6
ie gross der Durchmesser der Erde ist oder derjenige eines Elektrons, wissen wir präzise, ebenso wie viele Sterne die Milchstrasse umfasst oder wie viele Gene ein bestimmtes Virus hat. Wie viele Arten von Organismen die Erde bevölkern, ist hingegen nicht einmal annäherungsweise bekannt: Die Schätzungen schwanken zwischen 3 und 100 Millionen. Die Biodiversität – oder biologische Vielfalt – gehört zu den grössten unerforschten Reichtü- mern unserer Erde. Bekannt sind heute etwa 1,75 Mil- lionen Arten von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen. Das ist im besten Fall die Hälfte aller existierenden Ar- ten, wahrscheinlich aber erst etwa ein Zehntel. Bei 99 Prozent der bereits ent- deckten Arten ist nur ihr wissenschaft- licher Name bekannt. Wir wissen nichts über ihr Leben, ihr Verhalten, ihre Ernährung oder ihre Fortpflan- Wenig erforschter Reichtum Alles was lebt Fünfzig- oder siebzigtausend? Wie viele Arten von höheren Organis- men in der Schweiz leben, wissen nicht einmal die Fachleute. Ge- schweige denn, wie viele Bakterien, Viren und andere Kleinstorganis- men in unserem Land Lebensraum bezogen haben. Weltweit könnten es bis 100 Millionen Arten sein. Doch Biodiversität ist weit mehr als Artenvielfalt: Es ist der Stoff, der die Erde zum einmaligen und lebens- werten Planeten macht. BIODIVERSITÄT 4 1/05 ORNIS 1 2 3 4 6 7 W DANIELA PAULI

ORNIS_Biodiversitaet

Embed Size (px)

DESCRIPTION

6 7 Fünfzig- oder siebzigtausend? Wie viele Arten von höheren Organis- men in der Schweiz leben, wissen nicht einmal die Fachleute. Ge- schweige denn, wie viele Bakterien, Viren und andere Kleinstorganis- men in unserem Land Lebensraum bezogen haben. Weltweit könnten es bis 100 Millionen Arten sein. Doch Biodiversität ist weit mehr als Artenvielfalt: Es ist der Stoff, der die Erde zum einmaligen und lebens- werten Planeten macht. Wenig erforschter Reichtum G B I O D I V E R S I T Ä T 4

Citation preview

ie gross der Durchmesserder Erde ist oder derjenige

eines Elektrons, wissen wirpräzise, ebenso wie viele Sterne dieMilchstrasse umfasst oder wie viele

Gene ein bestimmtes Virus hat. Wieviele Arten von Organismen die Erdebevölkern, ist hingegen nicht einmalannäherungsweise bekannt: DieSchätzungen schwanken zwischen 3und 100 Millionen. Die Biodiversität –oder biologische Vielfalt – gehört zuden grössten unerforschten Reichtü-mern unserer Erde.

Bekannt sind heute etwa 1,75 Mil-lionen Arten von Pflanzen, Tieren undMikroorganismen. Das ist im bestenFall die Hälfte aller existierenden Ar-ten, wahrscheinlich aber erst etwa einZehntel. Bei 99 Prozent der bereits ent-deckten Arten ist nur ihr wissenschaft-licher Name bekannt. Wir wissennichts über ihr Leben, ihr Verhalten,ihre Ernährung oder ihre Fortpflan-

Wenig erforschter Reichtum

Alles was lebtFünfzig- oder siebzigtausend? Wieviele Arten von höheren Organis-men in der Schweiz leben, wissennicht einmal die Fachleute. Ge-schweige denn, wie viele Bakterien,Viren und andere Kleinstorganis-men in unserem Land Lebensraumbezogen haben. Weltweit könnten es bis 100 Millionen Arten sein. Doch Biodiversität ist weit mehr alsArtenvielfalt: Es ist der Stoff, der dieErde zum einmaligen und lebens-werten Planeten macht.

� BIODIVERS ITÄT

4 1/05 O R N I S

1 2

3 4

6 7

WDANIELA PAULI

O R N I S 1/05 5

5

alle

: Nor

bert

Sch

nyd

er

zung, ihre Häufigkeit oder Verbrei-tung, geschweige denn über ihre Ge-fährdung.

Biodiversität ist mehr als Artenvielfalt

Biodiversität ist ein relativ neuer Be-griff. Wo man noch vor wenigen Jah-ren «Artenvielfalt» gesagt hätte, redetman heute von «Biodiversität». Dochwas ist eigentlich der Unterschied?

Artenvielfalt bezeichnet die An-zahl der Arten in einem bestimmtenGebiet. Biodiversität schliesst die Ar-tenvielfalt als eine wichtige Kompo-nente mit ein, geht aber viel weiter.Zur Biodiversität gehören neben derZahl der Arten auch die genetischeVielfalt innerhalb und zwischen denArten, die Vielfalt der Ökosysteme so-wie die Wechselwirkungen zwischenden Komponenten der Biodiversitätund mit ihrer Umwelt. Biodiversitätschliesst ausdrücklich auch den Men-schen mit seiner kulturellen Vielfaltmit ein. So definierte BirdLife Interna-

tional 1992 die Biodiversität als die ge-samte Vielfalt des Lebens auf der Erde.

Seit den 1970er-Jahren erschien derBegriff Biodiversität zuerst nur verein-zelt, dann immer häufiger in wissen-schaftlichen Publikationen. Wer denBegriff das erste Mal brauchte, lässtsich im Nachhinein nicht mehr genaueruieren. Zu seinem Aufschwung ver-half sicher die Biodiversitätskonven-tion, die 1992 im Rahmen des Welt-gipfels in Rio verabschiedet wurde.Mit der Konvention hat die interna-tionale Staatengemeinschaft ihrenWillen bekundet, die Biodiversität zuerhalten, ihre Nutzung nachhaltig zu

gestalten und die Gewinne, welcheaus dieser Nutzung resultieren, ge-recht zu verteilen. Bis heute haben188 Länder die Konvention ratifiziert,darunter auch die Schweiz.

Obwohl Biodiversität inzwischenein etabliertes Konzept ist, bereitet esSchwierigkeiten, sich darunter in Na-tura etwas Konkretes vorzustellen.Am besten gelingt dies auf einem Spa-ziergang – zum Beispiel über die Lä-gern, dem letzten Ausläufer des Ket-tenjuras, der sich von Baden AG inRichtung Osten in den Kanton Zürichhineinzieht.

Die Artenvielfalt ist augenfällig:Ein schöner Laubmischwald wächstlinks und rechts des Gratwegs mit Ha-gebuchen, Eschen, Eichen, Bergahornund wilden Kirschbäumen. In derStrauchschicht prägen neben auf-kommenden Jungbäumen die einhei-mischen Büsche das Bild: WolligerSchneeball, Rotes Geissblatt, verschie-dene Rosenarten, Liguster, Schwarz-dorn und die Felsige Steinmispel.Kräuter und Farne krallen sich auf

den steil abfallenden Geröllhalden inden Ritzen fest: Ausdauernder Lattich,Hirschheil, Getüpfelter Streifenfarn.Schwebfliegen, Tagfalter und Wild-bienen fliegen von Pflanze zu Pflanze,Heuschrecken zirpen, über die Steineflitzen Mauereidechsen.

Je genauer man hinsieht, destomehr Leben entdeckt man: es rascheltund wuselt, summt und zirpt. Sogardas Moos, das liegende Baumstämmeund Steine überwächst und auf denersten Blick ausschaut wie ein einheit-lich grüner Teppich, entfaltet von Na-hem eine Vielfalt von Farben und For-men: hellgrüne Stellen liegen neben

Sieben von 1200 geschätzten Moosarten der Schweiz:

1 Ölglanzmoos (Hookeria lucens)2 Samt-Kurzbüchsenmoos (Brachythecium velutinum)3 Breutelia chrysocoma4 Zwergmoos (Seligeria recurvata)5 Kratz-Lebermoos (Radula complanata)6 Schleichers Birnmoos (Bryum schleicheri)7 Mylia taylorii

Die Biodiversität ist die wichtigste Lebensgrundlage des Menschen.

tannengrünen und fast bläulichen,einige der kleinen Pflänzchen tragenFruchtkapseln, manche bilden dicke-re Polster oder wachsen als winzigeStämmchen.

Keine der bisher erwähnten Tier-oder Pflanzenarten lebt für sich allein:Alle Organismen stehen in Wechsel-wirkung untereinander und mit ihrerUmwelt. Auch diese ökologischen Be-ziehungen sind Teil der Biodiversität.Es gibt dabei fallweise Gewinner undVerlierer wie bei Räuber und Beute,aber auch Organismen, die gegensei-tig voneinander profitieren. Zu denletzteren gehören die Mykorrhiza-Pil-ze und ihre Wirtsbäume. Die Pilzeüberziehen mit ihren feinen Pilzfä-den, den Hyphen, die Wurzeln derBäume, die so ihre Oberfläche mar-kant vergrössern und dadurch mehrWasser und Nährstoffe aufnehmenkönnen. Auch der Pilz geht nicht leeraus: Der Baum beliefert ihn mit le-

benswichtigen Kohlenstoffverbin-dungen.

Um eine weitere Ebene der Biodi-versität zu ergründen, müssen wir unseinen Überblick verschaffen. Untenim Limmattal dehnt sich in beideRichtungen mehr oder weniger dichtder Siedlungsraum aus, darüber lie-gen Wiesen, Ackerflächen und Wäl-der. Hinter Zürich erstreckt sich derSee, darüber blitzen die Alpen mit denschneebedeckten Gipfeln. Diese Viel-falt von Lebensräumen mit ihrenÖkosystemen prägt die Landschaftund ist wichtiger Bestandteil der Bio-diversität.

Die Gene machen denUnterschied

Auch wenn wir ein Tier oder einePflanze klar einer Art zuordnen kön-nen, heisst dies noch lange nicht, dassalle Individuen einer Art identisch

6 1/05 O R N I S

Artenzahlen in der Schweiz

Organismen- geschätzt bekannt gruppe

Tiere 43 000 30 000Säugetiere 83 83Vögel 386 386Reptilien 15 15Amphibien 20 20Knochenfische 51 51Kieferlose 2 2Gliederfüsser * 34 000 25 000davon Insekten * 30 500 22 330

Weichtiere (Schnecken/Muscheln) * 280 270

Platt-, Schnur-, Rund- und Ringelwürmer 7000 3200

Pflanzen und Pilze 27 000 19 000Gefässpflanzen und Farne 3000 3000

Moose * 1200 1030Flechten * 2200 1660Pilze * 15 000 9000Algen * 6000 4000

Tiere, Pflanzen und Pilze total 70 000 49 000

Quellen: * Expertenstudie WSL Birmensdorf, unveröffentl. Alle andern: Baur et al (2004).

Zusammensetzung der Biodiversität: Diese Darstellung aus dem Naturama Aargau(www.naturama.ch) zeigt ausschnittsweise, wie gross der Anteil der Artenzahlen ver-

schiedener Organismengruppen an der gesamten Biodiversität ist. Genau in der Mitteist winzig klein ein Mensch zu sehen. Er steht für die Vielfalt der Säugetiere; sie ma-

chen etwa 0,2 Prozent aller Arten aus. Gegen oben öffnet sich die Welt der Insekten,die weltweit etwa die Hälfte der Arten bestreiten dürften. Links unten ist der Anfang

der Pilzvielfalt zu erkennen; zu den Pilzen gehören etwa 4 Prozent aller Arten.

Nat

ura

ma

Aar

gau

sind. Unterschiedliche Umweltbedin-gungen prägen zum Beispiel dieWuchsform eines Baumes. So weist eine allein stehende Weisstanne fastbis zum Boden Äste auf, während einBaum im Waldinnern erst hoch obengegen das Licht hin Äste trägt. Die Va-riation innerhalb einer Art liegt abernicht nur in den unterschiedlichenUmweltbedingungen begründet, son-dern auch im unterschiedlichen Erb-gut. Man denke hier nur an die man-nigfaltigen Apfelsorten, die auf demMarkt waren oder sind; sie gehören al-le zu einer einzigen Art. Bei denWildarten ist die genetische Vielfaltweniger offensichtlich – doch mit derDNA-Analyse steht eine Methode zurVerfügung, um sie aufzuspüren, zumessen und zu quantifizieren.

Die genetische Vielfalt ist ein wich-tiger Bestandteil der Biodiversität undgilt als Versicherung für das Überle-ben einer Art. Nehmen wir an, das Kli-ma wird bei uns je länger je wärmerund feuchter. Dies passt vielen Artennicht mehr. Wären nun alle Individu-en einer Art genetisch identisch, gingees ihnen allen mit der Zeit schlechterund sie hätten weniger Nachkom-men; die Art würde mit der Zeit mög-licherweise verschwinden. Wenn nuneinzelne Individuen an die wärmerenund feuchteren Bedingungen besserangepasst sind und diese Anpassungim Erbgut festgelegt ist, werden siesich besonders gut vermehren. IhreNachkommen erben die Vorteile; dieArt überlebt auch unter den neuen Be-dingungen.

Artenvielfalt in der Schweiz

Obwohl die Schweiz ein kleiner Staatist, der nicht in den Tropen liegt, janicht einmal ans Meer angrenzt, istihre Artenvielfalt beträchtlich und er-reicht ähnliche Zahlen wie mancheder viel grösseren europäischen Län-der. Dies verdanken wir den beachtli-chen Höhengradienten: Unser Landbietet Lebensräume vom Flachlandbis ins Hochgebirge. Wichtig ist auchdie geologische Vielfalt, das Gelände-relief und insbesondere die über langeZeit nachhaltige Bewirtschaftung desKulturlandes. Neuen Schätzungen zu

Folge leben bei uns um die 70 000 Arten von Tieren, Pflanzen und Pilzen(siehe Tabelle auf Seite 6). Für viele Or-ganismengruppen fehlen allerdingsschlicht die Fachleute, die sie erfor-schen könnten. Deshalb ist nicht ein-mal annäherungsweise bekannt, wieviele Arten von Bauchhärlingen,Kelchwürmern, Beintastlern, Fuss-spinnern oder Fransenflüglern beiuns leben. Allein in einem GrammWaldboden leben bis zu 10 MilliardenMikroorganismen aus mehreren Tau-send Gruppen. Da die meisten bisheute nicht im Labor kultivierbarsind, ist nur ein kleiner Teil von ihnendetailliert beschrieben worden.

Die Schweiz gehört bezüglich Biodiversität sicher zu den am bestenuntersuchten Ländern der Erde. Unddoch ist auch bei uns noch längst

nicht der ganze biologische Reichtumerforscht. So brachte eine Ende der1990er-Jahre durchgeführte Zählungder Fliegen im Sihlwald bei Zürich 953Arten zum Vorschein, von denen 186erstmals in der Schweiz gefunden wur-den; 20 Arten waren für die Wissen-schaft ganz neu. Besonders reich ist in unserem Land die genetische Viel-falt der Nutztiere und Kulturpflanzen,darunter 108 Weinrebensorten, ge-züchtet aus einer einzigen Art.

Ewige Dynamik

Die biologische Vielfalt ist keine kon-stante Grösse. Arten entstehen undArten vergehen; keine existiert ewig.Im Verlauf von Millionen von Jahrenist die Vielfalt aber trotz gelegentlicherEinbrüche langsam gewachsen. Die

O R N I S 1/05 7

Biodiversität in Gefahr:

1 Der letzte Brutnachweisdes Fischadlers bei EllikonZH am Rhein stammt von

1911.

2 Noch in den 1960er-Jahren kam die Dorngras-mücke in jedem Feld vor.Heute sind die Bestände

auf kleine Reste zusammen-geschrumpft.

nte

r B

ach

mei

erTe

ro N

iem

i

1

2

erwähnten «Einbrüche» bezeichnendie Biologinnen und Biologen alsMassensterben.

Massensterben ereigneten sichmehrmals in der Erdgeschichte. Sostarben am Ende des Paläozoikumsvor 245 Millionen Jahren 95 Prozentder im Meer lebenden Arten aus, amEnde der Kreidezeit vor 65 MillionenJahren unter anderem die Dinosauri-er. Aus den wenigen überlebendenFormen entwickelte sich oft explosi-onsartig eine neue, prächtige Vielfalt.Massensterben haben sich nicht nurin prähistorischen Zeiten abgespielt;das wohl grösste Massensterben fin-

det heute statt. Dafür verantwortlichzeichnet zum ersten Mal das Verhal-ten einer einzigen, dominanten Art:des Menschen. Wissenschafterinnenund Wissenschafter schätzen, dassheute die Arten mit einer Rate von derErde verschwinden, die 50 bis 100 Malso gross ist, wie sie ohne menschlichenEinfluss wäre. Mit Sicherheit zu sagen,dass eine Art ausgestorben ist, ist allerdings gar nicht so einfach; siekönnte ja nur zeitweise unauffindbarsein. Um ein Aussterben zu dokumen-tieren, muss man sehr gut über das Le-ben der Art Bescheid wissen. Weil biszu 90 Prozent der Arten noch gar nicht

bekannt sind, werden die meistenaussterbenden Spezies wohl ver-schwinden, ehe sie jemand gesehenhat oder gar beschreiben konnte; wirwissen weder, dass es sie jemals gab,noch dass sie nicht mehr da sind.

Einige Tatsachen sind trotz dieserSchwierigkeiten bekannt. So wurde inden letzten zwei Jahrtausenden welt-weit ein Fünftel aller Vogelarten durchden Menschen ausgerottet. In derSchweiz kürzlich verschwunden istunter anderem der Raubwürger (sieheORNIS 4/02): Gemäss dem aktuellenAvifauna-Report der SchweizerischenVogelwarte Sempach gibt es seit 10Jahren keinen Brutnachweis mehr.1989 fand man am Neuenburgerseedie letzte Spur des Fischotters; seithergilt er in unserem Land als ausgestor-ben. Die letzte Beobachtung desMoorwiesenvögelchens, einer Tagfal-terart, wurde in den 1980er-Jahrenaus dem Rheintal gemeldet; auch die-se Art muss in der Schweiz wohl alsausgestorben gelten.

Ein kostbarer Schatz

Die Gründe für den Rückgang der Bio-diversität sind bekannt. In derSchweiz sind dies die seit Beginn des20. Jahrhunderts veränderte land-wirtschaftliche Nutzung, die Über-bauung und Zersiedelung der Land-schaft und die Verbauung der Fliess-gewässer. Dies hat dazu geführt, dassdie vormals ausgedehnten natürli-chen oder halbnatürlichen Lebens-räume weitgehend verschwundensind. Moore, Mager- und Trockenwie-sen, mäandrierende Fliessgewässerund Auen sind nur noch als kleineFragmente erhalten. Die Belastungder Gewässer mit hormonaktivenSubstanzen, die Veränderungen derZusammensetzung der Atmosphäre,der Klimawandel, die zunehmendenTourismus- und Freizeitaktivitäten inzuvor ungestörten Gebieten sowie dieAusbreitung von eingeschleppten Ar-ten und der globale Handel sind wei-ter dafür verantwortlich, dass die Be-stände zahlreicher Arten rückläufigoder gar lokal verschwunden sind.

Man kann sich fragen, warum esschlimm ist, wenn in der Schweiz eine

8 1/05 O R N I S

Wertvolle Biodiversität:

1 Erzwespen leben als Parasiten von anderen Insekten und spielen in unseren Ökosystemen einewichtige Rolle. Diese Brachymeria sp. schlüpft gerade aus der Puppe eines Baumweisslings, einerSchmetterlingsart. Weil sich die Raupen des Baumweisslings an Obstbäumen gütlich tun, gilt diese Erzwespe aus menschlicher Sicht als Nützling.2 Pilze sorgen dafür, dass organisches Material im Boden abgebaut wird. 3 Das Zusammenspiel von verschiedenen Ökosystemen, die wie hier im Wallis von den Trockenwie-sen im Tiefland bis zum ewigen Schnee reichen, ist die Grundlage für eine hohe Artenvielfalt und eine attraktive Landschaft – Basis auch für den Tourismus in der Schweiz.

1 2

3

Felix

Am

iet

2+3

Bea

t W

artm

ann

Art wie das Moorwiesenvögelchenausstirbt, Hochmoore innert kaum100 Jahren zu 90 Prozent verschwin-den oder die Kirschenvielfalt auf einpaar wenige Sorten zusammen-schrumpft. Nun liegt ihre Erhaltungaber auch in unserem ureigensten Interesse, denn sie ist unsere wertvolls-te Ressource: Basis für unsere Ernäh-rung, unsere Kleidung, unser Obdach,für Energie und Treibstoff und die Be-handlung von Krankheiten. GemässSchätzungen der Weltgesundheits-organisation (WHO) basieren 85 Pro-zent der traditionellen Heilmethodenin Drittweltländern auf pflanzlichenExtrakten. Auch die zwanzig häufigs-ten Medikamente in den Industrie-ländern, darunter zum Beispiel dasAspirin, basieren auf Substanzen, dieaus Pflanzen oder Pilzen extrahiertwurden.

Neben Gütern liefert die biologi-sche Vielfalt vielerlei Dienstleistun-gen. Biodiversität trägt zur Stabilitätdes Klimas bei und spielt eine ent-scheidende Rolle beim Wasserkreis-lauf. Schutzwälder bieten Schutz vorLawinen und Murgängen, Insektensorgen für die Bestäubung unsererObstbäume. Unsichtbar fürs mensch-liche Auge baut ein Heer von Pilzen,Bakterien und anderen Klein- undKleinstorganismen organisches Ma-terial ab und sorgt dafür, dass dieNährstoffe im Kreislauf rezykliert wer-den und die Fruchtbarkeit des Bodenserhalten bleibt. Vögel, Spinnen, para-sitische Wespen und Fliegen oder Pilzebekämpfen auf natürliche Weise 99Prozent aller «Schädlinge», welchenach der Welternte trachten.

Offenbar hängt die Qualität dieser«Ökosystem-Dienstleistungen» da-von ab, wie divers ein Ökosystem ist.Dies zeigen experimentelle Studiender letzten Jahre. Ökosysteme mit ho-her Biodiversität sind produktiver undsie können Nährstoffe besser im Sys-tem zurückhalten. Auch sind sie resis-tenter gegen Krankheitserreger undgegen neue Arten, die von aussen insÖkosystem eindringen.

Ökonomen haben immer wiederversucht, den Wert der Biodiversität inGeldeinheiten auszudrücken. Endeder 1990er- Jahre berechneten sie, wie

viel es kosten würde, die Dienstleis-tungen der Ökosysteme durch techni-sche Lösungen zu ersetzen. Sie kamenauf die unvorstellbar hohe Zahl vonweltweit 33 000 Milliarden US-Dollarpro Jahr.

Leben wie auf dem Mars?

Der Verlust der wertvollen RessourceBiodiversität käme uns also teuer zustehen. Hätten wir zum Beispiel dienatürlichen Nützlinge nicht, welchedie Schädlinge unserer Kulturpflan-zen in Schach halten, müssten wir fürderen Bekämpfung teure und um-weltschädigende Chemie einsetzen.Hätten wir die Bodenorganismennicht, welche für den Abbau vonSchadstoffen und die Aufrechterhal-tung des Nährstoffkreislaufes zustän-dig sind, müssten diese Ökosystem-Dienstleistungen durch kosteninten-sive technische Anlagen ersetzt wer-den. Hätten wir die prächtigen Natur-und Kulturlandschaften unserer Al-pen nicht, würden die Touristen aus-bleiben.

Der Nutzen der Biodiversität er-schöpft sich aber längst nicht in denProdukten, die direkt oder indirekt einen finanziellen Wert haben. Bio-diversität ist uns eine Quelle der Freu-de und der Kraft, der Erholung, desWohlbefindens und der Inspiration.Biodiversität macht die Erde zum ein-maligen und einzigen für die Men-schen bewohnbaren Planeten. Ausdiesem Grund will der Schweizer Vo-gelschutz SVS mit seiner neuen Kam-pagne ab nächstem Jahr noch mehrzur Sicherung der Biodiversität beitra-gen. Denn einen verschwenderischenUmgang mit dieser wertvollen Res-source können wir uns schlicht nichtleisten. �

Dr. Daniela Pauli ist Geschäftsleiterin des ForumBiodiversität und Redaktorin von ORNIS.

Literaturhinweise:Baur B. et al. (2004): Biodiversität in der

Schweiz. Zustand, Erhaltung Perspekti-ven. Grundlagen für eine nationale Stra-tegie. Bern: Haupt Verlag.

Wilson E.O. (1995): Der Wert der Vielfalt.München: Piper Verlag.

O R N I S 1/05 9

Pro

Spec

ie R

ara

Pro

Spec

ie R

ara/

May

a Jö

rgFe

lix G

uge

rli

3

2

1

Genetische VielfaltAuch die genetische Vielfalt ist der Teil der Biodi-versität. Dazu gehört die Vielfalt der Kulturpflan-zen und Nutztiere, aber auch die innerartlicheVielfalt von Wildarten. Bei Kulturpflanzensortenund Nutztierrassen, die auf spezielle Merkmalegezüchtet werden, ist die Vielfalt oft auch äusser-lich offensichtlich, wie das Beispiel des Haus-huhns zeigt. Zur Erkennung der genetischenVielfalt bei Wildarten hingegen sind ausgeklü-gelte und aufwändige Labormethoden nötig.

Die Vielfalt der Nutztiere – hier am Beispiel desHuhns – ist beträchtlich: Appenzeller Spitzhau-benhuhn (1), Schweizer Huhn (2).

3 Die hellen Flecken (Banden) stellen Ausschnit-te aus dem Erbut von Eiben dar. Jede «Kolonne»ist ein genetischer Fingerabdruck eines Individu-ums. Unterschiedliche Muster in den Banden be-deuten genetische Unterschiede zwischen denIndividuen.