrtraditionen, dazu so manches Konglomerat aus eigentlich inkompatiblem altem und neuem Wis- sen, und vielerorts war die im Alltag ausgeübte Therapie der Ärzte nur in Teilen durch die jeweils vertretene Theorie gedeckt. Man sollte auch die Auswirkungen der räumlichen und sprachlichen Distanz auf die Art, den Umfang und die Intensität des Kulturaustauschs nicht unterschätzen. Direkte Begegnungen von westlichen und östlichen Ärzten fanden ausschließlich in Ostasien statt. Erschwerend kam hinzu, dass China, Korea und Japan europäische Ankömmlinge nicht bzw. nur selektiv ins Land ließen. Dies hemmte das tiefere Eindrin- gen in das fremde Denken. Rund drei Jahrhunderte blieb die Rezep- tion auf einzelne Werke, Konzepte und Therapievorschläge beschränkt. Hierzu gesellten sich regionale Ungleichgewichtigkeiten. Bis ins 19. Jahrhundert wurde die westliche Medizin vorwiegend in Japan rezipiert, und über 70 Prozent der bis dato in Europa publizierten 270 Arbeiten zur Akupunktur und Moxibustion beruhen auf in Japan gesammelten Materialien und Informationen. Manches davon spie- gelt chinesische Traditionen wider. Doch brachte diese frühe Begeg- nung Japans mit der westlichen Medizin erstmals einen Bezugspunkt (Tertium comparationis), der Vergleiche und Relativierung ermög- lichte, was die Lösung von der chinesischen Dominanz beträchtlich erleichterte. In der Folge bildeten sich sogar im Lager der bewusst auf China zurückgreifenden japanischen Ärzte neue Ansätze und Therapien, in denen Erfahrung und Beobachtung die überlieferten Doktrinen ablösten. Spätestens seit der Frühen Neuzeit gebührt daher der „traditionellen japanischen Medizin“ (TJM) ein eigenständiger Platz neben der „traditionellen chinesischen Medizin“ (TCM). Erste Kontakte Der kontinuierliche direkte Austausch zwischen Japan und Europa begann 1549 mit der Anlandung von Francisco de Xavier (1506– 52), einem der Begründer der Societas Jesu und Pionier der christ- lichen Ostasien-Mission. Nur acht Jahre später gründete Luis de Almeida, ein portugiesischer Chirurg und Handelsmann, der sich, vom Wirken der Japanmission zutiefst bewegt, den Jesuiten ange- schlossen hatte, ein Krankenhaus in Funai (heute Oita). De Almeida übte hier für kurze Zeit seine chirurgische Kunst aus, weshalb me- dizinhistorische Autoren vom ersten westlichen Krankenhaus Ja- pans sprechen. Das mag für die chirurgische Abteilung zutreffen. Doch überließ man die innere Medizin (hondō, Hauptweg) konver- tierten einheimischen Mönchsärzten, die ihr mit dem Buddhismus aus China übernommenes medizinisches Wissen einbrachten. Einige wie Paulo Kyōzen, Thomé Uchida, Miguel und Diogo werden in Sendschreiben der Missionare namentlich gepriesen. Sie verwende- ten chinesische Rezepturen und gaben Instruktionen anhand chi- nesischer Schriften [1]. Pater Luis Frois, ein medizinischer Laie, der stets japanische Heilmittel und solche aus überseeischen Territorien mit sich führte, war daher in der Lage, den Puls auf die „japanische Art“ zu nehmen [1, 2]. Auch ließ er sich moxibustieren und erklärte im Vorwort seiner „Historia de Iapão“, um Verwechslungen mit dem gleichnamigen westlichen Kautereisen auszuräumen, dass der ja- panische ‚Feuerknopf’ („botão de fogo“) aus Kräutern gefertigt werde und sehr mild brenne [2]. Weder im Krankenhaus zu Funai noch in den kleineren karitativen Häusern („casas da misericordia“) der Mission war man von dem, was an westlicher Medizin ins Land Abstract The impressive cultural aura of China blocks the view of the in- dependency and achievements in its neighbouring countries far too easily. Until the 19th century Western publications on acu- puncture and moxibustion were based predominantly on infor- mation gathered in Japan, nevertheless differences in the traditional medicine of both countries were hardly perceived. This paper traces some basic traits of Japanese acupuncture in 17th-cen- tury Japan, when Europeans tried for the first time to understand this strange therapy from a world apart and Japanese physicians set out to develop new concepts and treatment methods. At the same time the conditions of the Euro-Japanese medical exchange and the background of several Japanese medical innovations are demonstrated. Keywords Traditional Japanese Medicine (TJM), acupuncture, tapping needle, guiding tubes, Mubun, Misono Isai, Sugiyama Wa’ichi, Nagata Tokuhon, Willem ten Rhijne, Engelbert Kaempfer Zusammenfassung Die überwältigende kulturelle Ausstrahlung Chinas verstellt nur allzu leicht den Blick auf die Eigenständigkeit und Leistungen der anrainenden Länder. Obwohl westliche Schriften zur Akupunktur und Moxibustion bis zum 19. Jahrhundert überwiegend auf Infor- mationen aus Japan beruhten, sah man lange kaum einen Unter- schied zur traditionellen chinesischen Medizin. Nachfolgend werden einige Züge der japanischen Akupunktur im 17. Jahrhundert nach- gezeichnet, als die Europäer erstmals versuchten, einen Einblick in diese fremdartige Therapie aus einer so fernen Welt zu gewinnen und japanische Ärzte aufbrachen, um neue Konzepte und Behand- lungsmethoden zu entwickeln. Hierbei werden zugleich die Bedin- gungen des euro-japanischen Austauschs und der Hintergrund einiger japanischer Neuentwicklungen in der Medizin aufgezeigt. Schlüsselwörter Traditionelle Japanische Medizin (TJM), Akupunktur, Klopfnadel, Führungsröhrchen, Mubun, Misono Isai, Sugiyama Wa’ichi, Nagata Tokuhon, Willem ten Rhijne, Engelbert Kaempfer

Originalia | Original articles DZA Akupunktur · Erste Kontakte Der kontinuierliche direkte Austausch zwischen Japan und Europa ... der sich, vom Wirken der Japanmission zutiefst

  • Upload
    vodan

  • View
    212

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

AkupunkturG e r m a n J o u r n a l o f A c u p u n c t u r e & R e l a t e d T e c h n i q u e s

D e u t s c h e Z e i t s c h r i f t f ü r

DZA

Originalia | Original articles

1010    Dt. Z tschr. f. Akupunktur 58, 2 / 20 15

W. Michel-Zaitsu

Facetten der japanischen Akupunktur im frühen euro-japanischen Kulturaustausch – Teil 1

Facets of Japanese acupuncture in early European-Japanese cultural interaction – part I

Prof. em. Dr. Wolfgang Michel1-6-6 JigyohamaChuokuFukuoka-CityJapan 810-0065

Medizin im frühen Austausch zwischen Ost und West Begriff e wie traditionelle chinesische, japanische oder westliche Medizin haben auf einer abstrahierenden Ebene ihre Funktion und Berechtigung, bei einem historischen Rückblick verdecken sie jedoch nur allzu leicht die regionale Vielfalt auf beiden Seiten. In Ost wie West gab es heftig konkurrierende Lehrtraditionen, dazu so manches Konglomerat aus eigentlich inkompatiblem altem und neuem Wis-sen, und vielerorts war die im Alltag ausgeübte Therapie der Ärzte nur in Teilen durch die jeweils vertretene Theorie gedeckt. Man sollte auch die Auswirkungen der räumlichen und sprach lichen Distanz auf die Art, den Umfang und die Intensität des Kulturaustauschs nicht unterschätzen. Direkte Begegnungen von westlichen und östlichen Ärzten fanden ausschließlich in Ostasien statt. Erschwerend kam hinzu, dass China, Korea und Japan europäische Ankömmlinge nicht bzw. nur selektiv ins Land ließen. Dies hemmte das tiefere Eindrin-gen in das fremde Denken. Rund drei Jahrhunderte blieb die Rezep-tion auf einzelne Werke, Konzepte und Therapievorschläge beschränkt. Hierzu gesellten sich regionale Ungleichgewichtigkeiten. Bis ins 19. Jahrhundert wurde die westliche Medizin vorwiegend in Japan rezipiert, und über 70 Prozent der bis dato in Europa publizierten 270 Arbeiten zur Akupunktur und Moxibustion beruhen auf in Japan gesammelten Materialien und Informationen. Manches davon spie-gelt chinesische Traditionen wider. Doch brachte diese frühe Begeg-nung Japans mit der westlichen Medizin erstmals einen Bezugspunkt (Tertium comparationis), der Vergleiche und Relativierung ermög-lichte, was die Lösung von der chinesischen Dominanz beträchtlich erleichterte. In der Folge bildeten sich sogar im Lager der bewusst auf China zurückgreifenden japanischen Ärzte neue Ansätze und Therapien, in denen Erfahrung und Beobachtung die überlieferten Doktrinen ablösten. Spätestens seit der Frühen Neuzeit gebührt daher

der „traditionellen japanischen Medizin“ (TJM) ein eigenständiger Platz neben der „traditionellen chinesischen Medizin“ (TCM).

Erste KontakteDer kontinuierliche direkte Austausch zwischen Japan und Europa begann 1549 mit der Anlandung von Francisco de Xavier (1506–52), einem der Begründer der Societas Jesu und Pionier der christ-lichen Ostasien-Mission. Nur acht Jahre später gründete Luis de Almeida, ein portugiesischer Chirurg und Handelsmann, der sich, vom Wirken der Japanmission zutiefst bewegt, den Jesuiten ange-schlossen hatte, ein Krankenhaus in Funai (heute Oita). De Almeida übte hier für kurze Zeit seine chirurgische Kunst aus, weshalb me-dizinhistorische Autoren vom ersten westlichen Krankenhaus Ja-pans sprechen. Das mag für die chirurgische Abteilung zutreff en. Doch überließ man die innere Medizin (hondō, Hauptweg) konver-tierten einheimischen Mönchsärzten, die ihr mit dem Buddhismus aus China übernommenes medizinisches Wissen einbrachten. Einige wie Paulo Kyōzen, Thomé Uchida, Miguel und Diogo werden in Sendschreiben der Missionare namentlich gepriesen. Sie verwende-ten chinesische Rezepturen und gaben Instruktionen anhand chi-nesischer Schriften [1]. Pater Luis Frois, ein medizinischer Laie, der stets japanische Heilmittel und solche aus überseeischen Territorien mit sich führte, war daher in der Lage, den Puls auf die „japanische Art“ zu nehmen [1, 2]. Auch ließ er sich moxibustieren und erklärte im Vorwort seiner „Historia de Iapão“, um Verwechslungen mit dem gleichnamigen westlichen Kautereisen auszuräumen, dass der ja-panische ‚Feuerknopf’ („botão de fogo“) aus Kräutern gefertigt werde und sehr mild brenne [2]. Weder im Krankenhaus zu Funai noch in den kleineren karitativen Häusern („casas da misericordia“) der Mission war man von dem, was an westlicher Medizin ins Land

AbstractThe impressive cultural aura of China blocks the view of the in-dependency and achievements in its neighbouring countries far too easily. Until the 19th century Western publications on acu-puncture and moxibustion were based predominantly on infor-mation gathered in Japan, nevertheless diff erences in the traditional medicine of both countries were hardly perceived. This paper traces some basic traits of Japanese acupuncture in 17th-cen-tury Japan, when Europeans tried for the fi rst time to understand this strange therapy from a world apart and Japanese physicians set out to develop new concepts and treatment methods. At the same time the conditions of the Euro-Japanese medical exchange and the background of several Japanese medical innovations are demonstrated.

KeywordsTraditional Japanese Medicine (TJM), acupuncture, tapping needle, guiding tubes, Mubun, Misono Isai, Sugiyama Wa’ichi, Nagata Tokuhon, Willem ten Rhijne, Engelbert Kaempfer

ZusammenfassungDie überwältigende kulturelle Ausstrahlung Chinas verstellt nur allzu leicht den Blick auf die Eigenständigkeit und Leistungen der anrainenden Länder. Obwohl westliche Schriften zur Akupunktur und Moxibustion bis zum 19. Jahrhundert überwiegend auf Infor-mationen aus Japan beruhten, sah man lange kaum einen Unter-schied zur traditionellen chinesischen Medizin. Nachfolgend werden einige Züge der japanischen Akupunktur im 17. Jahrhundert nach-gezeichnet, als die Europäer erstmals versuchten, einen Einblick in diese fremdartige Therapie aus einer so fernen Welt zu gewinnen und japanische Ärzte aufbrachen, um neue Konzepte und Behand-lungsmethoden zu entwickeln. Hierbei werden zugleich die Bedin-gungen des euro-japanischen Austauschs und der Hintergrund einiger japanischer Neuentwicklungen in der Medizin aufgezeigt.

SchlüsselwörterTraditionelle Japanische Medizin (TJM), Akupunktur, Klopfnadel, Führungsröhrchen, Mubun, Misono Isai, Sugiyama Wa’ichi, Nagata Tokuhon, Willem ten Rhijne, Engelbert Kaempfer

Originalia | Original articles

Dt Z tschr f Akup. 58, 2 / 20 15    1 11 1    DZA

W. Michel-Za i tsu Facet ten der japanischen Akupunktur im frühen

euro-japanischen Kulturaustausch – Te i l 1

gelangte, überwältigt. In einem Memorandum, das Frois 1585 für den Visitator Alessandro Valignano aufsetzte, heißt es, dass die Japa-ner die Urinschau, Klis-tiere, den Aderlass, das Brenneisen und andere Therapien ablehnten, die man in Europa für unerlässlich halte [3]. Europäische Heilmittel gelangten ohnehin nie in ausreichender Menge nach Funai. Die Be-stände in de Almeidas „offi cina“ wurden mit Kräutern aus den um-liegenden Bergen sowie durch Lieferungen aus Macau und Cochin (heute Kochi) im Süden Indiens, also mit chine-sischen und „indischen“ Mitteln, aufgestockt [1, 2, 4]. Auch portugiesi-

sche Seeleute genasen dank chinesischer Rezepturen [1]. Leider fi el dieses Experiment der Koexistenz von westlicher Chirurgie und östlicher Innerer Medizin schon während der Achtzigerjahre des 16. Jahrhunderts den Hegemonialkämpfen der Feudalherren Kyus-hus zum Opfer. Überdies gab es unter den Jesuiten wenig Begeis-terung über de Almeidas Chirurgie, einem blutigen Handwerk, zu dem die Kirche seit dem 12. Jahrhundert Abstand hielt. Ein von dem Visitator Francesco Pasio (1554–1612) im Jahr 1612 erlassenes kategorisches Verbot („obediencia“), Medizin oder Chirurgie zu er-lernen, auszuüben beziehungsweise Bücher über diese Materie zu besitzen, lässt vermuten, dass einige Pater und Katecheten noch immer ärztlichen Beistand leisteten. Die ohnehin spärlichen medi-zinischen Hinweise verschwanden nach diesem Verbot völlig aus der Korrespondenz. 1603 erschien in Nagasaki ein in lateinischen Lettern gedrucktes japanisch-portugiesisches „Vocabulario da Lingoa de Iapam“ mit über 32.000 Stichwörtern [5]. Hier fi nden wir 190 Heilpfl anzen bzw. Medikamente, 450 Krankheitsbezeichnungen, 240 anatomische Termini, 50 Stichwörter für den Bereich der Akupunktur und Moxi-bustion, 15 Instrumente und 27 veterinärmedizinische Termini. Sechs Pulsarten wurden aufgenommen. Nachfolgend einige Bei-spiele aus dem Bereich der Akupunktur [6].Akupunkturnadeln wurden von speziellen harisuri (wörtlich Nadel-schleifer) genannten Handwerkern hergestellt. Der Name erscheint erstmals in japanischen Texten um das Jahr 1500:

Harisuri. Jemand, der die Nadeln macht, welche die Japaner benutzen, um wegen einer Erkrankung Nadelungen an bestimm-ten Stellen des Körpers vorzunehmen.

Weiter fi ndet man hier den ersten schriftlichen Beleg überhaupt für haritate, wörtlich etwa so viel wie „Nadelsteller“, eine heute unge-bräuchliche Bezeichnung für jene Akupunkteure, die mit „Klopfna-deln“ (siehe weiter unten) arbeiteten.

Haritate. Jemand, der bei Erkrankungen mit bestimmten Na-deln gemäß den Bräuchen in Japan Nadelungen („agulhadas“) vornimmt.

Die aus China übernommene Technik des drehenden Einstechens ist unter dem Verb hineru (drehen) und unter einigen Nadelsorten aufgeführt:

Hineru. (...) Hari wo hineru. Medizinische Nadeln mit den Fin-gern drehend ins Fleisch setzen.Hari. Nadel oder Lanzette. Hari wo hineru. Nadeln oder Nägel zur Behandlung an bestimmte Körperteile setzen. Hari wo tsukō. Lanzettieren, wie (z. B.) beim Aderlass von Pferden.Ginshin. Shirokane no hari. Nadel aus Silber. Zum Beispiel ginshin wo hineru. Eine Silbernadel in das Fleisch eindrehen.Kinshin. Kogane no hari. Eine Art von Goldnadeln, welche die Japaner in der Medizin verwenden.

Die damals noch junge Bezeichnung „Klopfnadel“ (uchibari) sowie die bereits im chinesischen Klassiker Líng shū beschriebene ‚Halte-nadel’ (tomebari, chines. liúzhēn) gehörten gewiss nicht zur All-tagssprache:

Uchibari. Nadel, die man unter Schlagen in den Körper setzt. Uchibari wo utsu. Diese Nadel dort einschlagen.Tomebari. Nadel, die man an bestimmte Körperstellen setzt, um den Kammerzwang (= Diarrhö) zu verhindern. Tomebari wo tatsuru. Diese Nadel setzen.

Des Weiteren bietet das „Vocabulario“ den ältesten Beleg überhaupt für die Bezeichnung „Breit-Nadel“:

Hirabari. (...) Item. Lanzette, um Pferde zur Ader zu lassen oder Menschen. Zum Beispiel hirabari wo tatsuru. Lanzettierung, um Blut abzunehmen.

Gemeint ist das als „Trakt-Stechen“ (shiraku) bezeichnete Ablassen geringster Mengen „schlechten Blutes“ (oketsu), das gewöhnlich an Kapillargefäßen vorgenommen wurde. Wie die entsprechenden Stichwörter zeigen, kannten die Missionare des Weiteren die Bild-tafeln (zukyō) und Modelle (zubōshi) zur Lokalisierung der zwölf Haupt- (jūnikei, wörtl. zwölf Kanäle) und 15 Neben-Leitbahnen (jūgoraku, wörtl. 15 Trakte), sowie die Namen von fünf Therapie-punkten zur Moxibustion. Seit 1587 allerdings gerieten die kleine Schar der im Lande leben-den „Südbarbaren“ (Portugiesen und Spanier) und mit ihnen die einheimischen Christen unter massiven Druck. Zunächst handelte es sich um Ad-hoc-Reaktionen auf Zwischenfälle, bald aber griff en die japanischen Machthaber aus innenpolitischem Kalkül zu schär-feren Unterdrückungsmaßnahmen. Schon 1589 gab es dem Vize-provinzial Gaspar Coelho zufolge in seinem Umfeld keine (christlichen) Ärzte mehr, und niemand wisse, wie ein Aderlass vor-zunehmen sei [1]. Zwei Jahre später musste der in Kyōto erkrankte Pater João Rodrigues zur Behandlung ins 700 km entfernte Nagasaki reisen [7]. Das dort von Japanern unterhaltene Pfl egeheim hielt sich als das letzte seiner Art bis 1620. Zu dieser Zeit schwollen die Be-richte über den Märtyrertod glaubensfester Japaner und Missionare an. Nach einem nur mit Mühe niedergeschlagenen Aufstand der christlichen Landbevölkerung von Amakusa und Shimabara kam es schließlich zum Verbot des Christentums und zur Ausweisung der letzten verbliebenen Portugiesen und Spanier. Insofern kann es nicht verwundern, dass im „Christlichen Jahrhundert“ Japans (1549–1639) keine einzige ausführliche Beschreibung der japanischen Medizin nach Europa gelangte.

Beginn kontinuierlicher Begegnungen

europäischer und japanischer Ärzte

Den Kaufl euten der niederländischen Ostindien-Kompanie (Verenigde Oostindische Compagnie), die seit 1609 in Hirado eine kleine Fak-torei unterhalten durften, blieb dieses Schicksal erspart − aus han-delspolitischen Gründen und auch dank ihres Desinteresses an jeglicher Missionsarbeit. Doch verlegte man 1641, also kurz nach der

Abb. 1: Erstes Sendschreiben der Japanmission,

abgedruckt in der Briefsammlung Cartas que

os Padres e Irmãos da Companhia de Jesus

escreuerão dos Reynos de Iapão & China, 1598.

(Biblioteca Nacional de Portugal, Lissabon)

AkupunkturG e r m a n J o u r n a l o f A c u p u n c t u r e & R e l a t e d T e c h n i q u e s

D e u t s c h e Z e i t s c h r i f t f ü r

DZA

Originalia | Original articles

DZA     1 2  1 2    Dt Z tschr f Akup. 58, 2 / 20 15

Ver treibung der „Südbarbaren“, ihre Handelsstation in das der Zen-tralregierung unterstellte Nagasaki. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts agierten sie dort auf einem Inselchen namens Dejima ( Deshima) − weitgehend isoliert und unter Aufsicht des lokalen Gouverneurs. Dies brachte einen fundamentalen Wandel im medizinischen Aus-tausch mit sich. Denn nun richtete die Kompanie eine feste Stelle für einen Arzt (Chirurgen) ein. Fortan lebte mindestens ein medi-zinisch beschlagener Europäer in Japan, der überdies den Leiter der Niederlassung auf der sogenannten Hofreise nach Edo (heute Tokio), dem Sitz des Shōgun, begleitete. Nachdem der Leipziger Chirurg Caspar Schamberger im Jahr 1650 mit seinen Therapien das Inte-resse hochgestellter Feudalherren geweckt hatte, wurden die Faktoreiärzte fortan in Edo und Nagasaki konsultiert und um Heil-mittel, Instrumente und Unterrichtung gebeten. Es entstand eine „Chirurgie im Stile der Holländer“, die sich nach und nach in Ver-bindung mit anderen Wissensbereichen wie Botanik, Astronomie,

Waff enkunde usw. zu einer umfassenden „Hollandkunde“ (rangaku) entwickelte [8]. Als Vermittler westlichen Wissens genossen die Faktoreiärzte aller-lei Privilegien. Dank ihrer Kontakte bis in die Spitze der japanischen Hierarchie und ihrer geringen Arbeitsbelastung konnten sie, ihr In-teresse vorausgesetzt, mehr Informationen über Land und Leute sammeln als jeder andere Europäer auf Dejima. Alle wichtigen Pu-blikationen zu Japan, die einheimische Medizin eingeschlossen, stammen aus diesem Kreis. Allerdings blieben die meisten nur ein bis zwei Jahre in Nagasaki und waren bei Gesprächen wie auch bei der Erschließung von Texten von den Sprach- und Sachkenntnis-sen japanischer Dolmetscher abhängig [9]. In den Papieren der Kom-panie fi nden wir über 90 Namen. Zunächst dominierten Chirurgen aus niederländischen und deutschen Gilden. Im Laufe des 18. Jahr-hunderts wuchs die Zahl studierter Ärzte. Nach der Aufl ösung der Kompanie und der Übernahme ihrer Besitzungen durch den Staat im Jahr 1798 wurden überwiegend Absolventen der medizinischen Militärschulen eingesetzt.

Willem ten Rhijne und die Klopfnadelung Willem ten Rhijne (?–1700), der erste promovierte westliche Medi-ziner in Japan, hatte sich während seines zweijährigen Aufenthal-tes (1674–1676) gezielt um Informationen zur einheimischen Heilkunde bemüht. In der ersten Abhandlung seines 1683 publi-zierten Sammelwerks konnte er daher die Nutzungsmöglichkeiten der 1674 durch den batavischen Pfarrer Hermann Buschoff bekannt gewordenen Moxa präzisieren [10]. Die hierauf folgende „Mantissa Schematica“ hingegen ist ein ziemlich wirrer Versuch, einen Klassiker der Leitbahn-Theorie zu vermitteln, nämlich das von dem chinesischen Arzt Wáng Wéiyī (987–1067) verfasste „Illustrierte Handbuch des Nadelns und Brennens der Transportpunkte, gezeigt an der Bronzefi gur“ (Tóngrén shùxué zhēn-jiǔ tújīng). Etwas klarer

fi el seine Abhandlung „De Acu-punctura“ aus, in der er drei Techniken nennt: den einfa-chen, direkten Einstich, das Eindrehen der Nadel mit Dau-men und Zeigefi nger sowie das sachte Einschlagen der Nadel mit einem kleinen Hämmer-chen. Die beiden ersten Formen stammen aus China. Bei der dritten handelt es sich um eine seinerzeit neue japanische Er-fi ndung, was dem Autor nicht bewusst war. Diese sogenannte Klopfnade-lung (dashinhō) geht auf Mubun zurück, einen buddhistischen Mönch des 16. Jahrhunderts, der die herkömmlichen Leitbahn-Konzepte ignorierte und statt-dessen die Bauchoberfl äche zum Ort der Diagnose und Therapie deklarierte. Zwar fi ndet man im „Handbuch der Schwierigkeiten“ (Nánjīng, Kap. 8, 16, 66) und auch in Zhāng Zhòngjǐngs „ Abhandlung über durch Kälte verursachte Körperschäden“ (Shānghán lùn) Grundzüge einer Abdominal diagnose, doch spielte

Abb. 2: Die niederländische Handelsniederlassung Dejima gegen Ende

des 17. Jahrhunderts: Nr. 24 Krankenstation; Nr. 28 Haus und Praxis

des Faktoreiarztes (Salmon, T. Hedendaegsche historie, of tegenwoordige staat

van alle volkeren. Amsterdam: Isaac Tirion, 1729. Sammlung des Autors)

Abb. 3a: Frontalbild der Organe in Terashima Ryōans Enzyklopädie Wakan sansai zue (Edo, 1712. Sammlung des Autors);

3b: Organbezirke auf der Bauchoberfl äche nach Mubun (Shindō hiketsushū, 1685. Medical Library, Kyushu University, Fukuoka)

Originalia | Original articles

Dt Z tschr f Akup. 58, 2 / 20 15    1313    DZA

W. Michel-Za i tsu Facet ten der japanischen Akupunktur im frühen

euro-japanischen Kulturaustausch – Te i l 1

sie in China nie jene Bedeutung, die man ihr in Japan beimaß [11, 12]. Hier galt der Bauch (hara) über den Bereich der Medizin hinaus seit alters her als Sitz der Emotionen und des Denkens und spielte eine zentrale Rolle im Selbst- und Körperverständnis, was noch heute in zahlreichen Redewendungen der Alltagssprache erkennbar ist [13]. In der Medizin verstärkte sich dieses Denken mit dem Übergang zur Neuzeit um ein Weiteres. Durch „Bauchwürmer“ ausgelöste Leiden und ein senki genanntes Krankheitsbild werden in der Edo-Zeit häufi ger denn je diagnostiziert. In der Welt der Massagen kommt eine spezielle Bauchmassage (anpuku) auf, und im Zuge der Weiter-entwicklung der Bauchdiagnose (fukushin) entstehen elaborierte Konzepte und konkurrierende Lehrtraditionen. Mubuns Klopfnadel-therapie markiert mithin auch die wachsende Popularität der Abdo-minalregion. Die Bauchfl äche wird bei ihm zu einer Karte des Körperinneren. Die Lage der einzelnen Bereiche (Herz, Milz, Lunge, Leber, Magen, Galle, Dickdarm, Dünndarm, Blase, Nieren) entspricht weitgehend der Lage dieser Organe in den seit dem 13. Jahrhundert kursierenden chine-sischen „Frontalbildern“ der aus dem Rumpf herausgelösten Organe [14]. An den einzelnen Stellen ermittelt man nun durch Palpation den Leere- bzw. Fülle-Zustand (kyojitsu) des jeweiligen Organs. Dem Zen-Mönch Mubun zufolge soll sich der Akupunkteur mit einem reinen, leeren Herzen ans Werk begeben. Die Fingerkuppen der lin-ken Hand mit Ausnahme des Daumens sitzen leicht auf der Haut, die Nadel ist zwischen dem Zeige- und Mittelfi nger eingeklemmt. Mittels eines kleinen Hämmerchens treibe man sie fl ach, aber ent-schlossen in die jeweilige Stelle ein. Mubun unterscheidet je nach Behandlungsziel eine Reihe von Nadelungsvarianten. Eine davon war 1603 die im „Vocabulario“ der Jesuiten registrierte „Halte nadel“ (tomebari oder todomaru hari). Sie wurde zu beiden Seiten des Nabels in einer den Nieren zugeordneten Region vorgenommen, um ein Ansteigen des sogenannten Meimon-Feuers in der rechten, den Samen bergenden, bzw. mit dem Uterus in Verbindung stehenden Niere zu verhindern. Die anderen Techniken sind „Feuerziehnadel“ (hihiki no hari), „Siegeszugnadel“ (kachihiki no hari), „Rückzug-nadel“ (makehiki no hari), „Wechselziehnadel“ (aihiki no hari), „Magenerleichterungsnadel“ (ikai no hari), „Abführnadel“ (kudasu hari), „Ausspucknadel“ (tokasu hari) und „Streunadel“ (sanzuru hari).Die Lehren Mubuns wurden durch Misono Isai (1557−1616) weiter verbreitet und gegen Ende des 17. Jahrhunderts als „Sammlung der Geheimnisse des Nadelwegs“ (Shindō hiketsu-shū) erstmals gedruckt [15]. Misono riet zur Verwendung von Gold- und Silber-nadeln − nicht der Hygiene wegen, vielmehr schien ihm die Weich-heit und der Wärmecharakter dieser Metalle für die Stoßtechnik geeigneter zu sein als die, wohl aus fi nanziellen Gründen, weitver-breitete Nutzung von Eisennadeln. Ungeachtet der dickeren Nadel und der dadurch kaum vermeidbaren kurzen Schmerzempfi ndung gibt es noch heute eine stattliche Zahl von Akupunkteuren, die die Technik des „Klopfnadelns“ im Stile Mubuns und Misonos propa-gieren [16]. Ten Rhijne hatte, ohne es zu ahnen, eine neue Therapie kennenge-lernt und diese mit den Leitbahnkonzepten in Wáng Wéiyīs klassi-scher Schrift kombiniert. Sein Buch zeigt u. a. die Abbildung eines Hämmerchens samt der gewöhnlich im Griff transportierten Nadel. Alle späteren Autoren, die sich zur Akupunktur in Japan kundig machten, taten es ihm nach. Doch bis ins 19. Jahrhundert erkannte keiner den spezifi sch japanischen Hintergrund dieser Therapie.

Im nächsten Teil (DZA 3/15) können Sie noch mehr über die Klopfnadel erfahren und weitere spezielle Techniken der japanischen Medizin kennenlernen.

Literatur 1. Cartas que os Padres e Irmãos da Companhia de Jesus escreuerão dos Reynos de

Iapão & China. Evora (Portugal): Manoel de Lyra, 1598 2. Schurhammer G, Voretzsch EA. Luis Frois: Die Geschichte Japans (1549–1578).

Nach der Ajudabibliothek in Lissabon übersetzt und kommentiert. Leipzig: Der Asia Major, 1926

3. Schütte JF, Fróis L. Kulturgegensätze Europa – Japan (1585) – Tratado em que se contem Muito susintae abreviadamente algumas contradições e diferenças de custumes antre a gente de Europa e esta provincia de Japão. Erstmalige, kritische Ausgabe. Tōkyō: Sophia Universität, 1955

4. Jesuítas na Ásia (Biblioteca da Ajuda, Lisbon), Codex 49-VI-8. Photographische Reproduktion. Tōkyō: Ikubundo, 1931

5. Societas Jesu eds. Vocabulario da Lingoa de Iapam. Nagasaki:Collegio de Iapão da Companhia de IESV. (facsimile: 1976, Benseisha, Tokyo), 1603 (Supplemento, 1604)

6. Michel W. Frühe westliche Beobachtungen zur Akupunktur und Moxibustion. Sudhoff s Archiv, 77(2), 1993

7. Lettera del Giappone degli Anni 1591 et 1592. Scritta al R.P. Generale della Compagnia de Giesv. Roma: Zanetti, 1595

8. Michel W. Von Leipzig nach Japan – Der Chirurg und Handelsmann Caspar Schamberger (1623−1706). München: Iudicium, 1999

9. Michel W. Medicine and Allied Sciences in the Cultural Exchange between Japan and Europe in the Seventeenth Century. In: Ölschleger H D (ed). Theories and Methods in Japanese Studies: Current State & Future Developments – Papers in Honor of Josef Kreiner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Unipress, 2007

10. Ten Rhyne W. Dissertatio de Arthritide: Mantissa Schematica: De Acupunctura: Et Orationes Tres. London: Chiswell, 1683

11. Unschuld PU (trsl.). Nan-ching – The Classic of Diffi cult Issues. With commenta-ries by Chinese and Japanese authors from the third through the twentieth century. Berkley: University of California Press, 1986.

12. Mitchell C, Feng Y, Wiseman N. Shāng Hán Lùn − On Cold Damage. Brookline: Paradigm Publications, 1999

13. Michel-Zaitsu W. Paisajes Interiores. La Recepción de Japón de las concepciones occidentales sobre el cuerpo. In: Sierra CH, Hernando SS (eds). Habitar la Terra Incógnita. Experiencias, Miradas, Pensamientos sobre Extremo-Oriente. Santander: Taller de Antropología Social de La Ortiga, 2010

14. Nagano H, Shukuno T, Ōura J (eds). Nihon fukushin no genryū − Ichū Genō no sekai [Quelle der japanischen Abdominaldiagnose − Die Welt der Schrift Ichū genō]. Tōkyō: Rikuzensha, 2003

15. Shindō hiketsu-shū. Kyōto: Kagaya Uhei, Jōkyō 2, 168516. Fujimoto Renpū. Benshaku shindō hiketsushū − dashinjutsu no kiso to rinshō

[Kommentierte „Sammlung der Geheimnisse der Nadelung“ − Grundlagen und klinische Praxis der Klopfnadeltechnik]. Tōkyō: Midori Shobō, 1977

Abbildungen ohne Nachweis stammen aus der Sammlung des Ver-fassers.

Autoreninformation (STRICTA recommendations)

Wolfgang Michel (Michel-Zaitsu), geb. 9. Juni 1946 Frankfurt am Main,

Studium der Ostasiatischen Sprach- und Kulturwissenschaften,

M.A. (J.W. Goethe-Universität, Frankfurt am Main), Ph.D. (Cultural

Sciences, Staatl. Universität Okayama)

Staatl. Universität Kyushu, Fukoka, Japan: Dozent (1974), Ass. Professor

(1984), Professor (1995), Dekan (2008–2010), Vizepräsident (2009–2010).

Forschungsmitglied Kenikai Library Trust, Tokyo (2011–).

Wissenschaftlicher Förderpreis der Japanese Society for Medical

History (1996); Bundesverdienstkreuz am Bande (2004).

Vorstandsmitglied der Japanese Society for the History of Medicine

(2000–2008), Mitglied des permanenten Exekutivvorstands (2008–)

Forschungsgebiet: Geschichte des euro-asiatischen Kulturaustauschs;

Medizin und verwandte Wissenschaften in der Geschichte der

Kulturkontakte zwischen Europa und Ostasien

Professor Wolfgang Michel wird am 20. Juni 2015 in Wien auf dem

2. Internationalen Symposium der IGTJM (Internationalen Gesellschaft

für Traditionelle Japanische Medizin) referieren und mehr über die

spannende Geschichte der Medizin in Japan unter dem Titel

„Kräuterkunde, Klopfnadel, Knocheneinrichtung und Lebenspfl ege

in der Edozeit (17.–19. Jh.)“ erzählen.

Information: www.japanischemedizin.org