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Zeitschrift für Kristallographie, Bd. 110, S. 372—394 (1958) Phänomenologische Theorie der Kris tallab Scheidung an Oberflächen. I Von Erxst Bauer* Mit 3 Abbildungen im Text (Eingegangen am 6. Dezember 1957) Abstract Crystallization on surfaces is discussed thermodynamically. Of the three different growth mechanisms, that of growth atom-layer by atom-layer through surface nucleation (Frank-van der Merwe mechanism) occurs only for growth on material of the same composition. The growth on a different material, on the other hand, occurs, in general, by original formation of a mono- or polymolecular layer without nucleation, which then leads to formation of three-dimensional nuclei (Stranski-Krastanov mechanism), or through the formation of three- dimensional nuclei directly on the foreign substrate (Volmer-Weber mechanism) where the form and size of the nucleus cannot, in general, be determined by the Wulff-Gibbs law. Auszug Die Kristallabscheidung an Oberflächen wird thermodynamisch untersucht. Dabei ergeben sich drei verschiedene Abscheidungsmechanismen, von denen einer, das Wachstum Atomlage um Atomlage durch Flächenkeimbildung („Frank-van der Merwe-Mechanismus") im allgemeinen nur bei der Ab- scheidung auf der arteigenen Unterlage auftritt. Die Abscheidung auf artfrem- den Unterlagen erfolgt dagegen im allgemeinen durch anfängliche Abscheidung einer ein- oder mehrmolekularen Schicht (ohne Keimbildung) mit anschließender Bildung dreidimensionaler Keime („STRANSKi-KRASTANOV-Mechanismus") oder durch Bildung dreidimensionaler Keime unmittelbar auf der Oberfläche (,,Vol- mer- WEBER-Mechanismus"), wobei die Form und Größe der Keime im all- gemeinen nicht mit Hilfe des Wulff-GiBBSschen Satzes bestimmt werden kann. 1. Einleitung Phasenumwandlungen1 können im allgemeinen als isotherm-iso- bare Vorgänge idealisiert werden. Die charakteristische thermodjaia- mische Funktion eines Systems, in dem sich ein solcher Vorgang * Z. Zt. Michelson-Laboratory, China Lake, California, U.S.A. 1 Wegen einer neueren zusammenfassenden Darstellung der Theorie der Phasenumwandlungen sei auf die Arbeit "Phase Changes" von D. Turnbull in Solid State Physics 3 (1956) 225—306 verwiesen, die auch zahlreiche Literatur- angaben enthält.

Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen. I

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Zeitschrift für Kristallographie, Bd. 110, S. 372—394 (1958)

Phänomenologische Theorieder KristallabScheidung an Oberflächen. I

Von Erxst Bauer*

Mit 3 Abbildungen im Text

(Eingegangen am 6. Dezember 1957)Abstract

Crystallization on surfaces is discussed thermodynamically. Of the threedifferent growth mechanisms, that of growth atom-layer by atom-layer throughsurface nucleation (Frank-van der Merwe mechanism) occurs only for growthon material of the same composition. The growth on a different material, on theother hand, occurs, in general, by original formation of a mono- or polymolecularlayer without nucleation, which then leads to formation of three-dimensionalnuclei (Stranski-Krastanov mechanism), or through the formation of three-dimensional nuclei directly on the foreign substrate (Volmer-Weber mechanism)where the form and size of the nucleus cannot, in general, be determined by theWulff-Gibbs law.

AuszugDie Kristallabscheidung an Oberflächen wird thermodynamisch untersucht.

Dabei ergeben sich drei verschiedene Abscheidungsmechanismen, von deneneiner, das Wachstum Atomlage um Atomlage durch Flächenkeimbildung(„Frank-van der Merwe-Mechanismus") im allgemeinen nur bei der Ab-scheidung auf der arteigenen Unterlage auftritt. Die Abscheidung auf artfrem-den Unterlagen erfolgt dagegen im allgemeinen durch anfängliche Abscheidungeiner ein- oder mehrmolekularen Schicht (ohne Keimbildung) mit anschließenderBildung dreidimensionaler Keime („STRANSKi-KRASTANOV-Mechanismus") oderdurch Bildung dreidimensionaler Keime unmittelbar auf der Oberfläche (,,Vol-mer-WEBER-Mechanismus"), wobei die Form und Größe der Keime im all-gemeinen nicht mit Hilfe des Wulff-GiBBSschen Satzes bestimmt werdenkann.

1. EinleitungPhasenumwandlungen1 können im allgemeinen als isotherm-iso-

bare Vorgänge idealisiert werden. Die charakteristische thermodjaia-mische Funktion eines Systems, in dem sich ein solcher Vorgang

* Z. Zt. Michelson-Laboratory, China Lake, California, U.S.A.1 Wegen einer neueren zusammenfassenden Darstellung der Theorie der

Phasenumwandlungen sei auf die Arbeit "Phase Changes" von D. Turnbull inSolid State Physics 3 (1956) 225—306 verwiesen, die auch zahlreiche Literatur-angaben enthält.

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Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen 373

abspielt, ist die freie Enthalpie 67. Eine Phasenumwandlung einer Phase a

(„Mutterphase") in eine Phase ß an der Oberfläche einer Phase y istmöglich, wenn die freie Enthalpie G0 des nur die Mutterphase und dieOberfläche enthaltenden Systems größer ist als die freie Enthalpie Gdes die Mutter- und Endphase a bzw. ß oder nur die Endphase ß unddie Oberfläche enthaltenden Systems. Die Änderung AG = G

G0 derfreien Enthalpie des Systems setzt sich zusammen aus einem nega-tiven und einem positiven Glied: AG = AG~ -f- AG+. Das erste kommt

6

Go

Abb. 1. Abhängigkeit der freien Enthalpie 6? des Gesamtsystemsvon der Größe g der kristallinen Phase

dadurch zustande, daß das chemische Potential fin der Teilchen (Ionen,Atome, Moleküle oder Ionen-, Atom- oder Molekül-Komplexe) in derPhase k größer ist als in der Phase ß und (bzw. oder) daß bei derPhasenbildung an der Oberfläche (Phasengrenze k—y) ein Stück von

dieser Oberfläche mit ihren Kanten und Ecken verschwindet. Daspositive Glied ist auf die Bildung der neuen Phasengrenzen c/.—ß undß—y sowie auf die mit der Phasengrenze ß—y oder mit dem Volumenverbundenen Spannungen zurückzuführen, wobei letztere im allge-meinen nur bei der Phasenbildung im festen Zustand und unterschied-lichen spezifischen Volumina der beteiligten Phasen auftreten können.Soll ein Phasenübergang a -> ß stattfinden, so können wir hin-sichtlich der Abhängigkeit der freien Enthalpie G des Gesamt-systems von der Größe und Form der Phase ß (gekennzeichnetdurch ihre Teilchenzahl g) bei konstantem Potentialunterschiedu

[x0 der Teilchen in den Phasen a und ß vier Fälle unterscheiden(vgl. Abb. 1).

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374 Ernst Bauer

1. G steigt vom Anfangswert G0 (gß = 0) zunächst an, erreicht beieinem bestimmten, von der Form der Phasengrenzen (gekennzeichnetdurch die Gestaltsparameter f{) abhängigen Phasengröße gß = g* einMaximum und fällt dann wieder unter den Anfangswert.

2. G fällt vom Anfangswert zunächst ab, erreicht bei einem be-stimmten, von den f4 abhängigen Wert g ein Minimum und steigt dannwieder über den Anfangswert an.

3. G verhält sich zunächst wie im 2. Fall, nach dem Nulldurchgangdagegen wie im 1. Fall.

4. G nimmt kontinuierlich ab.Der erste Fall tritt ein, wenn die Zunahme A G+ der freien Enthal-

pie durch die Neuerzeugung der Phasengrenzen oc—-ß, ß—y und durchEntstehung von Spannungen bei kleinem g größer ist als ihre AbnahmeA G~ infolge der Abnahme g • (p0

/<) des chemischen Potentials derTeilchen und des Verschwindens eines Teils der Phasengrenze a—y.Der zweite Fall ist realisiert, wenn fi 2ï ^0 und die Abnahme A G~y derfreien Enthalpie infolge des Verschwindens der Phasengrenze a.—y so

stark ist, daß bei kleiner Teilchenzahl g in der Phase ß AG~ = g(/u,—/u0)+ AG~y < —A G+ wird, während bei großer Teilchenzahl g (/u—p,0) +AG+ > I AG~ I wird. Die Phase ß kann sich in diesem Fall nur in sub-mikroskopischen Dimensionen [g g £/'(£;)] ausbilden, da für g > g'A G > 0 ist. Der vierte Fall scheint vorzuliegen, wenn ji < /u0 und

I A G~y I > A G+ ist. Wie im Abschnitt 3 gezeigt wird, führen diese Be-dingungen jedoch auf den Fall 3 und nicht auf Fall 4, welcher nichtrealisierbar ist. Die in Abb. 1 noch eingezeichnete mit g gegen oo gehendeKurve ist zwar möglich, führt jedoch zu keiner Phasenumwandlung,da sie das Kriterium für die Stabilität der Mutterphase darstellt.Während im ersten Fall für die Phasenumwandlung rx -» ß die Ent-stehung von Bereichen („Keimen") der/9-Phase von einer bestimmtenMindestgröße g* = <7*(£,) notwendig ist („Keimbildung"), ist imzweiten und im Anfangsstadium des dritten Falls keine Keimbildungerforderlich. Die Phasenumwandlung in makroskopischen Dimensio-nen (Fall 1 und 3) setzt jedoch stets eine Keimbildung voraus.

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Behandlung des Phasen-übergangs von einer nichtkondensierten Phase in die kristalline Phase.Die Ergebnisse können jedoch zum Teil unmittelbar, zum Teil mit ge-ringfügigen Erweiterungen auf kondensierte Phasen übertragen wer-

den. Teil I enthält die Ermittlung der Keimgröße und Keimform, so-wie eine Diskussion des ohne Keimbildung stattfindenden Phasenüber-gangs, Teil II beschäftigt sich mit der Keimbildungswahrscheinhchkeit

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Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen 375

und den experimentell zugänglichen Größen bei einer Phasenumwandlungsowie mit den die Phasenumwandlung beeinflussenden, nicht von derTheorie erfaßten Parametern. Das Schwergewicht liegt dabei auf denbeim epitaxialen Kristallwachstum auftretenden Problemen, die in denletzten Jahren vielfach diskutiert wurden (s. die zusammenfassendenDarstellungen2-3» 4>s) und die den Anstoß zu diesen allgemeinen Über-legungen gaben.

2. Keimform und KeimgrößeDas zu betrachtende Sjrstem besteht aus der Mutterphase (fndex 0),

dem aus g Einzelmolekülen bestehenden Kristall (Index g) und derOberfläche (Index U), auf der sich der Kristall bildet. Die freie Enthal-pie des Systems nach der Bildung des Kristalls hängt u. a. von derGröße und Form des Kristalls ab :

0 = G (A0, g, f«, p, T) ; (1)dabei bedeutet Af0 die Zahl der Einzelmoleküle der Mutterphase. DieForderung nach konstanter Zahl Ns der Einzelmoleküle im Systemführt zur Elimination von N0: N0= Ns— g. Die inneren Parameter £;dienen zur Kennzeichnung der Form des Kristalls. Weitere eventuellnotwendige innere Parameter, z. B. die Dichte der Korngrenzen- undVersetzungsspuren (von Korngrenzen und Versetzungen im Innerender Unterlage) auf der Unterlagenoberfläche oder der Fehlordnungs-grad von Stapelfehlern im Kristall, sollen vernachlässigt werden. Wirhaben dann bei einem Kristall, der von n Flächen begrenzt ist, n—linnere Parameter ft; denn zur Festlegung der Größe und Form eines»-Flächners sind höchstens n Größen nötig, z. B. die Länge ht der von

einem Punkt aus auf die Begrenzungsflächen gefällten Lote, zur Fest-legung der Form reichen dagegen bereits n—1 relative Werte der Ii,,bezogen auf ein beliebiges h{' = hn.

Wir nehmen an, daß im Ausgangszustand unseres Systems dieMutterphase von der Unterlagenoberfläche getrennt sei. Ferner setzenwir voraus, daß die Mutterphase als aus einheitlichen Teilchen be-stehend aufgefaßt werden kann, d. h. daß z. B. bei großer Zahl der

2 A. Neuhaus, Orientierte Substanzabscheidimg (Epitaxie). (Partiell-isomorphe Systeme XII). Fortschr. Mineralog. 29/30 (1950/51) 136—296.

3 H. Seifert, Epitaxy. In R. Gomer and C. R. Smith, Structure andProperties of Solid Surfaces. University Chicago Press 1953, 318—383.

4 D. W. Pashley, The study of epitaxy in thin surface films. Advances inPhysics 5 (1956) f 73—240.

5 H. Raether, Elektroneninterferenzen. Handb. Physik 32 (1957) 532.

Page 5: Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen. I

376 Ernst Bauer

monomeren Moleküle die Zahl der dinieren und trimeren sowie der aus

noch mehr Molekülen bestehenden Molekülkomplexe in der Mutter-phase sehr klein ist. Dann können wir uns einen Kristall aus g Einzel-teilchen aufgebaut denken. Da im Endzustand des Systems nicht nur

ein Kristall auf der Oberfläche vorhanden ist, sondern auch noch einenicht kondensierte Adsorptionsschicht von Na Einzelmolekülen mitdem chemischen Potential ua, ist die freie Enthalpie G0 bzw. G unseres

Systems im Anfangs- bzw. Endzustand gegeben durch

Go = Ns Li0 + Wv (2)G = (Ns- g

-

Na) ß0 + gu + Vg+ Wgü + Wv- Wüg + Naua + A Wü0 ; (3)dabei ist Wn = 0U + Kv -f- Ev die Summe der freien Oberflächen-,Kanten- und Eckenenthalpie der gesamten Unterlagenoberfläche.Wg, WgU und WVg bedeuten die Summe der analogen Größen für die mitder Mutterphase bzw. mit der Unterlage in Berührung stehenden Teileder Phasengrenze des Kristalls bzw. für den mit dem Kristall in Be-rührung stehenden Teil der Unterlage. A ist die Änderung der ent-sprechenden Größen der an die Mutterphase grenzenden Teile derUnterlage infolge der Adsorption. Die freie Grenzflächenenthalpie @güist definiert als die Differenz der freien Enthalpie der „Grenzflächen"beim Aufwachsen desselben Kristalls in paralleler Orientierung aufeiner arteigenen Unterlage derselben Form (d. h. bei Übereinstimmungder Bindungsverhältnisse, Atomabstände und Atomanordnung in denGrenzflächen und deren Umgebung) und der freien Enthalpie der wirk-lich vorhandenen Grenzflächen. Analog ist KgV und EgU definiert. DieseGrößen verschwinden also im Falle übereinstimmender Bildungs-verhältnisse, Atomabstände und Atomanordnungen in den Grenz-flächen und deren Umgebung. Sie enthalten nicht nur die Wechsel-wirkungsenergie der Grenzflächenatome, sondern auch die Spannungs-energie in Kristall und Unterlage, welche durch die Verzerrung derAtomabstände infolge der Wechselwirkung der Kristall- und Unter-lagenatome bedingt ist. Aus (2) und (3) ergibt sich

AG = gfr-lx0) + yt + WgTr- Wjjg + Na fr a-p0) + à ^üo= AGE + AGÄ. (4)

Die uns interessierende Größe ist die von der Kristallbildung herrüh-rende Änderung der freien Enthalpie

AGK = gfr-^) + Wg + Wgü~Wüg. (5)

Page 6: Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen. I

Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen 377

Da A GK ebenso wie die Potentialdifferenz //,—/u0 unabhängig vom Weg[direkter Übergang Mutterphase (ii0) Kristall (/u), indirekter Über-gang Mutterphase (fxn) -* Adsorptionsschicht (/j,a) -> Kristall (/tt)] ist,können wir uns auf die Diskussion von A GK beschränken.

Für den Keim, d. h. für den Kristall jener Größe g und Form f^, fürden AGE seinen maximalen Wert hat, muß gelten:

dg fb.p.Td AGK3fi Jg.v.T

= 0 (6)

0 (»=1, ...,n-l). (7)

Dies sind ?i Gleichungen für g und die die simultan zu lösen sind.Setzen wir (5) in (6) und (7) ein und vernachlässigen wir gleichzeitigdie freien Kanten- und Eckenenthalpien, so ergibt sich :

gPo

f* = Yg ( ®e + 0<>u~

0ug)s<,v, t (6 a)

^fi(0„+0gv-&Ug)g,P,T = O (i=l,...,n-i). (7a)Die Gleichung (6a) ist die verallgemeinerte Thomson-GiBBSscheGleichung. Da g • v = V (v Volumen eines Moleküls im Kristall, V Vo-lumen des ganzen Kristalls), ist g = const, gleichwertig mit V = const.Die Gleichungen (7 a) sind deshalb nichts anderes als die verallgemei-nerte GiBBSsche Minimumsbedingung für die Gleichgewichtsform einesKristalls im stabilen oder instabilen Gleichgewicht: Die freie Ober-flächenenthalpie 0g + 0gu eines Kristalls vermindert um die freieOberflächenenthalpie 0Ug der mit ihm in Berührung stehenden Ober-fläche eines anderen Kristalls muß bei konstantem'Volumen einenminimalen Wert haben.

Um von der verallgemeinerten GiBBSschen Minimumsbedingung(7 a) zum WuxFFschen Satz zu gelangen, ersetzen wir che n—1 Glei-chungen (7 a) durch die mit ihnen gleichwertigen n Gleichungen

~(0g+0gü-0Ua-XV) = O (i=l,...,n). (7b)11—11g llg 11g

Nun ist 0g= X atFlt 0aü= Z olGFia und 0Ug= X awFw, wobeii=i i=i i=i

nG die Zahl der Grenzflächen-Kristall-Unterlage ist. Die al und aw sinddie spezifischen freien Oberflächenenthalpien der verschiedenen Kri-stall- bzw. Unterlagenoberflächen der Größe Ft bzw. Fw, die ala diespezifischen freien Grenzflächenenthalpien der n0 Grenzflächen der

Z. Rristallogr. Bd. 110, 5/6 25

Page 7: Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen. I

378 Ernst Bauer

Größe FlG = FlD. Die Größen &g, &gU und 0Ug können wir zusammen-

fassen : n

+ *,J7-*D» = * = E0lFl,1=1

indem wir für n—nG < l < n at = alG —olv\mc\Fi = FlG = Fw setzen.Betrachten wir die Fj und V als Funktionen der hi, so gilt (vgl.6)

dh, *'

so daß wir statt (7 b) schreiben können

ddh, i = i

ZolFl\ = XFi (i=l,...,n). (8)

Damit haben wir den Anschluß an die von LAUEsche Beweisführungdes WuLFFschen Satzes6 erreicht und können diese weiterverfolgen.Da die Ft homogene Funktionen zweiten Grades in den hi sind, kann

F—

1 vj,dF'—1 v- h SF'

gesetzt werden, wodurch aus (8) nach Ausführung der Differentiation undeinfacher Umformung die Gleichungen

I|1(^-4^)l£=#ilg^ (* = !» • • • » ») 0)

hervorgehen. Dies ist ein System von n linearen inhomogenen Glei-

chungen für die n Größen ax— ~

ht. Nach einem Satz von Feobeniusüber lineare Gleichungssysteme hat es dann und nur dann eine Lö-

(dF \\ der homogenen

(dF 71 do \

der inhomogenen Gleichung ist. Da r < n (vgl. 6), ist dies dann undnur dann der Fall, wenn für alle i eine der beiden folgenden Beziehun-gen gilt:

Z*£Ft=0 (10a)

Zw,F^w, (*beliebig)- (10b)6 M. von Laue, Der WuLFFsche Satz für die Gleichgewichtsform von

Kristallen. Z. Kristallogr. 105 (1943) 124—133.

Page 8: Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen. I

Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen 379

Diese Gleichungen sind zusätzliche nicht aus den Maximumsbedin-gungen (6), (7) folgende Bedingungen. Sie sind erfüllt, wenn alle

= 0 sind, d. h. wenn die spezifischen freien Oberflächen- und Grenz-

flächenenthalpien von der Form und Größe der Flächen unabhängigsind. Allgemein ist dies nur der Fall bei der Keimbildung auf Ober-flächen, die in atomaren Bereichen keine strenge Ordnung zeigen, z. B.auf Flüssigkeiten, Gläsern, amorphen Stoffen oder Lacken. Auf Kri-stallen dagegen ist die spezifische freie Grenzflächenenthalpie aQ

analog auch die Kanten- und Eckenenthalpie xg und eG—

im allge-meinen von der Größe und Form der Grenzfläche abhängig. Dies istdurch Betrachtung der atomistischen Struktur der Grenzfläche leichteinzusehen: Die Keimgröße liegt stets unter g = 50 bis 100, die Aus-dehnung der Grenzfläche beträgt deshalb nur Avenige Gitterkonstan-ten. ag ist auf Grund der Definition von 0gU u. a. von den Abstands-unterschieden der Keim- und Unterlagenatome in der Umgebung derGrenzfläche abhängig, diese wiederum sind im Mittel bei nicht über-einstimmenden Atomabständen bzw. Atomanordnungen in Keim undUnterlage von der Größe und Form der Grenzfläche abhängig. Selbst beigleicher Atomanordnung in Keim und Unterlage, jedoch verschiedenemBindungszustand in Keim und Unterlage, ist wegen der Abhängigkeitdes Keimrandeinflusses von der Keimgröße und dessen Einfluß auf denVerzerrungszustand in Keim und Unterlage ag exakt nicht konstant.In der hier gewählten Näherung, in der wir die freie Kanten- undEckenenthalpie und damit auch die Randeinflüsse vernachlässigen,kann jedoch ag in diesem Fall als unabhängig von der Keimgrößeund Keimform betrachtet werden. Dies ist auch zulässig, wenn sicho~g mit der Keimgröße und Keimform nur langsam ändert, z.B. bei sehrkleinen Unterschieden in der Atomanordnung von Keim und Unterlage.

Schließlich können die Bedingungen (10 a) und (10 b) auch bei ver-

änderlichen al = al (g, i{) erfüllt werden, wenn es gelingt, die at undFi so zu transformieren, daß die neuen er,0-Werte konstant sind. Dadie oj, Fi, at° und Ft° nur in der Kombination alFl bzw. ofF,0 auftretenund diese Produkte bei konstanten ol bzw. a,° homogene Funktionenzweiten Grades der ht sein müssen, ist dies dann und nur dann mög-lich, wenn die at homogene Funktionen ersten bzw. zweiten Gradesoder gemischten ersten und zweiten Grades von den Verhältnissen derhi sind, also von den f ,• = -A , 4- = , = r1. Setzen wir1 * hn fi ht f» hk

Fi = Zam ^ hkik

25*

Page 9: Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen. I

380 Ernst Bauer

mit <Hik = am und

__

_ I ri _0 "r I v„.0 nt h v

al—

al0 T 2, °Vs \~ T Z «Buoto ^tuvio

mit konstanten cri0-, ofre- und of(UB!()-Werten, so folgt aus der Forderung,daß

aiFi = Eauk aio hi K + EEa-uk °"°r« y Äi h + £ E aKk Guuvw y jt hi a*ik ik rs 8 ik tuvw u w

wieder eine homogene Funktion zweiten Grades von den h{ sein muß,für die Koeffizienten

o 0 falls i ^ s%* a,rs =

[beliebig falls i = s

alik altuvw0 falls u ^ i oder iv k

beliebig falls u = i und w = k ,

Sind diese Bedingungen erfüllt, so ist eine Transformation o-z -* of,Ft -> Ff möglich. Ist z. B.

Fi = »m K + «m h22 + 2 aa2 hx h2und

_

n hy , o h2

so bedeuten diese Bedingungen, daß im Falle of 12 # 0 und of21 ^ 0 von

den alik nur œ,12 ^ 0 sein darf, während im Fall of21 = 0 bzw. of12 = 0auch al22T± 0 bzw. ani^ 0 sein kann. Dies ist durch Ausrechnen desProduktes ot Ft leicht einzusehen. Die Tatsache, daß sich zu einem Kri-stall mit veränderlichen 07 in einfachen Fällen durch Transformation,,Bildkristalle" mit konstanten oj finden lassen, ist für die Anwendungder theoretischen Betrachtungen sehr wichtig, da damit in kompli-zierten Fällen eine zumindest qualitative einfache Ermittlung derGleichgewichtsform möglich wird.

In allen übrigen Fällen können zwar die Bedingungen (10a), (10b)zufällig einmal erfüllt sein, im allgemeinen aber sind sie es nicht. Das

Gleichungssystem (9) hat daher im allgemeinen keine Lösungen 07—

~

ht.Da die Existenz solcher Lösungen jedoch für die Gültigkeit desWüLFFschen Satzes notwendig ist (vgl. 6), haben wir das Ergebnis :

Der WuLFFsc/ie Satz ist für die Keimbildung auf kristallinen Unterlagenund damit insbesondere für die Epitaxie im allgemeinen nicht gültig.

Page 10: Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen. I

Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen 381

Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zu der von Kaischew7 an-

gegebenen Verallgemeinerung des WuLFFschen Satzes. Leider war uns

seine Beweisführung8 nicht zugänglich, doch ist der Widerspruchwahrscheinlich dadurch zu erklären, daß Kaischew mit von der Größeund Form der Grenzfläche unabhängigen spezifischen freien Grenz-flächenenthalpien rechnete. Sein Ergebnis°1

_

°2_ _

°« —«g_

alO—

al U

_

a2Q— G2B_ _

OngO—

OngU / 1 1 \

hx h2 ' ' hn-ng h10 h20 hngogilt nach dem oben Gesagten daher allgemein nur für die Keimbildungauf nichtkristalliner Unterlage, auf kristallinen Unterlagen nur in Aus-nahmefällen. Wegen der Ungültigkeit des WuLFFschen Satzes könnendie Gleichungen (6a) und (7 a) im allgemeinen auch nicht zu einerGibbs-WuLFFschen Gleichung zusammengefaßt werden9, so daß dieBerechnung der Keimform und Keimgröße unmittelbar von diesenGleichungen ausgehen muß. Ihre explizite Lösung ist jedoch im allge-meinen nicht möglich, da die alG und ^-e- von den Lineardimensionendes Kristalls abhängen. Diese Abhängigkeit läßt sich schon in deneinfachsten Fällen nicht durch eine geschlossen darstellbare Funktionbeschreiben.

Der einfachste und wohl bisher einzige Fall, in dem eine Berechnung derspezifischen freien Grenzflächenenthalpie möglich ist, ist der auf dem van der

MERWEschen Versetzungsmodell einer Grenzfläche zweier parallel längs einer{100}-Ebene miteinander verwachsener einfach kubischer Kristalle mit ver-

schiedener Gitterkonstante10 beruhende (vgl. Abb. 2). Van der Merwe be-rechnet die spezifische Grenzflächenenergie unter der Voraussetzung, daß diebeiden Kristalle sowohl parallel zur Grenzfläche als auch senkrecht zu ihr sehrgroße Ausdehnung besitzen, doch lassen sich seine Rechnungen durch An-passung der Integrationsgrenzen an die Kristalldimensionen auch auf kleineKristalle (vgl. Abb. 2) erweitern, wobei jedoch die stark vereinfachende An-nahme gemacht werden muß, daß sich der Verzerrungszustand in dem kleinen

7 R. Kaischew, Über eine Verallgemeinerung des WuLrrschen Satzes undüber die Kristallbildung auf fremden Oberflächen. Arbeitstagung Festkörper-physik, Dresden 1952, 81—83.

8 R. Kaischew, Thermodynamik von Kristallkeimen. Bull. Acad. Sei. Bulg.(Série Physique) 1 (1950) 100; 2 (1951) 191—203.

9 Dies wäre nur möglich, wenn sowohl Teilchenform als auch Teilchengrößedurch einen Parameter dargestellt werden könnten, also bei regulären Poly-edern, z. B. beim Würfel (s.15). Da die Gegenwart der Oberfläche jedoch

von

Ausnahmefällen, z. B. aG = an im untenstehenden Beispiel, abgesehen—

stetseine Unsymmetrie des Keims bewirkt, kann dieser Fall bei der Keimbildung aufGrenzflächen im allgemeinen nicht auftreten.

10 J. H. van der Merwe, On the stresses and energies associated with inter-crystalline boundaries. Proc. Physic. Soc. [London] A 63 (1950) 616—637.

Page 11: Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen. I

382 Ernst Bauer

Kristall nicht oder nur wenig von dem des großen unterscheidet. Diese An-nahme und die starken Vereinfachungen, die von vornherein im Modell stek-ken10, lassen aber den Aufwand der numerischen Berechnung der Grenzflächen-energie als Funktion der Kristalldimensionen l, h als wenig erfolgversprechenderscheinen. Die Rechnungen ergeben nämlich für einen prismatischen Kristall

ooooooooo

oooooooooo

oooooooooo

oooooooooo

oooooooooo

ooooooooo

oooooooooo

oooooooooo

oooooooooo

oooooooooo

Abb. 2. Schnitt durch die Umgebung der Grenzfläche zweier einfach-kubischerKristalle verschiedener Gitterkonstante und gemeinsamer {100}-Ebene parallelzu einer {001 >-Richtung und senkrecht zur Grenzfläche {100}. Der Schnitt ist

so gelegt, daß in der zur Zeichenebene senkrechten Ebene (Spur AA) keineVerzerrungen auftreten (nach van der Merwe 10)

der seitlichen Ausdehnung lt = l2 = l, der Höhe h und der Gitterkonstante a

auf einem großen Kristall der Gitterkonstante b für die GrenzflächenenergietV = 2(Ea + E.)l,

wobei Ea die Wechselwirkungsenergie der Grenzflächenbausteine und Ee dieelastische Energie in Kristall und Unterlage bedeuten und durch folgendeAusdrücke gegeben sind :

E.

<7<o 12ti2 1-a2

2Pl—

et arc tg71 hl1,)

~E E An+"4n» 2 m , ,.

.

1 v-, , ,„ + (l-v) —;—[n+m)3 (n+m)2 2_ß—(n+m)2n

p\ n+m p n+m \psin (n—m)n l

2mtu m)- ({^n+m){2-e-in + m)2nv)

' n+m p

sin (n+m) 2n

Page 12: Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen. I

Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen 383

Dabei bedeuten : /<„ sa p12" l+i*

E = Elastizitätsmodul

v = PoissoNsche Querkontraktionszahlab2 a+b

= 2 a- ba+b\

= Abstand benachbarter Versetzungen' (l'l : ß1 l 1)

4 = ]/l + ß*-

1

/< 71 0

(i0 1—

v pß

Die Auswertung der Summen in Ee mit den üblichen Summationsformelnführt auf Integralsinus-Funktionen und Integrale von Integralsinus-Funk-tionen. Berücksichtigen wir, daß die Grenzflächenenthalpie sich nur wenig von

der Grenzflächenenergie unterscheidet und übertragen wir das für große Grenz-flächen gewonnene Ergebnis, daß bei einer aus Versetzungen aufgebautenGrenzfläche die Grenzflächenentropie Sg so klein ist, daß iSö T gegenüber derGrenzflächenenthalpie vernachlässigt werden kann11'12, auf sehr kleine Grenz-flächen, so können wir die freie Grenzflächenenthalpie gleich der Grenzflächen-energie setzen : aaF0 = 2 (Ea + Ee) l, also

Mit der so ermittelten spezifischen freien Grenzflächenenthalpie aa = aa (h, l)und der bekannten spezifischen freien Oberflächenenthalpie a der {100}-Flächen unseres Kristalls, kann mit Hilfe der GiBBSschen Minimumsbedingun-gen die Gleichgewichtsform für verschiedene Kristallgrößen g bestimmt werden.

d®Aus der dadurch gewonnenen <t> = <Z>(<7)-Kurve kann ,— ermittelt werden undd& g

aus g— = p0—/t die Keimgröße.Dieses einfache Beispiel zeigt, wie schwierig schon in den einfach-

sten Fällen che quantitative Berechnung der Keimform und der Keim-größe und damit vonAGK (g*) bei der Keimbildung auf kristallinenUnterlagen ist. Da eine solche Berechnung nur unter stark verein-fachenden Annahmen möglich ist, kann nur eine qualitative Überein-stimmung von Theorie und Experiment erwartet werden. Eine wich-tige qualitative Aussage über die Keimform ergibt sich jedoch unmittel-bar aus unseren Überlegungen. Dazu betrachten wir wieder einen

11 W. Shockley, Imperfections in Nearly Perfect Crystals. New York,J. Wiley & Sons 1952, S. 352.

12 A. H. Cottbell, Dislocations and Plastic Flow in Crystals. Oxford,Clarendon Press 1953.

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384 Ernst Bauer

quaderförmigen Keim der seitlichen Ausdehnung l1= l2 = l und derHöhe h auf einer ebenen Unterlage der spezifischen freien Oberflächen-enthalpie ov. Dabei soll die Gitterstruktur und die Eigenschaften von

Keim und Unterlage beliebig sein, die fünf freien Oberflächen desKeims sollen jedoch gleiche spezifische freie Oberflächenenthalpie a

haben. Mit f = y und hl2 = V = const lautet Gleichung (7a) unter

Vernachlässigung der Abhängigkeit von aG von der Form und Größeder Grenzfläche für diesen Fall :

~[l2 (a + aG-av) + *lho] = 0,woraus sich ergibt :

h_

a+_Oo_—

Op ,,9,l

~~

2a • * '

Notwendige und hinreichende Bedingung für Flächenkeimbildung(Ii = 0) in dieser Näherung ist deshalb

a + ctg—

atJ = 0 . (13)Diese Bedingung ist unabhängig von der seitlichen Begrenzung derplanparallelen Platte. Sie kann z. B. bei starken Unterschieden in derAtomanordnung und in den Bindungsverhältnissen von Keim undUnterlage erfüllt sein, wenn aG = av

a ist. Sie muß aber nicht erfülltsein, wenn die Atomanordnung und Atomabstände in Keim und Unter-lage gleich sind, solange aG^ 0 und a # ov, d.h. : Die Übereinstimmungder Atomanordnung und Atomabstände in Keim und Unterlage ist wedereine notivendige noch hinreichende Bedingung für die Bildung vonFlächen-keimen. Wir können diese Aussage noch schärfer formulieren, wenn

wir die plausible Annahme machen, daß zwei Kristalle mit gleicherAtomanordnung, gleichen Atomabständen und gleicher spezifischerfreier Oberflächenenthalpie (a = aF) identisch sind: Bei übereinstim-mender Atomanordnung und Atomabständen in Keim und Unterlagetritt Flächenkeimbildung nur dann auf, wenn Keim und Unterlageaus derselben Substanz bestehen. Ist dies nicht der Fall, so bilden sichnur bei speziellen a-, aG- und ct^-Werten Flächenkeime. Damit wirdverständlich, warum die Theorie der Epitaxie von Frank und van der,

Merwe13, die auf einem Wachstumsmechanismus durch sukzessive13 F. C. Frank and J. H. van der Merwe, One-dimensional dislocations.

I. Static theory. Froc. Roy. Soc. [London] A 198 (1949) 205—216.—

IL Misfittingmonolayers and oriented overgrowth. Ibid. 216—225.

III. Influence of thesecond harmonic term, in the potential representation, on the properties of themodel. Ibid. 200 (1950) 125—134.

J. H. van der Merwe, Misfitting monolayersand oriented overgrowth. Disc. Faraday Soc. 5 (1949) 201—214.

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Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen 385

Anlagerung von vollständigen Atomlagen ausgeht (vgl. Abb. 3b),schlecht mit der Erfahrung übereinstimmt. Ein solcher Wachstums-mechanismus ist aus einem weiteren Grund sehr unwahrscheinlich:Durch die monoatomare Schicht auf der anfänglich vorhandenen Un-terlage ist die spezifische freie Oberflächenenthalpie am der dadurchentstandenen Unterlagenoberfläche von der ursprünglichen ver-

schieden (s. 1?). Soll sich auf dieser neuen Unterlage wieder ein Elächen-keim bilden, so muß wieder am + a0i

am = 0 sein. Diese Über-legung gilt auch für jede weitere Schicht, es müßte daher für diefreie Grenzflächenenthalpie agi zwischen dem Keim der (i -f- l)-tenSchicht und der mit i Schichten belegten Unterlage unabhängig von igelten: aGi = o-ui

oui + 1, eine Beziehung, die wohl nur in Ausnahme-fällen erfüllt sein dürfte.

Die Flächenkeimbedingung a + ae—

aD = 0 ist nur in erster Näherunggültig. Eine genauere Behandlung muß die Abhängigkeit der spezifischen freienGrenzflächenenthalpie von der Größe und Form der Grenzfläche berück-sichtigen, sowie zumindest bei sehr kleinen Kristallen die freien Kanten-und Eckenenthalpien. Sie liefert statt (12) die Beziehung

l 2la + 4x (12a)

Vwobei zu beachten ist, daß die Differentiation nach l wegen h =

^ auch diefr-Abhängigkeit von aa, xb und eg betrifft.

Im Sonderfall der Keimbildung auf der arteigenen Unterlage in parallelerOrientierung, die stets in Form von Flächenkeimen erfolgt (s. z. B.14), ist ins-besondere

h x 1l la+2x ,°:_|_2 (12b)

x

d. h. h darf im Rahmen dieser Theorie beim Flächenkeim nicht gleich Nullgesetzt werden, sondern hat eine endliche, durch das Verhältnis von freierOberflächen- zu freier Kantenenthalpie und durch die Keimgröße bestimmtenWert. Bei Ionenkristallen mit NaCl-Struktur z. B. ist nach Honigmann,Molière und Stranski15 bis zu den kleinsten Kristalldimensionen herab

er sa 0,261 e-rr und x ?a 0,044 -*^ (e = elektrische Elementarladung, a = doppeltera3 a?

Ionenabstand). Damit wird = 1^6^ + 2j . Als kleinste Kantenlänge einesFlächenkeims einer Substanz mit NaCl-Struktur können wir l = a/2 setzen,

14 M. Volmer, Kinetik der Phasenbildung, Dresden und Leipzig 1939.15 B. Honigmann, K Molière und I. N. Stranski, Über den Gültigkeits-

bereich der Thomson-GiBBSschen Gleichung. Ann. Physik [6] 1 (1947) 181—189.

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386 Ernst Bauer

so daß A = -® wird, während A -» ^ für l -> oo geht. Es ist also |^ g A <~

. Bei

Kristallen mit kleinerem ^ ist 7t entsprechend kleiner.

Fordern wir, daß der durch (12b) bestimmte A-Wert nicht nur für die Höheeines Flächenkeims auf der arteigenen Unterlage, sondern allgemein für einenFlächenkeim gilt, so erhalten wir durch Einsetzen von (12b) in (12a) die all-gemeine Flächenkeimbedingung

Ho + o.-ov) + 2 ,a 4^-2*^-2$ = 0. (13a)

Diese Bedingung hängt jedoch von der seitlichen Begrenzung der planparallelenPlatte ab.

3. Keimlose KristallabscheidungDie bisherigen Betrachtungen bezogen sich auf den mit Keimbil-

dung erfolgenden Phasenübergang in die kristalline Phase, also aufden Fall AGK{g) > 0 für kleine g. Jetzt soll der Fall AGK(g) g 0 fürkleine g (g < g', Fall 2 und 3 in Abschnitt 1, vgl. Kurve II und III inAbb. 1) bzw. für alle g (Fall 4 in Abschnitt 1, vgl. Kurve IV in Abb. 1)erörtert werden. Präzis formuliert ist er dadurch definiert, daß es zu

jedem g bzw. zu jedem g < g' ein System von |rWerten gibt, so daß

AGK = g(ß- ^ + ¥„+ ¥,u~

Vui = 0 • (14)Wir diskutieren zunächst den Fall, daß die Ausgangsphase untersättigtist (ju > /n0' Fall 2). Die maximale Größe der kristallinen Phase istdann gegeben durch AGK ((/'(fj)) = 0, also durch

I-1—

/'o

(?'(£;) liegt im allgemeinen im submikroskopischen Bereich und mußvon Fall zu Fall bestimmt werden. Die keimlose Phasenumwandlungvon Flüssigkeiten in Hohlräumen auf einer Oberfläche wurde bereitsvon Turnbull 16 behandelt. Seine Ergebnisse können mit gering-fügigen Abänderungen, che durch die Unterschiede zwischen Flüssig-keits- und Kristallkeimbildung bedingt sind, auf Kristallkeime über-tragen werden. Wir wollen hier nur kurz die Bedingungen für die keim-lose Kristallisation im Fall der oben betrachteten Phasenbegrenzung(quadratisches Prisma) auf einer ebenen Unterlage ermitteln. Es ist

9~ -7=7-• (15a)

16 D. Turnbuxe, Kinetics of heterogeneous nucleation. J. Chem. Physics 18(1950) 198—203.

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Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen 387

Soll g' > 0 sein, so muß also

ffp > 1 + 4 jj a + °G + J C* + X<j) —I (« + %)sein. Für die Bildung einer monoatomaren Schicht (Ii = Äx <^ l) be-deutet dies bei nicht zu kleinen l-Werten, so daß der Beitrag der freienKanten- und Eckenenthalpien vernachlässigt werden kann, daß

on > a + oG (16a)sein muß, für die Entstehung einer w-atomaren Schicht [h = [n—1)6] :

a 4- oG. (16b)0>7 > l + 4<^Für eine zweiatomare Schicht (n = 2) und kleine g, z. B. für l = h = b(g = 8 im einfach kubischen Gitter, = 4 im NaCl-Gitter) bedeutetdies

ov > 5 er + Oq . (löc)Bei großen (/-Werten kann die Bedingung (16 b) auch für kleinere

Ojj-Werte erfüllt sein; so ist z. B. für l = 46 (g = 32 bzw. 16) (16b)erfüllt, wenn Ojj > 2 o + Og ist. Es scheint demnach, daß auf derUnterlage im Fall o + oG < cr^ < 5 or + cr0 bei kleinem g zwar nureine einatomare Schicht entstehen kann, daß sich jedoch mit zuneh-mender Ausdehnung (g) auf dieser Schicht sukzessive auch zwei- undmehratomare Schichten bilden können. Dies trifft jedoch nicht zu,da die auf die einatomare Schicht auftreffenden Teilchen eine ver-änderte Unterlage vorfinden, die nicht mehr die spezifische freie Ober-flächenenthalpie Ou, sondern o besitzt17. Daher kann sich

im Rah-men dieser Theorie, vgl. die Einschränkung17

keine zweite Atom-lage mehr bilden, mehratomare Schichten können nur entstehen, wenn

oD > 5 o 4r oq wird. Der Zusammenhang zwischen o, oG und on undder chemischen Potentialdifferenz einerseits und den maximalen

17 Genau genommen ist natürlich die spezifische freie Oberflächenenthalpieav' der neuen Oberfläche nicht mit a identisch, da sich die Unterlagenkräfte starkauf sie auswirken, so daß a < ov < an. Dies kann in unserer Betrachtungs-weise nicht zum Ausdruck kommen, da sie keinen Einfluß von verschiedenenEbenen (a bzw. aïï~aG) aufeinander vorsieht. Die Aussagen über die Dicke derAdsorptionsschicht haben daher nur qualitativen Charakter. Sie geben nur eineuntere Grenze an, z.B.18, die untere Grenze der maximal möglichen Dicken; dieobere Grenze ist durch die Schnelligkeit des Abfalls von ov auf av mit zu-nehmender Dicke der Adsorptionsschicht bestimmt.

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388 Ernst Bauer

Abmessungen der „kristallinen" Phase andererseits ergibt sich mit g =

V l*h—

=

(v = Volumen pro Gitterbaustein) aus (15 a) zu

1 + 4 j) <* + <*G +-

(jM—(*(,)• (17)Vergleichen wir die Bedingungen (16) für die Existenz eines g' > 0 mit(15), so erkennen wir, daß mit l —> oo auch g'—> co geht, d.h. wenn über-haupt eine ein- oder mehratomare kondensierte Schicht entstehen kann, so

bedeckt sie die Unterlage vollkommen.Wir können daher l —* oo setzen und erhalten damit aus (17) für

die bei gegebenem a, aG, av und (i—

/x0 maximale mögliche Dicke derOberfiächenschicht „ „

h = v-^>-—. (18)P— i"o

Diese Beziehung gilt auch unter Berücksichtigung der freien Kanten-und Eckenenthalpie. Aus ihr ist ersichtlich, daß die Schichtdicke unter-halb der durch die Bedingungen (16) festgelegten Grenze bei gegebenenff, aG, o jj und ix durch Veränderung von /x0 weitgehend beeinflußt wer-

den kann. Kann z. B. die Mutterphase als ideales Gas betrachtet wer-

den, so ist /u0 = kT\wp + B(T) [p = Dampfdruck, B(T) = mit zu-

nehmender Temperatur T abnehmende Funktion] und man erkennt,daß h durch Druckverminderung (bei konstanter Temperatur) oderTemperaturerhöhung (bei konstantem Druck) herabgesetzt werdenkann. Dabei ist zu beachten, wie bereits früher erwähnt, daß h im Falleiner einatomaren Schicht nicht verschwindet, sondern einen endlichenvom Verhältnis

~

abhängigen Wert besitzt. Unter diesem Wert ver-

lieren unsere Betrachtungen ihren Sinn, an ihre Stelle treten dannzweckmäßiger die üblichen Adsorptionstheorien. Erwähnt seien indiesem Zusammenhang nur die Arbeiten von Bliznakov18, Herring19und Knacke und Steanski20, die sich mit der Beziehung zwischenAdsorptionszustand (Bedeckungsgrad der Unterlage) und der spezifi-schen freien Oberflächenenthalpie beschäftigen.

18 G. Bliznakov, Der Einfluß der Adsorption auf die Gleichgewichtsformund die Bildungsenergie von Kristallen. Bull. Acad. Sei. Bulg. (Série Physique) 3(1952) 23—41; C. R. Acad. Bulg. Sei. 6 (1953) 13—16; Kristallwachstumsformenund der Einfluß der Adsorption auf die lineare Kristallisationsgeschwindigkeit.Bull. Acad. Sei. Bulg. (Série Physique) 4 (1954) 135—152.

19 C. Herring, The use of classical macroscopic concepts in surface-energyproblems. In R. Gomer and G. S. Smith, Structure and Properties of SolidSurfaces. University Chicago Press 1953, 5—72.

20 O. Knacke und I. N. Stranski, Kristalltracht und Adsorption. Z. Elek-trochem. 60 (1956) 816-822.

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Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen 389

Der Fall AGK< 0, uQ < ju, führt also auf ein- oder mehrmolekularekondensierte Adsorptionsschichten, deren Dicke im wesentlichen von

Orr und a sowie a& abhängt. Ihre Struktur ist bestimmt durch die Artder Unterlage und die Werte, die ct, aG und av und /u für die kristalline,amorphe oder flüssige Phase annehmen. Bei nichtkristallinen Unter-lagen ist mit einer nichtkristallinen Struktur der Adsorptionsschichtzu rechnen, bei kristallinen Unterlagen kann zumindest in der erstenund zweiten Atomlage eine kristalline Struktur erwartet werden. Da-für sprechen z.B. die Beobachtungen von Schlier und Farnsworth21,die aus der Reflexion langsamer Elektronen an dünnsten N2- und 02-Adsorptionsschichten auf Cu- und Ni-Einkristallflächen auf eine derUnterlage angepaßte Struktur schließen, während dickere Schichtenkeine kristalline Ordnung mehr zeigen.

Wir wollen noch zwei wichtige Schlüsse aus diesen Überlegungenziehen :

1. Eine Oberfläche, die mit einer Phase in Berührung steht, welcheim kristallinen (bzw. amorphen oder flüssigen) Zustand eine wesent-lich geringere spezifische freie Oberflächenenthalpie besitzt wie dieOberfläche, ist mit einer ein- oder mehrmolekularen (kondensierten)Schicht dieser Substanz bedeckt. Die Dicke dieser Schicht kann durchVerkleinerung des chemischen Potentials der Phase, bei Gasen z. B.durch Druckverminderung oder Temperaturerhöhung, herabgesetztwerden, und zwar zumindest soweit, daß nur eine monoatomare Schichtzurückbleibt, die auf Kristallen in den bisher bekannten Fällen diePeriodizität der Unterlage besitzt. Permanente Gase wie N2, 02, H2oder die Edelgase besitzen im festen und flüssigen Zustand sehr geringect-Werte, bei Edelgasen z.B. schwanken sie zwischen etwa 15 (Ne) und70 (Xe) erg • cm-2. Daher sind die unter den üblichen experimentellenBedingungen vorliegenden Oberflächen nach Berührung mit diesenGasen stets mit einer ein- oder mehrmolekularen kondensierten Schichtder entsprechenden Gase überzogen, die in vielen Fällen selbst unterextremen Temperatur- und Druckbedingungen nicht beseitigt werdenkönnen (s. z. B.21). Die saubersten Bedingungen bei Untersuchungender Kristallabscheidung auf Oberflächen liegen dann vor, wenn dieOberfläche erst in der reinen Mutterphase hergestellt wird, z.B. durchSpalten in der Schmelze, oder wenn zumindest das chemische Poten-tial der neben der zu untersuchenden Substanz vorhandenen Verun-

21 A. E. Schlier and H. E. Farnsworth, Low energy electron diffractioninvestigation of chemisorbed gases on the (100)-faces of copper and nickel singlecrystals. J. Appl. Physics 25 (1954) 1333—1336.

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390 Ernst Bauer

reinigungen mit kleineren tT-Werten im kondensierten Zustand so

klein ist, daß vor und während des Abscheidungsvorganges keinemerkliche Menge der Verunreinigungen kondensiert. Bei der Kristall-abscheidung durch Aufdampfung im Vakuum kann dies durch dauerndeund vorübergehende Erzeugung eines geringen Restgasdruckes (p <10-8 Torr) mit Hilfe von Pumpen oder Gettern und durch genügendstarke Erhöhung der Oberflächentemperatur gegenüber der der Um-gebung erreicht werden.

2. Die Dicke der kondensierten Fremdadsorptionsschicht auf einerOberfläche wächst mit deren spezifischen freien Oberflächenenthalpieov. Um sie alle auf die gleiche Größe herabzusetzen, ist bei Ober-flächen mit großen av eine stärkere Temperaturerhöhung oder Gas-druckerniedrigung erforderlich als bei Oberflächen mit kleinem av-Dies kann einer der Gründe sein, warum Kristalle mit großer Härte

die Härte geht im allgemeinen parallel mit av—

unter bestimmtenVersuchsbedingungen schlechteres Orientierungsvermögen für die aufihnen niedergeschlagenen Kristalle besitzen wie Kristalle mit kleinerHärte, was z. B. in höheren Mindesttemperaturen für epitaxialesWachstum beim Aufdampfverfahren zum Ausdruck kommt.

Es ist jetzt noch der Fall A GK g 0, ix < fiQ zu untersuchen. DaAGK = g (fi

fx0) + Wg + ^r/— ^ dieser Fall nur dann realisier-bar'Wenn Wg+WgU-Wüg^0 (19)ist. Wäre nämlich ¥ = Wg + f^/— Wüg > 0, so läge der in Abschnitt2 behandelte Fall vor, da W mit abnehmendem g langsamer abnimmtals I g (/à

fj,0) I, so daß bei kleinen gr-Werten A GE > 0 wird. Ein Phasen-übergang ohne Keimbildung kann also nur dann stattfinden, wenn Be-dingung ( 19) erfüllt ist, jedoch nicht allgemein, wie gelegentlich zur Deu-tung des epitaxialen Wachstums angenommen wurde 22. Ist Wg +WgV— WVg > 0, so kann bei sehr hoher Übersättigung /u.—/u0 höchstensder Fall der ,,athermischen Keimbildung" (athermal nucleation) nachTurnbull23 eintreten, bei dem die Übersättigung so hoch, und damitdie Keimgröße so klein ist, daß die bereits in der Mutterphase auf Grundstatistischer Schwankungen vorhandenen Teilchenaggregate die Keim-größe besitzen und damit als Keime wirken. Die Bedingung (19)

22 H. Mayer, Physik dünner Schichten II. Wissensch. Verlagsges. Stutt-gart 1955, S. 115.

23 I. C. Fisher, J. H. Hollomon and D. Turnbull, Nucleation. J. Appl.Physics 19 (1948) 775—784.

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Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen 391

bedeutet in unserem Beispiel an^ ^1 + 4yj a + ctg und führt damit

unmittelbar auf den im letzten Abschnitt betrachteten Fall zurück[vgl. (16)] : Es bilden sich zunächst je nach der Größe von an, a und aGmono- oder mehrmolekulare Schichten, deren Oberfläche die spezifi-sche freie Oberflächenenthalpiea'v (a < a'n < an) besitzt. Erfüllt dieseOberfläche die Bedingung (19) nicht mehr, so wird AG > 0 und dasweitere Wachstum kann nur noch durch Keimbildung erfolgen (s. Fah3, Abschnitt 1 und Kurve III in Abb. 1), wie sie in Abschnitt 2 diskutiertwurde (vgl. Abb. 3 c). Da a'jj^ a und aG ^ 0, handelt es sich dabei im

I 1

I I

a) b) c)Abb. 3. Die verschiedenen Wachstumsmechanismen:

a) Volmer-Weber-Mechanismus, b) Frank-VAN-DER-MERWE-Mechanismus,c) STRANSKi-KRASTANOv-Mechanismus

allgemeinen um räumliche Keimbildung, nur wenn g'v « ct + a'G ist,bilden sichFlächenkeime. Der inAbschnitt 1 erwähnte Fall 4 (vgl. KurveIV in Abb. 1), nach dem in keinem Stadium der Abscheidung eineKeimbildung notwendig wäre, ist daher nicht realisierbar.

Zu einem speziellen Beispiel des Falles 3, der Abscheidung einesIonenkristalls mit NaC'l-Struktur auf der {100}-Ebene eines anderenKristalls mit NaCl-Struktur gleicher Gitterkonstante, jedoch doppel-ter Ionenladung

also etwa vierfacher spezifischer freier Oberflächen-enthalpie

liegen explizite Rechnungen von Stranski und Krasta-nov auf atomistischer Basis vor24. Sie finden, daß sich auf einer mono-

ionischen Oberflächenschicht, die bereits im untersättigten Zustandvorhanden ist, räumliche Keime von etwa zwei Atomlagen Dicke bil-den. Ihr Ergebnis kann jedoch nicht, wie es gelegentlich angedeutet

24 I. N. Stranski und L. Krastanov, Zur Theorie der orientierten Aus-scheidung von Ionenkristallen aufeinander. Sitzungsber. Akad. Wiss. Wien,Math.-naturwiss. Kl. IIb 146 (1938) 797—810.

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392 Ernst Bauer

wurde25'26, auf das orientierte Aufwachsen beliebiger Kristallpartnerverallgemeinert werden; es ist, wie unsere Betrachtungen zeigen,auf die Fälle beschränkt, in denen aa > a 4- cre ist. Zwei experimen-telle Beispiele aus neuerer Zeit mögen unsere Überlegungen nocherläutern :

1. Das elektrische Widerstandsverhalten dünnster noch nicht zu-

sammenhängender K-Schichten, die auf gut ausgeheizte, tiefgekühlteQuarzglasoberflächen in einem Vakuum von 10~8 Torr langsam auf-gedampft wurden (5—20 A/min), läßt sich nach Nossek27 durch An-nahme von K-Inseln monoatomarer Höhe deuten, dagegen nicht oderwesentlich schlechter durch körnige K-Aggregate. Dies ist verständ-lich, da bei den extrem sauberen Versuchsbedingungen sich höchstenseine monoatomare Gasschicht auf der Unterlage bilden kann, so daßdie spezifische freie Oberflächenenthalpie der Unterlage nicht wesent-lich unter dem theoretischen Wert liegen kann, der angenähert gleichdem des kristallinen Si02, nämlich 980 erg • cm-2 ist28. Die spezifischefreie Oberflächenenthalpie von K liegt dagegen bei 100 bis 200 erg • cm-2,so daß selbst bei großem aG av > a 4- aG ist und sich also einemonoatomare K-Schicht bilden muß. Analoges gilt für Alkali-metallatome auf hochschmelzenden Metallen. Der zweite Befund von

Nossek, daß schon dünnste zusammenhängende K-Schichten auf-gerauht sind, ist ebenfalls verständlich, da die Keimbildung auf eineratomaren Anfangsschicht im allgemeinen in dreidimensionalen Keimenerfolgt.

2. Beim Aufdampfen (10 A/min) von Metallen auf Silbereinkristallein einem Vakuum von 10~4 Torr bei Zimmertemperatur fand New-man30, daß Au, Cu und Ni dreidimensionale Keime bilden, Ag bis zu

einer mittleren Schichtdicke von 50 A in monoatomaren Schichtenaufwächst, während Pb und Tl bis zu einer mittleren Schichtdicke von3—4 A monoatomare Schichten bilden, deren Gitterkonstante nur

wenig von der des massiven Materials abweicht, bei weiterem Wachs-25 M. Volmer14, S. 193.26 H. Seifert3, S. 361.27 R. Nossek, Bestimmung der mittleren freien Weglänge der Leitungs-

elektronen in Kalium. Z. Physik 142 (1955) 321—333.28 J. W. Axelson and E. L. Piret, Crushing of single particles of crystalline

quartz. Ind. Eng. Chem. 42 (1950) 665—670.29 J. W. Taylor, The surface energies of the alkali metals. Phil. Mag. [7] 46

(1955) 867—876.30 R. C. Newman, The initial stages of growth of thin metal films on a silver

single crystal substrate. Phil. Mag. [8] 2 (1957) 750—760.

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Phänomenologische Theorie der Kristallabscheidung an Oberflächen 393

tum dagegen dreidimensionale Aggregate. Dies ist nach den bisherigenVorstellungen vom epitaxialen Wachstum, die die Übereinstimmungder Atomanordnung und der Atomabstände in der Grenzfläche so-

wie die chemische Verwandtschaft der Partner in den Mittelpunktstellen, vollkommen unverständlich. Denn nach diesen sollte eher Auund Cu, deren Bindungszustand und Gitterkonstanten sich wesentlichweniger von den entsprechenden Größen des Ag unterscheiden (Wertig-keit 1, ^$ = 0,25% bzw. 11,5%) wie die des Pb und Tl (Wertigkeit 2

A dund 4, bzw. 1 und 3 -3- = 19% bzw. 21 %), in dünnster Schicht mono-

atomar aufwachsen. Unsere Überlegungen dagegen führen zwanglos zum

Yersuchsergebnis : Bei Pb und Tl beträgt a etwa 400 bis 500 erg • cm-2,wenn wir die spezifische freie Oberflächenenthalpie des Kristallsungefähr gleich der der Schmelze setzen und für diese die gemessenenOberflächenspannungswerte31 verwenden. cPb und trT1sind also wesent-lich kleiner als crAg (1140 erg cm-2 am Schmelzpunkt32), so daß nachunseren Überlegungen eine monoatomare Schicht entstehen muß(vgl. dazu17). Dasselbe gilt bei Anwesenheit einer monoatomaren Ad-sorptionsschicht, da aÄg durch sie wohl kaum um mehr als die Hälfteverkleinert wird33. Erfolgt die Aufdampfung hinreichend rasch(10 A/min), so kann die Schicht weiterwachsen, jedoch wegen a'v < a

+ o'q nicht mehr in monoatomaren Schichten, sondern in Form von

räumlichen Keimen. Bei langsamer Aufdampfung dagegen kann//„ < 11 werden, so daß infolge Untersättigung kein weiteres Schicht-wachstum mehr möglich ist. Dies wurde tatsächlich von Newman beieiner Aufdampfgeschwindigkeit von 1 Â/min beobachtet, jedoch vonihmauf Oxydation zurückgeführt. Au, Cu (er = 1250 bzw. 1820 erg • cm-2am Schmelzpunkt32) und Ni müssen in Übereinstimmung mitdem Experiment trotz der kleineren Gitterkonstantenunterschiededreidimensionale Keime bilden, da für sie stets an < a ist. Auf dieweiteren Anwendungen unserer Betrachtungen zur Deutung derErscheinungen beim epitaxialen Wachstum wird in Teil II der Arbeiteingegangen werden.

31 D'Ans-Lax, Taschenbuch für Chemiker und Physiker, Berlin, Springer1943, S. 1001.

32 K. Huang and G. Wyllie, On the surface free energy of certain metals.Proc. Physic. Soc. [London] A 62 (1949) 180-191.

33 Aus der Beobachtung, daß Ag in monoatomaren Schichten aufwächst, istzu schließen, daß die Abscheidung so erfolgt, wie wenn keine Adsorptionssohichtvorhanden wäre ; wie dies unter den oben erwähnten Abscheidungsbedingungenzu verstehen ist, wird im Teil II klargestellt werden.

Z. Kristallogr. Bd. 110, 5/6 26

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394 Ernst Bauer

ZusammenfassungDie Kristallabseheidung an Oberflächen wird thermodynamisch untersucht.

Dieses Verfahren hat zwar gegenüber der atomistischen Betrachtung einfacherModelle den Nachteil, zu keinen quantitativen Aussagen zu gelangen, dawesentliche in ihm enthaltene Parameter

die streng genommen nur für einegroße Gesamtheit von Teilchen definiert sind

im allgemeinen nicht bekanntsind bzw. im submikroskopischen Bereich stark von ihrem makroskopischdefinierten Wert abweichen können und nicht mehr unabhängig voneinandersind, z. B. die spezifische freie Oberflächen- und Grenzflächenenthalpie einermonomolekularen Schicht auf einer Oberfläche. Es hat dagegen den Vorteil,daß seine qualitativen Aussagen allgemein gültig sind, wodurch unzulässigeVerallgemeinerungen von Ergebnissen an speziellen Modellen vermieden werden.Die wichtigsten dieser qualitativen Aussagen sind in etwas vereinfachter Form :

Kristallabseheidung ist nicht nur bei Übersättigimg (u0 > u), sondern auch beiUntersättigung < u) der Mutterphase möglich, wenn die spezifische freieOberflächenenthalpie aa der Unterlage größer als die Summe von spezifischerfreier Oberflächenenthalpie ct und spezifischer freier Grenzflächenenthalpie aades abzuscheidenden Kristalls ist. Die Dicke der abgeschiedenen Schicht istauf submikroskopische Dimensionen beschränkt und hängt vom Verhältnisdieser Größen und von der Untersättigung ab. Eine makroskopische Abschei-dung ist nur bei Übersättigung möglich. Hier sind drei Fälle zu unterscheiden :

1. au > er + aa: Es entsteht zunächst—

je nach dem Verhältnis der dreiGrößen

eine ein- oder mehrmolekulare Oberflächenschicht, wozu ebenso-wenig wie im Falle /(0 < ji eine Keimbildung erforderlich ist. Das weitereAVachstum kann nur durch Bildung von im allgemeinen dreidimensionalenKeimen auf der dadurch entstandenen neuen Oberfläche erfolgen.

2. aB = ct + aa: Auf der Unterlage bilden sich Flächenkeime; auf der dadurchentstehenden monomolekularen Schicht erfolgt die Keimbildung im allgemeinendreidimensional, wenn aü ^ 0 ist; wenn ae = 0, zweidimensional.

3. ffp < er + ag: Unmittelbar auf der Unterlage wachsen dreidimensionaleKeime auf.

Die Keimform kann bei der Keimbildung auf Einkristallen im allgemeinennicht aus dem WuLEFSchen Satz, sondern nur aus dem GiBBSschen Minimums-prinzip ermittelt werden. Aus diesen Ergebnissen lassen sich eine Reihe von

wichtigen Folgerungen, insbesondere für das epitaxiale Wachstum ziehen, diejedoch zum größten Teil erst in der zweiten Hälfte der Arbeit nach der Dis-kussion der Keimbildungswahrscheinlichkeit erörtert werden sollen.

Die vorliegende Arbeit wurde im II. Physikalischen Institut derUniversität München durchgeführt. Dem Vorstand des Instituts,Herrn Prof. Dr. W. Rollavagen, danke ich für die stete Förderungder Untersuchungen. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft, derFirma Siemens u. Halske und der Firma Leitz bin ich für die Bereit-stellung von Geräten und Einkristallmaterial für den experimentellenTeil der Arbeit, der an anderer Stelle diskutiert wird, zu Dank ver-

pflichtet.II. Physikalisches Institut der Universität München