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PLA TON UND KRATYLOS EIN HINWE1S WOLFGANG SCHADEW ALDT 1 1m sechsten Kapitel des ersten Buches der Metaphysik (g87az9 ff.) gibt Aristoteles 1 einen knappen, aber hOchst bedeutsamen Dberblick iiber die Entwicklung der Philosophie Platons in drei Stufen. J ede von diesen Stufen ist charakterisiert durch die Einwirkung eines bedeutenden Denkers odereiner Denkrichtung oder einer 'Schule' auf Platons eigenes Denken, und wir hatten danach im Denken Platons eine Herakliteische, eine Sokratische und eine Pythagoreische Stufe zu unterscheiden. Die Lehre des Heraklit, sagt Aristoteles, sei dem jungen Platon durch Kratylos vermittelt worden, und die Dberzeugung, dass alle Sinnendinge standig im Fluss seien und dass es mithin ein sicheres Wissen von ihnen nicht geben kanne, habe Platon auch spaterhin als Grundlage angenommen. Von der Frage des Sokrates nach den sittlichen Dingen und seinen Abgrenzungen in diesem Bereich sei Platon darauf gekommen, dass dieses Fragen sich auf den Bereich anderer Dinge als der Sinnendinge bezoge, und er habe diese Wesenheiten Ideen benannt, nach deren Massgabe denn auch die Sinnendinge angesprochen und benannt wiirden. Auf der dritten Stufe habe Platon unter Ein- wirkung der Pythagoreer die Zahlen in sein Denken einbezogen, . 1 Auf die Probleme, die die Platondarstellung des Aristoteles in Metaphysik A6 stellt, kann ich hier nieht naher eingehen. Ieh verweise auf H. Cherniss, Aristotle's Criticism 01 Plato and the Academy, I (Balti- more, 1944; Neuauflage, New York, 1962), pp. 177 ff., sowie H. J. Kramer, Arete bei Platon und Aristoteles (Heidelberg, 1959; Neuauflage, Amsterdam, 1967), pp. 530 f. Zu einer sehwierigen Stelle des Textes neuerdings P. Merlan, "Aristotle," Met. A6, 987b2o-25 and Plotinus, Enn. V.4 2. 8-9," Phronesis 9 (1964), pp. 45-47· R. B. Plamer et al. (eds.), Philomathes © Martinus Nijhoff, The Hague, Netherlands 1971

Philomathes || Platon und Kratylos ein Hinweis

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Page 1: Philomathes || Platon und Kratylos ein Hinweis

PLA TON UND KRATYLOS

EIN HINWE1S

WOLFGANG SCHADEW ALDT

1

1m sechsten Kapitel des ersten Buches der Metaphysik (g87az9 ff.) gibt Aristoteles 1 einen knappen, aber hOchst bedeutsamen Dberblick iiber die Entwicklung der Philosophie Platons in drei Stufen. J ede von diesen Stufen ist charakterisiert durch die Einwirkung eines bedeutenden Denkers odereiner Denkrichtung oder einer 'Schule' auf Platons eigenes Denken, und wir hatten danach im Denken Platons eine Herakliteische, eine Sokratische und eine Pythagoreische Stufe zu unterscheiden.

Die Lehre des Heraklit, sagt Aristoteles, sei dem jungen Platon durch Kratylos vermittelt worden, und die Dberzeugung, dass alle Sinnendinge standig im Fluss seien und dass es mithin ein sicheres Wissen von ihnen nicht geben kanne, habe Platon auch spaterhin als Grundlage angenommen. Von der Frage des Sokrates nach den sittlichen Dingen und seinen Abgrenzungen in diesem Bereich sei Platon darauf gekommen, dass dieses Fragen sich auf den Bereich anderer Dinge als der Sinnendinge bezoge, und er habe diese Wesenheiten Ideen benannt, nach deren Massgabe denn auch die Sinnendinge angesprochen und benannt wiirden. Auf der dritten Stufe habe Platon unter Ein­wirkung der Pythagoreer die Zahlen in sein Denken einbezogen, ft¥'~"l<:'~"~; . 1 Auf die Probleme, die die Platondarstellung des Aristoteles in Metaphysik A6 stellt, kann ich hier nieht naher eingehen. Ieh verweise auf H. Cherniss, Aristotle's Criticism 01 Plato and the Academy, I (Balti­more, 1944; Neuauflage, New York, 1962), pp. 177 ff., sowie H. J. Kramer, Arete bei Platon und Aristoteles (Heidelberg, 1959; Neuauflage, Amsterdam, 1967), pp. 530 f. Zu einer sehwierigen Stelle des Textes neuerdings P. Merlan, "Aristotle," Met. A6, 987b2o-25 and Plotinus, Enn. V.4 2. 8-9," Phronesis 9 (1964), pp. 45-47·

R. B. Plamer et al. (eds.), Philomathes© Martinus Nijhoff, The Hague, Netherlands 1971

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dies aber so weitergebildet, dass fur ihn einerseits die Zahlen einen Zwischenbereich zwischen Ideen und Sinnendingen dar­stellten und andererseits die Seinsweise der Ideen selbst durch das Zahlenmassige begrundet wiirde, indem das Sein der Ideen auf die beiden Grundprinzipien des Einen und der unbestimmten Zweiheit zuruckginge.

Da Platon in seinen Dialogen immer wieder die Gestalt des Sokrates heraufruft, ist die zweite der von Aristoteles genannten Stufen, die Sokratische, fiir die moderne Platonforschung die lebendigste, vielfaltigste und bedeutsamste geworden: Platon als Ethiker, Staatsethiker, Begriinder der Ideenlehre, diharetischer Methodiker und schliesslich wohl auch Kosmologe. Was die Pythagoreische Stufe angeht, mit ihren Konsequenzen fur eine esoterische Prinzipienlehre Platons, nach der die beiden Prinzi­pien des Einen und der unbestimmten Zweiheit sowohl die Struktur der Ideen wie auch uberhaupt der gesamten Wirklich­keit bis hinab zur Ethik bestimmen, so ist die Bedeutung dieses Aspekts seit einigen Jahren stark betont worden, nicht ohne einen internationalen Meinungsstreit heraufzurufen, uber den noch nicht entschieden ist. 2 Was endlich die von Aristoteles behauptete Friihstufe im Denken Platons angeht,3 wonach Platon im Umgang mit dem Herakliteer Kratylos sich in seiner Jugend vor der Begegnung mit Sokrates von der Richtigkeit der Flusslehre des Heraklit uberzeugt habe, so ist soviel ohne weiteres klar, dass allerdings diese Flusslehre des Heraklit fur Platon immer giiltig geblieben ist. In seinem spateren dualistischen Weltsystem ist die Sinnenwelt standig im Fluss, in der Ver­anderung, im Werden, und erlaubt bestimmte Aussagen nur soweit, wie die fliessenden Sinnendinge durch eine "Teilhabe" mit den seienden Wesenheiten der Ideen verbunden sind. Dieser Ansatz eines eigenen Bereichs der Ideen ist dem Platon aber erst auf Grund seiner Begegnung mit Sokrates und dessen Fragen nach dem "was ist" (ti estin) zugewachsen. Und so legt sich uns die Untersuchung nahe, ob es nicht vielleicht moglich ware, die

II Eine wichtige Beobachtung zur Entstehung des Platonischen Prinzi';' piendualismus bringt neuerdings P. Merlan, "TO 'AITOPHI:AI 'APXAIKOI: (Arist. Met. Nz, Io89aI)," PhiZoZ. III (1967), pp. II9-IZI.

3 Vgl. hierzu Sir David Ross, Plato's Theory 01 Ideas (Oxford, 1953). pp. 154 ff.

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durch Aristoteles bezeugte friiheste vorsokratische Heraklitei­sche Jugendepoche des Denkens Platons, die durch den Umgang mit Kratylos bezeichnet war, noch etwas naher zu charakteri­sieren. Die Frage verweist uns auf Platons Dialog Kratylos.

II

Unter den verschiedenen Problemen, die der Kratylos Platons uns aufgibt,4 ist eines der seltsamsten wohl dieses: Kratylos tritt im Dialog am Anfang (383a-384a) und wieder am Schluss (427e-44oe) als iiberzeugter Anhanger der Flusslehre des Heraklit und entschiedener Verfechter der unbedingten "Richtigkeit der Namen (von Natur)" auf. Tatsachlich bringt der Dialog in seinem Mittelteil (39Ia-427d) - dem Umfang nach weit mehr als die Halite des Ganzen - die reiche Etymologien-Sammlung, die den Dialog beriihmt gemacht hat. Mit Homers Namengebung begin­nend und von der Deutung der Gotternamen iiber die Elemente zu den geistig-ethischen Begriffen und schliesslich den Lauten als den Elementen der Worter forstschreitend, beruhen diese Ety­mologien auf der von Kratylos vertretenen Lehre von der "Rich­tigkeit der Namen," und sie fussen weitgehend, vor allem gegen Schluss, auf der Flusslehre des Heraklit. Und doch ist es nicht Kratylos, der die Etymologien vortragt, sondern Sokrates. Kratylos sagt kein Wort, wahrend Sokrates diese Dinge im Ge­sprach mit Hermogenes entwickelt, und bekundet am Schluss nur seine Zustimmung (427d-428e). Die Art, wie Kratylos zustimmt, ist interessant genug und diirfte auch fiir die vielbehandelte Frage nach der tatsachlichen Herkunft der von Sokrates vorgetragenen Etymologien einen Hinweis geben. H ermogenes (nachdem Sokrates seinen Vortrag iiber die Etymologien abgeschlossen hat): Kraty-

4 Zum Kl'atylos sei hier nur verwiesen auf P. Friedlander, Platon, II (Berlin, 1957), pp. 181 ff., sowie W. Brocker, Platons Gesprache (Frank­furtJMain, 1964), pp. 331 ff. Ferner die durch G. S. Kirk mit seinem vorzfiglichen Aufsatz: "The Problem of Cratylus," AlPh 72 (1951), pp. 225-253 eingeleitete Diskussion, zu der ich im einzelnen hier nicht Stellung nehme; D. J. Allan, "The Problem of Cratylus," AlPh 75 (1954), pp. 271-287; H. Chemiss, "Aristotle, Metaphysics 987a32-b7," AlPh 76 (1955), pp. 184-186; Sir David Ross, "The Date of Plato's Cratylus," Revue Internationale de Philosophie 9 (1955), pp. 187-196. Und femer K.-H. Ilting, "Aristoteles fiber Platons philosophische Entwick­lung," Zeitschrilt lur philosophische Forschung 19 (1965), pp. 377-392.

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los solIe nun dem Sokrates gegenfiber erkHi.ren, ob das, was Sokrates fiber die Namen ausgeffihrt habe, seinen Beifall finde, oder ob er auf irgendeinem anderen Wege Besseres darfiber zu sagen habe. - Kratylos (ausweichend): Ob er sich vorstelle, dass es so leicht sei, fiber eine so bedeutende Sache in Eile etwas zu lernen oder zu lehren! - H ermogenes: Auch wenn er nur Weniges zur Forderung beitragen konne, solIe er es tun. - Sokrates (ein­fallend) : Auch er seIber wolle nicht unbedingt auf dem bestehen, was er im Gespdich mit Hermogenes entwickelt habe. Darum solIe Kratylos nur getrost sagen, wenn er etwas Besseres wisse. Ihn, Sokrates, wfirde es nicht verwundern. Kratylos habe sich doch mit so1chen Dingen beschaftigt und sie auch von anderen gelernt. Habe er Besseres zu sagen, so sei er, Sokrates, bereit, sich bei ihm als Schiller einzuschreiben. - Und Kratylos: ja, er habe sich damit beschaftigt und wfirde ihn womoglich als Schiller annehmen. Er beffirchte nur, es verhalte sich gerade um­gekehrt. Er konne nur mit dem Achilleus bei Homer sagen: "in allem habe Sokrates ihm aus dem Herzen gesprochen," ob ihn nun Euthyphron inspiriert habe oder auch eine andere Muse, die unbewusst schon lange in ihm lebe. Und Sokrates, wie schon frfiher im VerIauf des Gesprachs ein paarmal (396e, 40re): Er staune seIber langst fiber die eigene Weisheit und misstraue ihr. - Worauf die Wendung zur Destruktion des vorher vorgetragenen Etymologienteiles und zur WiderIegung des Kratylos einsetzt.

III

Was wir ffir die Herkunft der Etymologien aus dieser ab­schliessenden Erorterung entnehmen konnen ist ungefahr fol­gendes:

1. Sokrates tragt die Etymologien vor, doch er weiss selbst nicht, woher er diese Weisheit hat, wie dieser "Schwarm" ihn anflog - eine sehr berechtigte Ungewissheit, denn Sokrates war bestimmt nicht der Autor dieser Etymologien.

2. Ein gewisser Einfluss, eine Art Inspiration durch den. Priester Euthyphron mit seinen Gotter-Etymologien wird mehr­fach angedeutet und mag tatsachlich bestanden haben. Aber von Euthyphron konnen sie nicht stammen.

3. Sie stammen aber auch gewiss nicht von Kratylos, der

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sie nicht vortragt und ihnen nur zustimmen kann, mit der Be­merkung, er habe sich zwar auch damit beschaftigt, konnte in diesen Dingen aber nicht Sokrates' Lehrer sein, sondern es ver­halte sich eher umgekehrt.

Das heisst, die vorgetragene Etymologienlehre mag im Kon­takt mit Kratylos entstanden sein, geht aber weit iiber das, was Kratylos auf diesem Feld versucht haben mag, hinaus. Doch ist es bei rechter Wiirdigung der charakteristisch Platonisch ironisch-verhiillenden und in der Verhiillung doch andeutenden Diktion andererseits gewiss nicht notig, sich in der Ferne umzu­tun und etwa bei dem Platonschiiler Herakleides Pontikos die QueUe der Etymologien des Dialogs zu suchen, wie, wenig iiber­zeugend, Max Warburg dies in seinem Buch getan hat.

IV

Nach allem wage ich, gestiitzt auf die Notiz des Aristoteles wie die Hindeutungen Platons, die Hypothese: der grosse Ety­mologienteil stammt von Platon selbst, ist aber nicht erst ad hoc fiir diesen Dialog erdacht und geschrieben, sondern reicht in seinem Hauptbestand in Platons jugendlichen Umgang mit Kratylos zuriick, in die vorsokratische, Herakliteische Friihstufe seines Denkens. Die Herakliteische Flusslehre ist in einem Haupt­teil der Etymologien vorausgesetzt. Etymologien auf der anderen Seite alS Versuche, aus dem richtig gedeuteten N amen auf das Wesen der Sache zu schliessen, kommen in tiefsinnigster Form schon bei Heraklit seIber vor (Frg. B 48; B 2 und B II4 Diels, Vorsokr.9) , und das wurde wohl von Herakliteern fortgesetzt. Das Entscheidende aber: auch der junge Platon, der sich im Umgang mit Kratylos von der Richtigkeit der Flusslehre iiber­zeugen musste, hat sich gewiss schon in dieser Zeit mit der blossen Annahme dieser Lehre, dass alle Sinnendinge im Fluss seien und dass es mithin ein sicheres Wissen von ihnen nicht geben konne, nicht zufrieden gegeben, sondern im Bereich des allgemeinen Flusses der Dinge nach etwas Festem, Bleibendem gesucht, etwas das eine Verstandigung ermoglichte und eine Art Wissen und Gewissheit begriinden konnte. Hier aber boten sich ihm die Namen dar. Das ausgesprochene Wort "Baum" wird von dem anderen auch als Hinweis auf "den" Baum vernommen. Und

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ist nun in dem Etymologienteil eine grosse Anzahl der wich­tigsten Begriffe des Denkens, Fiihlens und der Erkenntnis so gebildet, dass sie als Seelbewegungen sich zugleich als Abbilder des bewegten Flusses der Dinge und Erscheinungen offenbaren, so ist auf diesem "etymologischen" Wege und unter Voraussetzung der Flusslehre eine erste Ontologie begrundet. Dass viele der Namen, recht gedeutet, auf der allgemeinen Tatsache fussen, dass die Dinge in Bewegung, im Fluss, im standigen Werden sind, sagt Platon selbst (4IIC8-IO), wo er auch auf die vorhergehende ausdruckliche Erwahnung des Heraklit (402ab) zuriickweist. Aus diesem Gegrundetsein im Fluss aller Dinge haben die Namen also ihre Wahrheit (etymon); in ihnen ist der Fluss der Dinge gleichsam geronnen und eingefroren zu etwas Festem, das Wissen und Verstandnis ermoglicht. Dies mag der fruhplatonische Ansatz in der vorsokratischen Herakliteischen Epoche seines Denkens gewesen sein. Zur weiteren Begrundung seien zwei Dinge angefuhrt.

v Einmal: die in dem grossen Mittelteil des Dialogs von Sokrates

vorgetragenen Etymologien beginnen bei den hochsten, wurdig­sten Substanzen (den Namen der Gotter) und gehen uber die Elemente alles Seienden dann durch die ganze Welt bis zu den geistigen und ethischen Begriffen; den Abschluss bildet wieder "das Grosste und Schonste" namlich die Deutung von aletheia, pseudos, onoma und on. Das heisst, kein zufalliges oder beliebiges Etymologisieren stellt sich in ihnen dar, sondem eine umfassende Ontologie. Es ware eine reizvolle Aufgabe, dieser Ontologie anhand der Etymologien im einzelnen nachzugehen. Ich muss hier darauf verzichten.

Und sodann: ebenso wie die Herakliteische Flusslehre fur die Platonische Ontologie ein fur allemal gultig geblieben ist, indem sie in dem Platonischen Welt-Dualismus die untere Sphare der Sinnendinge charakterisiert, so ist auch das onoma als eine erste, unterste Stufe des Wissens und der Vergewisserung fur Platon immer gultig geblieben. Klaus Oehler hat in seinem Buch Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und

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Aristoteles 5 die "zentrale" hermeneutische Bedeutung des onoma bei Platon lichtvoll dargestellt. Wir erinnern daruber hinaus nur an die funf Erkenntnis- und Seinsstufen im Platons siebentem Brief (342ab), wo die unterste dieser Erkenntnisstufen vor Definition, sinnlicher Darstellung und Sachverstandnis immer noch das Wort, der Name ist. Nur ist das Wort, der Name, mag er noch so sehr auf der Natur der Sache aufruhen, in der Konven­tion auswechelbar (ich kann fur "rund" "gerade" und fur "gerade" "rund" sagen) und nimmt daher in der Stufenleiter der Erkenntnisweisen in Platons nachsokratisch voll entwickeltem Denken nur den untersten Platz ein, ohne jedoch diesen einzu­bussen.

VI

Die im Vorstehenden gegebenen Ausfuhrungen beruhen auf einer Kombination der Notiz des Aristoteles uber die frUheste Stufe des Platonischen Philosophierens mit Platons Dialog Kratylos. Es sei zum Schluss erlaubt, die sich aus dieser Kombi­nation ergebenden Vorstellungen in kurzen Behauptungen zu­sammenzufassen.

1. Es gibt eine Friih- und Jugendstufe des Platonischen Denkens, in der Platon unter dem Einfluss des Kratylos Hera­kliteer war und die Flusslehre des Heraklit fur sein eigenes Denken zugrunde legte. Bei seinem schon damals lebendigen Bestreben, zu etwas Festem, Gewissem zu gelangen, geriet er auf die schon bei Heraklit vorgebildeten Etymologien und meinte, in den Namen, vor allem sofern sie etymologisch in der Vorstellung des Flusses aller Dinge begrundet seien, etwas Festes, Bleibendes, Wissen und Verstandnis Vermittelndes zu finden. Was spater nach Weiterentwicklung der Sokratischen Begriffsbestimmungen bei Platon die transzendenten Ideen leis­ten, bewirkten zu ihrem Teil auf dieser fruhen Stufe die auf ihre wortimmanente Wahrheit (das etymon) hin gedeuteten Namen.

2. 1m Dialog Kratylos ist Platon weit uber diese Jugendstufe hinausgewachsen und fur die Richtigkeit der Namengebung zu

5 Zetemata 29 (Munchen, I962), pp. 56 ff.; ich verweise fur den K1'atylos irn besonderen auf die wichtige Anrnerkung bei Oehler, pp. 67 f.

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der vorher im Gesprach mit Hermogenes entwickelten Auffassung gelangt, dass der Namengeber die Namen nach Anweisung des Dialektikers zu geben habe, der jedem Namen gleichsam seinen Stellenwert von der zugeh6rigen Idee aus anweist (Grat. 389-390). Das einstige Etymologisieren auf Grund der Herakliteischen Flusslehre ruckt nun in eine uberlegene Distanz, und dies gibt der Behandlung den ironischen Charakter, den man gelegentlich falschlich als blossen Scherz gedeutet hat. Der Ruckgriff auf das Problem der Richtigkeit der Namen gewann fur Platon aber neue sachliche Bedeutung, als er sich nach dem Staat den denk­methodischen Dialogen zuwandte. Der Kratylos hat in dieser Hinsicht in Platons Dialogschriftstellerei seinen sinngemassen Ort als Vorstufe zu Theaetet, Sophistes und Politikos, ent­sprechend dem unteren Rang, der dem onoma unter den Denk­mitteln der Platonischen Dialektik zukommt. Wir werden also auch auf unserm Wege dazu gedrangt, denen beizupflichten, die den Kratylos unmittelbar vor den Theaetet datieren, und keines­wegs in ihm einen Fruhdialog Platons zu sehen.

3. Fragen wir im ganzen schliesslich nach dem Weg Platons zur Philosophie, so werden wir nach unsern Vermutungen uber jene Herakliteische Fruhform des Platonischen Denkens nicht mehr der Meinung beipflichten, dass Plat on im Grunde als Politiker begonnen habe und dann Philosoph geworden sei ("Philosophie die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln"), dass er im Grunde Erzieher und Bildungspolitiker gewesen sei, dass er zunachst als Freund und Gefahrte des Sokrates Moralist und Ethiker war und sich erst spater zum Ontologen, Kosmo­logen "entwickelt" hatte. Das Philosophieren ist ein Grundan­liegen des menschlichen Geistes, wie die Poesie, die bildende Kunst, die Religion. Und niemand entwickelt sich zum Philo­sophen, der es, in welcher verhullten Form auch immer, nicht schon ist. Auch Platon war von Anfang an im Grunde nichts ande­res als - Philosoph, d.h. der von der Frage nach Gewissheit, Seiendheit Umgetriebene, der, wie es Jahrhunderte spater Cartesius neu erfahren hat, zwar sieht, dass alles, was ihm begegnet, ungewiss ist, aber "den Triebsand unter den Fussen" nicht dulden kann.

Mit alledem wollte ich dem verehrten Mann, dem dieses Buch gewidmet ist, gewiss nicht mehr als einen Hinweis geben. Er hatte

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aus seiner tiefbegriindeten Kenntnis der Dinge, die ich hier be­riihrt habe, am besten beurteilt, was wohl mit diesem Hinweis anzufangen sein mag oder auch nicht.

Tiibingen