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  " Peter Pörtner Japanzentrum der LMU München Zeit und Zeiterfahrung in Japan und im Japanischen (Unkorrigierte Fassung!) Zeit ist für die Menschen und in ihrer Erfahrung und Wahrnehmung auf vielfache und vielfältige Weise „da“, „präsent“; und Zeit kann auf sehr verschiede Weise in Sprache „umgesetzt“ werden: Sie zeigt sich – bespielweise – durch und im grammatischen Tempus, durch und in Zeitadverbialen, in der Wortbildung, in Konjunktionen, in Daten und Verlaufsstrukturen und durch und in logischen Verknüpfungen. Zeit - man möchte fragen: Wie könnte es auch an- ders ein? – ist eine Art Trägerelement auch der Sprache. - Aber gera- de wie Zeit Sprache trägt; und wie sie sich dabei gleichsam selbst konzipiert, das ist hier die Frage. Man darf auch vermuten, dass die Menschen sozusagen nicht an der Sprache vorbei erfahren können. In diesem Sinne wollen wir uns fragen, wie es sich mit der Zeit in Japan, bei den Japanern und ihrer Sprache, verhält und verhalten hat. Dabei adaptieren wir die These, dass es zivilisationstypische

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I

Peter Pörtner

Japanzentrum der LMU München

Zeit und Zeiterfahrung

in Japan und im Japanischen

(Unkorrigierte Fassung!)

Zeit ist für die Menschen und in ihrer Erfahrung und Wahrnehmungauf vielfache und vielfältige Weise „da“, „präsent“; und Zeit kann

auf sehr verschiede Weise in Sprache „umgesetzt“ werden: Sie zeigt

sich – bespielweise – durch und im grammatischen Tempus, durch

und in Zeitadverbialen, in der Wortbildung, in Konjunktionen, in

Daten und Verlaufsstrukturen und durch und in logischen

Verknüpfungen. Zeit - man möchte fragen: Wie könnte es auch an-ders ein? – ist eine Art Trägerelement auch der Sprache. - Aber gera-

de wie Zeit Sprache trägt; und wie sie sich dabei gleichsam selbst

konzipiert, das ist hier die Frage. Man darf auch vermuten, dass die

Menschen sozusagen nicht an der Sprache vorbei erfahren können.

In diesem Sinne wollen wir uns fragen, wie es sich mit der Zeit in

Japan, bei den Japanern und ihrer Sprache, verhält und verhaltenhat. Dabei adaptieren wir die These, dass es zivilisationstypische

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II

„Konstruktionen“ von Zeitlichkeit; oder – wie Shakespeare es Rosa-

lind (übrigens eine veritable Zeit-Philosophin) in „As You Like It“

sagen lässt:

„Time travels in divers paces with divers persons. I’ll tell you who

Time ambles withal, who Time trots withal, who Time gallops with-

al, and who he stands still withal.“

Und was für verschiedene Personen gilt, sollte das nicht auch für

verschiedene Kulturen, Gesellschaften und Sprachen gelten?

Oder erinnern wir uns an die Worte aus Hugo von Hofmannsthals

„Rosenkavalier“:

„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie

rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie:

sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern

rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie.

Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder. Lautlos, wie eine

Sanduhr.“

Ab ganz so lautlos, fast „wie rein gar nichts“, rieselt die Zeit aller-

dings nicht immer: „Sub specie temporis“ war der 9. Tag des 11.

Monats des Jahres Meiji 5 (nach westlicher Rechnung war es das

Jahr 1872) ein wahrlich epoche-machendes Datum. An diesem Tagwurde per kaiserlicher Verfügung der lunar-solare Kalender, den die

Japaner 1181 Jahre vorher von den Chinesen übernommen hatten,

„als falsch, ohne jegliche reale Basis und ein Hindernis für die Ent-

wicklung des menschlichen Wissens“, wie es hieß, abgeschafft; und

der Tennô ordnete an, dass die Japaner „von nun an bis in Ewig-

keit“ dem Solarkalender zu folgen hätten. -

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III

Dieses traumatische Ereignis hat das japanische „Reich der Sitte“,

wie man es mit Hegel nennen kann, aufs Tiefste und durchgängig

irritiert. Bis zum 9. Tag des 11. Monats des Jahres Meiji 5, der plötz-

lich, per Dekret (!, das so genannte Dajokan-fukoku Nr. 337) zum 1.

Januar 1873 geworden war, meinte „Tag“ die Zeitspanne zwischen

Sonnenauf- und Sonnenuntergang, Das heißt, das was wir Stunde

nennen – und die alten Japaner einfach nur „toki“, schlicht „Zeit“

genannt haben, war im vor-gregorianischen Japan flexibel. Im Som-

mer reckte sie sich, im Winter schrumpfte sie. Mit der Ausnahme

zweier Tage im Jahr, nämlich der Tag-und-Nacht-Gleichen im Früh-ling und der im Herbst, waren die „Stunden“ der Nacht und die

„Stunden“ des Tags verschieden lang. Die zuständige Behörde der

Edo-Zeit (1803-1868), das Tenmon-gata, bestimmte die Zeitrech-

nung dergestalt, dass zur Sommersonnenwende dort, wo heute

Tôkyô ist, der Tag gegen 3.47 h morgens begann und gegen 19.38 h

abends endete.

Eine temporale Tages-Stunde dauerte an diesem Tag – nach moder-

ner Rechnung 1 Stunde und 19 Minuten, eine Nachtstunde weniger

als 41 Minuten. Zur Wintersonnenwende war es dann – fast – umge-

kehrt; weil der Tag an diesem Tag erst gegen 6.10 h morgens be-

gann und schon um 17.10 h endete; entsprechend dauerte die

Nachtstunde jetzt 65 Minuten; die Tages-Stunde aber nur 55 Minu-

ten. Und das bedeutete für das Leben der Menschen viel. Die Nacht

war damals wirklich Nacht und – dunkel; denn sowohl Lampenöl als

auch Kerzen waren Luxusgüter. Daher war es nur im Yoshiwara ge-

nannten legendären Freudenviertel Edos hell. Weswegen es von

frühen europäischen Besuchern „the nightless city“ genannt wurde.

(Im Yoshiwara wurden Zeitspannen gerne mit Räucherstäbchen ge-

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IV

messen. Hier standen Zeit und Duft; wie auch in China schon, in ei-

ner besonderen Beziehung zueinander.)

Bezeugtermaßen war eines der größten Probleme in den Jahren

nach der Übernahme des abendländischen Kalenders: die Erziehung

der Japanerinnen und Japaner zur Pünktlichkeit. Dem Sich-Anpas-

sen an die sozusagen metronomisierte Zeit. Bis ins Jahr 1877 kam

es immer wieder, vor allem natürlich und der Landbevölkerung, die

immerhin 79 Prozent des Gesamtbevölkerung ausmachte, zu Auf-

ständen gegen den neuen Kalender. Eine nach dem Zweiten Welt-

krieg, im Jahr 1946, durchgeführte Untersuchung des Kultusministe-

riums brachte an den Tag, dass noch 59% der Einwohner in Fi-

scherdörfern, 52% der Einwohner in landwirtschaftlichen Gebieten –

und immerhin noch 26% der Städter – sich noch an dem altge-

wohnten und -bewährten – weil „natürlichen“ oder als natürlich

empfundenen Kalender orientierten. Erst das so genannte japani-

sche „Wirtschaftswunder“, das 1955 begann, machte dem kyûreki,

dem Alten Kalender, endgültig den Garaus.

Kumakura Chiyuki, ein japanischer Literaturwissenschaftler, der

sich intensiv mit dem japanischen Zeitbewusstsein befasst, schreibt,

es sei ein Charakteristikum der japanischen Sprache, Vorstellungs-

bildern einer Sprecherin, eines Sprechers eine besonders ausge-prägte Gegenwärtigkeit, eine ausgeprägtes „Wirklichkeitsmoment“

oder „Wirklichkeitsgefühl“ (jitsuzaikan) zu verleihen. Und zwar

unabhängig davon, ob es sich dabei um Bilder so genannter „realer“

oder „präsenter“ Gegenstände – oder um Bilder „nur“ gedachter

oder erinnerter Dinge und Tatsachen handele. Auch wenn jemand

von vergangenen Erlebnisses spreche, würden diese im Augenblickder Artikulation räumlich-materiell (sokubutsuteki) und zeitlich

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V

augenblickhaft-unmittelbar (sokujiteki) in der Sprache wiederbe-

lebt. Die damit eng verknüpfte Frage Frage, ob das Japanische Tem-

pora kennt; oder „nur“ Aspekte, war und ist umstritten.

Verschärft wird das Problem dadurch, dass Definition und Gebrauch

der Begriffe „Tempus“ und „Aspekt“ selbst nicht ausreichend ge-

klärt zu sein scheinen. Das Lager der Tempus-Theoretiker mit ihrer

„tensusetsu“ (Tempustheorie) und das Lager der Aspekttheoretiker

mit ihrer „asupekutosetsu“ (Aspekttheorie) stehen sich (dennoch)

recht unversöhnlich gegenüber.

Wir finden in der japanischen Sprache Phänomene von der Art, dass

in Nebensätzen oder Nominalphrasen, in denen zukünftige Sach-

verhalte thematisiert sind, „Vergangenheitsformen“ (im modernen

Japanischen die so genannte ta-Form) eingesetzt werden, die nicht

gegen die entsprechende „Gegenwartsform“ (die so genannte ru-

Form) ausgetauscht werden kann; sonst würden die Sätze ungram-matisch.

Umgekehrt finden sich häufig Sätze, in denen von Geschehnissen die

Rede ist, die zum jeweiligen Sprechzeitpunkt vergangen sind, die

„Ereigniszeit“ eindeutig vor der „Sprechzeit“ liegt, aber dennoch

die ru-, also die Gegenwartsform, und nicht die Vergangenheits-

oder ta-Form verwendet wird; verwendet werden muss. – Ein Fak-

tum, übrigens, dass Übersetzern aus dem Japanischen in eine der

europäischen Standard-Sprachen nicht selten große Probleme berei-

tet, da „das Erzählen von Vergangenem in der Präsensform durchaus

normal ist.“ (Viktoria Eschbach-Szabo)

Diese, wenn man so will, einer Hüpf-Logik folgende Verwendung des

„Tempus“, muss man natürlich von dem im Deutschen vertrauten

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VI

„Erzählpräsens“ unterscheiden. Daher bietet ein historischer Prä-

sens auch kaum Schleichwege für Übersetzer. Eine konsequente

Verwendung würde die Übersetzung unlesbar, inkomprehensibel

machen. Die Japanologin und Sprachwissenschaftlerin Viktoria Esch-

bach-Szabo hat (schon 1986) den geradezu notorischen Formen-

wechsel im Japanischen mit der so genannten „Leibhaftigkeits-

hypothese“ zu erklären versucht hat, die freilich auch gerne für das

„szenische Präsens“ in Feld geführt wird. Die „Leibhaftigkeits-

hypothese besagt: dass die geschilderten vergangenen Ereignisse

durch die Verwendung der ru-Form (statt der ta-Form) gleichsamvergegenwärtigt , appräesentiert, werden; und dadurch – natürlich –

an Aktualität und Eindringlichkeit und Unmittelbarkeit gewinnen.

Die vormoderne japanische Floskel für das deutsche „Es war ein-

mal“ lautet „ima wa mukashi“, „Jetzt ist damals!“; eine Sprach-

geste, die Hörerinnen oder Leser, Leserinnen und Hörer, sozusagen

in die erzählte Zeit hinein-reißt: Es ist – wieder nach dem bereits

erwähnten Kumakura Chiyuki – falsch, einen Satz wie „ima wa

mukashi“ mit „es war einmal“ oder „once upon a time..“ zu

übersetzen. Es sei falsch, „ima wa mukashi“ im Sinne von „heute ist

es eine vergangene Sache“ zu verstehen und die Geschichte somit

gleichsam in die Vergangenheit zurückzustoßen: „ima“, „jetzt“

meine die Gegenwart der erzählten Geschichte; und es sei die Ab-

sicht der Erzählung, mit dem „ima“ das Image des Vergangenen am

Ort der Erzählung (katari no ba) wiederzubeleben. Dies wurde im

vormodernen Japanischen ermöglicht durch das im Verbalsuffix –

keri (aus ki + ari) aufgegangene „Existenzverb“ (sonzaishi) ari, -

welches von anderen japanischen Linguisten allerdings auch als

Copula verstanden wird -, ein „Existenzverbe“, das es schon dem

frühen Japanischen ermöglichte, prädikativ gebrauchte Adjektiven

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VII

mit einem Tempus zu versehen. Motohashi Tatsushi schreibt in

„Aspect and Tense of Early Classical Japanese Adjectives“ zusam-

menfassend: [W]e have shown that Early Classical Japanese adjec-

tives were [+aspect] and changed to [-aspect]. The consequence of 

this parametric change was to insert the aspect-carrying copula ar

between the [-aspect] adjectives and the [+aspect] conjunctive

particles ([+perfective] do, [+perfective] ba, [-perfective] ba), [-

perfective] auxiliary mu and [-perfective] negative nu.

Second, we have seen another trigger of the insertion of the copula:

Early Classical Japanese adjectives were [-tense] so that it was notpossible to combine with [+tense] morphemes. To combine [-tense]

adjectives and [+tense] morphemes, it was necessary to insert the

tense-carrying copula between [-tense] adjectives and [+tense] ki

(past), keri (perfect), and kemu (past presumptive).“ – („-kemu“

(wie andere entsprechende Formen, die auf „-mu“ oder – ver-

schliffen auf „n“ enden, wie „naramu/naran“) bezeichnet die Dubi-tativform des Perfektum, da im Japanischen ein futurischer Bezug

des Perfektums, wie Bruno Lewin in seinem „Abriss“ der japanschen

Grammatk sagt, nicht möglich ist.)

Das englische Zitat spricht freilich von einem bedeutend kühleren

Blick auf die Grammatik, als dem, der Kumakura Chiyuki eignet,

welcher ja davon überzeugt ist, dass dank der nur Aspekte markie-

renden und formierenden Verbalsuffixe, die Zeit der japanischen Er-

zählung, wie die „fließende Zeit des Films“, vor den Augen – ich

sage wieder: - ap-präsentiert werde. Nach Kumakura artikulieren

die Verben im Japanischen auch vergangene Ereignisse als im

Bewusstsein der Sprechenden gegenwärtige. Im Japanischen gibt es

resp. – ich referiere ja - gäbe es keine Tempora, die es ermöglichen,

Zeitverhältnisse „objektiv“ darzustellen; im Sinne eines Es war-Es

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VIII

ist-Es wird sein. Stattdessen würden Vergangenheit und Zukunft in

die Erzählung „hereingetragen und ausgedrückt“ (mochikomarete

hyôgen sareru).

Zweifellos hat das Historische Präsens (wie auch die so genannte

„erlebte Rede“) im Deutschen, um diesen Punkt in unserem Kontext

noch einmal zu verdeutlichen, auch die Funktion der „Vergegen-

wärtigung“; man mache sich nur bei Helbig/Busch, „Deutsche Gram-

matik“, 2001, kundig.

Die japanische Sprache versucht, sich gleichsam in das erlebende,erinnernde und sprechende „Subjekt“ zu ver-setzen; mit anderen

Worten: sie hat die „Tendenz“, die Erfahrung der oder des Erfah-

renden als solche ins Wort zu bringen. Vielleicht ist dies auch der

Grund dafür, dass das erfahrende und sprechende Subjekt im Japa-

nischen – grammatisch – weder markiert noch genannt werden

braucht; wohlgemerkt: braucht. Denn selbstverständlich ist es mög-lich und auch erlaubt. Allerdings sind die Personalpronomen des

Japanischen im Grunde nichts anderes als - wie soll man sagen? –

zweckentfremdete Demonstrative: Hier! Und Dort! Und Da drüben! –

etc.

Als Beispiel ein unter japanischen Linguisten als Beispiel höchst

beliebter Satz:

kono uchi ni sôi nai ga

(Kann nur dieses Haus sein, aber)

doko kara haitte ii ka

(von wo aus hineingehen gut?)

katteguchi ga nakatta

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IX

(gab keinen Hintereingang)

Ins Deutsche müsste man das etwa so übersetzen:

Zweifellos war es dieses Haus,

aber wie konnte ich da hineinkommen?

Es hatte ja keinen Hintereingang.

Die ersten beiden Sätze ap-präsentieren das, was dem „Ich-Er-

zähler“ durch den Kopf ging. Im japanischen Narrativ aber handelt

es sich nicht um etwas wie „direkte Rede“. Keine Spur von dem im

Japanischen in der Regel doch so vielbeschäftigten Quotativ namens

„to“. Aus Verlegenheit könnte man hier noch von „freier direkter

Rede“ sprechen und ergänzen, dass dieses Phänomen im Japani-

schen geradezu inflationär vorkommt. Dennoch: Die Tempus-Theor-

ie wird dadurch nicht gestärkt.

Eines lässt sich aber auf jeden Fall und für jeden Fall sagen: In Be-

zug auf das Japanische greift die Unterscheidung past/non-past zu-

mindest zu kurz; vielleicht greift sie sogar hier gar nicht.

Selbst der Tempustheoretiker Kindaichi Haruhiko schlug daher vor,

zur bekannten Opposition von past/non past einen zweiten Para-

meter zu gesellen, nämlich die Unterscheidung von absolutem Tem-pus und relativem Tempus (hier stützt Kindaichi sich auf Reichen-

bachs Arbeiten zu den abgeleiteten Tempora des Deutschen).

„Absolutes Tempus“ bezieht sich bei Kindaichi auf die zeitliche

Relation zwischen (dem Zeitpunkt) der Äußerung zu dem Zeitpunkt,

an dem das Geschehen, das im Prädikat zum Ausdruck kommt, sich

ereignet hat (terminologisch gesagt: es geht um das Verhältnis zwi-schen Sprech- und Ereignis-Zeit) „Relatives Tempus“ hingegen meint

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X

hier die zeitliche Relation zwischen den Ereigniszeiten, auf die im

Hauptsatz Bezug genommen wird, und den im Nebensatz präsen-

tierten Ereignissen; womit wir es also mit einer Variante der so

genannten „Referenzzeit“ zu tun hätten. – So wenig, mehr geht hier

und jetzt nicht, zur „tensusetsu“, der „Tempus-Theorie“.

Warum handelt es sich also bei der so genannten „Aspekt-Theorie“:

Ihr geht es nicht um die zeitliche Einordnung des bezeichneten Er-

eignisses in Relation zum Sprechzeitpunkt, sondern um die Unter-

scheidung von „Abgeschlossenheit“ und „Unabgeschlossenheit“. Der

kritische Unterschied ist hier, ob ein Geschehen beginnt oder gera-

de abläuft; oder aber, ob es abgeschlossen oder noch im Gange ist.

Die Aspekt-Theorie, daher ihr Name, zielt also auf „aspektuelle

Oppositionen“: statt auf  past oder non-past auf  Perfekt oder Im-

Perfekt; oder: schon geschehen, geschehend; aber auch: noch nicht

geschehend und noch nicht schon geschehen.

Im „Zukunfts-„Aspekt schließen sich sozusagen das Entweder-Oder

und das Weder-Noch ungewohnt versöhnlich zusammen. Die Zeit

wird hier, so scheint es mir, als ein Stakkato von Jetzten (mein

Computer meldet mir, dass es diesen Plural nicht gibt, trotzdem:)

Die Zeit wird hier, so scheint es mir, als ein Stakkato von Jetzten

erfahren, erlebt und verstanden, auf die das erfahrende Ich sich jeweils sprechend, ordnend und zuordnend bezieht.

Erwin Koschmieders Untersucung „Zeitbezug und Sprache“ ist schon

1929 erschienen; aber noch immer kann man aus diesem Text ler-

nen, unter welchen Aspekten man sich dem Zeitaspekt von Sprache

überhaupt nähern kann. Darin finden sich sich Ausführungen zum

Slavischen, die sich mit kleinen Modifikationen tutti quanti auf dasJapanischen übertragen lassen:

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XI

„Die Aspekte sind die grammatischen Kategorien zum Ausdruck des

Zeitrichtungsbezugs, und zwar der perfektive für den Richtungsbe-

zug Zukunft -> Vergangenheit, der imperfektive für den Richtungs-

bezug Vergangenheit -> Zukunft. Das Verhalten der beiden Aspekte

hinsichtlich der Gegenwart ... soll dabei nicht als Folge der lexika-

lischen Vollendungsbedeutung, sondern als das Wesen ihrer

Gegensätzlichkeit überhaupt genommen werden... Wenn wir nun

den imperfektiven Aspekt als grammatische Kategorie für den

Richtungsbezug Vergangenheit -> Zukunft auffassen, so heißt das,

dass ein jedes slavisches Verbum, wenn es im imperfektiven Aspekterscheint, den Tatbestand als „geschehend“ darstellt, ohne dass die

Zeitstufe dadurch berührt wird. Der Sprecher charakterisiert also

die betreffende Handlung dahin, dass sie für das Subjekt zu dem in

Rede stehenden Zeitpunkt im Vorsichgehen war, ist oder sein wird,

ohne das diese Zeitpunkt dabei vom Aspekt irgendwie zum Ausdruck

gebracht würde... Demgegenüber drückt der perfektive Aspekt denRichtungsbezug Zukunft -> Vergangenheit aus, d.h. er fasst die

gleiche Handlung in ihrer Totalität als „geschehen“, so dass der

Sprecher von der in ihrer Gesamtheit vollzogenen Handlung spricht,

ohne dabei die Zeitstufe zu berücksichtigen.“

Die Situation im Japanischen lässt sich exemplarisch so beschreiben:

Gleichzeitigkeit wird unter einem Matrix-Präteritum durch ein tem-

pusloses Präsens ausgedrückt, es gibt keine Tempustilgung: Ayako

wa Junko-ga byooki da to itta (“Ayako sagte dass Junko krank war”)

Im Englischen wird das eingebettete Präteritum durch Tempus-

tilgung simultan interpretiert: John saw a girl who was running. Im

Japanischen wird Gleichzeitigkeit unter einem Matrix-Präteritum

durch ein tempusloses Präsens ausgedrückt: Mariko wa naite iru

otokonoko ni hanasikaketa (“Mariko sprach mit dem Jungen der

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XII

weinte.”)

Aus den schon angedeuteten – sprachgeschichtlichen Gründen (d.h.

die Aspekt-Verarmung des Japanischen) - ist die Aspekttheorie

freilich gerade bei den japanischen Linguisten beliebt oder populär,

die „diachron“ argumentieren; und zum Beispiel behaupten, dass

  jenes im modernen Japanischen die Vergangenheit markierende

Verbal-Suffix –ta der Rest eines alten –tari sei, das neben –tsu, -nu, -

keri und –ri, nur eine differenzierte Art der Abgeschlossenheit – wir

werden noch darüber reden – zu bezeichnen diente. – So wenig,

mehr geht hier und jetzt nicht, zur so genannten „asupekuto-

setsu“, der „Aspekt-Theorie“.

Die noch immer einzige deutsch geschriebene Grammatik des vor-

modernen Japanischen ist der „Abriss der japanischen Grammatik“

von Bruno Lewin; zuerst 1959 und in einer zweiten, verbessertenAuflage 1975 erschienen. Lewin beschreibt „-ki“ und „-keri“ in

Anlehnung an japanische Vorbilder folgendermaßen: „ki“ „bezeich-

net in der Regel die Vergangenheit als Rückerinnerung an eigenes

Erleben (memoratives Präteritum), - „-keri“ hingegen die Vergan-

genheit als überliefertes Erinnerungsgut (episches Präteritum); in

Gedichten bezeichnet „-keri“ häufig „den nachdrücklichen Ab-schluss einer Aussage (lyrische Emphase).“ Zu „-nu“ und „-tsu“

schreibt Lewin: „Beide Verbalsuffixe bezeichnen in der klassischen

Schriftsprache gleichermaßen den perfektiven Aspekt. Schwierig-

keiten bereitet jedoch ihre Funktionsabgrenzung“.“ (S. 166) Prin-

zipiell darf man aber sagen, dass beide eine „assertorischen“ Cha-

rakter haben; und an beide können „-ki“ und „-keri“ angefügtwerden. Für „-ri“ und seine analytischen Formen gilt – nach Lewin –

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XIII

dass sie dann das Perfektum bezeichnen, „wenn die Verba ein

„momentanes oder resultatives Geschehen beinhalten.“ (S. 170) „-

tari“, aus dem sich, wie schon gesagt“ das moderne „-ta“, das ein-

zig noch erhaltene Suffix zur Markierung der Vergangenheit

entwickelt hat, spielt eine gewisse bis heute umstrittene Sonder-

rolle., da es „eine Kontraktion aus der Konjunktionalform te des

(uns bekannten) Verbalsuffixes tsu und dem Hilfsverb ari (statische

Befindlichkeit) darstellt.“

Warum spreche ich von einer „umstrittenen Sonderrolle“? Für

Kumakura Chiyuki sind „-tari“ und auch das übrig gebliebene „-ta“

eindeutig Bezeichnungen des Aspekts, wie auch alle anderen frühe-

ren Verbalsuffixe, die das moderne Japanisch nicht mehr kennt.

Anders Fujii Sadakazu, der im Jahr 2010 unter dem Titel „Nihongo

to jikan“, „Die japanische Sprache und die Zeit“, eine detaillierte

und im literalen Sinne des Wortes „aspekt“-reiche Studie zu unse-

rem Thema publiziert hat: Fujii Sadakazu behauptet, das „-ta“ , und

nur –ta“, gerade seiner Herkunft wegen eindeutig die Vergangenheit

markiere.

Erst im Zusammenhang der so genannten „genbun itchi“-Bewegung

der Meiji-Zeit (1868-1912), die eine Vereinheitlichung von Schrift-

sprache und gesprochener Sprache anstrebte, ist das „-ta“ ge-sellschaftsfähig geworden; nicht zuletzt und gerade durch Roman-

übersetzungen aus dem Russischen!

Tanaka Gen schreibt in einem Buch, das unter dem Titel „Das

Zeitbewusstsein der Japaner im Altertum: Struktur und

Entwicklung“ (Wiesbaden 1993), sogar ins Deutsche übersetz wor-

den ist, dass bei Aristoteles und Augustinus die Zeit zu einem„isolierten Objekt der Betrachtung“ gemacht würde. Nicht so bei

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XIV

den Japanern, vor allem aber nicht bei den Japanern des Altertums,

bei denen „die Zeit nicht von der menschlichen Existenz“ getrennt

gesehen worden wäre, sondern nur in „Verbindung mit dem Leben“.

Das europäische Denken bringe die Zeit in eine Ordnung von

„früher“ uind „später“ oder gliedere sie in Vergangenheit, Gegen-

wart und Zukunft. Die christlich-abendländische Denkweise gebe der

„linear verlaufenden, geradlinigen Zeit“ dabei deswegen den

Vorrang und Vorzug, weil sie von der „Existenz eines absoluten We-

sens“ ausginge, das aller Realität überhoben sei und das Denken

über Zeit „im Rahmen einer Zeittheorie“ überhaupt erst möglichmache. – Ich gebe zu, Tanaka Gen, stellt die Situation „modo gros-

so“ dar; aber vielleicht trifft er gerade deswegen Wesentliches.

Tanaka beschreibt die Bedingungen, unter denen – in der Nachfolge

des Aristoteles – das Phänomen „Zeit“ von Augustinus, Thomas von

Aquin, Isaac Barrow und Newton, Leibniz und Kant bis hin zu Hans

Reichenbach – wenn auch kontrovers - analysiert, beschrieben und

auch gedeutet wurde. Und präzise diese Bedingungen hat es im

vormodernen Japan, eben bis 1868, genauer: 1872, nicht gegeben –

Kalender und Chronologisierverfahren hatte man von den Chinesen

übernommen.

Bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts gab es im Japanischen,wie auch im Chinesischen, kein Wort für das „Abstraktum“ „Zeit“.

(Das Gleiche gilt auch für den „Raum“). Und das heißt wiederum,

dass im vormodernen Japan „Zeit“ und entsprechend auch „Ge-

schichte“ als Abstrakta nie gedacht wurden. Dennoch waren „Zeit“

und „Geschichte“ in Japan sinnfällig ineinander verfugt und in ge-

wisser Weise auch „sichtbar“ im Bild der – nach Überzeugung derJapaner – ununterbrochenen kaiserlichen Linie: Sie war die imagi-

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XV

näre Achse – oder die Achsen-Imago – die bis zur Sonnen- und Ahne-

ngottheit Amaterasu-ô-mikami ins Vorzeitlich-Mythische zurück-

reichte und den Verlauf von Zeit und Geschichte gleichsam visibili-

sierte. Es handelte sich somit um ein dynastisch-genealogisches Zeit-

Modell, in dem die Lebenszeit der herrschenden Familie die „Eigen-

zeiten“ der anderen überwölbte und zum allgemeinen Orientie-

rungsrahmen wurde.

Überhaupt scheint es, dass das altjapanische Zeitverständnis „raum-

orientiert“ war. Mit der Folge, dass, umgekehrt die Beschreibung

von „Orten“ ein zeitliches Moment, einen zeitlichen Bezug hatten.

Exemplarisch dafür ist das Wort „yo“, das „Welt“, „Epoche“, „Gene-

ration“ „Dynastie“ (wie etwa in der japanischen Nationalhymne),

„Lebeneswelt“, eben den „Raum“, in dem Menschen miteinander

leben und umgehen, und anderes mehr bedeuten kann. Mag sein,

dass dieses „Räumliche“ in der Zeit und „Zeitliche“ im Raum dafür

mit-verantwortlich ist, das die Momente des „Übergänglichen“ in

der japanischen Literatur (und in der japanischen Welterfahrung

überhaupt) eine so große Rolle spielen; und die Übergänge mit Vor-

liebe „räumlich“ darstellt werden; oft im Sinne einer Beschreibung

des Natur-Raums, der natürlichen Um-Welt,:

AKI KINU TO

ME NI WA SAYAKA NI

MIENEDOMO

KAZE NO OTO NI ZO

ODOROKARENURU

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XVI

Dass der Herbst

Gekommen ist, das sagen die Augen

Mir noch nicht.

Doch der Klang des Winds

Hat mich aufgeschreckt.

In diesem berühmten Gedicht von Toshiyuki Fujiwara, in dem übri-

gens dreimal eine Form des „perfektiven“ Verbalsiffix „-nu“ auf-

taucht – darüber hinaus im „-re-“ von „odorokarenuru“ zudem der

Aspekt und der „Unwillkürlichkeit“, japanisch „jihatsu“; was wört-

lich „spontan“ bedeutet. In diesem Gedicht wird die Zeit – und nicht

nur „gleichsam“ – gehört, und zwar so gehört, dass dagegen nichts

zu machen ist. - Der Herbstwind hat es unmissverständlich

mitgeteilt: eine besonders intensive Art der Ap-präsentation. Darü-

ber hinaus wird in diesem Gedicht die Ambiguiät des Übergangs, des„Werdens im Vergehen“ wie Hegel gesagt hätte, das „Schon“ im

„Noch nicht“, auf besonders kunstvolle Weise ins Wort gehoben; wie

auch im folgenden Gedicht, das Kaiser Ninna geschrieben haben soll:

KIMI GA TAME

HARU NO NO NI IDETE

WAKANA TSUMU

KOROMODE NI

YUKI WA FURITSUTSU

Nur für dich

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XVII

Ging ich hinaus auf die Frühlingsfelder

Um frische Kräuter zu pflücken.

Da fiel und fiel mir

Der Schnee auf die Ärmel

Die Hinweis auf die „frischen Kräuter“ macht es möglich, den Tag zu

bestimmen, an dem Ninna dieses waka geschrieben haben; oder

zumindest geschrieben zu haben vorgibt: nämlich am 7. Tag des 1.

Monats. Was natürlich nur Sinn macht, wenn man dies Angabe auf 

den Mondkalender bezieht.

Im Hintergrund der Zeit stand – jedenfalls im vormodernen Japan –

keine überzeitliche Transzendenz. Außerhalb des einen Kontinuums

mit Namen Kosmos oder Uni-Versum gibt es nichts: Alles, was ist,

das sind die „banbutsu“, die „Zehntausend Dinge“; also gesund

tautologisch gedacht: alles, was ist.

Hier hatte die Augustinische Vorstellung, dass die Zeit, eine Art

Einbahnstrass von der Genesis bis zum Jüngsten Gericht ist; oder

dass die Zeit eine Garnrolle sei, die an einem transzendenten Gott

wie an einem metaphysischen Sicherheitshaken befestigt, unerbitt-lich ihrem Ende zurollt: diese Vorstellungen hatten im sino-japa-

nischen semantischen Universum keinen Platz.

Der Japanologe Klaus Kracht sagte vor bereits 1983, in seiner Bo-

chumer Antrittsvorlesung, dass die „linear-additive Organistation“

des japanischen Zeitdenkens“ (Kracht spricht von Denken, was ich

für nicht unproblematisch halte), die „Grundströmung eine komple-

xen, polyphonen Gesamtheit einheimischer und übernommener Ele-

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XVIII

mente“ sei: Das heißt die autochthone Zeiterfahrung der Japaner

gerade ist es, die der japanischen „Kultur“, wenn dieses Wort noch

erlaubt ist, ihre eigene Tönung, vulgo: Spezifität gibt; auch oder

gerade dem, was von außen übernommen würde; und das war und

ist, wie wir wissen, viel; bis hin zum Imperialismus und zur Atom-

kraft.

Kracht verwies in seiner Vorlesung auf Maruyama Masao, einen

westliche geschulten, höchst analytischen und kritischen Denker mit

– es sei ihm einige Jahre nach seinem Tod verziehen – mit linken

Tendenzen. Maruyama hatte im Rückgriff auf den Repräsentanten

der chinakritischen, so genannten „nativistischen Schule“, Koku-

gaku, Motoori Norinaga (1730-1801) drei Grundkategorien beschrie-

ben, die in ihrem Zusammenspiel – Cassirer hätte vielleicht gesagt: -

„die symbolische Prägnanz“ der vormodernen japa-nischen Welt-

Erfahrung ausmachten:

1. das Werden, jap.: naru, nariyuku;

2. die Konjunktionen des Aufeinenaderfolgens, jap.: tsugi,

tsugitsugi 

3. die sich gleichbleibende Grundkraft, jap: ikioi 

Diese drei Grundkategorien hat Maruyama, hier heideggert er fast

ein wenig, zusammengeschmiedet zu einem „Denk-Rahmen“, der

den „Grundrhyhtmus“ bestimme, dem sich auch fremdländische Me-

lodien anschmiegen müssten. Und dieser Denkrahmen heißt:

„tsugitsugi ni nariyuku ikioi“. Kracht übersetzt das so: „Grundkraft

des fort und fort dauernd im Werden Begriffenen“.

Dieses Konzept scheint plausibel. Sagt es doch unter anderem, dass

das Zeitkonzept, wie es inhaltlich auch gedacht sein mag, dass die

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XIX

Zeiterfahrung, dass die Zeitvorstellung über die „Kontur einer Kul-

tur“ – zumindest – mitentscheidet. Und wenn in diesem überge-

ordneten Sinne die Zeit und der Zeit-Aspekt so prägend sind; dann

muss er sich auch in und aus der Sprache „detektieren“ lassen.

Es gibt auch das folgende, fast 900 Jahre alte Gedicht (die Zeit fliegt

und flieht eben) von Fujiwara Kiyosuke (1107-1177); eines, das in

Japan sehr bekannt ist, weil es in einer Sammlung von 100 Gedich-

ten von 100 Dichtern und Dichterinnen zu finden ist, die praktisch

  jede Schülerin und jeder Schüler in Japan einmal gelesen haben

muss oder soll (und es deswegen wieder vergessen hat). Es lautet

NAGARAEBA

MATA KONO GORO YA

SHINOBAREN

USHI TO MISHI YO ZO

IMA WA KOISHIKI

Wenn ich lange lebe

wird dann auch dieser Augenblick jetzt

mir so köstlich sein

wie jene Zeit damals die ganz glücklos schien

 jetzt mir so lieblich scheint?

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