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Planet des Gerichts

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Nr. 292

Planet des Gerichts

Atlan und Fartloon unter Todeskandidaten - in der Arena der

Gerechtigkeit

von Hans Kneifel

Das Geschehen im Großen Imperium der Arkoniden wird gegenwärtig durch innere Konflikte bestimmt – in höherem Maße jedenfalls als durch die Kämpfe gegen die Methans.

Es gärt auf vielen Welten des Imperiums. Und schuld daran ist einzig und allein Or­banaschol, der Brudermörder und Usurpator, der in seiner Verblendung und Korrupt­heit einen politisch völlig falschen Weg beschritten hat. Die Tage Orbanaschols scheinen gezählt, und es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein wann die Gegen­kräfte im Imperium stark genug sind, den Usurpator vom Thron zu stoßen.

Kristallprinz Atlan, der eigentliche Thronfolger, und seine verschworenen Gefähr­ten, die Orbanaschol bisher schwer zu schaffen machten, sind augenblicklich aller­dings nicht in der Lage, gezielt einzugreifen. Kraumon, ihre geheime Stützpunktwelt, wurde von den Methans zerstört, und Atlan selbst weiß nichts Genaues über das weitere Schicksal seiner rund 15.000 Kampfgefährten.

Der Kristallprinz versucht gemeinsam mit Fartuloon, seinem Lehrmeister, nach Ar­kon zu gelangen. Doch das Unternehmen schlägt fehl. Atlan und Fartuloon werden gefaßt und zusammen mit Hunderten von Deserteuren der Flotte und Männern der Fluchthilfsorganisation in die Arena der Gerechtigkeit gebracht.

Ein Schauprozeß erwartet sie. Ort des Geschehens ist Celkar, der PLANET DES GERICHTS …

3 Planet des Gerichts

Die Hautpersonen des Romans:Atlan und Fartuloon - Der Kristallprinz und sein Lehrmeister auf dem Planeten des Gerichts.Ogor - Ein Mörder wider Willen.Rotnam Tema - Ogors Strafverteidiger.Kaarfux - Ein berühmter Anwalt.Ches Prinkmon und Aderlohn Dharr - Ein Reporter und sein Kameramann von Arkon-Vision.

1.

Ches Prinkmon lehnte an der Bar der KA­LIMOUN und starrte den Bildschirm an, der das Empfangsgebäude des Raumhafens zeigte. Die Bauten lagen da wie eine niedri­ge Mauer, die den Gerichtsplaneten vor Neugierigen abschirmte. In der Abenddäm­merung – das Schiff war soeben sanft gelan­det – flammten die ersten Scheinwerfer auf. Hinter den Fenstern breitete sich Helligkeit aus. Ches hob das Glas und nickte einigen Gästen zu, die er während des Fluges flüch­tig kennengelernt hatte; der bevorstehende Prozeß lockte eine gewaltige Masse von In­teressierten an.

Die Schiffsmaschinen waren abgeschaltet worden. Als Ches die Szenerie sah, die sich auf dem Bildschirm ausbreitete, fühlte er Er­regung in sich aufsteigen. Der Prozeß auf Celkar konnte seine größte Chance werden.

Ihm blieb nichts anderes mehr übrig, als von Bord zu gehen und auf sein leichtes Ge­päck zu warten. Sobald er den Boden des Gerichtsplaneten betreten hatte, war er allein auf sich gestellt.

Arkon-Vision war die härteste Schule für Journalismus, die es gab.

Die zerschrammten Glasplatten fuhren asthmatisch zischend auseinander. Ein Mann kam aus dem beleuchteten Korridor in die Bar hinein. Ches erkannte den Ersten Offi­zier. Das runde Gesicht war gleichgültig, als der Offizier sagte:

»Guten Abend, Prinkmon. In wenigen Minuten trennen sich unsere Wege.«

Ches bewegte das Glas und hob fragend die Brauen.

»Trinken Sie einen mit? Sie waren ein fei­ner Zechkumpan.«

»Danke, nein. Muß mich um den Start kümmern, Meister. Sie finden sich allein zu­recht in der juristischen Wildnis?«

Ches nickte. »Ja, ich denke schon«, sagte er, trank aus und stellte das Glas zurück. »Unsere Firma hat alles arrangiert.«

»In Ordnung. Warten Sie auf den Summer und die Durchsage. Das Gepäck kriegen Sie dort drüben. Fliegen Sie mal wieder mit uns?«

»Kann sein.« Sie wechselten einen flüch­tigen Händedruck. Der Erste war einer der vielen Männer, die man traf und vergaß, ebenso wie das alte und klapprige Schiff, auf dem er flog. Mit geübtem Blick sah sich der Offizier in der fast leeren Bar um und ent­deckte einen Passagier, der ebenfalls hier aussteigen sollte und schlafend in einer Ecke lehnte.

Ches Prinkmon schob ein Trinkgeld über die Theke, gönnte der Barfrau ein kurzes Lä­cheln und ging langsam hinaus. Nach dem Flug folterte die Stille, die sich von Minute zu Minute verstärkte, innerhalb des Schiffes seine Nerven. Ches fand den Weg in seine Kabine, nahm seine Tasche und hängte sie sich über die Schulter. Er hatte nichts ver­gessen und nichts zurückgelassen.

»Willkommen auf Celkar!« murmelte Ches ironisch und schloß die Kabinentür. Er betrat den Planeten des Monhor-Systems recht unvoreingenommen, denn es gab nur wenig, was er über Ogor wußte; angeblich die zentrale Figur im Prozeß des Jahres. Ches zwang sich zur Ruhe, während er über Rampen, schmale Korridore, breite Gänge und schließlich durch den Antigravschacht die alte KALIMOUN verließ. Würzige Luft schlug ihm entgegen, mit hoher Luftfeuch­tigkeit, als er die breite Rampe hinunterging und auf den Raumhafentransporter zusteuer­

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te. Ein nicht neues, aber sauber aussehendes

Gefährt. Automatisch registrierte Ches jede Einzelheit und begann bereits zu formulie­ren, was er empfand. Celkar. Planet des Ge­richts. Arena der Gerechtigkeit. Juristisches Zentrum der Imperiumswelten. Raumhafen Prozeßbezirk. Gleiter 24.

Diese Schriftzüge umliefen in einem mehrfarbigen Band die langgestreckte Kabi­ne. Ches setzte sich in einen der Sessel und wartete, zusammen mit anderen Gästen, bis das Gepäck verladen war und die letzten Passagiere das Schiff verlassen hatten. Ein leichter Wind wehte über die riesige Fläche des Raumhafens. Eine ununterbrochene Ge­schäftigkeit herrschte.

Merkwürdig, dachte Prinkmon und schüt­telte sich, seit zwei Jahren versuche ich, einen Auftrag wie diesen zu bekommen. »Gehen Sie nach Celkar! Berichten Sie über den Prozeß des Jahres oder machen Sie den Prozeß des Jahrzehnts daraus! Und finden Sie etwas Neues! Der Imperator wünscht, daß wir von der innenpolitischen Lage ab­lenken! Also, bemühen Sie sich, Ches, mein Lieber!« So oder ähnlich hatten sie es auf Arkon formuliert. Und jetzt, wo ich gelandet bin, scheue ich zurück.

Es ist ganz sicher nicht Ogor, der mich so unsicher macht. Dieses … Ding! Ich weiß es nicht. Irgendeine verdammte Ahnung, dach­te er. Zischend schlossen sich die Türen, der Gleiter schwebte langsam an und fuhr auf die Hafengebäude zu.

Die warme Atmosphäre der Abfertigungs­halle änderte für kurze Zeit die Gedanken und Überlegungen des Reporters. Ches Prinkmon war siebenundzwanzig Jahre alt, groß und schlank, und seine Ausbildung als Televisionsjournalist war für ihn leicht ge­wesen, weil sein Interesse und seine Leiden­schaften genau diesem Medium entsprachen. Jene harte Arbeit bedeutete für Ches unge­teiltes Vergnügen.

Aufmerksam las er die Überschriften eini­ger lokaler Blätter. Hier auf Celkar, auf der kontinentgroßen äquatorialen Insel namens

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Bassakutena, drehte sich buchstäblich alles um Richter und Angeklagte, um Ankläger und Verteidiger und sämtliche damit zusam­menhängende Aktivitäten. Das Zentrum war die ARENA DER GERECHTIGKEIT, ein riesiger Komplex, in dem Recht gesprochen wurde.

Und tatsächlich war es so: Das Ding Ogor beherrschte die Schlagzeilen.

»Sämtliche Zutaten«, murmelte ein dicker Mann, der unverkennbar Anwaltssekretär sein mußte, »sind vorhanden. Meinen Sie nicht auch, junger Mann?«

Höflich drehte sich Ches nach dem Spre­cher um und nickte.

»Es verspricht wirklich eine interessante Auseinandersetzung zu werden«, erklärte er leise.

»Was sagen Sie da! Der Prozeß des Jahr­hunderts wird das! Die Frage, ob man eine Semimaschine töten darf, wird juristisch ent­schieden werden. Ein zukunftsweisender Aspekt schwebt über allem.«

»Zweifellos«, gab Prinkmon zu. »Indes, hier kommt mein Gepäck. Sie entschuldigen mein mangelndes Interesse?«

»Gewiß doch. Jeder ist sich selbst der Nächste«, sagte der Mann.

Ches Prinkmon griff nach den beiden mit­telgroßen Koffern und bahnte sich einen Weg durch die Menge, die sich um die Bän­der drängte. Er durchquerte die Halle, rem­pelte ein gutaussehendes Mädchen an, wich einer Gruppe leicht betrunkener Raumsolda­ten aus und trat auf das langsam laufende Band, das ihn nach einer Fahrt von vierhun­dert Schritten vor dem Anfang einer langen Reihe einheitlich golden lackierter Taxiglei­ter absetzte.

Ein Wagen schwebte heran, die Mechanik klappte das Gepäckabteil auf und verschloß es wieder, dann setzte sich Ches neben den Piloten.

»Wohin?« fragte der alte Mann mit zer­knitterten Gesichtszügen und einer großen Augenklappe.

»Zuerst zum ›Erfolgreichen Plädoyer‹, dann zum Stadtbüro von Arkon-Vision.«

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Der Gleiter schwebte los, beschleunigte mit heulenden Absorbern und reihte sich in einer Serie halsbrecherischer Manöver in den Verkehr der Hauptpiste ein.

»Sie sind wegen Ogor hier.« »Warum glauben Sie das?« erkundigte

sich Ches und lehnte sich zitternd zurück, nachdem der Gleiter zwei andere Fahrzeuge in waghalsiger Geschwindigkeit überholt und deren Fahrspur drastisch geschnitten hatte.

»Alle kommen wegen Ogor. Oder wenig­stens die meisten. Sie sehen aus wie ein jun­ger Reporter, der auf die große Sache scharf ist, auf einen Knüller, der mindestens acht Tage die Überschriften füllt.«

»Sie hätten Psychologe werden sollen«, knurrte Ches verblüfft.

»Jeder Gleitertaxipilot ist nach einem Jahr ein ausgebildeter Psychotherapeut«, gab der andere ungerührt zurück.

»Tatsächlich komme ich wegen Ogor«, bestätigte schließlich Ches Prinkmon.

»Eine merkwürdige Figur!« behauptete der Fahrer.

»Ein mehrfacher Mörder, hörte ich«, gab Ches zu bedenken.

»Wie man's nimmt. Gerade das soll ja un­tersucht werden. Er leugnet nichts, aber er schiebt alles auf den Korratz.«

»Wird Ogor mit dem Korratz-Einwand durchkommen?«

»Die Wetten stehen fünfzig zu fünfzig. Ich denke, sie werden ihn verurteilen und schnell töten.«

Ches erkundigte sich, um sein eigenes Bild abzurunden:

»Was ist dieser Ogor eigentlich? Warum ist er so wichtig?«

»Aus einigen Handvoll guten Gründen.« »Kennen Sie diese Gründe?« »Meine Fahrgäste kannten sie. Jetzt kenne

ich sie auch.« »Kann ich sie erfahren?« Einige Chronners wechselten den Besit­

zer. Dann hörte Ches Prinkmon eine ver­blüffende Geschichte, von der er selbst etwa die Hälfte recherchiert hatte.

Zunächst einmal: Auf Celkar, meist in der Hauptstadt des

Kontinents Bassakutena, fanden seit langer Zeit sehr viele gewöhnliche und ausnahms­los alle Sensationsprozesse statt. Von letzte­rer Gruppe bildeten die Auseinandersetzun­gen »das Imperium und der Imperator versus eine einzelne Person oder eine Gruppe« die hervorstechenden Punkte. Diese wahrhaft epochalen Verhandlungen, die in fünfund­siebzig von hundert Fällen mit öffentlichen Hinrichtungen endeten, zogen immer wieder gewaltige Mengen von Interessierten an, von denen das Hotel- und Dienstleistungsgewer­be von Kutenarynd gut lebte. Im Augenblick war es der Prozeß »Imperium versus Ogor«, der die Öffentlichkeit mobilisierte.

Ogor selbst, jene schwer zu klassifizieren-de Mischung zwischen einem Arkoniden und einem Roboter, eine Art Baukasten-Cy­borg, bildete zwar den Hauptgegenstand des bevorstehenden Verfahrens, aber er war ei­gentlich nichts anderes als ein mehrfacher Mörder unter vielen anderen, die hier ver­handelt wurden.

Vielmehr war die Kombination zwischen einem biologischen Körper und vollroboti­schen Ersatzteilen das wahrhaft Aufsehener­regende.

Der einäugige Taxipilot steuerte sein Ve­hikel so, als gäbe es weder Regeln noch Verkehrsüberwachung. Dabei schilderte er plastisch das, was er von plaudernden An­wälten, Verteidigern oder Schriftführern während vieler Fahrten aufgeschnappt hatte. Es waren nicht mehr als einige Morde, die mit scheinbar kalter Perfektion und ohne er­kennbare Gemütsbewegung von Ogor be­gangen worden waren, die das Gericht ihm vorwarf, und die er im übrigen auch keines­wegs ableugnete.

Vor Beginn seiner verbrecherischen Kar­riere war Ogor einer der risikobewußtesten Geschwaderführer des Imperiums gewesen. Aber bevor er seine ersten Auszeichnungen einheimsen konnte, schlug der unheilbare Korratz zu.

Es war eine der jüngsten und schrecklich­

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sten Krankheiten des Imperiums. Es begann ganz harmlos damit, daß die Endglieder von Fingern innerhalb von Tagen verdorrten, sich stechend gelb färbten und dann, bei ei­ner unachtsamen Bewegung, abfielen wie brechendes Glas. Die ersten zwei Tage eines Anfalls, der sich immer nur auf eine einzel-ne Stellen des Körpers konzentrierte, waren von grauenvollen Schmerzen begleitet. Dann spürte das Opfer nichts mehr. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein befallenes Glied ein zweites Mal heimgesucht wurde, stand bei drei zu eins.

»Sagen Sie«, wandte sich der Gleiterpilot am Ende einer atemlos langen Erzählung an den Reporter, »Sie kommen doch ziemlich weit herum. Hat man noch nichts gegen den verdammten Korratz gefunden?«

»Mir ist nichts bekannt«, erklärte Ches. »Hmm«, kommentierte der Pilot und

wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Verkehr zu, »miese Aussichten für Ogor. Übrigens, er hat diesen Primm. Ein höchst appetitliches Tierchen. Es bringt in die Be­richte von weiblichen Journalisten eine so menschlichintensive Note.«

»Diesen … wen?« fragte Ches. Davon wußte er nichts.

»Primm. Ein hellblaues Ding, so groß wie eine Maus. Mit Fledermausflügeln, bewegt sich aber wie ein Kolibri. Primm hat einen beschränkten, aber wirkungsvollen Wort­schatz. Flucht ausdauernd in macherlei kolo­nialen Dialekten.«

Während der letzten Viertelstunde hatte Ches Prinkmon seinen winzigen Recorder mitlaufen lassen. Die breite Gleiterpiste ver­zweigte sich jetzt wie eine zehnfingrige Hand, deren einzelne Spinnenglieder in ver­schiedene Richtungen auseinanderstrebten. Soweit Prinkmon erkannte, raste der Taxipi­lot die richtige Abzweigung entlang. Kleine Parks tauchten auf, in denen schlanke Türme aus Glas und Stahl zu sehen waren. Der Be­lag der Piste glühte phosphorn zwischen den Hängen und dem Gebüsch. Es herrschte noch immer starker Verkehr in beiden Rich­tungen.

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»Hat Ogor diesen … Primm schon lan­ge?«

»Seit er eingeliefert wurde.« »Verblüffend!« murmelte Prinkmon.

»Tatsächlich habe ich nichts von Primm ge­wußt.«

Der Pilot setzte ein zufriedenes Grinsen auf und erklärte:

»Trösten Sie sich, junger Mann. Erst vor zwei Tagen durfte der erste Korrespondent in die Zelle. Das Ganze ist eine sehr traurige Sache, mein Junge. Ich hoffe, Sie sind keine der Sensationshyänen, die jede Information maßlos ausschlachten.«

»Selbst wenn ich das wollte«, schränkte Ches voller Unbehagen ein, »könnte ich es nicht! Schließlich ist Arkon-Vision besonde­ren Richtlinien unterworfen.«

»Wenn Sie so viele Arkoniden in allen Si­tuationen erlebt hätten wie ich, mein Junge«, sagte der Pilot fast mitleidsvoll, »dann wür­den Sie sich nicht wundern, wie schnell sich der eine oder andere binnen Sekunden än­dert und das Tier in sich hervorkriechen läßt. Ich wünsche Ihnen jedenfalls das Beste.«

»Vielen Dank«, knurrte Ches säuerlich. Da waren sie wieder, jene Spannung und Nervosität, die ihn ergriffen hatten, als die KALIMOUN den Boden des Planeten be­rührt hatte.

Der Gleiter hielt in der unterplanetari­schen Zufahrt des Hotels an. Das Gepäck wurde entladen. Ches gab dem Einäugigen ein gutes Trinkgeld und ließ ihn sieben Mi­nuten lang warten. Dann hinterlegte er sei­nen Schlüssel an der Rezeption und ließ sich zur Arkon-Vision-Redaktion bringen. Ein heilloses Durcheinander, Alkoholdunst und das hysterische Gelächter von Fimm Mon­hole, dem Bürochef, empfingen ihn. Augen­scheinlich feierten sie eine Party.

Kopfschüttelnd trat Ches Prinkmon näher. Er nahm einem jungen Mädchen einen Drink ab und blieb neben Aderlohn Dharr stehen, seinem älteren Kollegen.

»Hier bin ich, Aderlohn«, sagte er. »Wo ist die Kamera?«

Aderlohn starrte ihn wie einen Geist an.

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Dann brach er in dröhnendes Lachen aus. Er war betrunken, das war deutlich zu erken­nen.

2.

Die Schreie waren markerschütternd. Im Augenblick hallten sie von den weißgestri­chenen Wänden des viereckigen Innenhofs wider; es waren unheilvolle Schwingungen, von denen alle übrigen Pflanzen beeinträch­tigt wurden. Seit Lekos einmal mit einem Hieb seiner messerscharfen Schreibhand ei­ne blutrot blühende Rolpe, eine der schön­sten und planetengeschichtlich ältesten Pflanzen in diesem Garten, geköpft hatte, empfanden alle Zierpflanzen in diesem Vier­eck das Auftauchen des rostigen Körpers als mentale Bedrohung.

Kaarfux mit den siebenhundertsiebenund­siebzig Tricks schaltete die verborgenen Lautsprecher aus, drehte an einem Regler und empfing einen Teil der osmotischen Musik jetzt nur über die winzigen Kristalle in seinen Ohrmuscheln.

Langsam näherte er sich einem kugelrun­den, fast unhörbar zitternden Zierstrauch und fuhr liebkosend mit beiden Handflächen über die Blätter. Langsam hörten die lanzett­förmigen Blätter und die feinen, behaarten Stengel auf zu zittern und sich zu schütteln.

Kaarfux drehte sich um, kippte mit dem Zeigefinger nacheinander eine Reihe von Schaltern herunter und regelte die Intensität der verstärkten und hörbar gemachten Schwingungen dieses Kugelbusches – Tani­fera ragens – neu ein. Eine harmonische Mu­sik erklang stereophon in seinen Ohren.

»Sehr schön, mein kleiner Grüner!« mur­melte er und fuhr damit fort, vorsichtig die halbmannshohe Pflanze zu streicheln. Vor zwei Stunden hatte er die vitaminreiche Nährflüssigkeit, mit dem abgemessenen Quantum Wasser vermischt, über die zierli­chen Wurzeln versprüht. Die Pflanze schmiegte sich förmlich seinen streichelnden Fingern an. Er spürte die eigenständige Be­wegung dieses lebenden, geheimnisvolle

chemoelektrische Schwingungen emittieren-den Körpers.

»Nur ruhig. Lekos wird euch nichts mehr tun. Niemals mehr.«

Aber die meisten Pflanzen waren »intelligent« genug, um die versteckte Be­drohung zu erkennen, die in dem tonnenför­migen Körper von Lekos steckte. Lekos schwebte zwei Meter hinter seinem Herrn und Meister und starrte den ineinander ver­flochtenen, dschungelartigen Teil des Gar­tens entlang der drei weißen Mauern an. Riesige Bronzenägel unterbrachen die weiß­grüne Fläche; einige Pflanzen klammerten sich an diese schimmernden Haltepunkte.

Kaarfux konzentrierte sich auf Tanifera ragens.

Osmotischer Druck und zwischen den Millionen Zellen flutendes Plasma mit all seinen chemischen Bestandteilen erzeugten in Verbindung mit den Nervenadern der Pflanze deutliche elektrische Schwingungen. Die der Wurzeln waren gänzlich anders als diejenige des Stammes oder jene, die in Äst­chen und Blättern entstanden. Zusammenge­nommen bildeten sie eine Harmonie. Einige Dutzend Sensoren waren an und in den Pflanzen befestigt, vereinigten sich zu einem dünnen Kabel, das in einen modulierenden Verstärker mündete.

Der Verstärker und diverse andere techni­sche Einrichtungen transponierten die Schwingungen in einen für Arkoniden hör­baren Bereich hinunter und machten aus Schwingungen Töne. Diese Töne hörte Kaarfux, der alte Rechtsanwalt. Er war reich und jenseits von den gewöhnlichen Aufre­gungen eines handelsüblichen Strafprozes­ses. Mit Zivilklagen hatte er sich nicht mehr befaßt, seit er seine glanzvolle Ausbildung beendet hatte. Die Wirkung von Geschehnis­sen auf Pflanzen und die dadurch hervorge­rufenen musikalischen Wirkungen waren seit fünfzehn Jahren sein Hobby.

Von den dreihundert verschiedenen Pflan­zen »sangen« zweihundertneunzig. Zehn an­dere bildeten den Humus für die Neukultu­ren; ihr kreatürliches Hintergrundbrummen

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war für ihn ebenso indiskutabel wie ein ge­kaufter Zeuge oder das neueste Gerücht über geheimnisvolle Gänge unterhalb der Arena der Gerechtigkeit.

»Schöne Musik, mein Grüner!« sagte er mit schläfriger Stimme. Die Pflanze belohn­te diese liebevolle Zuwendung mit einer Me­lodienfolge, die an Mondnächte über einem stillen See erinnerte.

»Wunderbar …«, murmelte Kaarfux und ging langsam rückwärts von der Pflanze weg. Er hörte die schrillen Schmerzenslaute nicht, die Grashalme und Moosbüschel unter seinen Sohlen ausstießen.

Er grinste diabolisch. Mit den Pflanzen hatte er einen ganz bestimmten Versuch vor. Er interessierte ihn brennend, aber es war nur ein akademisches Problem für ihn. Mit Ogor hatte Kaarfux nichts zu tun – obwohl: hin und wieder zuckte es ihm in den Fin­gern, einzugreifen und die Macht seines ge­schliffenen Verstandes und die Summe der Erfahrungen aus fast sechzig Berufsjahren einzusetzen. Grimmig grinsend schüttelte er seinen kugelrunden, faltigen Kopf. Seine Augen strahlten auf, als er bemerkte, wie Lekos hinter ihm auswich und sich in Rich­tung auf den Wohnraum zurückzog.

»Darum also sind die Kerlchen so aufge­regt«, stellte er fest »Zurück zum Pult, und schnell die letzten Informationen abrufen, Blechknecht!«

Zwanzig Lichter auf der eindrucksvollen Leuchtfront des Apparats flackerten in ei­nem bestimmten Rhythmus auf. Eines fer­nen Tages, dachte Kaarfux mit den 777 Tricks, werde ich auch das letzte Geheimnis meines Ratgebers lüften.

Lekos gehorchte, verließ schwebend den Garten und summte durch die weit geöffne­ten Fenster in den Wohnraum zurück. Lang­sam wurde es dunkel.

Hinter Kaarfux und Lekos spielte das un­hörbare Riesenorchester seine unkoordinier­ten Melodien. Aber es erklangen, nachdem die rostige Maschine den Garten verlassen hatte, keine Schreckensschreie mehr. Seinen Spottnamen verdankte Kaarfux seiner cha-

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rakterisierenden Fähigkeit, einen scheinbar verfahrenen Prozeß in buchstäblich letzter Minute zugunsten seines Klienten und seiner Einkünfte zu einer überraschenden, positi­ven Wendung zu führen. Er schaltete den Verstärker ab und zog die Kristalle aus sei­nen behaarten Ohrmuscheln.

Er schaltete das Visiphon ein, genau rechtzeitig, bevor die stündlichen Nachrich­ten begannen. Ein weiterer Tastendruck akti­vierte das Aufzeichnungsgerät. Vor dem Bildschirm, halb so groß wie eine Wand, baute sich das gestochen scharfe, farbig dreidimensionale Bild auf und schließlich begann der Sprecher:

»Vor den Schranken der Arena der Ge­rechtigkeit wird in zwei Tagen eine denk­würdige Verhandlung ihren Anfang nehmen. Der Prozeß Imperium versus Ogor beginnt.

Wie inzwischen bekannt wurde, ist Ogor von der Krankheit Korratz gezeichnet wor­den. Diese Krankheit ist ebenso gräßlich wie selten, und es gibt kein Mittel dagegen. Die durch den Schwund einzelner Körperteile hervorgerufenen Verstümmelungen wurden im Fall Ogors von Medizinern durch Prothe­sen verschiedener Größe und Feinheit er­setzt. Schließlich führte nach Aussagen des Angeklagten ein ganz bestimmtes kyberneti­sches Teil zu schwersten Persönlichkeitsän­derungen.

Ogor wurde nach Angaben des Untersu­chungsrichters zum mehrfachen Mörder. Er ist geständig, aber er lehnt jede Verantwor­tung ab. Dieser Fall ist selbst in den soge­nannten Ewigen Annalen der Arena noch nicht vermerkt. Der Prozeß nimmt mit Recht für sich in Anspruch, einmalig zu sein. Der Ausgang und das Urteil werden von rich­tungsweisender Tragweite für sämtliche Verbrechen sein, die unter dem Begriff Cy­borg-Untaten zusammengefaßt werden kön­nen …«

Es folgte ein kurzes Interview mit einem der Verteidiger Ogors. Aus reiner Schaden­freude und Verzweiflung hatte Ogor als An­gehöriger der Arkon-Flotte auf einen Pflichtanwalt Anspruch erhoben, der vom

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Imperium bezahlt wurde. Er hatte einen der besten bekommen, die es auf dem Gebiet gab, bemerkte Kaarfux mit grimmigem La­chen.

Auch dieses Interview schnitt er mit. Dann folgte – zum erstenmal für eine

große Öffentlichkeit – ein kurzer Streifen. Er zeigte Ogor in seinen jungen Jahren, als Kadett der Flottenakademie, als breit grin­senden Risikopiloten, als müde und zer­furcht heimkehrenden Sieger erbitterter Kämpfe gegen die Methanatmer und schließlich als mehr und mehr verfallenden Patienten, der zwischen seinen vielen Opera­tionen immer wieder für Arkon kämpfte. Der Bericht war von einer geradezu brutalen Deutlichkeit.

Er zeigte den Weg eines Mannes vom Heranwachsenden zum roboterartigen Wrack auf eine lautlose, erschreckende Wei­se. Mit einem kurzen Blick in Ogors Zelle, in der er mit Primm spielte, endete auch der Bericht über dieses Thema. Außenpolitische Beiträge folgten. Kaarfux mit den 777 Tricks schaltete das Aufnahmegerät ab und nahm mit halbem Interesse den Rest der abendlichen Nachrichten zur Kenntnis. We­der die Lage des Imperiums noch die Aus­sichten Orbanaschols, noch lange am Leben zu bleiben, konnten positiv bewertet werden.

»Es passiert nichts mehr!« rief Kaarfux. »Die Lage ist hoffnungslos, und nicht ein­mal der Imperator weiß, wie es weitergehen soll. Wohin sind die Tage des siegreichen Imperiums? Was ist aus dem Erbe Gonozals geworden?

Ich brauche Aufregungen! Ich muß etwas tun! Mein Verstand rostet ein, und mich plagt die Eintönigkeit.«

Der Lekos erwiderte blumig: »Einwände, die schon oft zu vernehmen

waren. Aber von allen herausragenden Er­eignissen ist lediglich der Ogor-Prozeß dei­ner würdig, Kaarfux. Aber vielleicht bietet sich dir schon bald eine Gelegenheit, aus der Glut längst erloschener Feuer eine heiße, lo­dernde Flamme werden zu lassen.«

Seit der Zeit, in der Kaarfux beratender

Mitwirkender beim Bau der Arena der Ge­rechtigkeit gewesen war, schien sich nahezu alles geändert zu haben, was Innenpolitik und außenpolitische Erfolge des Imperiums betraf. Wie unzählige andere Arkoniden war auch Kaarfux zwar persönlich nicht von ir­gendwelchen Einschränkungen betroffen, aber er litt darunter. Er war sich völlig dar­über im Klaren, daß er selbst nichts dagegen tun konnte; die Idee, als alter Mann sich et­wa den Rebellen anzuschließen, war ebenso absurd wie undurchführbar. Aber er sehnte sich mit allen Fasern danach, etwas zu tun, das geeignet war, die frühere Größe und Macht wiederherzustellen. Jetzt, im leeren, dämmerigen Haus, wurde er sich abermals dieser Tatsache bewußt. Aber wohin er auch blickte – er sah keine geeignete Aufgabe. Ebenso deutlich wußte er, daß seine Versu­che mit Pflanzen, Ziergräsern und Blumen nichts anderes als ein intellektueller Flucht­versuch waren. Trotzdem bewegten sich sei­ne Finger und überspielten die aufgenomme­nen Bilder von Ogor auf ein anderes Band, das sie über den besonders konstruierten Wiedergabeschirm schicken würde. Der Grund dieser technischen Umsetzung war, daß jede Pflanze ihre »Informationen«, die natürlich auch nichts anderes waren als mo­dulierte Auszüge aus dem breiten Spektrum sichtbaren und unsichtbaren Lichts, spürba­rer und nicht spürbarer Schwingungen, auf gänzlich andere Weise aufnahm.

Gleichzeitig schaltete er die Sensoren be­stimmter Pflanzen auf getrennte Aufnahme­kanäle. Dann schaltete er selbst sich in die »Musik« von Tanifera ragens ein und diri­gierte den schwebenden Bildschirm hinaus in den nächtlichen Garten.

»Lekos!« rief er und schob die Hörbohnen in die Ohren.

»Hier bin ich. Welche Aufgabe soll ich wahrnehmen?«

»Du sollst«, Kaarfux deutete mit einer ge­bieterischen Geste auf den Halbroboter, der vor ihm schwebte und mit den Frontleucht­feldern blinkte, »auf deine dumme Art zuse­hen und zuhören, welche Wirkung Ogor auf

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die Pflanzen hat. Denn aus einem von beruf­licher Neugierde diktierten Grund habe ich diese seltsamen Versuche unternommen:

So, wie der Angeklagte auf die Pflanzen wirkt, wirkt er auch auf die Richter. Damit meine ich nicht die logische Argumentation rechtlicher Begriffe von Unschuld und Schuld, sondern die direkte, einfache Wir­kung. Von Herz zu Herz, unter direkter Um­gehung der Vernunft und Logik. Kapiert?«

»Da ich seit Unzeiten gewohnt bin, den verschlungenen Windungen der juristischen Sprache zu folgen«, gab Lekos mit seiner knarrenden Stimme zur Antwort, »wird es mir zweifelsohne leichtfallen, deine Inten­tionen, Meister, vorbildlich zu integrieren.«

»Einverstanden. Es geht los.« Über dem Kontinent Bassakutena funkel­

ten stechend klar die Sterne. Im Wohnhaus erlosch nach und nach jedes Licht. Nur die winzigen Leuchtfelder der elektronischen Instrumente waren zu erkennen. Lekos schaltete auch seine Signallichter ab. Sein Körper, etwa einen Meter hoch und geformt wie ein rostiges, zerbeultes Faß von rund ei­nem halben Meter Durchmesser, verschmolz mit der Finsternis. Dann flammte der Bild­schirm auf. Die Pflanzen, ihrer Natur nach sonnenorientiert, bewegten raschelnd ihre Staubgefäße, die Blüten und die Oberseiten der Blätter in die Richtung des Lichtes. Vor dem drei Quadratmeter großen schwebenden Bildschirm baute sich der dreidimensionale Eindruck einer räumlichen Szene auf.

Die Tanifera ragens gab einen schwellen-den Akkord der gespannten Aufmerksamkeit von sich. Abgesehen von den plötzlich ganz anders wirkenden Bildern, sie waren farb­verändert und teilweise im Infrarotlicht sichtbar geworden, nahmen die Pflanzen na­türlich weder die exakte Bedeutung des Kommentars auf noch sämtliche Einzelhei­ten des Bildes. Sie reagierten völlig kreatür­lich. Sie erfaßten Eindrücke.

Und wenigstens die Tanifera gab sie so­fort wieder zurück.

Als der junge Ogor zu sehen war, antwor­tete die kugelige Pfahlwurzelpflanze mit ei-

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nem begehrlichen Girren. Jedenfalls deutete Kaarfux diese trillernde Lautfolge nicht an­ders. Der Arkonide gefiel ihr! Sie würde es gern sehen, wenn er sich in ihrem runden Schatten ausruhte. Aber von Bildfolge zu Bildfolge, die immer weniger erfreulich wa­ren, änderte sich die Grundmelodie. Die Mu­sik veränderte sich fast synchron mit den schroffen Eindrücken eines langsam abster­benden Körpers. Zwar waren die roboti­schen Hilfsglieder auf der Bildfolge nur als weniger warm strahlende Teile zu erkennen, aber von dem Arkoniden schien eine Aura aus Düsternis und beginnender Selbstzerstö­rung auszugehen, die für die Pflanzen immer drohender wirkte. Schließlich, während der letzten Bildfolge, konnte Kaarfux nur zwei ineinander vermischte Empfindungen her­aushören:

Mitleid und ratlosen Abscheu! Er schaltete nicht ab, sondern wartete, bis

die Bilder ganz verschwunden und an ihre Stelle diejenige Helligkeit getreten war, die einen großen Teil des sonnenlichtähnlichen Spektrums enthielt. Es war, als ob Tanifera aufatmete, als ob Spannung und osmotischer Krampf aus den Wurzeln, holzigen Teilen und den Blättern wichen, als ob sich die Blüten in der Wärme dieses Lichtes begierig öffneten und der Hitze und Helligkeit des Tages entgegensähen.

Dann erlosch das Licht. Auf den Bändern waren die Ausstrahlun­

gen von einigen Handvoll anderen Pflanzen verzeichnet. Den Rest der Nacht verbrachte der Staranwalt damit, seinen ersten Eindruck zu vertiefen. Nahezu sämtliche Pflanzen – für sie waren die Bilder Geschehnisse wie Sturm, Regen, Trockenheit, wie das Messer oder die Säge des Gärtners, wie organischer Dünger oder Windbruch! – reagierten auf die halbwegs chronologisch exakte Bildfol­ge aus Ogors Leben in gleicher Weise.

Mitleid, Abscheu, Abwehr vor Dingen, die das Verstehen überstiegen, deutliches Unbehagen bis hin zur Gegenwehr, dies wa­ren die Reaktionen des kleinen, mit ausge­sucht sinnlich agierenden Pflanzen bestück­

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ten Innengartens. Die ersten Sonnenstrahlen glänzten auf den stählernen Kuppeln der Arena, die sich wie eine Zitadelle über die Stadt Kutenarynd erhob, als Kaarfux seine Analyse fertig hatte.

Jetzt würde er wetten können, wie der Prozeß ausging.

Aber es gab niemanden, mit dem er hätte wetten können.

3.

Sein rechtes Auge und das System von Photozellen, Linsen und Selektoren – es sah aus wie sein linkes Auge, war aber eine ky­bernetisch gesteuerte Apparatur – bemerkten den golden leuchtenden Lichtfleck an der Zellendecke. Die ersten Zeichen des Mor­gens befanden sich genau diesseits und jen­seits des Knicks, den Mauer und Decke bil­deten. Der leuchtende Fleck wanderte un­merklich langsam tiefer, je mehr sich die Sonne über den Horizont des Inselkontinents Bassakutena schob.

Ogor schloß beide Augen, zog sich die Decke über den Kopf und drehte sich zur Seite.

»Verdammter Planet«, murmelte er und wußte, ohne daß er nachsah, daß Primm auf einer der Querstangen des massiven Gitters aus Arkonstahl hing, den Kopf nach unten, die Augen ebenfalls geschlossen, noch nicht genügend von der Sonne erwärmt, um rich­tig lebendig zu werden. Erst die pfeifenden Worte der morgendlichen Diskussion wür­den ihn, Ogor, dazu veranlassen, aufzuste­hen. Er hatte genügend Zeit zu verschenken.

Allerdings fühlte er, daß sein kyberneti­sches Selbst einer neuen, dramatischen Ent­scheidung entgegensteuerte. Es gab nicht die geringste Wahrscheinlichkeit dafür, daß es jemals jemandem gelingen würde, die Fehl­ströme zu diagnostizieren, aber seine gesun­den Hirnzellen schienen es dennoch zu mer­ken.

Eine neue Minusphase baute sich auf. Der kybernetische Teil seines Kopfes besaß in diesem Zusammenhang die Eigenschaft ei­

nes Kondensators. Wenn die Ladung eine genügend große Stärke erreicht hatte, wurde sie abgegeben, ohne die geringste Rücksicht auf Ort, Zeit und Gelegenheit. Sie verpuffte binnen weniger Minuten und übernahm durch die Kraft ihrer aufgestauten Ladung die ausschließliche Kontrolle über sämtliche grobmotorischen und feinmotorischen Ner­vensteuerungen.

Ogor würde dann wieder einmal ein wil­lenloses Opfer sein. Zwar beobachtete und fühlte er alles, was er tat und unternahm, aber er befand sich in der wenig beneidens­werten Lage eines Hypnotisierten. Er rea­gierte wie ferngesteuert. Ehe er jedoch diese furchtbare Vision wieder einmal nachvoll­zog und schweißgebadet und zitternd auf­fuhr, wechselte die Natur seiner Empfindun­gen. Er schlief noch einmal eine Stunde. Als er wieder aufwachte, loderte das Sonnenlicht von dem kleinen Spiegel über dem Wasch­becken zurück, und Primm schwirrte direkt über seinem Gesicht.

»Wachen auf, schnell-schnell. Sonne sein heiß, blöder Grompf!« kreischte mit seiner piepsigen Stimme der Kleine.

»Reg dich nicht auf, du Segelflieger!« murmelte Ogor. »Gleich werde ich dich in meiner Frühstücksmilch ersäufen.«

»Blödian! Immer lustig sein werden. Bald Hinrichtung sein werden. Dämlicher Ogor. Turnen-turnen, schnell-schnell!« schrie der Vogel und schwirrte davon, ehe sich der halbrobotische Arm mit den neun roboti­schen Fingergliedern heben und um den Wicht schließen konnte. Die Bewegung des fliegenden Nagetiers vollzog sich in einer Folge von blitzschnellen Richtungsänderun­gen in allen drei Ebenen, so daß selbst Präzi­sionsschützen Primm nur zufällig treffen würden.

»Heute habe ich keine Lust zum Turnen!« verkündete Ogor träge und schwang seine Beine auf den Boden. Die glatten Kacheln waren kühl und ließen ihn zurückschrecken wie jeden Morgen. Während des Anflugs unter schärfster Bewachung hatte der ehe­malige Kommandant und Pilot den riesigen,

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ringförmigen Gefängniskomplex von Celkar gesehen. Er wollte keineswegs ausbrechen, aber er hatte erkennen müssen, daß die mehrfach gestaffelten Sicherheitssysteme je-den Ausbruchsversuch vereiteln würden, wenn er nicht gerade mit Hilfe von Raum­landetruppen stattfand.

»Geschmeidiger sein werden vor dem Prozeß, Ogor!« schrie Primm und starrte sein Ebenbild in dem strahlenden Spiegel an.

Ogor antwortete mit einem gräßlichen Fluch. Primm strich mit den beiden Vorder­pfoten sein blauschimmerndes Fell glatt und leckte dann mit der langen Insektenfangzun­ge seine Arme ab.

»Es dem Richter zeigen wollen, diesem alten Idiotensack!«

»Hör endlich auf, meine letzten Chancen zu zerstören!« rief Ogor und gähnte. »Vielleicht wird die Zelle abgehört.«

»Ich nicht zu sein wollen!« kreischte Primm. »Dämlicher Gorgh!«

Er kannte tatsächlich nahezu alle Schimpfwörter und Flüche von mehreren Dutzend Kolonialwelten. Ogor holte tief Luft und stand auf. Er wußte, was auf ihn wartete. Es gab keinerlei Illusionen mehr. Mit einiger Sicherheit war der Planet Celkar die letzte Welt, auf der er gelandet war. Es würde keinen Start mehr geben.

»Selbst ein Gorgh.« Er zwang sich, die zwei Drittel seines Ge­

sichts zu waschen und zu rasieren, die noch arkonidisch waren. Sein Körper war ein Stückwerk, ein Puzzle aus arkonidischem Knochenbau, Fleisch und Organen und aus Bauteilen, die man ihm nach den Anfällen des Korratz eingesetzt hatte.

Nur er selbst wußte wirklich, was er gelit­ten hatte, und daß ihn diese verheerende Krankheit in ein körperliches und geistig­seelisches Wrack verwandelt hatte. Und an den neun Morden war nicht er schuldig, son­dern der Mikrocomputer!

Ogor stand auf, reckte sich und ging die wenigen Schritte hinüber bis zu dem winzi­gen Toilettenraum. Die Instrumente und Ge-

Hans Kneifel

räte, alle jene winzigen Dinge aus perfekter Mikrotechnik und geheimnisvoller Biome­chanik, die knapp die Hälfte seines Körpers ausmachten, spürte er nicht. Sie waren vollintegrierter Bestandteil seines Körpers. Vielleicht, dachte er mit bitterem Humor, kam bis zum Ende der Verhandlung noch ein Teil dazu. Vielleicht die Milz oder eine Zehe, eine der wenigen, die er noch hatte.

Auch der Minicomputer in seinem Kopf, geformt wie ein Ausschnitt der Hirnschale, war perfekter als die natürlichen Zellen sei­nes Gehirns. Dieser künstliche Verstand aber besaß keinerlei Moralempfinden, und wenn er das Übergewicht des Einflusses hat­te, dann mordete er.

Er, der fremde Teilverstand, mordete. Er zwang den gesamten Körper, so zu handeln, wie er es befahl. Und gerade die kyberneti­schen Teile der mikrobiologischen Prothe­sen gehorchten besonders schnell.

Zwiespältige Gefühle, gemischt aus end­gültiger Resignation und vorsichtigem Opti­mismus, beherrschten ihn. Das Empfinden, ausgeliefert zu sein, war das stärkste. Er war ausgeliefert an dieses Stück Maschine. Neunmal hatte er die Macht des Minicompu­ters so stark gespürt, daß er keinen Wider­stand mehr aufbringen konnte.

Ogor kam aus der Duschkabine, zog sich an und entnahm einem Klappfach das Früh­stück. Er wußte, daß seine Portionen besser waren als diejenigen der vielen tausend Ge­fangenen in dem riesigen Komplex des pla­netaren Gefängnisses. Bedächtig begann er zu essen und zu trinken.

»Ich auch haben wollen, Ogor!« summte die Maus mit den Kolibrischwingen, schwebte im Zickzack heran und landete ne­ben dem Teller.

»Meinetwegen. Wahrscheinlich wird heu­te wieder mein Anwalt kommen. Und diese blöden Reporter«, sagte er mehr zu sich selbst. Er ahnte, daß die Art seines Prozesses und die Verteidigung eine Menge Interes­sierter beschäftigen würden. Daß sein Pro­zeß außerhalb der Gefängnismauern und Sperren bereits jetzt eine Sensation darstell­

13 Planet des Gerichts

te, wußten weder Ogor noch Primm. Eine Stunde nach dem Frühstück ertönte

der Summer. Die Stimme eines unsichtbaren Lautsprechers sagte leise:

»Hier spricht Doomyh Kiln, der Leiter Ih­rer Abteilung. In kurzer Zeit wird Ihr Vertei­diger in Begleitung eines Korrespondenten von Arkon-Vision zu Ihnen kommen. Sie haben sich bisher als besonnener Gefange­ner gezeigt, so daß wir nur die minimale Überwachung einschalten. Halten Sie sich bereit.«

»Schon gut«, erklärte Ogor. Jetzt war er wieder ein wenig mehr überzeugt, diesen Planeten lebend verlassen zu können. Der Primm wischte sich die Schnauze ab und schrie mit seinem pfeifend-wimmernden Stimmchen:

»Verteidiger auch nur Blödsinn reden-re­den. Aussichtslosige Lage, Ogor.«

Ein gräßlicher Fluch folgte. Mit funkeln-den Knopfaugen starrte Primm den Untersu­chungsgefangenen an. Ogor streckte die Hand aus und streichelte mit dem Zeigefin­ger den Rücken der Flugmaus zwischen den zusammengelegten Schwingen. Primm seufzte begeistert auf und streckte sich. Dann machte er einen zehn Zentimeter wei­ten Satz, packte ein dünnes Stück Schinken und rollte es zwischen den Vorderpfoten blitzschnell zusammen.

»Was du tun werden, wenn ich anderen Herrn suchen, schnell-schnell?«

»Ich werde mich ärgern und traurig sein«, erklärte Ogor. »Willst du mich verlassen?«

Vorsichtig breitete Primm die hauchdün­nen Flügel aus und kicherte meckernd, stieß einen schrillen Pfiff aus und erhob sich senkrecht zwischen der Tasse und dem Vor­ratsgefäß. Vor Ogors Gesicht hielt er in der Luft an, umklammerte den Schinken und rief:

»Ich warte ab. Wenn du überleben, ich bleiben. Wenn du tot-tot, ich davonfliegen zu anderem.«

Fassungslos blickte Ogor dem Kleinen nach, der im Zickzackflug davonsurrte und seine Beute im hellen Sonnenlicht verspei­

ste, das auf der Brüstung des vergitterten Zellenfensters lag.

Nach einer Weile stapelte Ogor Teller, Becher und Besteck auf das Tablett, schob es zurück in die Öffnung des winzigen Wandschranks und holte sein Schreibzeug hervor. Er hatte während der vergangenen Wochen seine Verteidigung entworfen, oder wenigstens das getan, was er für das richtige Mittel hielt, die Richter zu überzeugen. Nur jetzt gab er sich den Anschein der Ruhe; in­nerlich schwankte er nach wie vor zwischen den beiden Aussichten: Freispruch oder Tod. An die dritte Lösung – seine Lösung! – dachte er im Augenblick nicht.

Der Anwalt kam zwanzig Minuten später. Zwei bewaffnete Wächter blieben auf

dem Korridor stehen, während Doomyh Kiln das komplizierte Schloß öffnete. Aufmerk­sam betrachteten die beiden Augen des Ge­fangenen die beiden Männer in der Zellen­tür. Die Linsensysteme des Kunstauges akommodierten sich und vergrößerten die Gesichter der Männer. Der junge Mann ne­ben Rotnam Tema machte einen unruhigen, gespannten Eindruck. Der Verteidiger schüt­telte die Hand Ogors und erklärte:

»Das ist Ches Prinkmon, Korrespondent von Arkon-Vision. Er wird einen Teil der Berichterstattung über Ihren Prozeß über­nehmen, Ogor.«

Ogor schob seinen Stuhl zurück und stand langsam auf. Er war einen halben Kopf grö­ßer als die beiden Männer. Er hatte lernen müssen, daß es meist besser war, weniger oder nichts zu sprechen. Er entsann sich der Phasen nach den einzelnen Schocks, in de­nen er aus der Kontrolle des Minicomputers erwacht war und festgestellt hatte, daß er ein Mörder geworden war und flüchten mußte.

»Ich verstehe«, sagte er halblaut. »Soll das eine Empfehlung sein, Tema?«

»Gewissermaßen. Der Umstand, daß Ar­kon-Vision sozusagen imperiumsweit über Ihren Prozeß berichtet, kann außerordentlich günstig sein. Ches, sagen Sie ihm, was Sie vorhaben.«

Ches bohrte seinen Blick förmlich in das

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Gesicht des Gefangenen. Er versuchte, eine deutliche Grenze zwischen Prothesen und natürlichen Partien zu erkennen. Ches war fasziniert. Hier sah er zum erstenmal einen Mann, den der Korratz verkrüppelt hatte, und der dennoch wirkte, als ob er gesund wäre. Er versuchte, die innere Lage Ogors zu erraten oder zu erfühlen, aber in den er­sten Sekunden war er vollkommen verwirrt.

»Ich habe … nun, Sie können auf eine faire Berichterstattung rechnen. Ich bemühe mich, vollkommen neutral zu sein. Im Mo­ment sehe ich noch nicht ganz klar.«

»Das zeichnet uns alle aus«, brummte der Verteidiger. »Ist Ihnen etwas Neues einge­fallen, Ogor? In zwei Tagen beginnt die Verhandlung. Ich habe heute früh den Ter­min erfahren.«

»Nichts Entscheidendes, Verteidiger. Sie haben die Kopien aller Niederschriften.«

»Habe ich. Trotzdem bin ich besorgt, Ogor.«

»Ich bin besorgter als Sie, Rotnam!« gab Ogor zurück. »Aus gutem Grund. Keiner weiß, was aus der Arena der Gerechtigkeit auf uns zukommt. Kennen Sie den Richter bereits?«

Der Imperiumsverteidiger war ein integrer Mann. Rotnam Tema würde alles tun, um einen Freispruch für seinen Mandanten zu erreichen. Sein unerreichbares Vorbild Kaarfux würde sicherlich mehr erreichen und mit einem seiner gefürchteten Tricks ar­beiten. Und er würde sicherlich, schneller et­was erreichen. Aber beide Versuche Temas waren von Kaarfux mit einem mürrischen Lächeln abgeschmettert worden.

»Ja. Ich kenne ihn. Ein guter Mann. Thorm von Daccsnor.«

»Das klingt nicht schlecht«, erwiderte Ogor. »Ich habe seinen Namen schon oft ge­hört.«

Ches Prinkmon lehnte an der Wand der Zelle. Er betrachtete schweigend und kon­zentriert den Primm, den Angeklagten und seinen Verteidiger. Er wußte, daß er ein au­ßergewöhnlich scharfer Beobachter war. Die Ergebnisse dieses Umsetzungsvorgangs bil-

Hans Kneifel

deten sein persönliches Geheimnis: Er rief die gespeicherten Informationen ebenfalls unwillkürlich ab und ließ sie jeweils an den besten Stellen in die Berichterstattung ein­fließen. Diese Fähigkeit kennzeichnete ihn, seine Vorgesetzten hatten dies erkannt, und dies konnte anläßlich des Prozesses seine große persönliche Chance sein.

»Er hat einen Ruf, der Ihnen nur nützen kann, Ogor«, sagte der junge Reporter end­lich. »Auf Arkon wird er teils geschätzt, teil­weise mißtrauisch betrachtet. Der Imperator liebt seine ausgeprägte Gerechtigkeit und Gesetztestreue nicht.«

»Mir scheint, sie geben sich meinetwegen ziemlich viel Mühe in der Arena!« murmelte Ogor niedergeschlagen.

»Das ist sicher. Die Arkon-Flotte ist nicht korrumpiert. Wenigstens ihre besten Teile sind ehrlich. Unter diesem Zeichen, denke ich, wird der Prozeß geführt. Haben Sie neue Argumente, Ogor?« wollte der Repor­ter wissen.

»Keine mehr, die etwas ändern. Sie haben alles, Tema.«

»Ich komme morgen wieder, Ogor«, be­merkte der Verteidiger ruhig. »Ich versuche zu tun, was ich kann. Sind Sie überzeugt, daß Sie einen fairen Prozeß bekommen, Ogor?«

»Was Sie betrifft, Tema, bin ich über­zeugt. Vielleicht auch von dem jungen Mann hier. Aber was den Rest betrifft, diese Antwort muß ich vorläufig offenlassen. Wir sehen uns morgen?«

»Ja, natürlich. Etwa um dieselbe Zeit. Und übermorgen sehen wir uns in der Arena der Gerechtigkeit. Lesen Sie Ihre Aufzeich­nungen noch genau durch, Ogor, und suchen Sie nach Argumenten. Außerdem brauche ich noch einige Daten über die ersten Opera­tionen.«

»Sie werden Ihnen morgen vorliegen«, versprach Ogor und schüttelte mit seiner Dreiviertelprothese die Hände der Männer. Primm schwirrte vom Fenster heran, flog ei­nige beängstigende Kreise um Prinkmons Kopf und schwebte zitternd vor seiner Nase.

15 Planet des Gerichts

»Auch er nicht helfen können!« schrillte die Kolibrimaus aufgeregt.

»Das wissen wir alle«, meinte Ches ruhig. »Aber auch ich kann zumindest dafür sor­gen, daß Milliarden von Arkoniden von dem Schicksal Ogors erfahren.«

»Tun Sie's!« pflichtete ihm Ogor ohne er­kennbare Gemütsbewegung bei. Die Wa­chen erkannten, daß die Besprechung zu En­de war. Die Männer verließen die Zelle, Primm klammerte sich an dem Türgriff fest und starrte schweigend in die Öffnungen des Schlosses hinein. Ogor senkte den Kopf, dann drehte er sich herum und blickte zum kleinen Fenster hinaus. Vor ihm und unter ihm lagen die mehrfach gestaffelten Sicher­heitssysteme. Das Fenster befand sich in ei­ner Höhe von nicht weniger als hundert Me­tern als Unterbrechung einer vollkommen glatten Wand aus Arkonstahlplatten. Unter­halb der glatten Mauer breitete sich die dün­ne Schicht aus vergiftetem, sandkorngroßem Mineral aus, über einer massiven Platte aus Stahlbeton. Immer wieder unterbrachen In­duktionssperren und Energiezäune die künstlich angelegte Ebene. Noch niemals war aus diesem Gefängnis jemand entkom­men, und auch nicht aus dem langen Verbin­dungsgang, der unterirdisch zwischen dem Gefängniskomplex und der Arena verlief.

Ruhig starrte Ogor hinaus auf die Fläche, hinter der sich die Waldzone ausbreitete, jenseits der wiederum die Stadtgrenze Ku­tenarynds begann.

Diesmal waren Ogors Gedanken klar und eindeutig. Er schien zu wissen, daß man ihn verurteilen und hinrichten würde. Jetzt, in den Stunden zwischen Morgen und Mittag, wußte er, daß er hingerichtet werden würde. Sein arkonidischer Körper ebenso wie alle die perfekten Prothesen und der Minicompu­ter. Sie würden im Feuer der Strahlenkam­mer vergehen.

»Verdammter Korratz. Die Unschuldigen werden bestraft, nachdem sie acht Jahre lang gelitten haben.«

4.

Nur einen kurzen Moment blickte Rotnam Tema, Ogors Verteidiger, aus dem Fenster und in den flammenden Sonnenuntergang hinein. Immer wieder hatte er die einzelnen Züge seiner Verteidigung durchgearbeitet, hatte mit dem Gerichtscomputer und seinen Helfern gearbeitet und versucht, die Gegen­züge des Anklägers zu erkennen. Nebenher hatten die vier Bildschirme, auf die Nach­richtenagenturen geschaltet, unaufhörlich Meldungen durchgegeben.

Der Verteidiger hatte es noch einmal ver­sucht, Kaarfux zu überreden. Auch dieses Mal hätte er sich den Anruf sparen können, obwohl er bei Kaarfux Spuren von Interesse zu erkennen glaubte.

Tema zuckte zusammen, als er eine plötz­liche Dringend-Nachricht hörte und entspre­chende Bilder sah. Augenblicklich drosselte er die Lautstärke der drei anderen Kommu­nikationsgeräte.

»Soeben befindet sich ein Gefangenen­transport im Anflug auf den Raumhafen des Kontinents Bassakutena. Der Name des Transporters wird mit JERRAWON angege­ben. Eine Meldung der Untersuchungsbe­hörden wird in Kürze erwartet.

Wie gerüchtweise verlautet, sollen einige hundert gefangene Deserteure und Verräter an Bord sein. Man will sie in Serrogat gefaßt haben. Man sagt, daß es Fälle für das Impe­riumskriegsgericht oder das Standgericht wären, aber vermutlich wird die Verhand­lung mit Rücksicht auf den Ogor-Prozeß später angesetzt. Wir melden uns in dieser Sache wieder, sobald mehr Informationen vorliegen.«

Tema pfiff leise durch die Zähne. Aber auch diese neue Entwicklung würde seine Arbeit keineswegs erleichtern.

Er schaltete die vier Kommunikatoren wieder auf gleiche Lautstärke und fuhr fort, an seiner Verteidigung zu arbeiten. Immer­hin hatte er einige wesentliche Fakten her­ausarbeiten können, die alle in eine Rich­tung zielten:

Nach der schwierigsten Operation – es war die achte oder neunte – in der Ogor der

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Mikroprozessor eingepflanzt worden war, konnte niemand Ogor für seine schreckli­chen Morde verantwortlich machen. Und noch etwas: die Morde hatten ausnahmslos auf Planeten stattgefunden, die Monde von beträchtlicher Größe und in regelmäßigen Umlaufbahnen besaßen.

Jedesmal, wenn Neumond war, tötete Ogor … oder der Mikrocomputer.

*

Einige zwanzig Stockwerke oberhalb der Ebene, in der die Anwaltsbüros lagen, be­wegte sich der hagere Mann mit dem kurz­en, weißen Arkonidenhaar die wenigen Schritte bis zu einem Wandbrett, öffnete dort eine Flasche und goß vom Inhalt drei Finger hoch in ein massives Glas. Der Ge­ruch des kostbaren Getränks breitete sich so­fort in dem kleinen Büro aus.

»Wir werden es schwer mit der Wahr­heitsfindung haben, Blascal«, sagte er mit müder, aber fester Stimme. Sein Assistent hob den Kopf und sah in die großen Augen des alten Richters.

»Das ahnten Sie schon, Richter, als man Ihnen den Fall übertrug. Die Wahrheit wird womöglich niemals genau bekannt werden. Allein unsere Akten enthalten eine Anzahl einander widersprechender Fakten. Keine Vermutungen, sondern Beweise. Belegbare und datierte Aussagen, Informationen und Erklärungen. Das einzige, das feststeht, ist …«

Richter Thorm von Daccsnor trank das Glas leer und beendete den Satz.

»… der Umstand, daß Ogor neunmal ge­mordet hat und in jedem Punkt geständig ist. Daran besteht bei niemandem ein Zweifel.«

Sie hörten die aufgeregte zweite Meldung der Pressestelle des Raumhafens, die dies­mal über die interne Dienstleitung kam.

»Die Laderäume der JERRAWON sind voller Deserteure. Acht Schiffe, von Arkon alarmiert, haben mit ihren Landetruppen die Deserteure und Verräter nach verlustreichen Kämpfen gefangengenommen. Der Einsatz

Hans Kneifel

geschah auf Befehl von Orbanaschol III.« Der Richter und der Assistent warfen sich

einen langen Blick zu. Der Zwischenfall schien doch mehr zu sein als nur eine der unzähligen Pannen in der Phase, unter der das Imperium im Augenblick erzitterte.

»Klingt mehr als aufregend!« stellte Blas­cal fest, ein junger Mann mit adlerartigen Gesichtszügen und einem blitzschnell funk­tionierenden Sachverstand.

»Abwarten!« kommentierte der erfahrene Richter.

Die Nachrichtenredaktion setzte den Text­beitrag fort. Mit mühsam gedrosselter Erre­gung fuhr der Sprecher fort:

»Offensichtlich hat ein arkonidischer Edelmann, dessen Namen von dem Leiter der Einsatzkommandos mit Helcaar Zunth angegeben wird, auf Serrogat eine Privatar­mee von abrufbereiten Söldnern aufbauen wollen. Das Depot wurde gefunden und zer­stört. Die TUUMAC schien von den wirkli­chen Vorgängen unterhalb eines ihrer offizi­ellen Depots nichts zu ahnen; das Depot wurde in Mitleidenschaft gezogen.

Der Imperator hat daraufhin angeordnet, daß auf dem schnellsten Weg in der Arena der Gerechtigkeit ein Standgericht zusam­mentreten und die Verräter verurteilen soll. Die Urteile sind auf Anordnung von Arkon ebenfalls unmittelbar nach dem Urteils­spruch zu vollziehen. Der Kristallpalast wünscht, daß in Zeiten der nachlassenden Kampfmoral ein Schauprozeß durchgeführt wird.

Sonnenträger Twellzock, der Komman­dant der JERRAWON, hat angeboten, Mit­glieder der eigenen Kommandoeinheiten als Bewachungspersonal zu stellen.

Das Schiff ist gelandet. Sämtliche Gefan­genen werden schwerstens bewacht nach Celkars Gefängniskomplex gebracht. Weite­re Meldungen folgen.«

Endlich sagte der Richter leise: »Die Öffentlichkeit wird diese Meldungen

vermutlich noch heute nacht, spätestens morgen früh erfahren, einen Tag vor Prozeß­beginn.«

17 Planet des Gerichts

»Trotzdem bin ich sicher, daß der Schau­prozeß unsere Vorbereitungen nicht unter­brechen wird. Die Institution, selbst wenn sie so hervorragend funktioniert wie die Or­ganisation dieses Hauses, braucht einige Zeit. Das beginnt mit der Feststellung der Namen.«

»Sie haben recht. Machen wir weiter.« Beiden Männern wäre auch ohne ihre

langjährige Erfahrung und ohne juristischen Instinkt klargeworden, daß keiner der Hun­derte von Verrätern den nächsten Monat überleben würde. In solchen Dingen tobte sich der Imperator aus, und er brauchte einen solchen Schauprozeß, der seine schwindende Macht festigen konnte.

* GEDANKENPROTOKOLL ATLAN:

Ich konnte mich ebenso wenig rühren wie die anderen dreißig Insassen dieses gepan­zerten Gleiters. Das Fahrzeug bewegte sich, von einigen Beibooten des Schiffes ge­schützt und eskortiert, in rasender Ge­schwindigkeit etwa dreihundert Meter über dem Boden des Planeten dahin.

Ihr wißt, wohin man euch bringt! sagte der Logiksektor warnend.

Twellzock hatte mit kalter Stimme über Lautsprecher mitgeteilt, daß der Gefängnis­komplex von Celkar für uns der Vorhof des Todes sein würde.

Dort vorn tauchte das Gefängnis auf. Es war eindeutig als abstoßender Fremdkörper in der Landschaft konzipiert worden. Schon äußerlich wirkte er wie eine uneinnehmbare stählerne Festung; ein Rundkegel in einer graugelb funkelnden Ebene, die wie von den Mauern eines Labyrinths durchzogen aus­sah.

Fartuloon, noch immer unerkannt wie ich, saß mehrere Reihen hinter mir. Im Augen­blick war es sinnlos, mit ihm in Verbindung treten zu wollen, denn dadurch würde nichts sich ändern.

Das letzte Sonnenlicht funkelte auf den Mauern der Festung. Sie schienen aus Stahl

zu sein oder waren zumindest mit Stahl be­schichtet. Das Gefängnis war mindestens zweihundert Meter hoch, die Mauern zogen sich schräg und völlig glatt zurück, wie der Fuß eines gigantischen, waagrecht abge­schnittenen Kegels. Viele Reihen kleiner Fenster zogen sich rund um den Komplex. Als sich der Gleiter näherte, erkannten dieje­nigen von uns, die noch nicht apathisch ge­worden waren oder schliefen, daß es einen ebenso tiefen Innenhof zu geben schien, auch wieder mit schrägen, völlig glatten Stahlwänden. Einige Panzerkuppeln und die Markierungen für Gleiterlandeplätze unter­brachen den dunkelgrauen Kreisring, der das Dach dieses Komplexes bildete. Der Ver­such, von dort auszubrechen, schien absolut hoffnungslos zu sein.

Auch Fartuloon oder Premcest mußte dies in diesen Sekunden erkennen. Natürlich be­schäftigten sich unsere Gedanken ununter­brochen mit den verschwindend wenigen Möglichkeiten, unerkannt zu entkommen.

Und: wir hatten niemanden, der uns von außen helfen konnte.

Denkst du an eine Revolte? erkundigte sich der Extrasinn.

Gedanken oder Überlegungen dieser Art lagen nahe. Ich wußte, daß es zwischen in­nen und außen, zwischen der scheinbaren Uneinnehmbarkeit dieses stählernen Gefan­genenforts und den Korridoren, Gängen, Räumen und den zahllosen Winkeln einen Unterschied gab. Er konnte sich letzten En-des zu unseren Gunsten auswirken.

Erst einmal mußten wir diese Möglichkei­ten kennen …

Der Gleiter ging tiefer, verringerte seine Geschwindigkeit und steuerte auf einen Be­grenzungsmast zu, dessen Signallichter blinkten. Die Beiboote der JERRAWON ka­men bedrohlich näher. Wir konnten erken­nen, daß die Schutzklappen vor den Ge­schützprojektoren zurückgefahren waren. Sie gingen wirklich kein Risiko ein, ebenso wie während der mehr als hundert Lichtjahre des Fluges hierher.

Vorsichtig steuerte der Gleiter die Lande­

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markierung an. Wir konnten die Stimme des Piloten hören, der sich mit der Kontroll­mannschaft des Turmes unterhielt.

Dann landeten wir. Die Türen öffneten sich, die schweigenden Wächter sprangen heraus und entsicherten ihre Waffen. Aus dem glatten Boden des Daches schoben sich drei würfelförmige Metallkäfige heraus. Nachdem die schweren Türen zur Seite ge­fahren waren, erkannten wir, daß es Lifts waren.

»Herauskommen. Jeweils zehn Männer in einen Lift!« sagte der Pilot über Lautspre­cher. »Fluchtversuche sind sinnlos. Es gibt nur diese Einstiege.«

Er hatte recht. Das kreisringförmige Dach war flach und eben. Es gab nicht einmal ein Geländer oder eine Brüstung. Entweder ver­dursten oder verhungern oder vorher der Ab­sturz über die glatten Wände. Andere Chan­cen gab es nicht. Wir schoben uns aus dem Gleiter heraus und auf die Lifts zu. Fartu­loon und ich – oder Lothor und Premcest – bewegten uns so geschickt, daß wir die er­sten im dritten Lift waren. Die Kabine raste wie ein Geschoß fauchend in die Tiefe. Wir zählten mit und rechneten. Vermutlich wa­ren wir, als die Kabine mit starker negativer Beschleunigung abbremste, etwa auf dem Niveau des Bodens angelangt.

Wir befanden uns in einem schmalen Gang, der voller robotischer Einrichtungen war.

Stimmen ertönten, Lichtpfeile flammten auf, Absperrgitter und Strahlenschirme trie­ben die einzelnen Gruppen in verschiedene Richtungen. Zusammen mit acht anderen Männern kamen Premcest und ich in eine große, saubere Zelle, in der es sogar Kom­munikationsschirme gab, hinter dicken Pan­zerglasscheiben vor Zerstörung geschützt. Die schmalen Pritschen waren mit sauberer Einwegwäsche überzogen. Wir setzten uns schweigend und sahen alle gleichzeitig zu der massiven Tür hin, die sich geräuschlos schloß.

»Aus dieser Festung, Freunde, kommen wir nur dann wieder hinaus, wenn es die an-

Hans Kneifel

deren erlauben. Und nach allem, was wir wissen, wird es niemand erlauben.«

»Keine Vollstreckung ohne Urteil!« brummte ein anderer Gefangener. Aus der Ecke lachte jemand sarkastisch.

»Sie werden uns verurteilt haben, noch ehe wir uns hier häuslich eingerichtet ha­ben«, sagte ich. »Unsere einzige Chance, ei­ne Änderung unserer Lage herbeizuführen, liegt vor den Schranken des Gerichts.«

Wir mußten als sicher annehmen, daß die­ser Raum beobachtet und schärfstens abge­hört wurde. Auf keinen Fall durften wir un­sere vorläufige Verkleidung preisgeben. Wir waren nichts anderes als zwei Gefangene aus der großen Schar.

»Meinst du«, erkundigte sich Premcest spöttisch, »daß sie übergroße Milde walten lassen werden?«

Ein Summer ertönte, dann knarrte eine Roboterstimme und unterbrach die Unterhal­tung der zehn Gefangenen.

»Sie finden neben der Tür zehn numme­rierte Fächer. Sie öffnen sich auf Knopf­druck. In den Fächern findet sich Essen und alles Nötige für die nächsten Tage. Rechts und links der Zelle führen die schmalen Tü­ren in die Hygieneräume. Die Gefangenen behalten die kennzeichnenden Nummern für die Dauer des Aufenthaltes. Die Fächer sind öffnungsbereit.«

Gleichzeitig leuchteten Zahlen von eins bis zehn auf. Premcest und ich nahmen die Nummern sechs und sieben. Die Fächer ent­hielten in Einwegverpackung die angekün­digten Dinge.

Leise sagte Premcest: »Wir haben mindestens ein paar Tage Ru­

he. Vielleicht fällt uns etwas ein, das unsere Chancen verbessert.«

Ich bezweifelte es.

*

In dem dunklen Raum herrschten Ruhe und Dämmerlicht; beides waren Faktoren, die Axton brauchte, um sich konzentrieren zu können. Er lag scheinbar entspannt in sei­

19 Planet des Gerichts

nem Spezialsessel und hielt in den Fingern die Fernsteuerung für mehrere seiner Nach­richtengeräte. Aber er betätigte keinen der vielen Regler, denn der Text, den er seit ei­nigen Minuten las, war mehr als erregend.

Heute, am Vorabend des Prozeßbeginns, waren die Informationen über den unglückli­chen Kommandanten Ogor einigermaßen vollständig.

Auf dem Bildschirm wechselten Aufnah­men, kurze Filmberichte und Schriftzeilen einander ab. Mit ungeteilter Aufmerksam­keit studierte Lebo Axton die Fakten und In­formationen. Er war erregt; das Problem Ogors war fast sein eigenes, nur daß er keine Morde begangen hatte.

In seiner realen Zeit lebte er selbst in ei­nem Robotkörper, und es gab vermutlich in­nerhalb des Imperiums keinen zweiten, der die Probleme Ogors besser beurteilen konnte als er selbst, Lebo Axton.

»Es ist grotesk!« flüsterte er. Er kannte den Namen und den Ruf des

Richters. Er hatte ein Dossier über den Hauptverteidiger gelesen, und er war über­zeugt, daß selbst Orbanaschol einen fairen Prozeß gegen Ogor nicht verhindern konnte. Der Mann tat ihm leid; er suchte nach einer Möglichkeit, ihm zu helfen.

Im Augenblick verfolgte er diesen Gedan­ken nicht weiter, sondern konzentrierte sich auf die Aussagen der verschiedenen Teil­nehmer. Schließlich sah er auch die Angehö­rigen des kleinen Teams von Arkon-Vision, die über diesen Prozeß berichten würden. Auch diese Leute schienen ihm weitgehend neutral zu sein.

Die Organisation hatte diese Informatio­nen zusammengestellt. Sie gingen weit über das hinaus, was die Allgemeinheit erfuhr. Als Axton auch das letzte Datum und die ge­ringste Information verarbeitet hatte, tippte er auf einen Schalter in der Armlehne seines Sessels und sagte kurz:

»Diktat – Aufnahme. Schnellste Übermittlung über Dienstlei­

tungen nach Celkar, an den Obersten Richter und die Gnadenkammer. Auf meine Verant­

wortung und mit sämtlichen Qualifikatio­nen. Kopie an Richter Thorm von Daccsnor. Text:

Hiermit reiche ich ein Gesuch um Begna­digung in der Strafsache Imperium versus Ogor ein. Wie sämtliche Erfahrungen unse­rer Behörde ergeben haben, sind Prothesen der geschilderten Art und erst recht ein Mi­kroprozessor in engster Verzahnung mit der Gehirnsubstanz des Angeklagten durchaus dafür verantwortlich zu machen, daß er ohne sein Wollen, als Abhängiger von kyberneti­schen Prozessen, schuldig wurde. Begrün­dung: siehe Anlage.

Ich stehe jederzeit uneingeschränkt zur Verfügung, um für den Angeklagten einzu­treten. Trotz meiner chronischen Überbe­schäftigung nähme ich auch als vorgelade­ner Zeuge an dem Prozeß teil …«

Mit äußerster Akribie schilderte er das un­lösbare Dilemma, das Ogor zum mehrfachen Mörder gemacht hatte. Er ließ sich die Zei­len mehrfach vorlesen, korrigierte das Gna­dengesuch mehrmals und überspielte dann den gesamten Text in sein Büro.

Axton wußte, daß das Gnadengesuch bin­nen weniger Minuten unterwegs in die Are­na der Gerechtigkeit sein würde. Sein Wort bedeutete viel und wog schwer – aber würde dieses Gesuch an der voraussichtlichen Ver­urteilung des Pseudocyborgs etwas ändern können?

Lebo Axton wandte seine Aufmerksam­keit schlagartig einem anderen Problem zu.

Er gab die gesamten Informationen zu­rück in die gesicherten Speicher seiner Dienststelle und schaltete eine Geheimlei­tung ein.

Ein Arkonide tauchte auf; ein Mann mit ruhigem Gesicht und voller Gelassenheit.

»Wessalock«, murmelte Axton. »Sie sind Majordomus des sogenannten Gartenpavil­lons des Imperators. Was gibt es Neues?«

»Nichts Neues, Axton. Wir verwalten ein leeres Haus. Orbanaschol igelt sich im Kri­stallpalast ein. Er hat seinen Landsitz seit langer Zeit nicht betreten. Mehr kann ich Ih­nen nicht sagen.«

20

Lebo Axton blickte in das schmale Ge­sicht und nickte wohlwollend.

»Ich danke Ihnen. Ich kann mich weiter­hin auf Sie verlassen?«

»Selbstverständlich. Ich melde mich – verfügen Sie in entsprechender Weise über mich.«

»Das werde ich tun, aber nur im Notfall. Leben Sie wohl, Majordomus Wessalock.«

»Leben Sie wohl, Axton.« Der Bildschirm wurde wieder dunkel. Le­

bo Axton entspannte sich für wenige Augen­blicke und verfluchte den Imperator, der nichts anderes war als ein Tyrann, der in sei­nen letzten Zügen wild und unbeherrscht um sich schlug.

Der Saal war nicht sonderlich groß, aber jeder der zweihundertfünfzig Zuschauersitze war besetzt. Richter von Daccsnor thronte jenseits der leicht erhöhten Barriere. Er trug eine hochgeschlossene helle Uniform, und sein Gesicht wirkte ebenso streng wie die rechtwinklig geschnittene Jacke. Alle wich­tigen Personen warteten schweigend auf den Angeklagten und seinen Verteidiger, und Ches Prinkmon fühlte, wie seine Handflä­chen feucht wurden. Er befand sich in einer der schalldichten Kanzeln und konnte eben­so gut jedes Gesicht der Zuschauer erken­nen, wie er die Reihe der Richter, Beisitzer und Assistenten mustern konnte.

Rotlicht! Die Kamera schwang herum. Im Kopfhö­

rer von Ches Prinkmons Ausrüstung flüster­te die Stimme des Chefs:

»In fünfzehn Sekunden gehen wir direkt auf Sendung, Ches!«

Ches flüsterte in sein Mikrophon, das am federnden Bügel vor seinen Lippen zitterte:

»In Ordnung. Ich fange mit Daccsnoran.« »Los!« Auf dem Kontrollmonitor konnte Ches

die Bilder der noch handgesteuerten Kamera sehen. Die Zeitnahme lief am rechten Bild­rand mit. Aderlohn Dharr war ein Könner in der Bildführung; er zog den Zoom so lang­sam, daß gerade, als Ches zu sprechen an­fangen konnte, das würdevoll beherrschte

Hans Kneifel

Gesicht des Richters und Gerichts-Vor­sitzenden in perfektester Vergrößerung das Bild ausfüllte. Plötzlich befiel eine tröstliche Ruhe den jungen Reporter, und er sagte ebenso ruhig:

»Dieser Mann, Richter Thorm von Daccs­nor, wird in den nächsten Tagen die Szene beherrschen. Von ihm hängt jede Minute die Führung einer der wichtigsten und aufre­gendsten Verhandlungen ab, die je in diesem Haus geführt worden sind.

Wir befinden uns kurz vor Beginn des Prozesses. Das Imperium versus Ogor.«

Die Kamera schwenkte langsam über die Gesichter der Zuhörer, verweilte hier und dort auf einem Assistenten, einer kyberneti­schen Einrichtung oder einem Beisitzer. Nacheinander gab Ches kurze, charakterisie­rende Bemerkungen über die einzelnen Männer und Frauen, die im Prozeßverlauf wichtig werden würden. Dann leuchtete ne­ben einer Panzertür ein flackerndes Rotlicht auf.

»Die Kamera zeigt das Signal. In wenigen Sekunden wird sich die Tür öffnen, und der unglückliche Angeklagte betritt neben sei­nem Anwalt, dem bekannten Rotnam Tema, einem Strafverteidiger, der schon die Pro­zesse Imperium versus Sonnenträger Waales und die Revision der Verhandlung Kolonial­planeten gegen Administration gewinnen konnte. Als ich vor kurzer Zeit mit Tema über die Aussichten sprach, meinte er, skep­tische Vorsicht sei die beste Antwort.«

»Hier sind sie.« Ogor kam herein, nachdem sich die Pan­

zerplatte in die Decke zurückgezogen hatte. Er trug die Flottenkombination ohne jede Verzierung oder Auszeichnung. Er wirkte auf etwas maskenhafte Weise starr und über­haupt nicht vom Korratz gezeichnet. Auch als er sich mit Hilfe seiner vielen unsichtba­ren Prothesen auf seinen Platz zubewegte, konnte keiner der Anwesenden erkennen, daß er zu einem großen Teil nicht aus Gewe­be, Knochen, Muskeln und Organen be­stand.

Ein großer, schlanker, fast hager wirken­

21 Planet des Gerichts

der Mann mit eingefallenen Wangen und tie­fen Kerben zwischen Augen und Kinn. Kur­zes, silbernes Haar, an zwei Stellen ersetzt oder gefärbt, denn da waren es dunkle Bah­nen, die sich bis zum Nacken hinzogen. Er hatte sehr lange Finger, die sich unruhig be­wegten, als er den Richter mit einer Verbeu­gung begrüßte und die Lehnen des Sessels umklammerte, in den er sich hineinfallen ließ. Schräg vor ihm nahm der Anwalt Platz.

»Die Kamera zeigte Ihnen Kommandant Ogor. Bevor seine persönliche Tragödie, de­ren vorläufiger Endpunkt sich hier und jetzt zeigt, ihren Verlauf nahm, war er ein ange­sehener Kommandant. Seine wagemutigen Einsätze waren Vorbild für einige Jahrgänge der Kadettenakademie.

Er hat neun Morde gestanden. Täuschen Sie sich nicht, meine Damen

und Herren. Auch die beste Kamera von Ar­kon-Vision kann Ihnen nicht zeigen, daß dieser Mann dort unten aus mehr als einem Drittel Prothesen besteht. Finger und Zehen, Handgelenke, Schienbeine und Knie, Ellbo­gengelenke und Teile der Wirbelsäule sind Prothesen, täuschend nachgeahmt, ein Tri­umph unserer Biomechaniker. Und sein Ge­hirn, sein Verstand – sie sind zu einem be­stimmten Teil nichts anderes als ein winzi­ger Computer, ein Mikroprozessor, also ein Gerät, wie es Ihre Gleiter auf einer Schnell­piste steuert oder die Temperatur Ihrer Woh­nung. Das ist die eigentliche Tragödie.

Wir werden im Verlauf der nächsten Ta­ge, womöglich Wochen, jeden einzelnen Punkt dieser erstaunlichen Wahrheit erör­tern. Ich werde versuchen, Sie durch das verwirrende Geschehen zu begleiten.«

Dharr schwenkte die Kamera herum und richtete wieder die Linsensätze auf den Richter. Thorm stand auf und sagte:

»Hiermit eröffne ich die Verhandlung. Der Prozeß das Imperium versus Komman­dant Ogor beginnt.«

5.

Auf eine ganz bestimmte Weise waren die

ersten zwei Stunden die wichtigsten der ge­samten Verhandlung.

Thorm von Daccsnor schlug eine Akte auf und bat den Angeklagten, seine Identität zu bescheinigen und zu erzählen, wie es nach seiner Auffassung zu den Morden gekom­men wäre. Atemlose Spannung herrschte, als Ogor mit einer Gelassenheit, die von al­len mit Verwunderung aufgenommen wur­de, seinen Lebensweg schilderte. Schließlich sagte er:

»Immer wieder, wenn mich der Korratz befiel, habe ich gedacht, daß ich das Schlimmste bereits hinter mir hätte. Die ra­senden Schmerzen, die mich in ein willenlo­ses Bündel aus Schreien, unkontrollierten Bewegungen und dem Wunsch verwandel­ten, mich selbst umzubringen, steigerten sich aber. Niemals hatte ich das Gefühl, daß die vorhergehenden Schmerzen geringer ge­wesen wären. Ich litt unbeschreiblich.«

An dieser Stelle hob Richter Thorm von Daccsnor die Hand, gleichzeitig stand der Verteidiger Tema auf.

Thorm lächelte dem Verteidiger knapp zu und sagte:

»Ich nehme an, Herr Verteidiger, daß Sie das Gutachten des Obersten Flottenarztes zi­tieren wollen?«

»Genau das hatten wir vor, Euer Ehren!« bestätigte Tema. Ches benutzte die entste­hende kurze Pause und sagte:

»Wir kennen den Inhalt dieses Gutachtens nicht. Aber jeder, der sich auch nur kurz mit dem langen und einzigartigen Leidensweg des Kommandanten Ogor befaßt hat, wird zu Recht erwarten, daß dieses Gutachten be­scheinigt: nur wenige Arten von Schmerzen sind nachweislich so folternd und so wahn­sinnserzeugend wie die Schmerzempfindun­gen, die in den ersten Tagen eines neuen Korratz-Anfalls den Betroffenen heimsu­chen.«

Die Kamera schwenkte zwischen Ogor, Daccsnor und dem Verteidiger hin und her und richtete sich dann auf einen Assistenten, der das lange Gutachten vorlas.

Zweifellos hätte man auch ein Band ab­

22

spielen oder einen Multimediaprojektor ein­schalten können, aber bei Gerichtsverfahren dieser Wichtigkeit galten die alten, fast ar­chaischen Regeln des Imperiums. Sozusagen Handarbeit, ehrlichste und direkteste Ver­mittlung von Fakten und Informationen, die allerdings dazu geeignet waren, die Wahr­heit zumindest zu betonen, zu unterstrei­chen, und scheinbar unwichtige Fakten in ihrer wirklichen Bedeutung zu mindern oder zu mildern.

Für den Angeklagten bedeutete dieser al­tertümliche Verhandlungsstil, daß er keine maschinenhafte Urteilsbegründung erhielt; seine Chancen standen und fielen mit der Geschicklichkeit des Verteidigers bezie­hungsweise des Anklägers, der bemerkens­werterweise noch kein einziges lautes Wort von sich gegeben hatte.

Jeder der am Prozeß Interessierten inner­halb dieses Saales kannte den Namen Tharn­drafts, aber niemand – außer Richter Daccs­nor – hatte ihn jemals persönlich in Aktion erlebt. Ches hatte sich informiert: Tharndraft war ein Anhänger der alten Zeiten, konser­vativ, aber dem Naturrecht stärker verhaftet als der moderneren, computergestützten Me­chanistik des modernen Justizapparats. We­nigstens Ches rechnete sich auch durch die­sen Umstand mehr und bessere Chancen für Ogor aus.

Er hatte niemals einen Hehl daraus ge­macht, daß er einen Freispruch oder wenig­stens ein formelles, aber mildes Urteil er­wartet. Ganz sicher wünschte er dies. Aber er ließ sich durch seinen Wunsch nicht be­einflussen und schilderte so objektiv wie möglich, was vor und unter ihm geschah.

Nach knapp zwei Stunden hielt der Chef, Fimm Monhole, einen Zettel hoch:

Einschaltquote 72 stand darauf. Es bedeutete, daß von theoretischen hun­

dert Visiphonen zweiundsiebzig eingeschal­tet und auf diesem Programm waren. Für das Team von Arkon-Vision eine Warnung und eine Auszeichnung gleichermaßen: aller­dings hatte sich auch Celkar-TV an diese Berichterstattung angehängt und auf eigene

Hans Kneifel

Korrespondenten im Gerichtssaal verzichtet. Dafür übernahmen die mobilen Teams der planetaren Station alle Berichte von außer­halb der »Arena«.

Kurz drehte sich Ches herum und hielt die Hand mit nach oben gestrecktem Daumen den grinsenden Kollegen entgegen.

Das Gutachten war in einer Zeit von fünf­undzwanzig Minuten verlesen worden.

Darin bestätigte immerhin ein Arzt, der sicherlich kein Interesse daran hatte, daß Mörder in der Imperiumsflotte die Schlacht­schiffe lenkten, die Schilderung des Ange­klagten: es gab objektiv keinen Schmerz, der grausamer war als derjenige eines Korratz-Anfalls.

»Danke«, sagte der Richter. »Der Anklä­ger hat das Wort.«

Tharndraft stand auf. Es war ein alter, breitschultriger Mann, wuchtig und massig. Sein Kopf war fast kahl, einige Narben machten sein Gesicht zu einer Maske, und als er zu sprechen begann, drang seine Stim­me ohne die Hilfe von Mikrophonen und Verstärkern in die hinterste Ecke des Raum-es. Er hatte einen heiseren Baß.

»Ich vertrete die Anklage, und die Ankla­ge gegen diesen Mann lautet auf neunfachen Mord. Unbestritten ist, daß Ogor jeden Mord zugegeben hat. Die Einzelheiten seines Ge­ständnisses, das weder widerrufen noch mo­difiziert wurde und in völlig freier Schilde­rung vorliegt, ohne nachdrückliche Befra­gung oder gar Folter abgegeben und bestä­tigt wurde, sind durch die Fakten der Ermitt­lungen in jedem Punkt bestätigt und gesi­chert.

Mit Betroffenheit habe ich die Schilde­rung des Lebens von Kommandant Ogor ge­hört. Ich anerkenne jedes Wort des ersten Gutachtens. Trotzdem erhebt sich für die Anklage die Frage, wo der schwierige und schmerzvolle Prozeß, den wir ›Korratz und Folgen‹ nennen wollen, aufhört. Und noch mehr interessiert mich, wie dieser leidge­prüfte Mann zum neunfachen Mörder wer­den konnte.«

Tema hob die Hand und fuhr nach einem

23 Planet des Gerichts

Nicken des Richters fort: »Ich stelle fest, daß bis zu diesem Punkt

kein Einspruch von Seiten der Anklage er­folgt ist.«

»Die Anklage steht nicht an, alles bisher Vorgebrachte als belegbare und durch Fak­ten zu bestätigende Wahrheit anzusehen.«

»Der Verteidigung liegt jetzt ein Schrift­stück der Imperiumsklinik auf Iacupos III vor. Dieses Schriftstück, von den dortigen Behörden beeidigt und bestätigt und per Ku­rier hierherverbracht, schildert die unzähli­gen Operationen.

Sie wurden fast immer von denselben Spezialisten ausgeführt, die jedesmal einen anderen Körperteil des Angeklagten operier­ten und durch eine Prothese ersetzten.«

Tharndraft entgegnete: »Eine Kopie dieses Schriftstücks liegt der

Anklage vor.« »Anerkennt die Anklage«, fragte der As­

sistent Temas, »die Richtigkeit der in die­sem Dossier geschilderten Informationen?«

»Die Anklage hat im Augenblick keiner­lei Möglichkeit, über Richtigkeit oder das Gegenteil zu entscheiden. Aber wir beziehen uns auf die Bestätigung der Behörden. Wir melden keinen Zweifel an. Zweifel bezüg­lich der Daten, an denen die erwähnten und im einzelnen geschilderten Operationen durchgeführt wurden, sowie die Natur der einzelnen Operationen. Erhärtet wird diese Schilderung dadurch, daß die Rehabilitati­onsärzte angaben, welche Zeit und welche Art von Übungen benötigt wurden, um die Prothesen in den Körper des Angeklagten zu integrieren.«

Tema sagte schnell: »Die Anklage meldet keinerlei Bedenken

an, dieses Schriftstück betreffend? Dazu ge­hört ein Filmstreifen. Dazu gehört ferner ei­ne Folge von Aufnahmen, die sich aus­nahmslos auf ersetzte Glieder, Hautstücke, Gewebeflächen und innere Organe bezie­hen?«

»Keinerlei Bedenken. Wir akzeptieren die Aussage der zitierten Behörden und der zi­tierten ausführenden Mikrochirurgen.«

»Die Verteidigung dankt der Anklage!« Tema setzte sich wieder. »Durch dieses einigermaßen verwirrende

Wortgefecht, das uns allen bestätigte, daß sowohl Verteidigung als auch Anklage den Tatbestand nicht in Zweifel ziehen, ergibt sich folgende Situation:

Lebensweg, Infektion mit Korratz, dieser Körpersubstanz vernichtenden Krankheit, die rasenden, sich steigernden Schmerzen der einzelnen Anfälle, die Operationen und das Training mit den neuen Prothesen – das alles wird von der Verteidigung und erst recht von der Anklage als Wahrheit, als er­wiesene Tatsachen angenommen. Dies be­deutet für Ogor, daß an seiner Schilderung der Umstände keinerlei Zweifel besteht. Niemand wird ihm beispielsweise im Fort­gang des Prozesses vorwerfen, daß er sich vor der Ansteckung hätte schützen können oder daß er hätte vermeiden können, daß dieses oder jenes Körperteil schließlich ver­dorrte und abfiel. Die bisher vorgelesenen Tatsachen werden von beiden Parteien als wahr befunden.

Darüber wird während des gesamten Pro­zesses nicht mehr gesprochen oder verhan­delt. Aber es kann sein, daß sich sowohl Verteidigung als auch Anklage auf einzelne Punkte beziehen, um etwas abzustreiten oder zu bestätigen.

Schon jetzt, liebe Zuschauer, läßt sich er­kennen, daß sich die Auseinandersetzung auf einen einzigen Punkt konzentrieren wird.

Dies kann nur im Sinn der Verteidigung sein.

Der Punkt ist, ob Ogor oder der Compu­terverstand stärker waren. Es geht, um es noch einmal zu unterstreichen, um die Ver­antwortlichkeit. Und um neun Morde.

Ein Detail am Rand. Von den neun Op­fern waren drei jüngere Frauen. Wir werden im Lauf der Verhandlung erfahren, wie die einzelnen Morde geschahen, wo sie gescha­hen, und wie die näheren Umstände dieser Verbrechen waren. Die ersten Züge dieses Spiels der Gerechtigkeit haben wir alle mit­erlebt.

24

Ich persönlich rechne mit mindestens fünfzehn Sitzungen, ehe das Urteil verkün­det wird. Es gibt keine Einspruchs- oder Re­visionsmöglichkeit mehr, wenn die Ver­handlung vor diesem Gremium stattfindet. Aber jetzt wird der Richter etwas sagen, und wir sollten uns alle auf ihn und seinen Ein­wand konzentrieren.«

Bisher, das wußte Ches Prinkmon, war die Reportage in allen Teilen perfekt gewor­den.

Die einzelnen Beteiligten waren vorge­stellt. Viele von ihnen hatten charakteri­stisch agiert, so daß die Persönlichkeiten den Zuschauern im Gedächtnis bleiben würden. Er selbst hatte mit bisher unbekannten Infor­mationen die Personen schärfer gezeichnet und plastischer herausgebracht. Das Publi­kum hatte jetzt sowohl Identifikationsmög­lichkeiten, und es konnte auch Sympathien oder Antipathien für den eigenen Stand­punkt suchen und finden.

Tharndraft, der Ankläger des Imperiums, meldete sich zu Wort. Der Richter erteilte ihm Sprecherlaubnis. Der wuchtige Mann sagte dröhnend:

»Langsam nähern wir uns dem Kernpro­blem. Die Anklage behauptet, daß es für den Angeklagten in jeder Sekunde der Versu­chung möglich war, mit freiem Willen zu entscheiden.«

»Die Verteidigung hat Beweise, daß exakt das Gegenteil der Fall war!« rief augenblick­lich der Verteidiger und sprang wieder auf. Murmelnd kommentierten die Zuschauer und Prozeßbeobachter diese überraschende Wendung der Anklage.

»Beweise?« fragte Tharndraft nicht ohne Sarkasmus.

»Dem Gericht liegt das Gutachten der Obersten Behörde für Kybernetik und Nach­richtenwesen vor.«

»Sie meinen sicher Beweisstück Null­drei?« erkundigte sich ein Assistent. Tema nickte und rief:

»Genau dies meine ich. Diese Abhand­lung schildert die Abhängigkeit biologischer Strukturen eines Cyborg-Systems von dem

Hans Kneifel

Diktat der angeschlossenen oder integrierten Rechenmaschinen.«

»Dieses Beweisstück liegt auch der An­klage vor?« fragte der Richter unbewegt.

Ogor saß scheinbar völlig ungerührt in seinem Sessel. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte einmal dort­hin, einmal dahin. Er tat, als gehe ihn dies alles absolut nichts an. Aber als ihn Ches nä­her ins Auge faßte und kurz darauf die Ver­größerung auf seinem Monitor in Ruhe stu­dieren konnte, begann er zu ahnen, daß diese Beherrschtheit zur Hälfte auf die regungslo­se Gesichtsplastik zurückzuführen war und nur im geringen Maß auf die Seeelenruhe des Angeklagten. Man näherte sich tatsäch­lich dem entscheidenden Punkt. Wer war verantwortlich? Der Minicomputer? Das durch Korratz geschädigte Hirn, der Sitz von Verstand, Erziehung und letztlich von Mo­ral? Oder die Kombination von beidem?

»Die Abhandlung liegt auch der Anklage vor. Aber die Anklage betrachtet dieses Bündel von Papier nicht als Beweis.«

Tharndraft war völlig kalt als er diesen Satz aussprach.

»Die Auseinandersetzung tritt offensicht­lich in ein entscheidendes Stadium ein«, er­klärte der Richter.

»Gehen wir empirisch vor«, rief Rotnam Tema. »Ich rufe Ogor auf. Er soll uns be­richten – siehe dazu das Beweisstück Nul­lacht – wie einer der Korratz-Anfälle seine Hirnsubstanz angriff und zum Teil zerstör­te.«

Der Richter hob ein weiteres Bündel zu­sammengehefteter Schriftstücke hoch und sagte laut:

»Fakten und Daten sind hier enthalten. Ich bitte die beiden Parteien, während der Erzählung die bestätigten Fakten herauszu­arbeiten.«

»Wir werden diese Aufforderung beherzi­gen!« bekräftigte Tharndraft.

»Da dieser Punkt einer der vielen ent­scheidenden Faktoren der Verteidigungsstra­tegie ist, haben wir uns der Wichtigkeit und der Nachprüfbarkeit dieser Informationen

25 Planet des Gerichts

versichert. Ogor, würden Sie uns schildern, was am …«, er schlug nach und nannte ein Datum, »… wirklich passierte?«

»Dient dieser Bericht der Wahrheitsfin­dung?« fragte Ogor.

»Unbedingt. Ich würde Sie sonst nicht um diesen Bericht bitten«, bestätigte Tema un­ruhig, aber mit unverkennbarem Optimis­mus.

»Einverstanden. Hören Sie gut zu, meine Damen und Herren …«, begann Ogor. Er er­hob sich langsam und gab mit ruhiger Stim­me seinen Bericht ab. Die verzweifelte Ruhe stand in krassem Gegensatz zu den Informa­tionen und Fakten, die jeder im Saal und je­der der Fernsehzuschauer hören konnte.

Eine gräßliche, niederschmetternde Er­zählung. Eine krude Horrorgeschichte, die den verzweifelten Vorzug hatte, der Wahr­heit zu entsprechen und keinerlei phantasti­sche Elemente zu beinhalten.

Ogor schilderte, wie ihn der Schmerz überfallen hatte, als er gerade mit seinem Zerstörer einen Angriff gegen eine zahlen­mäßig stärkere, aber schwerfällig operieren-de Methanatmerflotte geflogen hatte. Plötz­lich überfiel ihn wieder der Schmerz, ob­wohl er vor wenigen Tagen erst aus der Flot­tenklinik entlassen worden war und ihm die Ärzte versichert hatten, er habe nun minde­stens ein halbes Jahr absolute Ruhe vor dem Korratz. Der Anfall verwandelte ihn aber­mals in einen hilflosen Organismus, der nur noch schrie und sich wie ein Rasender ge­bärdete in dem Versuch, den Schmerz durch Selbstvernichtung zu stoppen. Trotzdem hat­te er den Angriff geflogen, war durch den Pulk der Maahks hindurchgerast, während seine Feuerleitoffiziere ihre Projektoren ab­feuerten und dem Feind schwere und schwerste Verluste zufügten. Man hatte ihn blutend, mit einigen gebrochenen Knochen und aufgerissener Haut aus dem Pilotenses­sel herausgezerrt, mit einer Schockwaffe be­täubt und nach Ende des Kampfes den Me­dizinern übergeben.

Rasend vor Schmerz hatte er miterlebt, wie man ihm die Hirnschale aufschnitt, wie

man ihn einschläferte und abwartete, bis die betreffende Zone des Gewebes abstarb und vertrocknete, und dann pflanzten sie ihm diesen Mikrocomputer ein, schlossen ihn an die Ganglien des Hirns an, stülpten den Knochen wieder darüber und vernähten die Kopfschwarte.

Sie verpflanzten sogar das Haar und war­teten hundert Tage, bis sich das Hirn an die Rechenmaschine und der Computer an die Abläufe der gedanklichen Prozesse gewöhnt hatte. Sie ignorierten die Wünsche, die Bit­ten und die Befehle des Kommandanten, ihn von diesem Terror zu befreien und zu töten. Sie wollten ihn nicht erlösen, obwohl er um den Tod bettelte.

Er wurde irgendwann als »geheilt« entlas­sen, äußerlich völlig normal, aber von den Gezeiten eines mechanischen Geräts abhän­gig.

Dies ging, unterbrochen von drei ver­gleichsweise harmlosen Operationen (Fingerendglieder und einige Hautflecken), ein Jahr lang gut. Dann ging in einer mond­losen Nacht auf einem Planeten, auf dem das Schiff aufgetankt und einer schnellen Über­holung unterzogen wurde, Kommandant Ogor in die Richtung des Raumhafengebäu­des.

An diesem Punkt der Erzählung herrschte eine geradezu überirdische Spannung im Auditorium. Die Kamera war fixiert auf das Gesicht des Erzählenden.

Er sprach leise weiter: In einer Bar hatte er ein Mädchen getrof­

fen. Trotz seiner abwehrenden Haltung war sie an ihm interessiert. Sie sprachen lange miteinander, und er vergaß lange Zeit seinen Zustand. Sie tranken ein wenig, und eine wortlose, heitere Ruhe erfüllte sie. Das Mäd­chen lud ihn ein, die Nacht mit ihm zu ver­bringen. Er nahm ihre Hand und war froh, jemanden getroffen zu haben, der ihn trotz seiner Prothesen mochte.

In dem kleinen Apartment liebten sie sich und freuten sich, daß sie sich getroffen hat­ten. Um die Schultern eine Decke, trat Ogor nach Mitternacht auf die kleine Terrasse der

26

Wohnung hinaus, sah die Sterne an und be­merkte, daß Neumond herrschte – der Schat­ten des Planeten bedeckte die Oberfläche des Trabanten.

Dann: Panik. Raserei. Bewußtlosigkeit. Und die Erkenntnis, daß er etwas tat, das er nicht wollte, aber er sah sich selbst, wie er Dinge tat, die ihm wesensfremd waren. Wie­der das schwindende Zeitgefühl, die Über­zeugung, daß nur Sekunden vergangen wa­ren, und das unausgesprochene Wissen, daß es in Wirklichkeit Stunden waren. Und dar­aufhin der Anblick der Leiche: nackt, blut­überströmt, fremd und dennoch vertraut. Der Morgen, der ihn flüchtend sah, der nächste Tag, der den Start des Schiffes brachte und das Vergessen.

»Der Mikrorechner unter meinen Kunst­haaren zwang mich mehrere Monate lang, alles zu vergessen. Und immer dann, wenn ich meine Not und mein Wissen einem Freund im Schiff erklären und schildern wollte, lähmte der Computer meinen Kehl­kopf. Und er lähmte sogar meine Finger, als ich es niederschreiben wollte.«

Die Frage war häßlich und arrogant, aber sie war berechtigt. Nicht einmal Ogor nahm sie als Angriff; er hatte deshalb damit ge­rechnet, weil er sie sich selbst schon so oft gestellt hatte. Tharndraft erkundigte sich lei­se:

»Haben Sie eine Erklärung dafür, Ogor, warum der Mikrocomputer sich jetzt nicht ebenso verhält, wie Sie es geschildert ha­ben? Warum blockiert er jetzt nicht Ihre Ge­ständnisfreudigkeit?«

Wahrheitsgemäß erwiderte Ogor: »Ich weiß es nicht, Herr Ankläger. Mir

wäre wohler, wenn ich es wüßte. Erst vor wenigen Tagen habe ich herausgefunden, wie ich den Computer beherrschen kann. Ich habe dadurch einige verblüffende Möglich­keiten entdeckt.«

Nicht einmal Ches Prinkmon ahnte zu diesem Zeitpunkt, was diese Aussage oder Eröffnung wirklich bedeutete.

6.

Hans Kneifel

Ich kauerte auf dem Rand meiner Prit­sche, blickte in die Gesichter des Richters, und des Verteidigers und hörte der Verhand­lung zu. Sie wurde direkt aus einem kleine­ren Sitzungssaal der Arena der Gerechtigkeit übertragen; sollte der Umstand, daß wir Ge­fängnisinsassen diese Verhandlung ansehen durften, abschreckend auf uns wirken?

Ich hatte vom Korratz gehört, jener furchtbaren Krankheit. Aber bisher hatten wir angenommen, daß die Opfer in der Ruhe eines Krankenhauses dahinsiechten und schließlich starben. Grimmig warf Premcest ein:

»Mir tut der Kommandant leid. Aber wer hat auch den wahnwitzigen Einfall gehabt, ihm einen Mikrocomputer unter die Schä­deldecke zu schieben?«

»Die Ärzte«, sagte ich. »Es wird ein lan­ger, quälender Prozeß. Ogor hält sich ausge­zeichnet.«

»Sie werden ihn ebenso umbringen wie uns!« knurrte einer der Gefangenen und be­gann die Zellentür zu untersuchen. Es gab für uns keine Chancen, diesen Raum zu ver­lassen, wenn er nicht von außen geöffnet wurde.

Die Verhandlung ging weiter. Der Richter versuchte, objektiv zu bleiben. Er machte trotz seiner Erfahrung auf uns den Eindruck, als sei er unsicher. Der Verteidiger und seine Helfer bemühten sich, das gesamte Auditori­um auf einen bestimmten Punkt der Vertei­digungsstrategie vorzubereiten. Sie waren entschlossen, die Verteidigung darauf aufzu­bauen, daß Ogor in den Phasen, in denen er mordete, ein Gefangener seines Mikrorech­ners gewesen war. Der Vertreter der Ankla­ge arbeitete daran, zu beweisen, daß Ogor den Mikrocomputer abschalten oder seine Wirkung mindern konnte, und der Beweis für ihn war, daß sich die Maschine nicht im geringsten gewehrt hatte, ein Geständnis zu ermöglichen, nachdem man den neunfachen Mörder durch Indizien endlich hatte über­führen können.

Schließlich, gegen Abend, kam der Ver­teidiger zum wichtigen Punkt. Alle Anwe­

27 Planet des Gerichts

senden zeigten Zeichen der Ermüdung und starken Konzentrationsmangel.

Der ausgezeichnet arbeitende Reporter hatte die Fernsehzuschauer vorbereitet. Sie ahnten, was kommen würde. Rotnam Tema stand auf und sagte mit erhobener Stimme:

»Hohes Gericht, meine Damen und Her­ren!

Unsere Recherchen haben einen verblüf­fenden Tatbestand ergeben. Die neun Morde geschahen auf neun verschiedenen Planeten.

Jeder dieser Planeten besitzt einen einzel­nen, großen Trabanten. In den neun fragli­chen Nächten herrschte Neumond, was be­deutet, daß der Mond entweder nicht sicht­bar oder nur als haarfeiner Kreisring zu se­hen war. Ich werde in den nächsten Ver­handlungstagen zu beweisen versuchen, daß diese kosmogonischen Verhältnisse an den Morden schuldig, beziehungsweise daß die Monde den Minicomputer beeinflußt ha­ben.«

Ich zuckte zurück und tauschte mit Prem­cest einen verblüfften Blick. Entweder war der Anwalt ein Scharlatan, oder es stimmte wirklich. Einfluß der Gestirne auf Minicom­puter? Oder nur neun wirklich wunderbare Zufälle nacheinander? Ich war jetzt sicher, daß der Verteidiger diese These würde exakt belegen lassen; jede planetare Verwaltung würde ihm die betreffenden Daten binnen kürzester Zeit beschaffen können.

Die Reaktion im Gerichtssaal war eben­falls deutlich. Die Kamera zeigte es, der Re­porter blieb beherrscht, obwohl auch er überrascht war. Das Publikum sprach erregt miteinander, der Ankläger zeigte ein ungläu­biges und verblüfftes Gesicht. Nur der Rich­ter blieb gemessen und erwiderte in den im­mer stärker werdenden Tumult hinein:

»Es wird sicherlich schwer sein, diese Zu­sammenhänge dem Gericht zu beweisen. Es ist spät, meine Damen und Herren, die Sit­zung ist für heute beendet, wir beginnen morgen zur selben Zeit.«

Hinter ihm öffnete sich eine Tür. Ein Bote kam herein und reichte Thorm von Daccsnor einen Umschlag. Der Richter riß ihn auf, las

den Text und schwieg dann einige Sekunden lang wie betäubt. Schließlich raffte er sich auf und hob den Arm.

»Soeben ist eine dringende Botschaft von Orbanaschol dem Dritten eingetroffen. Er befürchtet, daß sich der Prozeß gegen Ogor noch längere Zeit hinzieht; eine Befürch­tung, die vermutlich zutreffen wird. Daher stellt das Imperium offiziell den Antrag, den Prozeß zu vertagen, bis die Verräter und Meuterer von Serrogat abgeurteilt sind. Da der Imperator das Imperium vertritt, muß diesem Antrag stattgegeben werden.

Ich stelle also folgendes fest: Der Prozeß Imperium versus Ogor wird

unterbrochen. Morgen früh beginnen die Er­mittlungsverhandlungen gegen die soge­nannten Serrogat-Verräter. Ich verspreche Ihnen, Angeklagter, daß wir Ihren Prozeß so schnell wie möglich wieder aufnehmen wer­den. Entschuldigen Sie mich.«

Er kochte vor Wut, als er den Saal durch die kleine Tür verließ, aber auch er be­herrschte sich mustergültig. Er wußte jetzt, daß Orbanaschol zumindest große Teile die­ses ersten Verhandlungstages mitangesehen hatte.

Die Tür schloß sich. Ein überraschtes Au­ditorium blieb zurück. Zwei Wachen kamen heran und führten Ogor ab; man würde ihn durch den unterirdischen Gang in den Ge­fängniskomplex zurückbringen.

Ich zog die Schultern hoch und flüsterte: »Dieser Diktator! Er will sein Spektakel!

Er mischt sich sogar in den Ablauf der Pro­zesse ein! Er will nichts anderes, als uns sterben sehen.«

»Und das möglichst bald«, knurrte mein Nachbar, ein untersetzter Mann in seinem beschmutzten braunen Overall.

»Bald und auf schreckliche Art!« pflichte­te ihm sein Gegenüber bei.

»Er erhofft sich zweifellos eine Stabilisie­rung seiner Macht durch diesen Riesenpro­zeß!« sagte Premcest. »Morgen früh werden wir uns also alle dort wiederfinden.«

Er deutete auf den Bildschirm. Die Kame­ra filmte gerade einen Rundblick durch den

28

nüchtern und zweckmäßig eingerichteten Saal. Die ersten Zuschauer verließen, erregt miteinander sprechend, die Plätze. Ches Prinkmon, der Fernsehreporter, schloß sei­nen Bericht ab und erklärte mit ruhiger Stimme:

»Wir versprachen Ihnen, meine Zuhörer, einen interessanten und ausgewogenen Be­richt. Wir konnten dieses Versprechen nur einen Tag lang halten. Morgen wird in ei­nem anderen Saal eine ganz andere Art von Prozeß beginnen, und auch dort werden un­sere Kameras sein, auch von dort werden wir unvoreingenommen und sachlich-in­formativ berichten. Für heute verabschiedet sich das Team: Chef Monhole, Kameramann Dharr und ich, Ches Prinkmon. Sie sahen und hörten eine Sondersendung von Arkon-Vision. Danke.«

Langsam streifte er sich Kopfhörer und Mikrophonbügel ab.

*

Ogor stemmte seine Füße gegen die Kante des gegenüberliegenden Sitzes. Der kleine Wagen der unterirdischen Verbindung raste fast lautlos durch den Schacht, auf den Ge­fängniskomplex zu. Alles oder fast alles ging automatisch vor sich, aber dort vorn würden ihn wieder Wachen empfangen.

Er wollte gar nicht flüchten. Er wollte nur Ruhe und Vergessen. Wieder überlegte er, ob er seine letzte Möglichkeit ausschöpfen sollte, aber dann schalt er sich einen Feig­ling, der nicht den Mut hatte, den Konse­quenzen ins Auge zu sehen. Wimmernd bremste die Automatik die Kabine ab, hob sie aus dem Schacht und setzte sie in eine geschlossene Kammer. Die Türen glitten lei­se zischend auf. Ogor sah sich einer Rampe gegenüber, die hellerleuchtet nach oben führte. Wie fast überall bestanden auch hier die Wände aus Stahlverkleidungen. Ogor ging schweigend die Rampe hinauf und ignorierte das Zuschnappen schwerer Trenn­wände und Türen hinter sich. Schließlich nahm ihn abermals ein Lift auf und entließ

Hans Kneifel

ihn wieder auf dem betreffenden Stockwerk. Hier warteten die bewaffneten Wächter und die schwebenden Roboter.

Sie führten ihn schweigend zurück in sei­ne Zelle. Primm raste auf ihn zu, kreiste um Ogors Kopf und schrie immer wieder, von Flüchen unterbrochen:

»Ogor gesehen! Schlechte Aussicht. Bald sterben-sterben!«

Ogor fing die Kolibrimaus mit schnellem Handgriff aus der Luft, hielt sie vors Gesicht und murmelte:

»Alles ist unklar, mein Kleiner. Du mußt noch warten, Primm. So wie ich.«

»Immer warten-warten. Wann kommen wir weg, Ogor?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist alles bald vorbei, Primm.«

Er öffnete vorsichtig die Finger, und der Primm schwirrte davon, ein winziges hell­blaues Bündel, dessen Flügel sich so schnell bewegten, daß die einzelnen Abläufe nicht mehr unterscheidbar waren. Als Ogor sich setzen wollte, klickte der Lautsprecher.

»Gefangener Ogor!« »Ja«, brummte er unwillig. »Was gibt's?« »Ches Prinkmon, der Journalist der Ar­

kon-Vision, will Sie später sprechen. Sind Sie einverstanden?«

»Meinetwegen. Wann?« »Irgendwann. Sie können den Zeitpunkt

bestimmen. Es sollte noch heute sein.« »Sagen Sie ihm«, entgegnete Ogor, »daß

er in zwei Stunden kommen kann.« »Danke.« Bisher hatte man ihn in diesem Gefängnis

nicht gerade verwöhnt, aber immerhin kor­rekt behandelt. Er hatte befürchtet, als neun­facher Mörder den Abscheu der Beamten und Wächter zu erregen, aber sie blieben kühl und gelassen. Vermutlich hatten sie schon ganz andere Gefangene hier gehabt. Er zog sich aus, duschte und legte sich auf die Pritsche. Primm klammerte sich an den Gitterstab und machte keinerlei Anstalten, trotz des offenen Fensters davonzufliegen. Wenigstens ein Wesen gab es, dachte er me­lancholisch, das mich nicht verabscheute.

29 Planet des Gerichts

*

Etwa eine Stunde später, als es bereits dunkel geworden war, schreckte bohrender Kopfschmerz den Gefangenen hoch. Er kannte schwersten Schmerz in allen Varia­tionen, aber er hatte so gut wie niemals Kopfschmerzen gehabt.

Er setzte sich auf, massierte die Schläfen und merkte langsam, wie der Schmerz wich. Ein Blick aus dem offenen Fenster, durch das warme Luft hereinstrich, zeigte ihm die ersten Sterne. Träge zog er sich an, schaltete das Licht am Kopfende der Liege an und wartete mit unendlicher Geduld auf den Re­porter. Jetzt, da alle seine Chancen am Ende waren, hatte er Zeit im Überfluß. Von jetzt bis zum Augenblick seines Todes.

Was wollte der Reporter? Warum wollte er ihn sprechen?

Ogor zuckte gleichgültig die Schultern. Er konnte es sich nicht denken.

Er hatte von einem Wärter gehört, daß mehrere hundert neue Gefangene eingetrof­fen waren. Verräter und Deserteure, hatte es geheißen. Nicht seine Sache, sagte er sich. Er wußte, daß er sich völlig indifferent ver­hielt. Er schien allen Zuschauern kalt und ungerührt zu sein. Aber die langen Jahre der Qualen hatten ihn befähigt, seine Gemütsbe­wegungen zu verbergen. Er haßte sich we­gen der drei Mädchen und der sechs Män­ner, die er umgebracht hatte. Aber in vielen langen, qualvoll schlaflosen Nächten hatte er sich immer wieder selbst geprüft. Er hatte nichts vergessen von dem, was er erlebt und empfunden hatte – nur die Phasen, in denen er wie ein Rasender reagiert hatte, waren für immer aus seinem Gedächtnis getilgt. Er war sicher, daß er nicht einmal im wildesten Ansturm des Korratz-Schmerzes gemordet hätte. Es war der Minicomputer oder die Veränderung, die nach dem Einsetzen dieses teuflischen Dinges in seinem Verstand statt­gefunden hatte.

Wieder unterbrach der Summer seine Überlegungen.

»Sie werden im Sprechraum erwartet. Man holt Sie ab, Ogor.«

»Geht in Ordnung«, sagte er mürrisch. Minuten später eskortierten ihn zwei

Wächter durch den Korridor, an der Schalt­station für die Sicherheitseinrichtungen vor­bei, in den Sprechraum, eine große Zelle, mit dem Luxus eines Teppichbodens sowie einem Tisch und mehreren Sesseln. Ches Prinkmon und ein hagerer Mann mit einer Schulterkamera warteten bereits ungeduldig.

»Was wollen Sie?« erkundigte sich Ogor mürrisch. Er fühlte sich gereizt und müde.

»Mit Ihnen sprechen. Über einige wesent­liche Punkte.«

Wieder fing der Kopfschmerz an. Zwei Wächter lehnten, die Waffen locker an der Hüfte, an den Wänden. Sie gähnten und schienen verärgert über die späte Störung zu sein. Ogor vermutete, daß Ches den Verwal­ter bestochen hatte; er hatte beim Schwim­men das Gespräch zwischen Wächtern auf­geschnappt, und daraus war zu schließen, daß Doomyh Kiln bestechlich war, ohne deswegen seine Pflichten zu vernachlässi­gen. Er legte unter der Einwirkung einiger Handvoll Chronners seine Vorschriften sehr elastisch aus.

»Über welche wesentliche Punkte wollen Sie mit mir sprechen? Und warum die Ka­mera und der Scheinwerfer?«

Anstelle des Reporters antwortete der Ka­meramann, den Ogor schon während der Übertragung dieses Tages hinter der Scheibe gesehen hatte.

»Über Neumond, über die neun Planeten und über die angedeutete Möglichkeit, den Mikrocomputer zu beherrschen, Ogor.«

Die Schmerzen, die sich in einem sichel­förmigen Bogen zwischen den Schläfen hin­zogen, erzeugten in Ogors Kopf einen wil­den, pochenden Schmerz. Aber er be­herrschte sich noch immer. Er setzte sich und erklärte:

»Sie werden das alles in den Tagen des Prozesses erfahren. Wozu diese Eile, meine Herren? Sie greifen den Ergebnissen der Verhandlung vor.«

30

Bevor er reagieren konnte, begriff er, was eigentlich geschah. In seinem Kopf gab es ein metallisches Geräusch wie von einem al­tertümlichen Relais. Dann verwandelte sich Ogor, der etwa dreißig Tage lang ein Mu­sterhäftling gewesen war, in einen rasenden Organismus.

Mit einem gewaltigen Satz sprang er aus seinem Sessel, flankte über den Tisch und schleuderte mit einem kurzen Fußtritt den Photographen zurück. Er stürzte sich mit ausgebreiteten Armen auf einen Wächter und schlug, kaum daß die Sohlen seiner Stiefel den Boden berührten, den anderen Mann zur Seite. In diesen Sekunden verwan­delte sich Ogor, vom Mikrocomputer ge­steuert, in eine rasende Kampfmaschine.

Dank seines Körpers, der zu einem großen Teil mehr einem Roboter glich als einem Arkoniden, besaß er weitaus schnelle­re Reflexe und ebenso viel größere Kräfte. Sein Hieb schleuderte den zweiten Wachter mehrere Meter weit die Wand entlang und in eine Ecke. Als er wieder sein Gleichgewicht gefunden hatte, hielt Ogor bereits die Waffe des ersten, bewußtlosen Wächters in der Hand.

»Hilfe! Er wird verrückt!« keuchte Dharr, der zusammen mit seiner Kamera sich in ei­nem Winkel wiederfand. Sein Schädel dröhnte wie eine Glocke.

Ches stand scheinbar unbeteiligt da, rühr­te sich nicht und registrierte nur. Seine Be­wegungslosigkeit rettete ihm das Leben.

Ogor federte herum. Er hob die Waffe, dann warf er sich zur

Seite und riß die zweite Waffe an sich. Er beachtete weder Dharr noch Prinkmon, son­dern sprang zur Tür. Jetzt bewegte er sich zwar so schnell wie ein Roboter, aber seine einzelnen Bewegungen waren die eines le­benden Wesens.

In diesem Sekundenbruchteil begriff Ches Prinkmon, auf welche Weise Ogor zum neunfachen Mörder geworden war. Bevor er, die offizielle, schwerstens bewachte Zu­fahrtspiste über dem Planetenboden benüt­zend, den riesigen Gefängniskomplex betre-

Hans Kneifel

ten hatte, mußte er feststellen, daß auch der Mond Celkars heute vom Schlagschatten seines Planeten bedeckt war: Neumond!

Zwei Schüsse fauchten donnernd auf. Die beiden Wächter, von konzentrierten

Schockstrahlen getroffen, rissen die Arme auseinander und sackten zusammen. Mit ei­nem wilden Ruck riß Ogor die Tür auf und stürmte auf den Korridor hinaus. Zehn Sprünge trugen ihn geradeaus, dann feuerte er wieder, behende wie eine Maschine und mit teuflischer Treffsicherheit, auf einen Ar­koniden, der den Kopf aus einer Wachstube herausstreckte. Mit einem gurgelnden Schrei ging der Mann zu Boden.

»Was ist das, Ches?« keuchte Dharr und wuchtete sich vom Boden der Zelle hoch.

»Das ist der Mikrocomputer«, sagte Ches tonlos. Er erlebte es mit, aber er war zu sehr beeindruckt, um es richtig glauben zu kön­nen. Vor seinen Augen hatte sich der ruhige, beherrschte Untersuchungsgefangene in ein wildes Tier verwandelt.

Es konnte nicht anders sein: der Mikro­computer, ausgelöst durch den Schock des unsichtbaren Mondes, regierte diesen halb­robotischen Organismus. So und nicht an­ders war es gewesen, als Ogor neunmal ge­mordet hatte.

»Ogor? Er dreht durch?« fragte Dharr keuchend.

Ches wandte sich um und starrte eine Se­kunde lang in den Korridor hinaus, in dem sehr schnelle Schritte und das Quäken eines Alarmsummers zu hören waren. So ruhig und bedächtig, wie es ihm möglich war, er­widerte er:

»Es scheint, daß Ogor durchdreht. In Wirklichkeit regiert ihn der Mikrocomputer. Du solltest drehen, denn diese Aufnahmen werden wir niemals mehr schießen können. Er ist nicht bei Sinnen. Sein Körper handelt, aber er gehorcht einem pervertierten mecha­nischen Verstand.«

Binnen weniger Sekunden erreichte Ogor die Nische des Korridors, in der die ver­schiedenen Sicherheitseinrichtungen unter­gebracht waren. Als die Kamera Dharrs zu

31 Planet des Gerichts

surren begann, erfaßten die automatisch ge­steuerten Linsen den dahinzuckenden, blitz­schnellen Körper Ogors. Die Finger des Ge­fangenen kippten nacheinander lange Reihen von Schaltern herunter. Eine Sirene heulte. Mehrere Summer gaben langgezogene, blö­kende Töne von sich. In dem Stockwerk die­ses kreisringförmigen Korridors öffneten sich hundert oder mehr Türen schlagartig. Gleißende Tiefstrahler schalteten sich ein. Robotische Einrichtungen blockierten die Verbindungen zwischen den darüber und darunter liegenden Stockwerken.

»Mach die Aufnahmen, Dharr! Schnell! Die Gelegenheit kommt niemals wieder!«

Dharr rannte aus dem Sprechzimmer hin­aus, schwenkte die leichte Kamera herum und lehnte sich gegen die Mauer. Er filmte den Körper Ogors, wie er sich bewegte und reagierte. Hin und wieder rannten Wächter durch den Korridor, aber ehe sie begriffen, wie die Situation stand, wurden sie von den hervorragend gezielten Schüssen niederge­worfen.

Der Lärm, die Lichter und die Aufregung forderten die Gefangenen geradezu heraus, ihre Zellen zu verlassen. Das Chaos begann sich auszubreiten. Immer mehr Köpfe tauch­ten auf.

Jetzt hatte Ches Prinkmon seine Sensati­on. Er hatte sie nicht gewollt. Aber er war entschlossen, jede Chance zu nützen. Er ver­ließ die Sprechzelle und wagte sich in das Durcheinander des Ringkorridors hinaus. Dharr faßte Mut und filmte die verworrenen Szenen. Wie ein Rasender sprang und rannte Ogor, auf jeden der uniformierten Wächter feuernd, durch die Menge, die sich von Se­kunde zu Sekunde vergrößerte. Er war im Bann des Mikrocomputers. Der Rechner be­herrschte ihn vollkommen, aber die Phase würde nicht lange dauern. Ches wußte es, denn der Verteidiger hatte erklärt, daß diese Zeitspanne nur wenige Stunden dauerte.

Sie hatten für sechzig Minuten Filmband. Der Text und die Geräusche waren unwich­tig; man konnte sie später herstellen, mi­schen und einspielen.

7.

Genau zweihundert Türen wurden durch die Schaltungen Ogors geöffnet.

Davon waren allein hundertsiebzig Türen oder Stahlplatten solche, die Zellen ab­schlossen. Zellen von verschiedener Größe, mit zehn, acht oder vier Gefangenen belegt, einige Zellen waren leer oder enthielten nur einen einzigen Gefangenen. Hunderte von Eingekerkerten waren plötzlich in einem scharf umrissenen Rahmen frei. Aber ihr neugewonnenes Reich erstreckte sich ledig­lich auf eine einzige Ebene des riesigen Ge­fängnisses; die beiden, einander gegenüber­liegenden Verbindungen zwischen den Stockwerken waren zwar im Augenblick noch geöffnet und passierbar, aber der Alarm rief die Wachen der beiden Ebenen heran, und sie waren nicht so schnell zu überraschen.

In dem betroffenen Bereich rannten die Gefangenen in einer Art Massenpsychose auf die rund drei Dutzend Wachen zu, wur­den teilweise niedergeschossen, aber schließlich siegte die zahlenmäßige Über­macht.

Dreißig oder einunddreißig Wachen gab es in diesem Stockwerk. Elf Minuten nach dem ersten Angriff Ogors befanden sie sich in der Hand der Gefangenen.

* GEDÄCHTNISPROTOKOLL ATLAN:

Ich schreckte aus einem leichten Schlaf auf, als das Licht in der Zelle aufflammte und Premcest mit einem Satz aus der hinte­ren Ecke hervorsprang. Langsam öffnete sich die Zellentür, gleichzeitig klappten laut die Wandfächer auf.

Alarm! Klingt nach Angriff oder Rebelli­on! schrie der Logiksektor.

Vom Korridor drang das laute Geräusch von Schritten, Schreien und Schüssen her­ein. In wenigen Sekunden hatten wir uns mehr oder weniger angezogen und drängten

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uns um Premcest, der den Ausgang versperr­te.

»Dort scheint jemand flüchten zu wol­len!« murmelte Premcest und stieß mich an. »Die Gefangenen sind alle frei. Alle Türen stehen offen, soweit ich das sehen kann.«

Unbeschreiblicher Lärm entstand, als auch wir uns in den Korridor hinausschoben. Er war voller Männer. Hin und wieder im quirlenden Durcheinander tauchten die Uni­formen von Wächtern auf. Die Männer kämpften schweigend und verbissen, aber allein die Übermacht der Menge überwältig­te sie schnell. Ein einzelner Mann rannte jetzt hinter der weitgeschwungenen Krüm­mung des Zentralkorridors entlang und feu­erte aus zwei Handwaffen hinter sich.

Es ist Ogor! zischte der Logiksektor. Zwei Wächter kamen aus einem Bereit­

schaftsraum heraus. Sie hielten die Waffen in den Händen und rannten auf uns zu. Wir blieben stehen und waren ratlos; unbewaff­nete Männer hatten kaum Chancen.

Premcest wirbelte herum und deutete auf den heranstürmenden Ogor, der jede Lücke in dem Gewimmel ausnutzte, sich im Zick­zack hin und her warf und zufällig einen Ge­fangenen niederschoß, als sich der Mann zwischen ihn und einen Wächter schob.

»Dort ist Ogor! Er ist rasend geworden!« schrie mein Freund aufgeregt. Die Wächter ließen sich ablenken. Sie hoben die Waffen und blickten in die Richtung, in die Prem­cest zeigte. Im gleichen Moment warfen wir uns auf die Uniformierten, rissen ihre Waf­fen in die Höhe und wanden sie aus den Händen der Männer. Gleichzeitig näherte sich uns Ogor und schrie durch das Heulen der Sirenen und das Schnarren der Summer:

»Ich habe alle Türen geöffnet! Ich muß handeln! Los, befreit euch! Wir sitzen alle in einem Boot …«

Sein Geschrei wurde leiser und verlor sich im allgemeinen Lärm. Ich ahnte, daß er wie­der unter dem Einfluß seines Gehirnersatzes stand; wenn dies stimmte, konnte ich sogar annehmen, daß Neumond über Celkar herrschte. Ogor befand sich wieder in einer

Hans Kneifel

seiner Phasen der unbeherrschbaren Gewalt­tätigkeit. Aber wie war er aus seiner gesi­cherten Zelle entkommen?

Ogor spurtete davon, schoß um sich und bewegte sich wie ein rasender Roboter. Sei­ne Bewegungen waren zu schnell für einen normalen Arkoniden.

Der gesamte Ringkorridor, der den Au­ßenlinien des Gefängniskomplexes folgte, war jetzt voller Gefangener. Wir sahen min­destens zweihundert Männer jeden Alters, die wild durcheinanderschrien, auf die Wächter einschlugen und die Bewußtlosen in die Zellen hineinschleiften. Über dem Chaos aus Stimmen und Geschrei und den Geräuschen des Kampfes wimmerten unaus­gesetzt die Alarmanlagen.

Fartuloon hielt meinen Arm fest und sag­te:

»Es war der schlechteste Zeitpunkt. Hier kommt niemand heraus. Halten wir uns zu­rück.«

»Vermutlich werden sie die Wärter als Geiseln nehmen!« warf ich ein. »Und hier im Zentralkorridor sind wir wehrlos.«

Die befreite Abteilung war nichts anderes als eine einzelne von mehr als fünfundzwan­zig Ebenen, die kreisförmig übereinander la­gen. Unter uns und über uns hatte sich nichts geändert. Wir konnten förmlich darauf war­ten, daß sie uns wieder einfingen.

»Trotzdem müssen wir etwas unterneh­men«, drängte er.

»Einverstanden.« Ich riß mich los und rannte auf eine grö­

ßere Menge Männer zu, die gerade einen Wächter niederschlugen. Eine Sirene stellte ihr nerverschütterndes Heulen ein. Ich pack­te einen riesigen Mann, den ich schon mehr­mals unter den verschiedenen Gruppierun­gen seit Serrogat gesehen hatte, an der Schulter. Er fuhr überrascht herum und er­kannte mich. Ich grinste und brüllte:

»Wir sammeln uns! Wir brauchen einen Platz, an dem wir uns verschanzen können!«

»Gute Idee. Los, Kameraden, nehmt ihn mit, und wir suchen uns einen gemütlicheren Platz!« donnerte der breitschultrige Mann.

33 Planet des Gerichts

Ein paar andere Gefangene gehorchten und hoben den bewußtlosen Wächter hoch. Premcest winkte und deutete in die Rich­tung, in die Ogor davongerannt war. Eine laute, hallende Stimme krachte aus den un­sichtbaren Lautsprechern und befahl uns in erregtem Ton, sofort in die Zellen zurückzu­gehen. Immer wieder wurde diese Warnung wiederholt, und schließlich schwiegen die Gefangenen ebenso wie die unzähligen ver­schiedenen Alarmeinrichtungen. Je weiter wir liefen, desto mehr Gefangene schlossen sich uns an. Wieder eine Beobachtung, wie man sie immer wieder machen konnte: der erste, der anfing, Anführerqualitäten zu zei­gen, riß die anderen mit sich.

»Mißhandelt die Wächter nicht. Es sind Geiseln. Wir können mit ihnen etwas aus­handeln, wenn wir die Wachen als Kaufpreis einsetzen!« schrie jemand von hinten. Inzwi­schen waren wir mindestens hundert Män­ner, die sich durch den Korridor schoben.

Aufmerksam musterte ich die verschiede­nen Einrichtungen. Die halb-robotischen Sperren waren alle ausgeschaltet. Noch im­mer drang aus der vor uns liegenden Krüm­mung des Ganges das Geräusch von Schuß­wechseln an unsere Ohren.

Wir rannten an Dutzenden offenstehenden Zellenpanzertüren vorbei. Immer wieder schaltete jemand weitere Sicherheitseinrich­tungen ab. Die Fächer, in die Roboter Essen und Bettzeug stellten, wurden aufgerissen. Dann kamen wir an den leeren Bereit­schaftsraum der Korridorwache. Premcest, der Riese und ich drangen ein und sahen nichts anderes als einige eingeschaltete Ser­vorobots und eine bemerkenswerte Unord­nung.

Wir bewegten uns in rasender Schnellig­keit durch die Räume, aber es gab nur einen einzigen Eingang. Enttäuscht rief Premcest:

»Sind schlauer, als ich dachte. Aber ir­gendwo muß es einen Eingang in diesen Korridor geben!«

»Ganz sicher. Wahrscheinlich dort, wo geschossen wird.«

Wir nahmen einige Gegenstände an uns,

dann liefen wir wieder hinaus. Inzwischen waren fast alle Gefangenen an dieser Stelle vorbeigeströmt. Sie rannten dorthin, wohin sich der Hauptstrom der freigelassenen Männer bewegte. Ich zuckte zurück, als ich die zwei Arkoniden sah, die völlig unbehel­ligt in etwa zwanzig Schritt Entfernung den rennenden Gefangenen folgten.

Der Reporter! zischte das Extrahirn. Ich blieb überrascht stehen und hielt

Premcest an. Der hochgewachsene Gefange­ne wollte an uns vorbei und sich auf die Journalisten stürzen, aber wir hielten ihn zu­rück. Der jüngere Mann sprach in das Mi­krophon eines kleinen Recorders, der andere balancierte die Kamera mit der riesigen Filmbandtrommel auf der Schulter und hielt sein Auge an das Sucherobjektiv gepreßt. Zuerst beachteten sie uns nicht, aber dann blickte uns Ches Prinkmon scharf an.

»Machen Sie keine Dummheiten«, sagte er beschwörend. »Wir sind völlig unpartei­isch. Lassen Sie uns hinaus.«

Ich grinste kurz. »Von mir aus. Wenn Sie uns den Ausgang

zeigen?« Für einen Augenblick schwankte die Ka­

mera. Ich mußte damit rechnen, daß sie un­sere Gesichter erfaßte. Ich trat zur Seite und machte einige Schritte auf den jungen Mann zu, der den Prozeß gegen Ogor kommentiert hatte.

»Was ist eigentlich passiert?« Der Riese hinter mir deutete nach links

und rief drohend: »Los! Weitergehen! Von mir aus können

Sie filmen, was sie wollen. Aber wir müssen hier 'raus!«

Als wollte die Direktion seine Befürch­tungen unterstreichen, erscholl wieder die Lautsprecherstimme, die mit dem Einsatz von Kampftruppen vom Raumhafen drohte, um den Aufstand niederzuschlagen. Wir setzten uns voller Unruhe wieder in Bewe­gung. Premcest und ich vermieden dabei, uns in der Nähe der Kamera aufzuhalten.

»Schneller!« »Wir waren bei Ogor. Plötzlich drehte er

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durch, entwaffnete die Wachen und stürmte davon. Mir hat er halb den Brustkorb einge­drückt«, erklärte Ches. »Rechnen Sie sich Chancen aus?«

»Wie würden Sie unsere Chancen ein­schätzen?« fragte Premcest brummig zu­rück.

»Ganz miserabel«, lautete die Antwort. Sie konnten Narkogas in den Korridor

und die Zellen blasen, die Roboter im Schutz von Energieschirmen würden uns ebenfalls zurücktreiben, denn wir hatten nur schätzungsweise zwei Dutzend Lähm- oder Schockwaffen, die von den Wächtern stammten. Das Ganze war sinnlos, aber viel­leicht gab es doch irgendwo eine winzige Chance.

»Vielleicht können wir Ihnen draußen mehr helfen«, erklärte Ches. Er versuchte, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Ich hätte an seiner Stelle nichts anderes getan. Weder Fartuloon noch ich hatten das geringste In­teresse daran, diesen beiden Männern etwas zu tun oder sie ebenso wie die Wächter als Handelsobjekte zu behandeln.

»Vorausgesetzt, Sie kommen hinaus!« knurrte der Große. »Wir haben alle Wächter entwaffnet.«

»Wir können eine Art Sprecher zwischen den Gefangenen und der Verwaltung sein«, schlug Prinkmon vor. »Niemandem ist ge­dient, wenn hier Wärter oder gar Fernseh­leute umgebracht werden.«

»Bisher ist noch niemand umgebracht worden!« sagte Premcest nachdrücklich. »Soweit ich es beurteilen kann, wird auch niemand umgebracht. Höchstens wir Gefan­genen.«

Wir holten die Masse der Gefangenen ein. Sie staute sich im Korridor, und als wir ver­suchten, uns durchzuschieben, saßen wir nach zwanzig Schritten fest. Fartuloon hob die Arme und schrie laut:

»Macht Platz! Diesen beiden Männern verdanken wir, daß die Zellen sich geöffnet haben. Sie und Ogor haben uns befreit. Laßt sie durch, rührt sie ja nicht an!«

Die Überraschung ließ eine schmale Gas-

Hans Kneifel

se entstehen. Wir bahnten uns einen Weg und kamen wieder ein gutes Stück vorwärts. Immer wieder sahen wir einzelne Wächter, die gefesselt inmitten einiger Gefangener eingekeilt waren. Das Schießen hatte aufge­hört. Wir drängten uns weiter, und neben uns summte die Kamera.

»He! Loslassen!« fauchte der riesige Ge­fangene. »Rührt sie nicht an. Was gibt es dort vorn?«

»Der einzige Ausgang aus diesem Kreisel hier.«

Mindestens dreihundertfünfzig Gefangene drängten sich hier zusammen. Sie unterhiel­ten sich leise. Der erste Schock der Freude, als die Türen sich öffneten, war unwieder­bringlich vorbei. Jetzt erinnerten sich die Männer an Geschichten, die sie kannten: dies war nicht die erste Gefangenenerhe­bung, und in den meisten Fällen waren sol­che Aktionen mit brutaler Waffengewalt niedergeschlagen worden. Die Stimmung schwankte jetzt zwischen Euphorie und tief­ster Niedergeschlagenheit. Viele Männer würden sich jetzt am liebsten wieder in die Zellen zurückgezogen haben, aber das Dik­tat der Masse hielt sie an ihrem Platz. Eine gewisse Ratlosigkeit lag in der Luft. Ich mußte sie ausnutzen. Ich machte mir mit ein paar Rippenstößen Platz und rief:

»Freunde! Hört einmal zu!« Langsam beruhigte sich das Murmeln der

unzähligen Gespräche. Die Männer rückten weiter auseinander. Die meisten sahen in meine Richtung. Der Kameramann schien wirklich kaltblütig zu sein, oder aber er er­kannte die Gefahr nicht, in der sie beide sich befanden. In dieser Stimmung konnte ein falsches Wort oder eine unbedachte Bewe­gung die aufgestörten Männer explodieren lassen. Ich hielt nach Ogor Ausschau, aber ich sah ihn nicht.

»Diese beiden Journalisten sprachen mit Ogor. Vielleicht habt ihr den Prozeß gese­hen, beziehungsweise seinen Anfang. Er fiel wieder in eine seiner gefährlichen Wahn­sinnsphasen zurück. Er hat die Wächter überwältigt und uns befreit. Laßt also die

35 Planet des Gerichts

Männer hier durch, die Wachen werden nicht auf sie schießen. Wir sind schließlich keine Meuchelmörder. Los, zur Seite, Dicker!«

Ich schob die zwei Leute von Arkon-Visi­on vorwärts. An dieser Stelle verbreiterte sich der Korridor zu einem rechteckigen Raum, an dessen Ende eine Rampe auf­wärtsführte. In ungefähr fünfzig Metern Ent­fernung schimmerten mehrere gestaffelte Energieschirme, zwischen denen schwere Kampfroboter schwebten. Hinter den Ma­schinen waren Bewaffnete in Kampfanzügen zu sehen.

»Geht geradeaus«, sagte ich. Wir waren noch immer von aufgeregten Männern um­geben, die sich voll deutlicher Unruhe be­wegten, die Köpfe drehten und die Fäuste ballten. »Die Wächter und Roboter werden euch durchlassen. Los, schnell.«

Wieder blickte mich der Journalist mit merkwürdiger Schärfe an. Dann nickte er, drehte sich um und winkte seinem Kamera­mann. Ehe der Spezialist sich umwenden und Aufnahmen von Premcest und mir ma­chen konnte, verschwand ich in der Menge der Gefangenen.

»Gut gemacht!« lobte mich Premcest. »Und jetzt zu euch, Freunde. Mißhandelt die Wächter nicht. Je besser es ihnen jetzt geht, desto weniger schlecht wird es uns gehen, wenn es eine Auseinandersetzung gibt. Es ist nämlich so, daß der Imperator unseren Tod sehen will.«

»Du meinst«, schrie jemand aus der Men­ge, »daß das Gefängnis angegriffen wird?«

»Das ist nicht auszuschließen«, warf ich ein.

»Aber wir haben Geiseln …!« Von hinten brüllte jemand: »Einunddreißig Wächter. Alle entwaffnet

…« »Ihr kennt die Wut Orbanaschols offen­

sichtlich nicht«, sagte Premcest. »Wenn er schlechter Laune ist, dann gibt er Schießbe­fehl.«

»Er wird rasend vor Wut sein«, gab je­mand zu bedenken.

»So ist es«, sagte ich. »Die Frage bleibt, was wir jetzt tun.«

Dicht neben mir ertönte ein rumpelndes Geräusch. Die Männer sprangen zur Seite. Ein Teil der scheinbar massiven Wand be­wegte sich und drehte sich langsam nach in­nen. Licht schaltete sich ein, und in dem breiter werdenden Spalt stand Ogor, der ehe­malige Kommandant, Waffen in beiden Händen. Er war von Kopf bis zu den Stie­feln mit einem rötlichen Staub oder Puder bedeckt. Breite Bäche aus Schweiß hatten sein Gesicht in ein Muster unregelmäßiger senkrechter Streifen verwandelt. Er sah auf gefährliche Weise irre aus. Er lachte schal­lend und brach ganz plötzlich damit ab. Dann sagte er mit undeutlicher Stimme:

»Ich habe einen Weg gefunden.« Wir alle starrten ihn verwundert und

atemlos vor Verblüffung an. »Hier entlang. Hier gibt es alles – Waffen,

Essen, Uniformen. Ich habe niemanden ge­troffen.«

Seine Finger öffneten und schlossen sich wie die Klauen eines Raubvogels um die Kolben der Waffen. Dann drehte er sich um und rannte davon, in einen Raum von unbe­kannter Größe hinein. Unschlüssig folgten ihm zuerst einige, dann mehrere Gefangene. Schließlich strömten sie hinter ihm her und schleppten die Geiseln mit sich, die sich glücklicherweise ruhig verhielten. Eine ge­fährliche, hysterische Spannung lag in der Luft. Fartuloon und ich drängten uns zur Seite und blieben an die Mauer gepreßt ste­hen.

»Warte!« flüsterte Premcest warnend. Ich nickte. Die Männer schoben sich keuchend an uns vorbei und rannten hinter Ogor her. Wieder ertönte eine Lautsprecherdurchsage, deren Ton eine unverhüllte Drohung dar­stellte. Johlendes Geschrei der Gefangenen antwortete dem Gefängnisdirektor, der uns beschwor, die Rebellion zu beenden.

Es wird nichts nützen! sagte der Logik­sektor.

Es war immer dasselbe. Ein paar Männer, die abseits der großen Gruppe hinter Ogor

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einherrannten, zögerten. Es war ihnen deut­lich anzusehen, daß sie am liebsten der Auf­forderung gehorcht hätten. Aber der Sog der gemeinsamen Aktion und die Furcht, als Feigling bezeichnet zu werden, waren zu groß – sie rannten nach längerem Stocken weiter. Zuletzt befanden sich nur noch wir beide außerhalb der wuchtigen, getarnten Tür.

»Es ist besser, wir gehen mit«, sagte ich zögernd. »Vielleicht können wir verhindern, daß der wahnsinnig gewordene Ogor die Geiseln umbringt oder ähnliches geschieht.«

Die beiden Männer von Arkon-Vision waren zunächst langsam, dann immer schneller werdend, die Schräge hinaufgelau­fen. Als sie dicht vor den Schirmfeldern standen, schaltete man einen Projektor ganz kurz aus. Zwei Roboter mit schweren Strahl­waffen schoben sich aus der Lücke. Es ging ganz schnell; die Männer schlüpften durch die Lücke, die Roboter wichen zurück, und der Energieschirm schloß sich sofort wieder. Keiner der Gefangenen hatte sich bewegt, aber auch die Wachen dieses Gefängnisbe­zirks machten keine Anstalten, die Rampe hinunterzukommen.

Sie warteten. »Oder wir sehen vielleicht doch eine win­

zige Chance«, gab Premcest zu. Wir be­fürchteten, daß die Fernsehleute ihren Film ausstrahlen würden, denn er stellte eine erre­gende Reportage dar. Vielleicht erkannte uns jemand. Zugegeben, es war nicht sehr wahrscheinlich, aber die Möglichkeit be­stand durchaus.

»Möglich, daß es ein winziges Loch gibt. Ich glaube nicht daran«, erklärte ich voller Skepsis. Dieser Gefängniskomplex war viel zu gut bewacht und gesichert. Noch niemals war hier, das hatte uns die Lautsprecherstim­me eindringlich zugerufen, ein einzelner Ge­fangener lebend geflüchtet. Und eine Grup­pe besaß ebenfalls nicht die geringste Chan­ce.

»Was werden sie tun?« fragte ich und wurde etwas schneller.

»Auf alle Fälle den Diktator benachrichti-

Hans Kneifel

gen.« Wir befanden uns in einem langgestreck­

ten Raum, in dem das Echo der Stimmen und Schritte prasselnde und summende Ge­räusche erzeugte. Der Raum, voller Staub und schlecht ausgeleuchtet, ging in einen Stollen über, der wohl zu den Versorgungs­gängen gehörte. Überall gab es einfache Stahltüren und Vorratsräume, die jetzt von den Männern geplündert wurden. In einem Raum entdeckten sie scharfe Waffen und Energiemagazine und bewaffneten sich da­mit. Sofort gewann die Rebellion eine neue, tödlichere Bedeutung.

»Wir auch?« fragte ich und lief hinter Premcest tiefer in das Labyrinth der Gänge und Vorratskammern hinein.

»Nein. Halten wir uns heraus. Ich habe nicht die geringste Lust, von einem Raum­soldaten der JERRAWON niedergeschossen zu werden.«

Die Menge der Gefangenen zerstreute sich. Wir hielten jetzt, dem Mittelpunkt des Kreisrings näher, ein Gebiet von etwa hun­dertfünfzig Grad unter Kontrolle. Eine Stun­de verging. Die Wächter wurden in eine staubige Kleiderkammer gesperrt, und schließlich sahen wir auch den Weg, den Ogor gefunden hatte. Es war eine schmale Tür, die sich in der größten Bereitschaftsan­lage befand. Von hier aus konnten die Wa­chen und Robots in das Versorgungssystem hinein. Diese Tür, schrie Ogor, hatte er ge­funden, er, ganz allein …

»Seinen Mikrocomputer scheint ein Wahnsinniger programmiert zu haben. Oder glaubst du an die Neumond-Theorie?« flü­sterte mein Freund.

»Teilweise. Ich halte sie immerhin für möglich.«

»Ich kann es mir nicht vorstellen. Was ich mir vorstellen kann, ist hingegen ein Angriff der Wärter, verstärkt durch Kampftruppen vom Raumhafen. Sie werden genau dann an­greifen, wenn die meisten Männer müde sind. Also in den ersten Stunden des neuen Tages. Etwa in sechs, sieben Stunden«, er­klärte er.

37 Planet des Gerichts

»Auf Befehl dieses Irren im Kristallpa­last?«

»Mit Sicherheit, Atlan!« bestätigte Fartu­loon.

Es brauchte wenig Phantasie und keinerlei Kenntnisse der Lage, um sich vorstellen zu können, daß Orbanaschol tobte. Längst hatte er erfahren, daß die Verräter und Deserteure, also seine persönlichen Feinde, nicht länger hilflose Gefangene waren. Zwar würden wir, selbst wenn wir tagelange Gefechte liefer­ten, letzten Endes auch sterben müssen, aber allein der Umstand dieser Rebellion durch Zufall mußte ihn herausfordern. Er würde auf jeden Fall den Angriffsbefehl erteilen. Das Schicksal der Geiseln war ihm gleich­gültig – was bedeuteten einunddreißig Ge­fangenenwärter auf einem fernen Planeten? Es würde rücksichtslos durchgegriffen wer­den. Weder Fartuloon-Premcest noch ich, Atlan-Lothor, gaben uns Illusionen hin.

Ich deutete mit dem Daumen in Richtung des Eingangs.

»Der sicherste Platz wäre jetzt in unserer Zelle, Premcest!«

»Nicht der sicherste Platz für einunddrei­ßig Geiseln. Der kleinste Zwischenfall kann sie umbringen.«

»Gut. Wir bleiben hier.« Langsam gingen wir zwischen den mehr

oder weniger ratlosen Gruppen der Gefange­nen hin und her. Wir setzten uns schließlich in die Nähe des Lagerraums, in den man die Geiseln eingeschlossen hatte. Doomyh Kiln, der Direktor dieses Gefängnisses, meldete sich nicht wieder über die Lautsprecher. Nichts geschah. Wir alle warteten. Eine läh­mende Stille und Ruhe, von denen die Ner­ven gefoltert wurden, breitete sich aus. Be­waffnete Gefangene bewachten die beiden Zugänge und berichteten später, daß weder die Roboter noch die Wachen Anstalten machten, einzudringen. Auch wurde kein Gas in den Raum geblasen. Unendlich lang­sam verging die Zeit, aber vielen von uns war klar, daß das lange Warten mit einem Donnerschlag enden würde.

8.

Daß im Stadtbüro von Arkon-Vision auf­geregte Mitarbeiter und Kollegen zu hören und zu sehen waren, gehörte in den Bereich des Alltäglichen. Aber daß dieses Durchein­ander zu dieser Stunde herrschte – es war nach Mitternacht – war nicht gerade häufig.

Es gibt nicht den geringsten Grund für diese gezwungen wirkende Fröhlichkeit, dachte Bürochef Fimm Monhole, als ein be­sonders gutaussehendes Mädchen, mit den Hüften schaukelnd, quer durch das Büro stolzierte und das Fenster aufgleiten ließ.

»Was ist denn bei euch los, Fimm?« frag­te der Reporter eines Massenblatts, der schon nicht mehr nüchtern gewesen war, als er hereingekommen war.

»Der gewöhnliche Ärger nach Mitter­nacht«, raunzte Monhole. »Ab und zu ver­wandelt sich unser Büro in ein Irrenhaus!«

Der Reporter lachte wiehernd und ver­schlang mit hervorquellenden Augen dassel­be Mädchen, das auf die Tür mit der Auf­schrift Ruhe, Verführung, nicht stören! zu­ging, sie aufriß und hinter sich krachend zu­schlug.

»Wer ist das?« »Wer ist was?« erwiderte Monhole zer­

streut. Irgendwie würden sie auch die näch­sten Tage durchstehen. Es gab immer ein solches Irgendwie. Heute beispielsweise mehrere Sensationen nacheinander: Prozeß­beginn, eine achtstündige Reportage mit ho­her Einschaltquote, dann die Nachrichten der Prozeßaussetzung, der Standgerichtsver­handlung und die Meuterei mit den aufre­genden Aufnahmen. Und morgen würden sie mit Sicherheit den Kampf um das Gefängnis filmen, wenn auch nicht gerade an vorder­ster Front.

»Wer ist das Mädchen?« wollte der Re­porter wissen und hielt sich krampfhaft an einer Schreibtischecke fest.

»Welches Mädchen?« Dharr und Prinkmon waren in dem betref­

fenden Raum und schnitten ihren Film, den

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sie aus dem Knast mitgebracht hatten. Wenn Ches auch noch einen einigermaßen guten Text sprach und die rhythmische Unterma­lung gut aussuchte, war morgen in den Frühnachrichten eine neue Sensation fällig.

ARKON-VISION IST STETS DABEI! »Dieses verdammt gutaussehende Mäd­

chen. Kurze dunkelblau gefärbte Haare.« Monhole hob die Schultern und brummte: »Keine Ahnung. War plötzlich da. Ich

glaube, eine Sekretärin von nebenan. Ches ist an ihr interessiert.«

»Wer?« »Ches Prinkmon!« schrie Monhole gereizt

auf. Er schob den Mann vor ihm zur Seite und ging auf dieselbe Tür zu. Im gleichen Augenblick glitt sie auf, Ches steckte seinen Kopf mit den rotgeränderten Augen durch den Spalt und schrie zurück:

»Hier bin ich. Was ist los? Hat jemand gerufen?«

»Erhänge dich am geflochtenen Film­band!« empfahl Monhole und trat in den dunklen Raum ein. Er rammte den Ver­schluß der Tür zu und sah an der Frontwand des Raumes die Wiedergabe der Aufnah­men. Der Ton war schlecht ausgesteuert ge­wesen, aber dies schrieb er der Erregung Prinkmons zu. Sie würden Volume wegneh­men, mit Trebble arbeiten und notfalls etwas Gemurmel mit Schreien aus dem Archiv hereinspielen und darüberlegen.

»Kein Grund dazu. Schon besoffen oder noch aufnahmefähig?« murmelte Aderlohn vom Misch- und Schneidepult aus.

»Ich werde dir gleich zeigen, wer besof­fen ist«, drohte Monhole und ließ sich in einen schweren Sessel fallen.

»Ich!« kicherte das Mädchen und legte ih­ren rechten Arm auf Monholes Schultern.

»Danke, nicht interessiert!« murmelte Monhole. Es stand ihm jetzt und heute alles bis zum Hals. Er hatte es satt. Er fand alles ausgesprochen entbehrlich, am meisten sich selbst und seinen Beruf, der nichts anderes als Magengeschwüre, Leberschaden und Herzschlag hervorbrachte und das stolze Ge­fühl, Lehrmeister und Fremdenführer für

Hans Kneifel

Millionen und aber Millionen, wenn nicht für Milliarden zu sein, wenn genügend Ar­koniden im ganzen großen Imperium ihre verdammten Geräte einschalteten. Er schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als er Ches mit nüchterner, aber müder Stimme sa­gen hörte:

»Wir sind gleich fertig, Fimm. Und ich schwöre dir, die nächste Sensation ist gleich fällig!«

Sie sollten aus dem Material einen zwan­zig Minuten langen Bericht zusammenstel­len, unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Gefängnisplanet vielen Arkoniden bekannt war, die Existenz dieses giganti­schen Gefängnisses aber naturgemäß nur wenigen. Der Bericht enthielt alles: winziger geschichtlicher Rückblick, Gebäudeaufnah­men, Archivmaterial und natürlich das Aktu­elle aus dem Gefangenenaufstand, ausgelöst durch Ogor, der wieder bei Neumond seinen Anfall bekommen hatte. Mehrmals beweg­ten sich dieselben Bilder vor dem Schirm, und die beiden Männer sprachen, einander abwechselnd.

»Aber ich bin, hihi, betrunken.« Das Mädchen kicherte richtiggehend nett,

fand Monhole, aber er raffte sich auf, igno­rierte das Klopfen an der Tür und fragte:

»Welche Sensation, Ches?« »Wir haben, denke ich, jemanden gefilmt,

der jemandem so ähnlich ist, daß kein Zwei­fel besteht. Du hast doch ein gutes Gedächt­nis für Gesichter und Personen, nicht wahr?«

Das war fast Insubordination, mindestens aber eine Beleidigung. Fimm war berüchtigt dafür, von hundert Gesichtern, die er einmal mit einem gewissen Aufmerksamkeitswert kennengelernt hatte, achtundneunzig wieder­zuerkennen.

»Aber ich bin nicht sehr … betrunken!« flüsterte das Mädchen und kicherte wieder provozierend. Monhole fühlte eine Gänse­haut.

»Ich denke, ich erkenne deinen Gefange­nen wieder!« brummte Fimm. »Was sollen diese dämlichen Fragen?«

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»Er baut nur vor. Er braucht aus unserem Reptilienfonds einen Haufen Geld für Kiln.«

Monhole glaubte, sich verhört zu haben. »Für wen?« Ches sagte etwas weniger sarkastisch: »Eine beträchtliche Summe für Doomyh

Kiln, den Herrn Direktor des metallenen Ge­fängnisses. Wir müssen unbedingt mit zwei Gefangenen reden.«

Mit Grabesstimme entgegnete Monhole: »Ihr seid alle beide verrückt. Seid ihr si­

cher, daß euch nicht einer der Gefangenen auf den Kopf geschlagen hat?«

»Ganz sicher«, entgegnete Dharr. »Warte auf unsere Aufnahmen, Chef.«

»Ich bin«, kicherte das Mädchen, »nur ein ganz klein wenig beschwipst. Singst du mir heute ein Schlaflied, Cheschen?«

»Selbstverständlich, mein Engel«, ant­wortete Prinkmon mit äußerster Sachlich­keit. »Mit einem sechs Pfund schweren Hammer.«

»Wie nett!« Monhole ertappte sich bei dem Gedanken,

daß man auch ohne einen fehlprogrammier­ten Neumond-Mikrocomputer jemanden ge­nußvoll ermorden konnte, aber er bezwang sich mannhaft und fragte, noch immer ver­blüfft:

»Langsam glaube ich, ihr meint es ernst. Was ist los? Raus mit der Sprache!«

Der Projektor begann zu schnurren. In diesem Fall kam es nicht auf stereoskopi­sche Genauigkeit und farbliche Präzisions­wiedergabe an. Aber die Bilder waren trotz­dem scharf. Mit highspeed zogen die Auf­nahmen vorbei, Prinkmons und Dharrs Stim­men zwitscherten und wimmerten, dann wurden die Bildfolgen immer langsamer und krochen schließlich träge in Zeitlupe dahin. Aus den Studiolautsprechern erscholl ein dunkles, dumpfes Donnern, vermischt mit zischenden Geräuschen der Apparate-Statik.

»Hier. Sieh dir die beiden Gesichter an. Diese beiden!«

Ches sprang vor den Bildschirm und deu­tete auf die beiden Köpfe. Als ob eine Lam­pe eingeschaltet worden wäre, erwachte

Monholes Erinnerungsvermögen. Ein junges Gesicht, ein schlanker Mann, und das runde, faltige Gesicht eines alten, jedoch alterslos wirkenden Mannes. Beide Gesichter strahl­ten Energie und Klugheit aus.

»Sage, daß es nicht wahr ist!« murmelte Monhole, im Innersten getroffen. »Tatsächlich ist das die wahre Sensation. Fartuloon, der Bauchaufschneider, und Kri­stallprinz Atlan. Hat sie außer euch noch je­mand erkannt?«

Ches sagte augenblicklich: »Mit Sicherheit nicht.« Voneinander wußten sie, daß sie politisch

völlig indifferent waren, weil sie es sein mußten. Wenn sie Stellung nahmen, konnte es sie den Kopf kosten. Außerdem hatten sie deshalb zusammengefunden und waren des­halb zu einem der besten Teams geworden, weil sie unabhängig und objektiv waren. Sie schilderten wertfrei, schnell und perfekt. Sie werteten nicht, sie sagten, was war, wer dar­in verwickelt war, und wie die Geschichte ablief. Sie registrierten, aber sie machten fremde Schicksale nicht zu ihrem eigenen Schicksal. Und jetzt waren sie auf eine Sen­sation gestoßen, auf den ganz großen Schock. Was sollten sie tun?

Monhole stand auf und ächzte. Er wußte, daß sie ab dem Zeitpunkt auf dem Zünder der Bombe saßen, an dem die Existenz der beiden Männer bekannt wurde. Noch waren sie unerkannt. Gefangene in der Meute von Deserteuren. Es war grotesk! Unfaßbar!

»Ches? Dharr … ihr habt zu schweigen. Wir wissen offiziell von nichts. Wir haben diese beiden Männer nicht erkannt. Verstan­den?«

»In Ordnung, Chef«, erwiderte Dharr. Er wußte, daß in solchen Fällen der erfahrene Büroleiter immer recht hatte.

»Aber …«, fing Ches an. Monhole sagte um eine Spur schärfer:

»Ausreden lassen, Ches. Hast du verstan­den? Wir kennen diese Männer nicht. Du gehst morgen zu diesem Beutelschneider Kiln, erbittest nach der Niederschlagung der Revolte ein Interview unter schwerster Be­

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wachung und allen möglichen Sicherheits­maßnahmen und versuchst, die beiden auf­zunehmen.

Klar?« »Das wird die Geschichte des Jahrhun­

derts. Du meinst, wir sollen versuchen, ihren Weg in den Tod oder in die Freiheit zu ver­folgen?«

»Soweit möglich. Begriffen, du junger Spund?«

»Vollkommen, Herr Monhole«, sagte Ches. Er bewunderte den Alten. Der Mann wußte wirklich, wo es entlangging. »Ich ha­be begriffen. Was ist mit unserem Bericht?«

»Überspielt ihn in die Zentrale. Kommen­tarlos. Sie werden senden, das verspreche ich euch.«

»Ich bin schon fast wieder nüchtern, Chessilein!« schluchzte das Mädchen.

»Gleich bringe ich dich zu mir nach Hau­se«, versprach Prinkmon. »Wer ist im Bü­ro?«

Dharr stieß ein heiseres Gelächter aus und rief:

»Ich schlafe hier. Ich werde dich wecken, in deinem komischen Hotel.«

»Nettes Hotel!« maulte das Mädchen trot­zig, stand auf und zerrte Ches mit sich.

»Ich denke, die Truppen werden im Mor­gengrauen angreifen«, sagte der Büroleiter völlig sachlich. »Ich geb dir – euch – höch­stens fünf Stunden Schlaf, nicht mehr. Halte dich bereit, ich werde Bescheid sagen, daß alles vorbereitet ist. Kamera klar, Dharr?«

Dharr gähnte nur provokativ, verschloß die Spule mit Bild und Ton und ging aus dem Schneideraum hinaus. Sekunden später rasten die Informationen, elektronisch auf­gelöst, durch ein Breitbandkabel in die Sen­dezentrale und wurden eingeplant.

»Haut schon ab«, murmelte Monhole. Wirklich es waren Teufelskerle. Und ausge­rechnet der gejagte Kristallprinz, der promi­nenteste Partisan seit einem Jahrhundert, be­fand sich unerkannt als Gefangener hier auf Celkar. Die Wunder nahmen kein Ende mehr. Es war nicht abzuschätzen, wann sie alle sich wieder ausschlafen konnten. Aber

Hans Kneifel

die Sensationen fanden jetzt statt, und sie hatten ihren eigenen Ehrgeiz, dabei zu sein.

*

Aderlohn Dharr kam noch vor dem Mor­gengrauen durch den Hotelkorridor ge­stürmt, riß Ches aus dem Schlaf und raste mit ihm im Firmengleiter hinaus in die Rich­tung des Gefängniskomplexes.

Fimm Monhole schien erfolgreich gear­beitet zu haben, denn dieser Pressegleiter war das einzige private Fahrzeug, das die Sperren passieren durfte. Hier in der Parkzo­ne des Gefängnisses wimmelte es von Raumschiffgleitern der JERRAWON, von bewaffneten Kampfeinheiten und Robotern. Doomyh Kiln kam auf die beiden Männer zugelaufen und rief:

»Vorsicht. Halten Sie sich aus allem her­aus! Die Soldaten haben direkten Befehl vom Imperator.«

»Was passiert eigentlich genau?« wollte Ches gähnend wissen. Er machte einige Turnübungen, um seinen Kreislauf in Schwung zu bringen.

»Die Gefangenen halten ein Stück Ver­sorgungstrakt und eine Ebene des Gefäng­nisses unter Kontrolle. Sie haben einund­dreißig Geiseln – aber Sie kennen die Lage ja. Jetzt besetzen die Soldaten die strategi­schen Punkte und werden auf ein Zeichen angreifen. Sie müssen in der Nähe von Kommandant Twellzock bleiben. Hier ist er. He, Kommandant, Sonnenträger … das sind die beiden mutigen Reporter, die gestern beinahe vom Pöbel nicht mehr freigelassen worden wären.«

Twellzock steckte, bis an die Zähne be­waffnet, in einer Kampfuniform.

Durch den Gesichtsschutz und den Helm war er nur an der Nummer seines Kampfan­zugs zu erkennen. Er nickte den Journalisten zu und winkte.

»Los. Mitkommen«, sagte er barsch. Lange Züge von Soldaten und Robotern

schoben sich durch mehrere Eingänge in das Innere des riesigen Bauwerks, das auch in

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seinem kreisförmigen Innenhof voller Bäu­me und Gleiter den Eindruck einer Festung machte. Schweigend folgten die beiden Männer von Arkon-Vision.

* GEDÄCHTNISPROTOKOLL ATLAN:

Wieder schreckte ich aus einem flachen Schlaf auf. Es gab immer Geräusche hier in den Stollen: Flaschen klirrten, Waffen schlu­gen gegen Metall, Männer stritten sich, an­dere schnarchten laut. Mein erster Blick aus blinzelnden Augen galt der massiven Tür, hinter der die Geiseln eingesperrt waren. In­zwischen hatten die Gefangenen mehrere Verteidigungslinien eingerichtet, die durch Barrikaden aus Kisten, Ballen, Fässern und ziegelartig übereinandergestapelten Behäl­tern aller Art gebildet waren. Ganz in unse­rer Nähe verlief ein solcher dicker, manns­hoher Wall.

»He, Premcest!« sagte ich deutlich und rüttelte meinen Freund an der Schulter. In­zwischen waren auch wir von demselben Staub bedeckt wie vorher Ogor. Irgendwo waren Fässer geplatzt, und man trug den Staub, der süßlich schmeckte, in alle Rich­tungen.

»Ja? Greifen Sie an?« »So sieht es aus. Beziehungsweise hört es

sich so an.« Von rechts und links kamen Geräusche.

Offensichtlich gab es nicht einmal mehr eine Lautsprecherwarnung. Orbanaschol hatte schon wieder einmal zugeschlagen. Sie wür­den rücksichtslos sein, die Männer von Son­nenträger Twellzock.

Deutlich konnten wir schwere Schritte un­terscheiden, leise, scharfe Kommandos und das Summen der Maschinen. Inzwischen hatten wir die möglichen Angriffswege er­kannt, und überall dort warteten bewaffnete Gefangene. Wir hatten sogar in einem Ma­gazin ein paar tragbare Lautsprecher gefun­den und verteilt.

Ich sprang auf und rief: »Sie kommen! Die Raumsoldaten dringen

ein.« Von ganz weit links und, viel näher, auch

von rechts, donnerten die ersten Schüsse der Verteidiger. Innerhalb Sekundenfrist waren alle Gefangenen alarmiert und auf den Bei­nen. Sie griffen fluchend nach ihren Waffen und verschwanden in der Deckung der Bar­rikaden. Noch mehr Schüsse dröhnten. Dann schrie ein Gefangener:

»Wir haben einunddreißig Geiseln in un­serer Gewalt!«

Zwischen einer Salve von schweren Ent­ladungen, die an der ersten Barriere ein­schlugen und die gestapelten Verpackungs­materialien in Flammen aufgehen ließen und auseinandersprengten, und einem Chor aus entsetzten Schreien und dem Trappeln von flüchtenden Verteidigern durchschnitt eine harte Stimme das Chaos. Ich erkannte sie so­fort wieder. Twellzock!

»Die Weise unserers Vorgehens wird sich nach dem Zustand der Geiseln richten. Wir haben eindeutige Befehle des Imperators. Räumt die Barrieren, lauft zurück in die Zel­len, laßt die Geiseln frei.«

»Ihr werdet uns alle umbringen, ihr Hun­de!« schrie ein anderer Mann in den Hand­lautsprecher. Jetzt sahen wir jenseits der er­sten, halb zerstörten Barriere die Roboter auftauchen. Sie waren in grünlich schim­mernde Abwehrfelder gehüllt und bewegten suchend die Linsen und die Waffenarme. Drei Maschinen schoben die aufgetürmten Hindernisse mühelos zur Seite. Vor uns ver­sammelten sich einige ratlose Bewaffnete vor dem Schott des Lagerraums.

»Verhaltet euch richtig und vernünftig.« Von beiden Seiten rückten die Angreifer

vor. Die erste Linie bildeten schwere Kampfroboter, die dicht über dem Boden schwebten und eine undurchdringliche Rei­he bildeten. Nicht eine einzelne Person hatte die Chance, zwischen den Schutzschirmen hindurchzukommen. An einigen Stellen brannten die Barrikaden. Schwarzer Rauch verdunkelte das Bild und hüllte die Beleuch­tungskörper ein.

Premcest machte mir ein Zeichen. Wir

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sprangen geduckt hinüber zu der Gruppe, von der die Geiseln bewacht wurden. Neben uns konzentrierten mindestens dreißig Ge­fangene das Feuer aus den Beutewaffen auf einen der vordersten Robots. Die Schutz­schirme der Maschine flackerten überlastet auf und erloschen, aber noch ehe die Kampf­maschine ausgeschaltet werden konnte, schob sich aufheulend eine andere an ihre Stelle. Dieser erste Teil des Angriffs erfolgte mit äußerster Langsamkeit, aber er hatte durchschlagenden Erfolg. Die Linie der summenden, blinkenden Maschinen sperrte den Gang von einer zur anderen Seite ab. Ununterbrochen schossen die Verteidiger, aber sie wichen in der gleichen Geschwin­digkeit zurück, in der die Truppen vordran­gen. Es war von Anfang an sinnlos gewesen.

»Was habt ihr mit den Männern vor?« fragte ich und hielt einen Gefangenen fest, der sich am Schloß zu schaffen machte.

»Wir treiben sie heraus. Sie sollen sich zwischen uns und die Robots stellen«, schrie er und schob mich zur Seite.

Ich drehte meinen Kopf und sah hinter den Robots, die noch dreißig Meter entfernt waren, die Raumsoldaten des Sonnenträgers von der JERRAWON. Sie sahen nicht weni­ger kriegerisch aus als die Maschinen. In den Händen trugen sie schwerste Schock­waffen, aber ich sah auch ebenso viele tödli­che Strahler.

»Das ist Unsinn. Die Roboter können sie nicht von uns unterscheiden. Wartet auf die Chance im Gerichtssaal. Ihr fordert nur her­aus, daß wir hier erschossen werden, Freun­de.«

Du spielst sehr gefährlich, zischte der Ex­trasinn.

»Geh weg. Sie sollen zuerst die Geiseln umbringen, dann uns!« schrie jemand und hob seine Waffe.

Premcest lenkte ab, indem er laut auf­schrie und auf eine Gruppe von Verteidigern deutete, die an uns vorbeirannten und sich hinter der nächsten Barriere versteckten. Un­erbittlich summten die Maschinen näher. Wieder peitschten einige Schüsse aus Lähm-

Hans Kneifel

waffen auf. Männer neben uns brachen zu­sammen, andere sprangen zur Seite und war­fen sich in Deckung. Ich bückte mich und nahm die Waffe eines Mannes an mich. Hin­ter mir öffnete Premcest bereits den Ver­schluß der stählernen Tür.

Die Kette der Roboter zermalmte, ver­brannte und rammte die letzte Barriere zur Seite und kam näher.

»Schnell, hinein!« rief Premcest unter­drückt und stieß die Tür auf.

Ein Hagel von Schüssen wurde in unsere Richtung abgegeben, als wir uns durch den Spalt der Tür zwängten. Hinter uns glühten die Ränder der Stahlplatte auf, die Einschlä­ge erzeugten Geräusche wie Hämmer.

Die Geiseln standen schweigend da und starrten uns an. Premcest lachte und warf ei­nem von ihnen die Waffe zu.

»Euch geschieht nichts«, sagte er. »Wir haben die anderen abgelenkt.«

Sie schwiegen, und auch ich entledigte mich der Waffe. Dann gingen wir einige Schritte zur Seite. Ich erklärte in möglichst leichtem Tonfall:

»Die ganze Sache war aussichtslos. Die Truppen sind da, in wenigen Minuten

haben sie uns wieder zurückgetrieben. Man wollte euch vor den Gefangenen aufstellen.«

Einer der Männer schüttelte den Kopf. Ih­nen allen stand der Schrecken des Wartens auf den Tod oder das Überleben deutlich in den Gesichtern. Wir lehnten uns an die Wand und warteten. Jeden Augenblick wür­den die Soldaten hier eindringen.

»Warum habt ihr euch um uns geküm­mert?«

»Weil wir nichts gewinnen, wenn ihr sterbt. Wir verlieren mit Sicherheit unser Leben an Ort und Stelle. Immerhin haben wir noch eine Chance, wenn morgen oder später verhandelt wird.«

»Es scheint, daß es noch ein paar Ver­nünftige unter diesen Irren dort gibt!« stellte jemand fest.

Inzwischen hatten die Sperrlinien der Ro­boter die Gefangenen in der Mitte des Gang­systems zusammengedrängt. Die Soldaten,

43 Planet des Gerichts

die nach anderen Gesichtspunkten vorgin­gen, schwärmten nach rechts und links aus und drangen in die Räume und Hallen ein. Und jetzt wurde die Tür aufgerissen, und mit vorgehaltenen Waffen sprangen sieben Sol­daten in den Lagerraum hinein. Sie schienen sofort erfaßt zu haben, daß hier keine Gefahr mehr drohte.

»Jemand verletzt?« schrie einer. »Alles in Ordnung.« »Und diese beiden hier?« »Sie haben die anderen abgelenkt. Wir

bringen sie zurück in die Zelle. Klar?« Der Anführer deutete auf zwei Soldaten

und schnarrte: »Ihr geht mit. Wir sind gleich mit den an­

deren fertig. Los, 'raus!« Sie brauchten uns nicht in die Zellen zu­

rückzuschleppen; wir gingen selbst. Hinter den Robotern strömten Hunderte von Solda­ten herein und bildeten Ketten bis hinauf in den Korridor. Als wir, umgeben von er­schöpften Wärtern, die Nebenräume verlie­ßen, hörten wir wilde Schreie, Schüsse und Kommandos. Wir blieben stehen und starr­ten in die Richtung des Kampfes.

Vier Soldaten versuchten, Ogor festzuhal­ten. Er schlug wild um sich, riß sich los, flüchtete ein paar Schritte und wurde wieder eingefangen, prügelte sich abermals mit den Raumsoldaten herum.

Dann richtete einer die Schockwaffe zwi­schen die Schulterblätter des Gefangenen und feuerte. Ogor brach auf der Stelle zu­sammen und wurde von den Soldaten weg­getragen.

»Das ist der einzige, der noch echte Chan­cen hat«, murmelte Premcest.

»Wahrscheinlich. Ihr sollt morgen alle pauschal verurteilt werden. Darüber hinaus keinen Kommentar.«

Es sieht düster aus, flüsterte der Logik­sektor.

Wir wurden nicht mißhandelt. Die Solda­ten und zwei Wächter führten uns in die alte Zelle zurück. Wir waren müde, duschten schnell und schliefen bereits, als die anderen Gefangenen zurückgebracht wurden.

*

Der Primm flog und flatterte aufgeregt durch die Zelle. Schließlich blieb er auf der offenen Wandklappe sitzen und starrte mit seinen winzigen Augen auf die vielen Män­ner, die sich um Ogor kümmerten. Der Mann lag lang ausgestreckt auf seiner Liege, aber acht breite Energiefesseln lagen um sei­ne Gliedmaßen und um Brust und Becken. Gerade war die belebende, schocklösende Spritze injiziert worden. Ogor erwachte ganz langsam. Genauer: das, was noch nicht Pro­these und Positronik war, fand langsam wie­der ins Leben zurück.

»Wie lange dauert es noch, bis der Vertei­diger kommt?« fragte der Assistent des Ge­fangenenarztes.

»Keine Ahnung«, brummte Doomyh Kiln. »Ich habe ihm gesagt, daß er sich beeilen soll.«

Inzwischen befanden sich sämtliche Ge­fangenen wieder in den Zellen. Abschürfun­gen, Brandwunden und einige Dutzend Ver­stauchungen waren behandelt worden. Es herrschte Ruhe. Die Aufräumungsarbeiten in den Depots und Lagerräumen gingen zügig voran.

»Wird er sterben?« fragte ein Raumsoldat mit hochgeklapptem Helmvisier.

»Nein. Aber wir haben erkannt, daß er tat­sächlich einen Schock erlitt. Er hat sich seit seiner Einlieferung hervorragend und ruhig verhalten. Als ob er noch Kommandant ei­nes Schlachtkreuzers wäre.

Und plötzlich schlägt die Folgeerschei­nung des Korratz wieder zu. Wir haben alle gesehen, wie er durchdrehte. Er prügelte sich mit Ihnen wie ein Roboter.«

Kiln nickte dem Soldaten zu. »Endlich tot. Ich werde wegfliegen

schnell-schnell!« zwitscherte pfeifend der Primm.

»Das ist richtig. Er war ein richtiges Ener­giebündel.«

Ogor öffnete beide Augen, bewegte aber den Kopf nicht. Er starrte von einem Mann

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zum anderen. Dann sagte er leise: »Ich hatte einen Anfall, ja?« Nicht ganz unbeeindruckt erklärte Kiln,

was vorgefallen war. Schließlich senkte er die Stimme und meinte:

»Das ist unser Chefarzt. Sie befinden sich in bester Überwachung; jederzeit ist schnelle Hilfe möglich.«

»Ich brauche keine Hilfe. Gestern war Neumond, nicht wahr?«

»Ja.« Einige Sekunden lang herrschte ein nie­

dergeschlagenes Schweigen. Ratlos sahen sich die Männer an. Sie wußten nicht, wie sie am besten reagieren sollten. Wenn nur der Anwalt endlich kommen würde.

»Wo steckt Tema, mein Verteidiger?« »Wir haben ihn gerufen. Er muß jeden

Moment hier eintreffen. Warum wollen Sie ihn sprechen?«

»Ich habe ihm etwas zu sagen.« »Etwas Wichtiges, Ogor?« »Nicht für Sie. Wichtig nur für mich.

Warten wir, bis Tema kommt. Ich bin es satt.«

Er schloß die Augen und entspannte sich. Die Männer warteten, nicht weniger ratlos als zuvor. Sie bedauerten Ogor, denn jetzt kannten sie die Wahrheit. Aber sie half nie­mandem. Fünfzehn Minuten später brachten Wächter und drei Raumsoldaten den Anwalt in die Zelle.

»Hier bin ich, Ogor. Ich habe erfahren, was passiert ist. Mit dieser Beweisführung werden wir siegen, und in ein paar Tagen sind Sie frei und rehabilitiert. Wir werden es schaffen, Kommandant Ogor!«

Ogor sagte leise: »Macht diesen verdammten Mist hier

weg. Ich werde euch nicht umbringen. Los, öffnet die Fesseln.«

Die Armfesseln und die Brustfesseln wur­den abgeschaltet. Ogor richtete sich auf und sagte mit förmlich versteinertem Gesicht und ohne jegliche sichtbare Regung:

»Ich bin nicht arm, Tema. Vor allen Zeu­gen erkläre ich, daß aus meinem Nachlaß Ih­re Rechnung bis auf den letzten Chronner

Hans Kneifel

beglichen wird. Ich habe in der Verhandlung gesagt, daß ich eine letzte Möglichkeit ent­deckt habe, meinen Mikrocomputer zu be­einflussen. Ich bin lebensüberdrüssig, Tema. Der letzte Tag hat es mir gezeigt. Für mich gibt es nur noch eines: das Ende.«

Tema rief aufgeregt, seine Finger zitterten vor Erregung:

»Du bist verrückt, Ogor! Wir sind kurz vor der Wende, vor deinem Sieg. Und du willst resignieren?«

In seiner Erregung duzte er ihn. Damit be­wies er, nur für den Mediziner zu erkennen, sein durchaus menschliches Verhalten in dieser Frage.

»Ich bin nicht verrückt. Ich bin dieses Zu­stands zwischen Tod und Irrsinn überdrüs­sig. Ich schalte mich ab.«

»Nein!« schrie Rotnam Tema auf. »Doch. Ich habe keine Lust mehr. Die

Aussichten für die nächsten Jahre sind kei­neswegs so, daß ich daran etwas fände. Dan­ke dir, Tema – du hast es wirklich versucht. Danke und Ende.«

Er schloß die Augen. Dann bäumte sich sein Körper wie unter der Einwirkung eines starken Stromschlages auf und sank schlaff in sich zusammen. Alles ging ganz schnell vor sich. Der Mediziner kam gar nicht dazu, entsprechend zu reagieren. Als er sich nach vorn warf, war es bereits zu spät. Er setzte zwar sein Diagnosegerät an, aber als er den haarfeinen Rauchfaden aus der Schädel­decke des ehemaligen Kommandanten auf­steigen sah, die Anzeigeinstrumente betrach­tete und schließlich kopfschüttelnd zurück­trat, wußten alle, daß Ogor tot war.

»Danke und Ende!« wiederholte Tema kopfschüttelnd. »Was für eine komplizierte Art, die Ruhe herbeizuführen.«

Die Raumsoldaten verließen schweigend die Zelle. Auch auf dem Korridor herrschte Totenstille.

Doomyh Kiln senkte den Kopf und sagte in einem fast echten Tonfall:

»Der arme Kerl. Das hat wohl niemand erwartet.«

»Nein«, bemerkte Tema. »Nur er selbst.

45 Planet des Gerichts

Und wenn Sie mich alle für verrückt erklä­ren – ich kann ihn verstehen.«

Er blickte den Körper noch einmal an und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der Primm durch den Raum raste und schließ­lich in gerader Linie zwischen den Gitterstä­ben hindurchschoß und geradeaus weiter­flog, bis er als winziger, hellblauer Punkt in der Sonnenglut des frühen Mittags ver­schwand. Dieses Kapitel war für alle Zeiten zu Ende.

Doomyh Kiln stand auf und sagte leise: »Entschuldigung. Ich werde das Nötige

veranlassen. Ich muß noch nach den beiden Reportern sehen. Sie sind einschlägig inter­essiert und kümmern sich um die Gefange­nen.«

»Schon gut«, erwiderte der Arzt. Der Direktor des Gefängniskomplexes

ging durch die offene Zellentür und näherte sich der weiter entfernt liegenden Zelle, in der die Journalisten jene beiden Gefangenen interviewten, denen man mit einiger Sicher­heit das Leben der meisten Geiseln zu ver­danken hatte. Arkon-Vision hatte gut für die Sondergenehmigung gezahlt.

9.

Diesmal gab es nicht die geringste Chan­ce, sich zu befreien. Und selbst wenn es sie gegeben hätte, würde sie niemand ergriffen haben. Mindestens ein Dutzend Raumsolda­ten hielten die Gefangenen in dieser Zelle in Schach. Das Schott stand weit offen, an der Wand des Korridors lehnte entspannt, aber wachsam, eine zweite Gruppe Soldaten.

In dem riesigen kreisringförmigen Korri­dor patrouillierten die Wärter. Auch sie wa­ren inzwischen mit scharfen Waffen ausge­rüstet worden.

»Wie kamen Sie dazu, den Wärtern zu helfen?« fragte Ches Prinkmon ruhig. Inzwi­schen wußte er, daß sich sein Verdacht zur Gewißheit verstärkt hatte. Diese beiden Männer waren Fartuloon und Atlan, der Kri­stallprinz und sein Freund und väterlicher Lehrmeister. Dies war die Wahrheit.

Dharrs Kamera schnurrte, und sie richtete sich immer wieder auf die Gesichter dieser beiden Gefangenen.

»Wir hielten es für sinnlos, die Geiseln als Waffe, Kaufobjekt oder Tauschware zu be­nutzen. Es hätte nichts geändert, im Positi­ven«, erklärte Premcest. Dharr und Prink­mon wußten, daß sie eine Ausnahmegeneh­migung besaßen. Kiln war bestochen wor­den. Nur auf Grund dieser Tatsache durften sie jetzt hier arbeiten, und dank der Beste­chung hatten sie auch die Niederschlagung des Aufstands filmen und kommentieren können.

»Sie nennen sich Lothor?« wandte sich Ches an den jüngeren der beiden Männer.

»Ja.« Prinkmon hatte sich auf einen der einfa­

chen Stühle gesetzt und schrieb oder zeich­nete irgendetwas auf seinen Block. Immer wieder schnurrte die Kamera und richtete ih­re blau-verspiegelte Linse auf den einen oder anderen Gefangenen. Sie alle hockten teilnahmslos und müde auf ihren Pritschen. Nur Lothor und Premcest zeigten eine ge­wisse gespannte Wachsamkeit.

»Wie sind Sie hierher gekommen?« fragte Dharr hinter seiner Kamera hervor. Seine Stimme klang betont lässig.

»Mit einem Raumschiff, junger Mann«, sagte der Gefangene.

Scheinbar achtlos bewegte Ches Prink­mon den Notizblock. Dann klappte er ihn so nach vorn, daß ihn der ältere, kleinere und fettere der beiden ausgesuchten Gefangenen sehen konnte. Sofort richteten sich die Au­gen Premcests darauf. Er sah eine einfache Zeichnung, aber sie war von erschreckender Bedeutung.

Ein Strichmännchen! Ein kleiner Mann mit einem dicken, run­

den Bauch, in dem ein breiter Schnitt, schon fast ein Schlitz klaffte. Ein medizinisches Skalpell, unschwer als solches zu erkennen, verursachte diesen Schnitt. Der simpel ge­zeichnete Patient grinste grimmig. Die Be­deutung dieses Bildes war von klarer Bedeu­tung: Bauchaufschneider.

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Der Gefangene zeigte kein Erschrecken, aber er war plötzlich ruhiger und zurückhal­tender. Er blickte betont gleichgültig an der Kamera vorbei auf die Waffen eines der Raumsoldaten.

»Daß Sie mit einem Schiff landeten, ist klar«, meinte Prinkmon in vertraulichem Ton. »Aber woher kamen Sie? Warum be­finden Sie sich unter den Gefangenen? Und aus welchem Grund haben Sie sich derartig uneigennützig für das Leben von Männern eingesetzt, die Ihnen eigentlich gleichgültig sein könnten? Welche Pläne haben Sie für die nächste Zeit?«

Es könnte ein Signal sein! flüsterte Atlans Extrasinn.

Er hatte ebenso schnell das Bild gesehen und den Sinn erkannt. Der Reporter wollte ihnen damit sagen – und nur ihnen – daß er sie in der Masse der Gefangenen von Serro­gat erkannt hatte.

»Wir kamen von Serrogat«, sagte der jün­gere mit dem weißen Haar des echten Arko­niden. »Außerdem lassen wir uns ungern ausfragen.«

»Was haben Sie dort gemacht?« »Fragen Sie die anderen«, murmelte

Premcest. »Und wir haben deshalb die Wär­ter geschont, weil sie auch nur Arbeiter sind, die nichts anderes als ihre Pflicht taten.«

»Und was unsere Pläne betrifft«, ergänzte der andere und lehnte sich auf seiner Prit­sche demonstrativ zurück, »da erkundigen Sie sich besser bei einem der Richter. Ver­mutlich werden wir alle umgebracht, wenn nicht ein Wunder geschieht.«

»Wunder«, knurrte der Kameramann, – »gibt es bekanntlich alle Tage.«

»Nicht für die Gefangenen von Serrogat«, entgegnete der Dicke, drehte sich herum und zog seine Decke über die Ohren. »Ende des Interviews!«

Ohne Aufregung klappte Ches Prinkmon sein Notizbuch zu und stand langsam auf.

»Uns interessieren die einzelnen arkonidi­schen Schicksale. Deswegen haben wir eini­ge Gefangene befragt. Schließlich erlebt man es nicht alle Tage, daß ein solcher Rie-

Hans Kneifel

senprozeß stattfindet.« Im selben Moment tauchte Doomyh Kiln

in der offenen Zellentür auf. Er berührte den Kameramann kurz an der Schulter, schüttel­te Ches die Hand und sagte mit dumpfer Stimme:

»Ogor ist tot!« Prinkmon wirbelte erschrocken herum. »Wie das?« »Er hat, wie er es selbst erklärte, sich ab­

geschaltet: Er war lebensüberdrüssig. Der letzte Anfall hat ihm den Rest gegeben.«

Ches erwiderte nach einer kurzen Pause des Überlegens:

»Wir werden in diesem Fall, wenn es ge­stattet ist, auch noch den Rest der Reportage filmen. Danke, Kiln. Wir haben einige inter­essante Beobachtungen hier machen können. Die Schicksale der Gefangenen sind bemer­kenswert.«

Kiln deutete mit dem Daumen über die Schulter.

»Beeilen Sie sich. Der Leichnam mit ei­nem Brandloch im Schädel wird gerade ab­transportiert.«

Die Anwesenheit oder Abwesenheit der beiden Männer änderte nichts an der Lage, in der sich Premcest und Lothor befanden. Sie waren weiterhin Gefangene. Sie würden wie alle anderen am nächsten Tag vor Ge­richt stehen. Sowohl Atlan als auch Fartu­loon dachten darüber nach, was die Vorfälle der letzten Minuten zu bedeuten hatten, oder was sie in ihrem Fall bedeuten konnten, nachdem sie erkannt worden waren. Die Re­porter wollten ihre Geschichte, ihre Sensati­on. Und sie würden sie auch bekommen, wenn sie die Existenz der beiden Gegner des Imperators an Orbanaschol verrieten.

Der Gefängnisdirektor, die beiden Män­ner von Arkon-Vision und die Soldaten ver­ließen die Zelle. Die Tür schloß sich wieder mit einem endgültigen Geräusch.

* GEDÄCHTNISPROTOKOLL ATLAN:

Ich hob den Kopf und starrte Fartuloon­

47 Planet des Gerichts

Premcest schweigend an. »Was jetzt?« flüsterte ich so leise, daß es

keiner der anderen Gefangenen hören und verstehen konnte.

»Warten. Ich glaube, er wird etwas unter­nehmen.«

Ich hob die Schultern; ich war skeptisch und fühlte, wie wir unausweichlich dem En­de zu glitten, ohne uns wehren zu können.

»Er wird uns verraten!« sagte ich. Er flüsterte zurück: »Beide Möglichkeiten existieren. Aber

ich denke, der Nachrichtenwert für seine Geschichte ist größer, wenn er uns nicht aus­liefert, sondern uns irgendwie hilft.«

»Ich glaube nicht daran«, wisperte ich be­harrlich. Ich war wirklich davon überzeugt, daß man uns verurteilen und das Urteil schnellstens vollstrecken würde.

»Unsere nächste Chance gibt es im Ge­richtssaal!« war die leise Antwort.

»Schlaf jetzt, dann sind wir morgen fit.« »Fit?« fragte ich verzweifelt, »wozu sol­

len wir fit sein?« »Für alle Möglichkeiten.« Ich kannte Fartuloon zu genau; er war

kein bedingungsloser Optimist. Aber er in­terpretierte das deutliche, jedoch versteckte Interesse der Fernsehleute auf seine Art. Er erwartete eine positive Wendung unseres Schicksals. Ich drehte mich herum und ver­suchte, einzuschlafen.

*

Zufällig trafen sich Fimm Monhole und der Verteidiger Ogors im Büro der Sendege­sellschaft. Ches und Dharr hatten Tema mit­genommen und ihn auf einen Drink eingela­den.

»Eine aufregende Sache ist das hier«, meinte Tema. Es war früher Abend. Im Au­genblick herrschte hier eine geradezu fabel­hafte Ruhe.

»Sie sollten uns in voller Aktion sehen«, meinte Monhole. »Habt ihr, was ihr wollt?«

»Natürlich. Wir sprechen uns nachher noch.«

Ches mischte einige Getränke und reichte Tema, der sich noch immer nicht gefaßt hat­te, ein gefülltes Glas.

»Wer ist eigentlich der beste Verteidiger für ganz große Fälle?« fragte er. »Nicht daß ich ihn brauchen würde – ich frage aus be­rufsmäßiger Neugierde.«

Tema zog die Schultern hoch und biß sich auf die Unterlippe.

»Wenn Kaarfux mit den siebenhundertsie­benundsiebzig Tricks noch arbeiten wollte, wäre er unbestreitbar der beste. Aber er ist nicht interessiert. Ich habe ihn mehrmals in der Ogor-Sache gebeten. Jedesmal Fehlan­zeige.«

Er trank einen gewaltigen Schluck. Mit steigendem Interesse betrachtete er die Ein­richtung dieses großen Büroraums und die vielen verschiedenen Nachrichtengeräte. Aber ihm fiel auch die brennende Intensität auf, die dieser jüngere Mann an sich hatte. Ein fanatischer Einfall schien Ches Prink­mon gepackt zu haben und riß ihn ruhelos vorwärts.

»Kaarfux?« fragte Ches unruhig und wandte sich nach Dharr um, der in der tech­nischen Abteilung verschwand, um sein Filmband zu präparieren.

»Ich kenne ihn. Er wohnt außerhalb von Kutenarynd in einem idyllischen Tal. Züch­tet Blumen«, erklärte Monhole und winkte ab. »Ein alter Mann, war aber seinerzeit tat­sächlich in jedem Gerichtssaal gefürchtet.«

»Ich verstehe. Er nimmt nur noch die Jahrhundert-Strafsachen, wie?«

»Wenn überhaupt!« meinte der Anwalt und trank das Glas leer. Auf alle Fälle würde er morgen wieder in der Arena der Gerech­tigkeit sein, um den Prozeß gegen die Verrä­ter zu beobachten. Er wußte schon jetzt, daß keiner der Gefangenen wirklich eine Chance hatte. Man würde sie in einzelnen Lifttrans­porten in die Tiefgeschosse der Arena brin­gen und dort erschießen.

Er schüttelte sich und streckte Ches die Hand entgegen.

»Danke fürs Mitnehmen. Ich arbeite hier gleich in der Nähe. Ich gehe zu Fuß, es ist

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nicht weit.« »Schon gut. Sehen wir uns morgen in der

Arena?« »Ja. Sie sind sicher dort, nicht wahr? Und

Sie berichten über den Prozeß?« »Damit müssen Sie rechnen. Ja, unser

ganzes Team wird dort sein. Gerade jetzt wird alles vorbereitet.«

Ches blickte dem Anwalt nach und warte­te, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Dann drehte er sich herum und sah Monhole in die Augen.

»Ich bin politisch nicht interessiert«, sagte er leise und drängend. »Aber das ist natür­lich die Geschichte des Jahrhunderts. Wir haben sie erkannt. Zweifelsfrei! Ich zeichne­te einen Bauchaufschneider, und Fartuloon verstand genau, was ich meinte. Ich muß die beiden aus der Masse der anderen Gefange­nen herauslösen. Wir brauchen Sie. Wenn wir diese Geschichte ausschlachten …«

Monhole schüttelte nachdenklich den Kopf und stellte eine Frage.

»Du willst sie befreien?« »Unsinn. Aber Orbanaschol will durch

dieses Gerichtsspektakel von seiner eigenen Notlage ablenken. Mit diesem Massen-Todesurteil wird er die Arkoniden be­schwichtigen. Wenn sich dabei auch noch herausstellt, daß Fartuloon und der gesuchte Kristallprinz unter den Gefangenen sind, so gibt das eine gräßliche Überraschung.

Die beiden waren schon immer für eine spannende und unverhoffte Wendung der Lage gut. Wenn wir etwas Zündstoff hinein­bringen, dann werden sie reagieren. Ver­stehst du? Und niemand wird uns etwas an­haben können, nicht einmal der verrückte Diktator selbst.«

»Du bist«, sagte Monhole nicht ohne Mißbilligung, »erst ein paar Tage da, und schon bist du ebenso scharf wie der älteste Profi.«

»Mir liegt die Sache im Blut. Machst du mit, Chef?«

»Lasse mich nachdenken, Ches.« Er ging zurück in sein kleines Büro und

warf die Tür hinter sich zu. Ches bezwang seine Unruhe und das immer wieder auftau-

Hans Kneifel

chende Gefühl, ersticken zu müssen, und ging hinüber zu Dharr.

Sie bereiteten ihre kurzen Sendungen vor. Sie stellten einen neuen Bericht über Ogor zusammen und versahen ihn mit den Bil­dern, die sie eben im Gefängnis aufgenom­men hatten, dann bastelten sie zwei Stunden lang an dem Bericht über die Gefangenen. Er würde morgen als Einstimmung auf die Prozeßberichterstattung gesendet werden, und man würde ihn mehrmals wiederholen.

»Brauchst du den Gleiter heute noch?« fragte Ches schließlich. Inzwischen war es Abend geworden.

»Nein. Brauchst du ihn? Wozu?« »Ich muß einen wichtigen Besuch ma­

chen.« »In Ordnung. Nimm ihn, aber morgen

früh mußt du mich abholen und zur Arena der Gerechtigkeit bringen!«

»Alles klar!« Sie schüttelten sich kurz die Hände. Dharr

arbeitete weiter, Ches setzte sich in den Gleiter der Arkon-Vision und blieb kurze Zeit darin schweigend und nachdenklich sit­zen.

Er wußte, daß sich in den nächsten Stun­den und Tagen viele Schicksale erfüllen würden. Auch seines war darunter. Die Un­ruhe verließ ihn nicht, aber er war sicher, daß nach kurzer Zeit seine Karriere als Re­porter steil aufwärts führen würde. Einfluß, Geld und die Bewunderung aller waren ihm ebenso sicher wie der Neid der Kollegen. Aber morgen mußte es genau die Überra­schung geben, die er vorausplanen konnte. Er nickte, grinste sich selbst zu und startete die Maschine. Er schwebte in die Nacht hin­aus, nachdem er mehrmals auf dem Stadt­plan nachgesehen hatte. Seine Gedanken kreisten um die Sensation, die der Kristall­prinz und der Bauchaufschneider hervorru­fen würden.

Die Sensation – seine große Stunde, seine Chance!

49 Planet des Gerichts

E N D E

Lesen Sie nächste Woche ATLAN Nr. 293:Im Reich der Ausgestoßenenvon Hans KneifelSie entgehen der Exekution – doch der Mörder erwartet sie in der Unterwelt